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KNOTEN - Carolus-Magnus-Kreis eV

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Norbert Becker Vernetzte Literaturlektüre<br />

hohen Gebirge (Caucase), sie halte die Sonne zurück, sie bilde<br />

einen Schutz für andere, der Wind sei nur ein warmes Säuseln<br />

für sie, da ihr der Wind nichts ausmache, im Gegensatz zum<br />

Schilfrohr, das sich sofort biege schon bei einem Zaunkönig, dem<br />

mehr oder weniger kleinsten Vögelchen. Das Schilfrohr vermag<br />

nur kurz jegliches Mitleid abzulehnen und verweist auf ein eventuelles<br />

Ende. Erst da werde sich zeigen, was besser ist. Unmittelbar<br />

nach diesem kontrastiven Dialog kommt Wind auf, wird dann<br />

zum Sturm und entwurzelt schließlich als Orkan die großsprecherische<br />

Eiche. Die Szene in ihrer Entwicklung hat hochdramatischen<br />

Charakter. Gegenüber den beiden antiken Fabeln hat die<br />

von La Fontaine in Wortwahl, Ausführlichkeit, Bildwelt und Struktur<br />

eine starke rhetorische Gestaltung erfahren. Sie ist in dieser<br />

Hinsicht ein typisches “Kind“ der französischen Klassik. Die unausgesprochene,<br />

aber doch eindeutig wahrzunehmende Moral<br />

kann durchaus auf die Gesellschaft der Zeit von La Fontaine angewandt<br />

werden. Wer oben steht und sogar sich dessen rühmt,<br />

riskiert in den Stürmen der Zeit oder wenn er die Gunst des Himmels<br />

verliert, in schlechten Zeiten also, den tiefen und bedrohlichen<br />

Sturz. Man hat dies – wie auch Hugo Blank (S. 125-127) –<br />

auf Fouquet bezogen. Die Fabel möge zwar persönliche Erfahrungen<br />

in jener Gesellschaft ausdrücken, hat aber dennoch<br />

allgemeine Geltung und Gültigkeit. Gerade dies ist ein charakteristisches<br />

Element dieser literarischen Gattung.<br />

Gotthold Ephraim Lessing<br />

Die Eiche<br />

Der rasende Nordwind hatte seine Stärke in einer stürmischen<br />

Nacht an einer erhabenen Eiche bewiesen. Nun lag sie gestreckt,<br />

und eine Menge niedriger Sträuche (sic) lagen unter ihr zerschmettert.<br />

Ein Fuchs, der seine Grube nicht weit davon hatte,<br />

sah (sic) sie des Morgens darauf. Was für ein Baum, rief er. Hätte<br />

ich doch nimmermehr gedacht, dass er so groß gewesen wäre.<br />

Eine neue Nuance gegenüber seinen Vorgängern bringt Lessing in<br />

die Deutung hinein. Jetzt ist das Schicksal der mächtigen Eiche<br />

mit dem des um sie herum befindlichen Schilfrohrs eng verknüpft.<br />

Bei ihrem Sturz zerschmettert sie nämlich das Schilfrohr, so dass<br />

es nicht mehr als Sieger aus dem bekannten Antagonismus hervorgehen<br />

kann. Wie bei den anderen Fabeln ist die weit herausragende<br />

Größe der Eiche der Grund für ihr vorzeitiges Ende. Ein<br />

Tier, das für seine Schlauheit bekannt ist, deutet die Moral an.<br />

Lessing verzichtet also auf eine Auseinandersetzung der beiden<br />

betroffenen Protagonisten, fügt aber noch eine beurteilende „Person“,<br />

eben den Fuchs, hinzu, der ja eigentlich nur indirekt zufällig<br />

damit etwas zu tun hatte, deshalb weil seine Grube sich in der<br />

Nähe befindet. Zur sprechenden „Person“ wird nur der eigentlich<br />

unbeteiligte schlaue Fuchs, nicht aber die beiden betroffenen Vertreter<br />

der Flora, Eiche und Schilfrohr, wie sonst in der Tradition<br />

der Fabeln.<br />

26 <strong>KNOTEN</strong> · Jahrgang 25, Nr. 1 · Frühjahr 2012 · www.carolus-magnus-kreis.de<br />

