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RUDOLF BUCHBINDER DA CAPO - Styria

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udolf<br />

Buchbinder<br />

Da Capo


Rudolf<br />

Buchbinder<br />

Da Capo<br />

Aufgezeichnet von<br />

Michaela Schlögl<br />

Mit einem Vorwort von<br />

Joachim Kaiser


Bildnachweis<br />

Alexander Basta: Cover, Vor- und Nachsatz, S. 2, 55, 65, 95, 101,<br />

105, 107, 116, 122/23, 125–131, 144, 220, 232, 288<br />

Willfried Gredler-Oxenbauer: 40, 151, 185, 189, 190, 195, 207, 287<br />

Michaela Schlögl: S. 191, Notenbeispiele (Sammlung Buchbinder)<br />

Fritz von der Schulenburg: S. 174<br />

P. Rigaud: S. 210<br />

Alexander Haiden: S. 229<br />

Philipp Horak: S. 230/31<br />

CATARINA ERIC/Eyedea/picturedesk.com: S. 255<br />

Johannes Cizek/First Look Productions/picturedesk.com: S. 271<br />

Alle übrigen Fotos: privat<br />

Foto Seite 3: Beethoven wacht von Beginn an über mich.<br />

ISBN 978-3-222-13248-3<br />

© 2008 by <strong>Styria</strong> Verlag in der<br />

Verlagsgruppe <strong>Styria</strong> GmbH & Co KG<br />

Wien·Graz·Klagenfurt<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

www.styriaverlag.at<br />

Umschlag- und Buchgestaltung:<br />

Bruno Wegscheider<br />

Reproduktion:<br />

Pixelstorm, Wien<br />

Druck und Bindung:<br />

Druckerei Theiss GmbH,<br />

9431 St. Stefan im Lavanttal<br />

Printed in Austria


Inhalt<br />

6 Buchbinder gibt Auskunft<br />

Vorwort von Joachim Kaiser<br />

11 Auftakt<br />

33 Etüden<br />

45 Pianisten-Alltag<br />

59 Kein Typ für Wettbewerbe<br />

75 Das Orakel aus Wien<br />

89 Burlesken<br />

95 Schulen der Geläufigkeit<br />

117 Kadenzen:<br />

Vom Dirigieren und vom Singen<br />

131 Kompositionen – für Klavier<br />

139 Programmierungen<br />

145 Tonarten haben ihren Charakter,<br />

Sonaten ihre Namen<br />

151 Vom Geist der Musik<br />

und des Whiskys<br />

157 Begegnungen –<br />

der einen und der anderen Art<br />

163 Agi Buchbinder: Aus meiner Sicht<br />

177 Leidenschaften – abseits der Tastatur<br />

211 Ganz ohne Motto: Grafenegg<br />

221 Mein Quintenzirkel<br />

253 Thema und Variationen:<br />

Der Pianist und seine Freunde<br />

283 Anhang<br />

287 Coda


uchbinder<br />

gibt auskunft<br />

Vorwort von Joachim Kaiser<br />

Als Rudolf Buchbinder, er erzählt es heiter, im Münchner Hotel<br />

„Vier Jahreszeiten“ einmal Friedrich Gulda begegnete, da fand zwischen<br />

den beiden Künstlern – die sich als Pianisten hoch schätzten<br />

– ein durchaus charakteristisches Gespräch statt. Auf Guldas Frage,<br />

wohin er gehe, antwortete Buchbinder wahrheitsgemäß: „Ins<br />

Konzert zu meinem Beethoven-Zyklus.“ Darauf Gulda: „Sag einmal,<br />

ist dir der Beethoven net schon fad?“ Das aber kommentierte<br />

Buchbinder nun folgendermaßen: „Die Frage ist mir, ehrlich<br />

gesagt, völlig unverständlich, denn ich entdecke immer wieder<br />

etwas Neues in solchen Meisterwerken ...“ Allzu skeptische Leser<br />

mögen das für ein bloßes Lippenbekenntnis halten, obschon Buchbinder<br />

sich in seinem Erinnerungsbuch mehrfach in dieser Weise<br />

äußert. „Man kann sich an manchen Speisen möglicherweise abessen.<br />

