06.01.2013 Aufrufe

Ärzteblatt August 2010 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

Ärzteblatt August 2010 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

Ärzteblatt August 2010 - Ärztekammer Mecklenburg-Vorpommern

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

endokrine Disruptoren<br />

Rainer Hampel<br />

Endokrine Disruptoren (Synonyma: Xenohormone, Umwelthormone,<br />

endokrin wirksame Substanzen) (lat:. dis-rumpere –stören)<br />

sind natürliche oder synthetische chemische Verbindungen<br />

mit hormonähnlicher Wirkung, die dosis- und substanzabhängig<br />

das endokrine System von Menschen und Tieren beeinflussen<br />

können. Sie gelangen auf verschiedenen Wegen in die Umwelt,<br />

vorwiegend in das Abwasser und in natürliche Gewässer.<br />

Aus der Bioakkumulation einzelner oder der Kombination mehrerer<br />

niedrig konzentrierter Disruptoren könnten Wirkungsverstärkungen<br />

resultieren. Bislang sind mehr als 50 solcher Disruptoren<br />

bekannt (Östrogene und chemische Verbindungen mit<br />

Östrogenwirkung, Insektizide, polychlorierte Biphenyle, polychlorierte<br />

Dibenzodiozine, polychlorierte Dibenzoforane, Phthalsäureester,<br />

Moschusverbindungen, Cadmium, UV-Filter in Sonnencremes,<br />

Fenoxykarb, Bisphenol A, Nonylphenol u. a.).<br />

Es sind vorwiegend Einflüsse auf das Sexualhormonsystem und<br />

die Fertiltätsorgane besonders beim männlichen Geschlecht<br />

durch Estrogen-, estrogenähnliche und antiandrogene Effekte<br />

bekannt. Im Tierversuch beobachtete man teratogene Schäden.<br />

Da in letzter Zeit die Inzidenz bestimmter Karzinomarten<br />

steigt, schließt man mögliche Zusammenhänge mit Disruptoren<br />

nicht aus.<br />

In den letzten 10 Jahren gelangten die genannten Substanzgruppen<br />

zunehmend in das Blickfeld des wissenschaftlichen<br />

und umweltpolitischen Interesses. Der gegenwärtig spärliche<br />

Kenntnisstand fußt auf niedrigem Evidenzniveau, weshalb die<br />

Beobachtungen sowohl auf wissenschaftlicher als auch politischer<br />

Ebene kontrovers diskutiert werden. Der Raum für Spekulationen<br />

– besonders in der allgemeinen Öffentlichkeit – bleibt<br />

vorerst groß.<br />

Trotz der gegenwärtig mangelhaften Datenlage sollte die Problematik<br />

nicht verharmlost werden. Besondere Bedeutung<br />

kommt den Phthalaten zu. Sie sind in hoher Konzentration als<br />

Weichmacher in zahlreichen Kunststoffprodukten und in synthetischem<br />

Gummi enthalten (z.B. Kinderspielzeug, Lebensmittelverpackungen,<br />

Blutbeutel, Infusionsbeutel, Infusionssysteme,<br />

Katheter, Plastbehälter zur Atemluftbefeuchtung,<br />

Kosmetika u. a.). Bestimmte Phthalate wurden für Kinderspielzeug<br />

und Kosmetika in der EU bereits verboten. Für Lebensmittelverpackungen<br />

gelten seit einiger Zeit herabgesetzte obere<br />

Grenzwerte.<br />

Medizinprodukte enthalten einen hohen Anteil an Bis(2-ethylhexyl)phthalat.<br />

Durch die Infusionslösungen kann das Phthalat<br />

aus dem Plastmaterial des Infusionssystems herausgelöst und<br />

inkorporiert werden. Frühgeborene auf Intensivstationen unterliegen<br />

diesbezüglich einem erhöhten Risiko. Magensaftresi-<br />

WISSeNSCHAFt UND FORSCHUNG<br />

stente Kapselüberzüge und Nahrungsergänzungsmittel enthalten<br />

nicht selten Dibutylphthalat. Gesundheitsbewußte Schwangere<br />

neigen zur Einnahme frei erhältlicher Nahrungsergänzungsmittel,<br />

wodurch die potentielle Gefahr einer sexuellen<br />

Entwicklungsstörung bei männlicher Leibesfrucht besteht. In<br />

mehreren Untersuchungen in Europa und Übersee sind endokrin<br />

aktive Phthalate im Urin der Allgemeinbevölkerung nachgewiesen<br />

worden. Ob, ab welchen Ausscheidungskonzentrationen<br />

und ab welcher Expositionszeit, ein Schädigungspotential<br />

vorliegt, kann gegenwärtig noch nicht stichhaltig beantwortet<br />

werden.<br />

Während auf der Liste der UN-weit verbotenen Substanzen mit<br />

möglicher endokriner Wirksamkeit Phthalate fehlen, sind Dibutylphthalat,<br />

Bis(2-äthylhexyl)phthalat und Benzylbutylphthalat<br />

von der europäischen Chemikalienagentur in die Kandidatenliste<br />

der „besonders besorgniserregenden Stoffe“ aufgenommen<br />

worden.<br />

So lange keine klare Datenlage über toxische Grenzkonzentrationen<br />

oder das Schädigungsmuster durch Phthalate vorliegt,<br />

gilt aus Sicherheitsgründen die Forderung, phthalathaltige Medizinprodukte<br />

in der Humanmedizin durch phthalatfreie zu<br />

ersetzen. Seit 21.03.<strong>2010</strong> unterliegen phthalathaltige Medizinprodukte<br />

EU-weit der Kennzeichnungspflicht.<br />

Die Versorgung eines Klinikums mit Medizinprodukten sollte<br />

grundsätzlich in der Sachkompetenz der zuständigen Apotheke<br />

liegen, um u. a. das Umstellen auf phthalatfreies Material zu<br />

gewährleisten.<br />

Verfasser:<br />

Prof. Dr. med. Rainer Hampel<br />

Klinik für Innere Medizin II<br />

Abteilung für Endokrinologie und Stoffwechselkrankheiten<br />

Universität Rostock, E.-Heydemann-Str. 6, 18057 Rostock<br />

AUSGABE 8/<strong>2010</strong> 20. JAHRGANG Seite 277

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!