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KNOTEN - Carolus-Magnus-Kreis eV

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Hermann H. Dieter und Michèle Dieter [1] Bilinguale Erziehung: Wo und wie? [2]<br />

Persönliche Erfahrungen und didaktische Betrachtungen<br />

In der EU leben viele Millionen Elternpaare unterschiedlicher Muttersprache.<br />

Un ter Beachtung einiger einfacher, leicht zu beherrschender<br />

sprachlicher und erzie herischer Verhaltensregeln wäre<br />

es entsprechend aufgeschlossenen Paaren mög lich, ihre Kinder<br />

unmittelbar von der Geburt an in eine perfekte aktive und passive<br />

Bilingualität hineinwachsen zu lassen. Obwohl die staatlichen und<br />

privaten Bildungseinrich tungen dies nicht einmal etwas kosten<br />

würde, tun sie nichts, um den hier schlum mernden Schatz an Bilingualität<br />

der nächsten Generation zu fördern. Stattdessen legen<br />

sie ständig neue und teure, jedoch uneffektive und didaktisch umstrittene<br />

Programme für Frühenglisch u.ä. in Kindergarten und<br />

Schule auf.<br />

1 In Sprache eintauchen – und schwimmen!<br />

Seit ihrer Geburt hörten unsere Kinder Mélanie und Harald ihre<br />

Mutter nur Französisch und ihren Vater nur Deutsch sprechen.<br />

Dieser Regel unterwerfen sich ihre Eltern nicht nur aus einer gewissen<br />

Sprachbequemlichkeit. Ausschlaggebend war vielmehr ihr<br />

Studium verschiedener Untersuchungen zum Thema „bilinguale<br />

Erziehung“ und die strikte Beachtung der wichtigsten daraus destillierbaren<br />

Regel „Eine Person – eine Spra che“. Der Erfolg?<br />

Hierzu einige persönliche Beobachtungen:<br />

1) Mélanie ist etwa 1 ½ Jahre alt. Sie babbelt je nach sprachlicher<br />

Umgebung eindeutig erkennbar entweder auf deutsch oder auf<br />

französisch. Ihr französischer Vetter Jérôme weilt mit seinen französischen<br />

Eltern, die beide in Frankreich wohnen, bei uns in Konstanz<br />

zu Besuch. Er ist zwei Tage älter als Mélanie. Er hat bis zu<br />

diesem Tag nie eine andere Sprache als Französisch gehört.<br />

Die beiden Kinder haben sich schnell aneinander gewöhnt und<br />

babbeln munter drauflos, und dies umso heftiger, als sie bemerken,<br />

dass uns ein begeistertes Lachen Jérômes in Beschlag<br />

nimmt. Der Grund: Mélanie „unterhält“ ihren Cousin auf deutsch!<br />

Tatsächlich besitzt ihr „Wortfluss“ weder das typische französische<br />

Tempo noch die Flüssigkeit der französischen Sprache, und<br />

die Laute klingen deutlich „kehlig“.<br />

Als Jérômes Mutter Mélanie fragt, was sie denn so Lustiges erzähle,<br />

schaut Mélanie sie kurz an und verfällt wieder in ein französisches<br />

Gebabbel. Jérôme ist sichtlich enttäuscht.<br />

2) Selbst Kinder in Frankreich, die zu Hause noch nie ein Dienstmädchen<br />

sahen, kennen hierfür das Wort „la bonne“, z. B. aus<br />

Märchen und Erzählungen oder als ein letztes Schlagwort, wenn<br />

in ei nem Streit andere Argumente als „Je ne suis pas ta bonne“<br />

nicht mehr wei terhelfen. Als Mélanie, die mit ihrem Vater immer<br />

nur Deutsch spricht, ihm einmal behilflich sein soll, dies aber nicht<br />

ein sieht, wehrt sie sich nach einigem Hin und Her tatsächlich mit<br />

dem Argument „Ich bin nicht deine Güterin“ (aus bonne = Femininform<br />

von bon = gut).<br />

3) Auf ähnlich struktursicherem Boden bewegt sich Harald im Alter<br />

von 3½ Jahren souverän in beiden Sprachen. Als er bei einem<br />

Ausflug mit seinem Vater und ausschließlich französischspra chigen<br />

Spielkameraden am Wegrand eine besonders prachtvolle<br />

Fenchelpflanze (fe-nouille) ent deckt, zeigt er sie ihm stolz mit den<br />

Worten: „Guck mal, eine Feuernudel!“ (phonetisch aus feu/Feuer<br />

und nouille/Nudel).<br />

4) Die ganze Weite der Möglichkeiten, sprachlich zu schwimmen<br />

statt unterzugehen, erfuhren beide Kinder sehr früh auch durch<br />

14 <strong>KNOTEN</strong> · Jahrgang 25, Nr. 1 · Frühjahr 2012 · www.carolus-magnus-kreis.de<br />