Aber niemals an den Meisterwerken der Klavierliteratur<br />

‚abspielen‘, auch nicht wenn man sie Hunderte Male aufgeführt<br />

hat“, heißt es einmal. Bewegend idealisch klingt Buchbinders<br />

Bekenntnis: „Ich strebe an, am Ende meines Lebens den Höhepunkt<br />

meiner pianistischen Laufbahn zu erleben. Natürlich weiß<br />

ich nicht, wann das sein wird ... Eigentlich schade! In meinem Beruf<br />

hat man nämlich in Wahrheit niemals etwas erreicht – es gibt immer<br />

noch Steigerungen.“<br />

Wer Buchbinder lange und aus der Nähe kennt, weiß sehr wohl,<br />

alle diese Feststellungen sind pure Aufrichtigkeit! Ich habe mit<br />

meinem Freunde „Rudi“ jahrelang seine Beethoven-Zyklen moderiert,<br />

beim Schleswig-Holstein-Festival in Dortmund/Bochum, in<br />

Nürnberg ... Das heißt, ich analysierte einleitend jede Sonate, bat<br />

ihn dabei um mannigfache Zitate. Und dann endlich trug er das<br />

6


Werk im Zusammenhang vor. So erlebte ich wirklich hautnah, wie<br />

sich die Sonaten in Buchbinders Seele kontinuierlich weiterentwickelten,<br />

bereicherten, verwandelten. Nicht so sehr, doch auch, was<br />

das Pianistische, Manuelle angeht. Wohl aber im Hinblick auf Tiefe<br />

und Gehalt. Was ich ihm dabei zumutete, machte ich mir kaum<br />

hinreichend klar. Einmal, es ging um die „Hammerklaviersonate“,<br />

op. 106, redete ich fast 50 Minuten lang. Er aber durfte nicht ruhig<br />

vor sich hinträumend dabei sitzen, sondern musste gespannt aufpassen,<br />

weil ja immerfort Zitate von ihm erbeten wurden, um dann<br />

letztendlich nach diesem anstrengenden Diskurs die wohl schwerste<br />

Sonate der Klavierliteratur komplett darzubieten.<br />

Die Frage, warum große Musik einen Interpreten lebenslang fesseln<br />

kann, selbst wenn ihm nichts anderes vorschwebt, als die Kompositionen<br />

„nur“ werktreu zu verlebendigen, ohne ihnen Gewalt<br />

anzutun – diese Frage kann folgendermaßen beantwortet werden:<br />

In bedeutungsvoller Klassik steckt ein Reichtum an nuancierten<br />

seelischen Gestalten, Bekundungen, Erlebnissen und Einsichten,<br />

von dem amusische Zeitgenossen kaum etwas ahnen. Solche Musik<br />

gleicht einem unendlichen Reservoir emotionaler Erfahrung! Sie<br />

lehrt uns, immer Zarteres, Verästelteres, Differenziertes wahrzunehmen.<br />

Mendelssohn hatte schon recht, als er einmal feststellte,<br />

Musik sei nicht etwa begriffslos-vage und nationale Sprache konkret<br />

klar. Sondern in Tönen gäbe es unendlich mehr Zwischenstufen<br />

gestalteter Gefühle, als Worte existieren, all diese Schattierungen<br />

zu benennen. Und damit nimmt es ein großer Pianist auf.<br />

Um nun die Aufgaben zu bewältigen, wie sie von den Werken der<br />

traditionellen Kunst und der „klassischen Moderne“ gestellt werden,<br />

helfen Rudolf Buchbinder einige bemerkenswerte künstlerische<br />

und menschliche Besonderheiten. Zunächst: Er ist für mich<br />

das größte pianistische Naturtalent, dem ich in meinem Leben<br />

begegnet bin. Er braucht sich nie Fingersätze zu notieren, tut es<br />

auch nicht, selbst bei heikelsten Schwierigkeiten! Die Finger finden<br />

es schon von selbst. Darauf kann er beneidenswerterweise fest vertrauen.<br />

