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KNOTEN - Carolus-Magnus-Kreis eV

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Norbert Becker Vernetzte Literaturlektüre<br />

der Richtung der Argumentation des Schilfrohrs geführt. Umso<br />

nachdrücklicher wirkt dann der letzte Satz, der die wesentliche<br />

Aussage der Fabel ausdrückt. Selbst wenn ihr Leben zu Ende<br />

geht, so hat die Eiche sich doch trotz aller Bedrohung und Not<br />

nicht verleugnet. Sie ist so groß geblieben, wie sie war. Sie hat<br />

innerlich standgehalten wie manche Helden in den Dramen von<br />

Jean Anouilh.<br />

C. Der Fuchs und der Rabe<br />

Nicht ganz unähnlich ist die Moral einer anderen thematischen<br />

Linie: „Der Fuchs und der Rabe“<br />

Sie zählt bereits in der Antike zu den am weitesten verbreiteten Fabelstoffen,<br />

betrifft sie doch eine häufig festzustellende und das<br />

Zusammenleben störende menschliche Charakterschwäche: Eitelkeit,<br />

große Freude am Lob der eigenen Person, das alles andere<br />

vergessen lässt, nämlich die Wahrnehmung der Wirklichkeit, zutreffende<br />

Selbsteinschätzung und echte Kontaktfähigkeit.<br />

Aesop<br />

Der Rabe und der Fuchs<br />

Ein Rabe hatte ein Stück Fleisch gestohlen und saß damit auf<br />

einem Baume. Der Fuchs sah ihn, und weil er sich das Fleisch<br />

aneignen wollte, lief er herbei und lobte den Raben. Er sei stattlich<br />

und schön, sagte er, und müsse deshalb König der Vögel werden,<br />

und das würde durchaus geschehen, wenn er eine Stimme<br />

hätte. Der Rabe nun wollte beweisen, dass er eine Stimme besitze;<br />

er ließ darum das Fleisch fallen und krächzte laut. Da sprang<br />

der Fuchs herzu, packte das Fleisch und sagte: „O Rabe, wenn du<br />

auch Verstand besäßest, so hätte nichts gefehlt, und du wärest<br />

König über alle geworden.“<br />

Auf einen dummen Kerl passt die Fabel sehr gut.<br />

Der Fuchs – ein schlaues Tier, wie wir bereits sahen – lobt den<br />

Raben in mancher Hinsicht und reizt seinen Ehrgeiz und Machttrieb,<br />

König der Vögel zu werden. In dieses Lob mancher positiver<br />

Eigenschaften packt er aber vom Raben unbemerkt den<br />

Hinweis auf ein Defizit ein, das dieser freilich nicht stehen lassen<br />

will, da er ja zu Recht der Meinung ist, dass ein König der Vögel<br />

auch mit seinen Untertanen sprechen können müsse und sich<br />

daher auch stimmlich durchsetzen müsse. Die Moral der Fabel<br />

wird durch die beiden letzten Sätze – einmal vom Fuchs, aber<br />

auch vom Kommentar des Erzählers – ausgedrückt. Die Fabel<br />

konzentriert sich knapp auf das Wesentliche: Situationsangabe,<br />

Angabe der Gedanken bzw. der Absicht des einen Protagonisten;<br />

Entwicklung des Geschehnisses und Angabe der Moral der Geschichte.<br />

Die Lehre aus der Geschichte ist eine Art Warnung vor<br />

Schmeichlern und auch persönlicher Eitelkeit.<br />

La Fontaine<br />

Le Corbeau et le Renard<br />

Maître corbeau, sur un arbre perché, // Tenait en son bec un fromage.<br />

// Maître renard, par l’odeur alléché // Lui tint à peu près<br />

ce langage: // «Et bonjour, Monsieur du Corbeau. // Que vous êtes<br />

joli! Que vous me semblez beau! // Sans mentir, si votre ramage<br />

// se rapporte à votre plumage, // Vous êtes le phénix des hôtes<br />

de ces bois.» // A ces mots, le corbeau ne se sent pas de joie; //<br />

Et pour montrer sa belle voix, // Il ouvre un large bec, laisse tomber<br />

sa proie. // Le renard s’en saisit, et dit: «Mon bon monsieur,<br />

// Apprenez que tout flatteur // Vit aux dépens de celui qui l’écoute.<br />

// Cette leçon vaut bien un fromage sans doute.» // Le corbeau<br />

honteux et confus, // Jura, mais un peu tard, qu’on ne l’y<br />

prendrait plus.<br />

Dieser klassische Fabelstoff hat auch La Fontaine gereizt. Er hat<br />

ihn aufgegriffen und hervorragend gestaltet. Wie häufig bei La<br />

Fontaine ist die gesellschaftliche Relevanz deutlich, da man mit<br />

Maître Angehörige der Schicht der Notabeln ansprach. Im Übrigen<br />

hat der genannte Fabelstoff auch bei vielen späteren Schriftstellern<br />

Interesse geweckt, die ihn in verschiedener, sehr persönlicher<br />

Weise interpretierten. Bei der Kürze der Fabel sind die<br />

eventuellen Schwierigkeiten im Unterricht leicht beherrschbar. Einige<br />

zunächst noch unbekannte Ausdrücke können ohne weiteres<br />

auf der Basis des Kontextes oder der Wortfamilien erschlossen<br />

werden. Natürlich kann man auch einige wenige Termini wie z.B.<br />

le phénix vorher angeben. Anregungen für Gruppenarbeit oder<br />

auch individuelle Vorbereitung können betreffen: die beiden Protagonisten<br />

(vor allem Charakter), die Situation zu Beginn, die Entwicklung<br />

des Geschehens, den Parallelismus der beiden Reden<br />

des Fuchses, die doppelte Gestaltung der Moral (ironisch, verbal<br />

und Handlung). Reizvoll ist die Situation zu Beginn: Der Rabe<br />

thront oben, stolz, majestätisch und macht sich daran, seine Beute<br />

zu verzehren. Claude Dreyfus weist darauf hin, dass Maître im<br />

Echo das Krächzen eines Raben lautlich imitieren könnte. Der<br />

schlaue Fuchs überlegt, wie er die unüberbrückbare Höhendistanz<br />

überwinden könnte, und greift dann zu dem psychologischen<br />

Trick. Wichtig ist es dann, die facettenreiche schmeichlerische<br />

Rede auf verschiedenen Ebenen zu betrachten. Anlass zur Diskussion<br />

oder gar kreativen Gestaltung könnte der letzte Vers bilden.<br />

Hat sich die Lektion für den Raben gelohnt? Wird er wirklich<br />

nicht mehr hereinfallen? Wie könnte man sich unter Umständen<br />

ein andermal verhalten, um bei ihm sein Ziel zu erreichen? Doch<br />

betrachten wir zunächst einige andere Gestaltungen dieses interessanten<br />

Fabelstoffes.<br />

Gotthold Ephraim Lessing<br />

Der Rabe und der Fuchs<br />

Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner<br />

für die Katzen seines Nachbarn hingeworfen hatte, in seinen<br />

Klauen fort. Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren,<br />

als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: Sei mir gesegnet,<br />

Vogel des Jupiter! – Für wen siehst du mich an?, fragte der<br />

Rabe. – Für wen ich dich ansehe? erwiderte der Fuchs. Bist du<br />

nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf<br />

diese Eiche herabkömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst<br />

du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die<br />

erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich zu schicken noch fortfährt?<br />

<strong>KNOTEN</strong> · Jahrgang 25, Nr. 1 · Frühjahr 2012 · www.carolus-magnus-kreis.de 27

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