ihre Großmutter, die ihnen unendlich viele Geschichten auf französisch<br />

erzählte und sie Jahr für Jahr oft ohne uns wochenlang in<br />

Frankreich bei sich hatte. Niemand aus der fran zösischen Verwandtschaft<br />

verstand oder sprach dort jemals auch nur ein Wort<br />

Deutsch mit ihnen. Sie besuchten die französische Vorschule und<br />

tauchten tatsächlich ins Französische ein, aber nicht künstlich und<br />

gewollt, sondern quasi natürlich, sinnlich und sozial erfahrbar.<br />

Als ihre „Mami“ dann auch noch Deutsch lernte, lasen sie ihr aus<br />

dem SPIEGEL vor und wurden so mit ihrer perfekten Bilingualität<br />

zum beiderseitigen Nutzen und Vergnügen zu Botschaftern des<br />

kulturellen Austauschs.<br />

5) Als beide Kinder mit uns 1980 in Kalifornien ankommen, ist<br />

Harald 5 Jahre alt und beherrscht schon nach zwei Wochen viele<br />

englische Wörter, vor allem aber den typischen kalifornischen<br />

Slang. Mélanie ist schon 8½, hat es wesentlich schwerer und ist<br />

zunächst sprachlich isoliert. Doch schon nach vier Monaten ist<br />

auch ihr Amerikanisch von dem ihrer Klassenkameraden nicht<br />

mehr zu un terscheiden. Die Erzieherin staunt über den Umfang<br />

ihres Vokabulars und die Leichtigkeit, mit der sie sich in der für sie<br />

neuen Sprache schriftlich und mündlich bewegt.<br />

2 In Sprache eintauchen – und untergehen?<br />

Die Aneignung von Sprache geschieht im allgemeinen so selbstverständlich,<br />

dass dieser komplexe Prozess kaum Beachtung findet.<br />

Daraus speist sich ein gesell schaftlich verallge meinerter<br />

Grundkonsens darüber, was bei der Sprach aneignung als „normal“<br />

gelten kann. Bei der Abweichung der Entwicklung eines Kindes<br />

von rigiden Normalitätsvor stellungen entsteht schnell eine Art<br />

Alarmismus – oft in Verbin dung mit Patentrezep ten für das elterliche<br />

Handeln. [3]<br />

Ein alarmistisches Rezept für frühes Sprachenlernen heißt heute<br />

„Immer sion“ – Ein- und Untertauchen.<br />

Englisch für Babys, Musikstunden für Säuglinge: Wer heute etwas<br />

auf sich hält, schleppt seinen Goldschatz von einem Förderkurs<br />

zum nächsten. Fremdsprachen, Länderkunde, Museumsbesuche<br />

stehen auf dem Erziehungsplan. Jeder Fortschritt wird fast<br />

wissenschaftlich protokolliert. Die Kinder werden ausgewogen<br />

ernährt. Werden sie auch ausgewogen erzogen?<br />

Die Antwort vieler Pädagogen: Was Kleinkinder wirklich stark<br />

macht für das Le ben, das können ihnen die Krippen, neun Stunden<br />

am Tag, nicht bieten. [4]<br />

3 Auch die Landessprache geht unter – oder: Wie bilingual<br />

sind bilinguale Schulen?<br />

Ein wichtiger Nebenaspekt ist hier nicht zu vergessen. Wenn die<br />

Praxis der früh kindlichen Fixierung auf das Englische „Schule<br />

macht“, werden dabei nicht nur die Kinder sprachlich „untergehen“,<br />

sondern perspektivisch auch alle europäischen Lan dessprachen<br />

außer Englisch, in unserem Fall also Deutsch.<br />

Dies ist bereits heute nicht erst in den Universitäten und überhaupt<br />

der Wissen schaft zu beobachten, sondern bereits davor in<br />

sogenannten bilingualen Gymnasien, die unter diesem Etikett<br />

allerdings Schwindel betreiben. Bilingualität gibt es dort im Sach -<br />

fach unterricht nicht einmal im Sinne von „Englisch + Deutsch“.<br />

Ohne jedes politische Mandat ist das bisherige Lernziel „Völkerverständigung“<br />

de facto dem Lernziel „Ver drängung von Deutsch<br />

als Fachsprache durch Englisch“ gewichen. [5]

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