So sagt er hier: „Es gibt drei Arten von Fingersätzen: den,<br />

den man studiert, den, den man den Kollegen empfiehlt, und den,<br />

den man beim Konzert erwischt.“ Das Verbum „erwischt“ verrät<br />

7


staunenswert, wie selbstverständlich Buchbinders Naturtalent<br />

funktioniert. Solche Begabung könnte verführen zu Leichfertigkeit.<br />

Doch dazu sind ihm die Kompositionen zu heilig, zu lieb. So kam<br />

es zur zweiten Besonderheit: Respektvoll und pedantisch genau studiert<br />

Buchbinder Urtext-Ausgaben, sucht und findet Fehler, nimmt<br />

nichts für gegeben. Seine vielleicht wichtigste, aber keineswegs<br />

spektakulärste dritte Eigentümlichkeit: Er ist völlig frei von jedem<br />

Manierismus. Es ist kaum möglich, irgendeine „Manier“ bei ihm<br />

auszumachen. Irgendeinen hilfreichen Tick oder auch Trick, der<br />

die Künstler-Persönlichkeit vor das Werk schiebt. Was er interpretierend<br />

tut, wenn er mit cantablem, innigem Ton Mozart-Konzerte<br />

meistert, wenn er beim dramatischen Dialog im Andante des G-Dur-<br />

Konzertes von Beethoven die ergreifend schmerzlichen Antworten<br />

des Klaviers um eine zögernde Hundertstelsekunde zu spät zu bieten<br />

scheint, worin sich so viel Beklommenheit, Angst, Schmerz verbirgt<br />

– es kommt immer ganz aus der Sache. Seine elementare,<br />

musikantisch-musikalische Freiheit von allen Manierismen macht<br />

ihn empfindlich für feine oder derbe Übertreibungen mancher seiner<br />

Kollegen. So ist es mittlerweile, seit Svjatoslav Richter einst<br />

Schuberts große B-Dur-Sonate aberwitzig expressiv langsam vortrug,<br />

beinahe Mode geworden, Schuberts traurige Andante-Sätze<br />

als Adagios oder gar Largos zu forcieren, um ihre Depressivität zu<br />

verdeutlichen. Doch die pianistischen Adagio-Hohepriester<br />

machen sich nicht klar, wie sehr sie damit Schuberts eigentümliche<br />

Wahrheit verfehlen. Bei ihm gibt es nämlich ein mutloses Andante-<br />

Schlendern, das gerade kein gewichtiger Adagio-Trauermarsch,<br />

gerade kein pathetisches Largo sein darf – und in seiner schwebenden<br />

Verzweiflung ungeheuer schwer zu treffen ist. In einer solchen<br />

Aura depressiven Schlenderns soll das erste Lied der „Winterreise“,<br />

beginnen, der zweite Satz der Großen C-Dur-Sinfonie<br />

(„Andante con moto“), müssen die Mittelsätze der Großen A-Dur-<br />

Sonate (DV 959) und eben der mysteriösen B-Dur-Sonate (DV 960)<br />

anheben. Einzig der langsame Satz der C-Moll-Sonate (DV 958),<br />

wo Schubert offenbar bewusst auf Beethoven anspielt, ist tatsächlich<br />

dem Typus nach eines jener As-Dur-Adagios, wie der junge<br />

Beethoven sie gern komponierte.<br />

8


Bei der Aufzählung von Buchbinders bemerkenswerten Besonderheiten<br />

habe ich die – vielleicht seltenste – vergessen: es ist seine vollkommene<br />

Un-Eitelkeit. Dazu muss er sich nicht „zwingen“, das ist<br />

keine Sympathie heischende Bescheidenheits-Pose. Sondern er<br />

kann nicht anders. Feierliche Aufgeblasenheit, wildes Bedeutungs-<br />

Gehabe liegt ihm nicht, widersteht ihm. Sachlich und freundlich<br />

gibt er Antwort. Gewiss ließe er auch gerne darüber streiten, ob es<br />

