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WestendHafenquartier - DGG - Deutsche Gesellschaft für ...

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Das Ensemble | Historische Betrachtungen<br />

Anna Großmann hatte bereits die Haustür geöffnet. Plötzlich fiel ihr der Wohnungs-<br />

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bezugsschein wieder ein. Sie hatte diesen kleinen amtlichen Vordruck doch eingesteckt,<br />

oder nicht? Hastig öffnete sie den Verschluss ihrer dunkelbraunen Handtasche<br />

– die Benachrichtigung war nicht dabei! Stufe <strong>für</strong> Stufe eilte die junge Frau<br />

hinauf. Die hölzernen Treppen des alten Gründerzeithauses knarrten wie wild unter<br />

ihren Bewegungen. So schnell wie heute hatte Anna noch nie zuvor die Wohnungstür<br />

geöffnet. In der Diele ging ihr Blick direkt zum Küchentisch – dort lag der Schein. Der<br />

städtische Bote hatte den Wohnungsbezugsschein vor gut zwei Wochen zugestellt.<br />

Sie kann es heute noch kaum in Worte fassen, was sie an diesem Abend fühlte, als sie<br />

den Brief öffnete und die Nachricht in den Händen hielt. Vor sieben Jahren hatten sie<br />

sich um eine neue Wohnung beworben, fragten immer wieder nach und wurden<br />

ebenso oft vertröstet. – Endlich konnte das junge Paar eine neue, eine moderne<br />

Wohnung beziehen. Ein richtiges Badezimmer wird sie haben, mit einer großen Badewanne.<br />

Wie unangenehm war ihr immer wieder der Gang zur Toilette auf dem<br />

Zwischenpodest im Treppenhaus. Und im Winter erst, nur kaltes Wasser, mitunter<br />

nicht einmal fließend aus der Leitung, die Öfen ausgebrannt. Die Wohnung, in der<br />

sie in beengten Verhältnissen zur Untermiete lebten, befand sich in einem unzumutbaren<br />

Zustand. Wie oft besaßen sie nicht einmal genügend Brennmaterial. – ‘Einfach<br />

nach vorn schauen, Anna’, dachte sich die junge Frau, während sie das Haus in<br />

der Comeniusstraße im Leipziger Osten verließ und zur Straßenbahn eilte. Nach<br />

Feierabend wollte sich die 31jährige Anna mit ihrem drei Jahre älteren Ehemann<br />

Architektur ist, unabhängig davon, wie profan oder anspruchsvoll der Zweck ist, dem sie<br />

dient, letztlich die Gesamtheit der durch Menschenhand veränderten Umwelt und damit<br />

eine kulturelle Leistung der Menschen.<br />

Meinhard von Gerkan, Die Verantwortung des Architekten (1982)<br />

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