Jean Anouilh<br />

Le chêne et le roseau<br />

Le chêne un jour dit au roseau: // «N’êtes-vous lassé pas d’écouter<br />

cette fable? // La morale en est détestable; // Les hommes<br />

bien légers de l’apprendre aux marmots. // Plier, plier toujours,<br />

n’est-ce pas déjà trop // Le pli de l’humaine nature?» // «Voire,<br />

dit le roseau, il ne fait pas trop beau; // Le vent qui secoue vos<br />

ramures / (Si je puis en juger à niveau de roseau) // Pourrait vous<br />

prouver, d’aventure, // Que nous autres, petites gens, // Si faibles,<br />

si chétifs, si humbles, si prudents, // Dont la petite vie est<br />

le souci constant, // Résistons pourtant mieux aux tempêtes du<br />

monde, // Que certains orgueilleux qui s’imaginent grands.»<br />

Le vent se lève sur ses mots, l’orage gronde, // Et le souffle profond<br />

qui dévaste les bois, // Tout comme la première fois, // Jette<br />

le chêne fier qui le narguait par terre. // «Hé bien, dit le roseau,<br />

le cyclone passé – // Il se tenait courbé par un reste de vent – //<br />

Qu’en dites-vous donc mon compère? // (Il ne se fût jamais permis<br />

ce mot avant) // Ce que j’avais prédit n’est-il pas arrivé?» //<br />

On sentait dans sa voix sa haine // Satisfaite. Son morne regard<br />

allumé. // Le géant, qui souffrait, blessé, // De mille morts, de<br />

mille peines, // Eut un sourire triste et beau; // Et, avant de mourir,<br />

regardant le roseau, // Lui dit: «Je suis encore un chêne.»<br />

Wenn man die Fabel von La Fontaine im Unterricht gelesen hat,<br />

dürfte die von Jean Anouilh keine größeren Schwierigkeiten bereiten.<br />

Dennoch ist es bei den vermutlich unterschiedlichen<br />

Sprachniveaus der Klassen/Kurse angebracht, eine Anhäufung<br />

von eventuellen Schwierigkeiten zu vermeiden und daraufhin den<br />

Text zu überprüfen. Will man die Fabel in Gruppenarbeit behandeln,<br />

was aufgrund der Vorkenntnisse sehr gut möglich ist, sollten<br />

sich die entsprechenden Fragen dafür auf die Charakteristik<br />

der Antagonisten, ihre typische Entwicklung während der Geschehnisse<br />

und besonders auf die Moral der Fabel beziehen. Hat<br />

man ein Drama von Jean Anouilh gelesen, wird man ohne weiteres<br />

Verbindungslinien dazu ziehen können.<br />

Jean Anouilh bezieht sich in seiner Fabel sofort ohne Situationsangabe<br />

auf die Moral der Vorgänger in der gleichen Thematik. Er<br />

setzt also diese als bekannt voraus und findet die konformistische<br />

Folgerung aus dem Ereignis letztlich ermüdend, langweilig, zumal<br />

diese Moral der Anpassung, des Sichverleugnens, des Nachgebens<br />

um des Vorteils willen in seinen Augen verabscheuungswürdig<br />

ist. Sein Standpunkt hier berührt sich sehr eng mit den<br />

Tendenzen in seinen Dramen. Sehr geschickt pointiert sind die<br />

Redeanteile der beiden Dialogpartner. Die Diskussion wird durch<br />

ein relativ kurzes Statement der Eiche eingeleitet, das sich, wie<br />

gesagt, auf andere Fabeln bezieht und deren Moral gegenüber<br />

eine ablehnende Stellung einnimmt, sie als feige ansieht. Die Gegenrede<br />

des Schilfrohrs ist mehr als doppelt so lang und betont<br />

zweimal herablassend und voll höhnischer Ablehnung anderer die<br />

eigene, scheinbar erfolgreiche Position. Die äußere und innere<br />

Verfasstheit der beiden Protagonisten wird eingehend beschrieben.<br />

Die längeren Redeanteile des Schilfrohrs müssen im Zusammenhang<br />

vor und nach dem Ereignis – Sturz der Eiche –<br />

betrachtet werden. Dadurch wird der Leser ja auch zunächst in

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