wirklich zutreffend ist, zeitgenössische U-Musik, Pop-Musik und<br />

traditionelle E-Musik als gleichartige Form der Unterhaltung<br />

nebeneinander zustellen. Natürlich kann es entzückende U-Musik<br />

und todlangweilige Symphonien geben. Doch die jeweiligen Qualitäten<br />

oder Schwächen haben nichts miteinander zu tun. Große<br />

traditionelle Musik nimmt doch die unvergleichliche Geschichte<br />

der E-Musik-Sprache, die sich in Jahrhunderten differenziert hat,<br />

in sich auf. Bachs h-Moll-Messe bewahrt in sich eine riesige<br />

Geschichte der Kirchen-Musik, Beethovens Sonate op. 110 reicht<br />

mit Rezitativ und Johannes-Passion-Arioso weit zurück, Wagners<br />

„Meistersinger“ und sein „Parsifal“ tun es auch. Noch so gelungene<br />

Manifestationen effektvoller Film-Musik oder Schlager-Produktion<br />

haben völlig andere Qualitäten. Oder nicht? Diskutieren würde<br />

ich auch gern über Buchbinders Meinung, wer Bach auf dem<br />

Steinway spielt, soll keineswegs versuchen, auf einem modernen<br />

Klavier historisch spielen zu wollen.<br />

Letzte Frage: Was steckt eigentlich hinter Buchbinders Scheu, eigene<br />

Aufnahmen, nachdem sie sich von ihm abgelöst haben, überhaupt<br />

nicht mehr hören zu können, zu wollen? Handelt es sich<br />

dabei um nahezu übermenschliche Un-Eitelkeit? Oder fürchtet er<br />

gar, sich seiner frei strömenden Kunst zu berauben, wenn er ihr im<br />

akustischen Spiegel begegnet?<br />

Joachim Kaiser<br />

9


Auftakt<br />

Rudolf Buchbinder, tschechisch-österreichischer Pianist. So steht es<br />

in manchen Biografien. Obwohl ich ein waschechter Wiener bin, der<br />

immer in Wien gelebt hat, geht aus meiner Geburtsurkunde tatsächlich<br />

hervor, dass ich am 1. Dezember 1946 im böhmischen Leitmeritz<br />

(Litomeˇrice) nördlich von Prag zur Welt kam! Mein Aufenthalt<br />

im Säuglingsalter in der Stadt am Zusammenfluss von Eger und Elbe<br />

dauerte jedoch nur ein paar Wochen, gerade so lange, bis meine<br />

Mutter mit dem Neugeborenen wieder zurück nach Wien reisen<br />

konnte. Von den Schönheiten meiner Geburtsstadt, des „böhmischen<br />

Paradieses“, wie es genannt wird, wo an den Elbhängen dank<br />

des milden Klimas sogar Wein gedeiht, bekam ich leider überhaupt<br />

nichts mit. Der Geburtsort war nämlich reiner Zufall. Auch meine<br />

Mutter ist Wienerin, sie hielt sich nur zum Zeitpunkt meiner Geburt<br />

just in Leitmeritz auf. Da ihr erster, verstorbener Mann ein<br />

Tscheche aus Leitmeritz war, musste sie dort eine dringende Angelegenheit<br />

erledigen. Ich hatte es offenbar sehr eilig, auf die Welt zu<br />

kommen und wollte nicht warten, bis sie wieder zu Hause in Wien<br />

war.<br />

Retrospektiv könnte ich heute spekulieren, ob es vielleicht doch kein<br />

Zufall, sondern ein Omen war, dass ich in Leitmeritz das Licht der<br />

Welt erblickte. Ein starker Bezug zu Wien war ja gegeben – immerhin<br />

steht in der Altstadt ein St. Stephansdom auf dem Domhügel!<br />

Aber vor allem die Tatsache, dass der von mir besonders verehrte<br />

Maler, Zeichner und Radierer Alfred Kubin ebenfalls in Leitmeritz<br />

Ich finde überhaupt nicht, dass ich ein Wunderkind war. Ich habe doch immer<br />

