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KNOTEN - Carolus-Magnus-Kreis eV

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Norbert Becker Vernetzte Literaturlektüre<br />

und Wolf ab, sondern zwischen Mutter und Vater, wobei erstere,<br />

die die Gefahr nicht erkennt, Unrecht hat. Was der Wolf mit der<br />

Tochter Schaf, die er entführt, machen wird, wird nicht expressis<br />

verbis ausgeführt. Das ist für die Pointe/Moral aber letztlich auch<br />

gleichgültig. Die Transposition in den menschlichen Bereich wird<br />

nicht mit letzter Konsequenz und total durchgeführt, sondern verbleibt<br />

im symbolhaften, bildlichen Bereich, wobei sich der Autor<br />

wohl mit einem gewissen Schmunzeln unausgesprochen auf die<br />

vorausgegangenen Fabeln (Antike und La Fontaine) bezieht, sie in<br />

seine eigene Zeit versetzt, sie aber deutlich als Gleichnis belässt,<br />

wobei auch auffällt, dass die Moral der Fabel geändert worden<br />

ist. Handelte es sich früher um eine Auseinandersetzung zwischen<br />

Schaf und Wolf, zwischen einem unmittelbar Bedrohten und dem<br />

Aggressiven, so wird jetzt eine Streitfrage in der Familie in den<br />

Mittelpunkt gestellt, wobei die Mutter, die die Gefahr nicht rechtzeitig<br />

erkennt, den Kürzeren zieht. Unterrichtlich gesehen ist es<br />

sehr vorteilhaft, wenn James Thurber etwa zeitgleich zu den anderen<br />

Fabeln gelesen wird. Er bietet auch viele interessante<br />

Sprechanlässe.<br />

B. Die Eiche und das Schilfrohr<br />

Die beiden folgenden Fabeln, die aus dem griechischen Bereich<br />

kommen, werden hier gleich in der Übersetzung von Johannes<br />

Irmscher, Berlin, gebracht.<br />

Aesop<br />

Die Eiche und das Schilfrohr<br />

Die Eiche und das Schilfrohr stritten miteinander, wer der Stärkere<br />

sei. Als sich ein heftiger Sturm erhob, schwankte und beugte<br />

sich zwar das Schilfrohr unter dessen Stößen, in den Wurzeln aber<br />

blieb es fest. Die Eiche dagegen widerstand wohl im großen und<br />

ganzen, wurde aber dennoch aus den Wurzeln gehoben.<br />

Die Fabel lehrt, dass man mit Stärkeren nicht streiten soll.<br />

Äsop gelingt es, mit ganz wenigen Strichen das Wesentliche zu<br />

zeichnen. Die Natur ist so nahe, dass man es, wäre nicht die Personifikation,<br />

fast für eine realistische Naturschilderung halten<br />

könnte. Dennoch ist klar, dass das Geschehen nur als ein Beleg<br />

für die These der Moral dient, die aus der Fabel gezogen wird.<br />

Beim Streit mit Stärkeren riskiert man schnell eine Niederlage.<br />

Anpassung an die Situation, nicht Herausforderung der Gefahr ist<br />

wohl klüger. Rund sieben Jahrhunderte später nimmt Babrios die<br />

Thematik wieder auf.<br />

Babrios<br />

Die Eiche und das Schilfrohr<br />

Ein Sturm riss eine Eiche mit den Wurzeln aus am Bergesabhang<br />

// und stürzt sie in den Fluss. Hoch trugen da die Wellen // den<br />

Baum, den Menschen einst vor alters angepflanzt. // An beiden<br />

Ufern stand viel Rohr, das leichte, // das Wasser aus des Flusses<br />

Böschung trinkt. // Und Staunen fasst die Eiche, wie das dünne,<br />

// so schwache Rohr dem Sturme standhielt, // indes sie selbst,<br />

ein mächt’ger Baum, entwurzelt wurde. // Da sagte klug das Rohr:<br />

„Du brauchst dich nicht zu wundern! // Weil du dem Sturme trotz-<br />

test, wurdest du besiegt; // wir aber beugen uns in kluger Einsicht,<br />

// sobald ein Windstoß unsre Spitzen zart bewegt.“ //<br />

Soweit das Schilfrohr! Doch die Fabel zeigt: / Nicht trotze du den<br />

Mächtigen, gib lieber nach!<br />

Aus der antagonistischen Diskussion macht Babrios, der im 1.<br />

Jahrhundert n. Chr. lebte, ein Geschehen, das zu einer Deutung<br />

ausgenutzt wird. Die Meinung des Autors wird anhand der verwendeten<br />

Adjektive und des Ereignisses eindeutig gezeigt. Einerseits<br />

ist das Schilfrohr leicht, dünn, schwach. Es ist andererseits<br />

aber auch klug (2x) und bewegt sich oben zart, so dass die Wurzeln<br />

nicht beeinträchtigt werden. Es stellt also einen Gegensatz zur<br />

mächtigen (2x) Eiche dar. Babrios, der in der römischen Kaiserzeit<br />

lebte, plädiert also für Anpassung, Verzicht auf Widerstand. Wir<br />

dürfen dabei wohl auch eine politische Aussage annehmen. Die<br />

sprachliche Gestaltung der Fabel ist gegenüber Äsop etwas stärker<br />

betont (Vers, Wortwahl, Personifikation, ausführlichere Schilderung,<br />

Bildwelt). Auch La Fontaine nimmt diesen Fabelstoff auf,<br />

gibt ihm aber eine andere Nuance, ohne den Gehalt grundlegend<br />

zu ändern.<br />

La Fontaine<br />

Le Chêne et le Roseau<br />

Le chêne un jour dit au roseau: // «Vous avez bien sujet d’accuser<br />

la nature: // Un roitelet pour vous est un pesant fardeau. // Le<br />

moindre vent qui d’aventure // fait rider la face de l’eau // Vous<br />

oblige à baisser la tête; // Cependant que mon front, au Caucase<br />

pareil, // Non content d’arrêter les rayons du soleil, // Brave l’effort<br />

de la tempête. // Tout vous est aquilon, tout me semble zéphyr.<br />

// Encor si vous naissiez à l’abri du feuillage // Dont je couvre<br />

le voisinage, // Vous n’auriez pas tant à souffrir: // Je vous défendrais<br />

de l’orage. // Mais vous naissez le plus souvent // Sur les<br />

humides bords des royaumes du vent. // La nature envers vous<br />

me semble bien injuste. // – Votre compassion , lui répondit l’arbuste,<br />

// Part d’un bon naturel; mais quittez ce souci. // . Les<br />

vents me sont moins qu’à vous redoutables. // Je plie, et ne<br />

romps pas. Vous avez jusqu’ ici // Contre leurs coups épouvantables<br />

// Résisté sans courber le dos; // Mais attendons la fin.»<br />

Comme il disait ces mots, // Du bout de l’horizon accourt avec<br />

furie // Le plus terrible des enfants // Que le Nord eût portés jusque-là<br />

dans ses flancs. // L’arbre tient bon, le roseau plie; // Le<br />

vent redouble ses efforts, // Et fait si bien qu’il déracine // Celui<br />

de qui la tête au ciel était voisine, // Et dont les pieds touchaient<br />

à l’empire des morts.<br />

Sofort, ohne lange Situationsbeschreibung lässt La Fontaine die<br />

stolze Eiche herablassend zum Antagonisten, dem Schilfrohr, sprechen.<br />

Sehr geschickt ist es, dass die vielen Redeanteile – 16 –<br />

dem eingebildeten Charakter der Eiche entsprechen. Sie beschreibt<br />

ausführlich den Unterschied zwischen den beiden, indem<br />

sie den eigenen Wert übermäßig hervorhebt und das Schilfrohr<br />

kleinredet. Der umfangreichen Rede der Eiche stehen nur 6 ½<br />

Einheiten beim Schilfrohr entgegen, noch nicht einmal die Hälfte.<br />

Der Redeanteil des Schilfrohrs ist also unvergleichlich geringer.<br />

Sehr umfassend rühmt die Eiche sich: Sie vergleicht sich einem<br />

<strong>KNOTEN</strong> · Jahrgang 25, Nr. 1 · Frühjahr 2012 · www.carolus-magnus-kreis.de 25

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