gerne gespielt.<br />

11


In kurzer Hose im Hof. Doch wenn<br />

ich ins Haus gehe und mich strecke,<br />

erreiche ich schon die Klaviatur.<br />

geboren wurde, macht mir<br />

meinen Geburtsort bis heute<br />

sympathisch! Ob meine Leidenschaft<br />

für die Malerei aus<br />

Leitmeritz stammt?<br />

Meine Mutter hatte damals<br />

weder Zeit noch Muße für solche<br />

Spekulationen. Zum Zeitpunkt<br />

meiner Geburt war ihr<br />

zweiter Mann, mein Vater, bereits<br />

tot – verunglückt bei einem<br />

Motorrad-Unfall. Schon<br />

in jungen Jahren zweifache<br />

Witwe, hatte sie ein tragisches<br />

Schicksal zu meistern. Sie war<br />

Alleinerzieherin – und zu ihrem<br />

persönlichen, schwierigen<br />

Los kam noch die allgemeine<br />

Lage so kurz nach dem Zwei-<br />

ten Weltkrieg. Unser Freund Gerhard Bronner hat das viel später<br />

einmal – auch in Hinblick auf meine Frau, die Ungarn-Flüchtling<br />

war – so charakterisiert: Zwischen den Flüchtlingen und den Einheimischen<br />

war damals kein Unterschied, beide gingen „neben<br />

den Socken“.<br />

Meine Familie bestand aus Großmutter mütterlicherseits, meiner<br />

Mutter, meinem Halbbruder und mir. Wir lebten in einer winzigen<br />

Wohnung im siebenten Wiener Gemeindebezirk. Neben dem Notwendigsten,<br />

ein paar Möbeln, wie Tisch, Sesseln und Bett, stand in<br />

dem Zimmer erstaunlicherweise auch ein Klavier. Wie in großbürgerlichen<br />

Haushalten üblich, thronte darauf sogar eine Beethoven-<br />

Büste! Fragen Sie mich nicht, warum und wie diese Gegenstände<br />

just in unserer Wohnung gelandet sind: Die Familie war absolut<br />

amusisch! Ich vermute, dass das Klavier von meinem Onkel stammte,<br />

von dem noch die Rede sein wird. Denn ihm alleine verdanke ich,<br />

dass mein musikalisches Talent erkannt und gefördert wurde. Ich<br />

sage manchmal spaßeshalber, meine Mutter hat mir zwar nicht die<br />

12


Unsere Kleinfamilie: mit Bruder Klaus zwischen Großmutter und Mutter.<br />

musikalische Begabung mitgegeben, aber sie hatte noch mit achtzig<br />

Jahren kein weißes Haar – das habe ich geerbt ...<br />

Mutter musste die vierköpfige Familie allein ernähren, sie war<br />

berufstätig in der Textilbranche. Zeitig in der Früh verließ sie das<br />

Haus, um erst spät abends wieder heimzukehren. Die Großmutter<br />

besorgte den Haushalt – und zog uns Buben auf. Ich war sehr traurig,<br />

als sie starb, denn jetzt hatte ich keine Bezugsperson mehr und<br />

wurde quasi als Zerrissener zwischen meiner Mutter und ihrer<br />

Schwester, die mit dem besagten Onkel verheiratet war, einmal hier,<br />

einmal da „betreut“. Dieser nahe familiäre Kontakt zu meinem nicht<br />

blutsverwandten Onkel sollte sich als schicksalhaft für meine Pianistenkarriere<br />

erweisen.<br />

Als „Amtsoberrevident“ bei der Polizei war der Onkel zwar ein<br />

strenger, gewissenhafter Beamter, verfügte aber auch über eine musische<br />

Seite und speziell seine musikalische Ader war sehr ausgeprägt.<br />

Er verkörperte den seltenen Fall eines Bürokraten, der mehrere<br />

Instrumente, wie Zither, Gitarre und Klavier, beherrschte. Seine<br />

Darbietungen waren nicht klassisch, sondern er erfreute sich an<br />

13


wienerischer Musik und auch ab und zu an Heurigenmusik. Er hat<br />

mein heutiges Archiv, bestehend aus Programmen, Korrespondenz<br />

und ähnlichem, grundgelegt. Davon profitiere ich jetzt, wenn ich<br />

mich zurückerinnere und aus meiner frühen Jugendzeit erzähle. Er<br />

sammelte sämtliche Zeitungsausschnitte. Meine Frau hat diese<br />

archivarische Tätigkeit später für mich fortgesetzt. Heute, wo mein<br />

Sammlungsschwerpunkt auf Noten-Ausgaben liegt, führe ich das<br />

Archiv selbst. Onkel Rudi, er hatte denselben Vornamen wie sein<br />

Schützling, war es, der mich „entdeckte“. Er hatte schon meinem<br />

älteren Bruder Klavierunterricht gegeben. Als ich für Klavierstunden<br />

noch zu klein war, fiel ich ihm dadurch auf, dass ich, kaum<br />

erreichte ich die Tastatur, leidenschaftlich gerne darauf herumklimperte.<br />

Mich faszinierte das Pianino schon als Kleinstkind. Ich habe<br />

versucht, alles, was ich im Radio hörte, sofort nachzuspielen. Es<br />

waren hauptsächlich Schlager, keine klassische Musik! Doch diese<br />

Magnetwirkung, die das Pianino auf mich ausübte, ließ meinem<br />

Onkel keine Ruhe. Er hatte in einer Wiener Tageszeitung eine<br />

Annonce gefunden, dass die Wiener Musikakademie junge Talente<br />

suchte. Eine Chance? Er ging also mit dem kleinen Neffen zur Aufnahmeprüfung.<br />

Ich spielte zwei Schlager vor, die ich aus dem Radio<br />

kannte: den „Waldspecht“ und „Ich möchte gern’ Dein Herz klopfen<br />

hören“ – natürlich klimperte ich beides in C-Dur! Im Inskriptionsbuch<br />

der Musikakademie musste meine Mutter für mich unterschreiben,<br />

denn ich war im Jahre 1952 ein Vorschulkind und konnte<br />

noch nicht richtig unterschreiben. Hatte ich mir auch das Lesen<br />

und Schreiben zu Hause selbst so recht und schlecht beigebracht,<br />

Noten konnte ich damals überhaupt nicht lesen. Trotzdem wurde<br />

ich mit fünf Jahren als jüngster Student der Musikakademie aufgenommen!<br />

Es war ein aufregender Tag. Ich kann mich noch genau an das Zimmer<br />

der Musikakademie in der Lothringerstraße erinnern, in dem<br />

die kommissionelle Aufnahmsprüfung stattfand. Mindestens zehn<br />

Professoren saßen dort. Einer von ihnen stand auf und schlug auf<br />

dem Klavier zwei Akkorde an, einen in Dur und einen in Moll. Er<br />

fragte mich: Welcher davon klingt traurig und welcher nicht traurig?<br />

Ich hatte natürlich keine Ahnung, was die Begriffe Dur und<br />

14


Die Faszination der Motorisierung, mitsamt<br />

ihren Gefahren, zog mich bereits im<br />

Alter von sechs Jahren in ihren Bann.<br />

Moll bedeuten und ich sagte<br />

glatt das in den Ohren<br />

des Professors Falsche, nämlich<br />

dass Dur traurig klänge.<br />

Trotzdem bestand ich<br />

auf Anhieb und wurde aufgenommen!<br />

Heute weiß ich, so streng<br />

sind ja die Unterscheidungen<br />

– Moll ist gleich traurig<br />

und Dur ist gleich lustig –<br />

gar nicht. Wolfgang Amadeus<br />

Mozart beispielsweise<br />

hat traurige Musik in Dur,<br />

manchmal aber auch heitere<br />

in Moll komponiert …<br />

Unter den Lehrern war eine<br />

Frau Professor Marianne<br />

Lauda, die sich auf die Vorbereitungsklasse<br />

mit Kindern<br />

spezialisiert hatte. Das<br />

Erste, was sie mir beibringen<br />

musste, war das Noten<br />

lesen. Der Unterricht fand nur in Gruppen statt, Einzelstunden gab<br />

es keine. Dass alle Kinder in einer Klasse zusammengefasst waren,<br />

hatte auch den Vorteil, dass wir uns gegenseitig hören und beurteilen<br />

konnten. Die kritischsten Zuhörer sind ja immer die Kollegen<br />

und man konnte viel aus den Fehlern der Mitschüler lernen. Oft<br />

wohnten auch die Eltern, in meinem Fall Onkel Rudi, den Unterrichtsstunden<br />

bei. Er begleitete mich nicht nur in die Klavierstunde,<br />

er war auch für mein regelmäßiges Üben zu Hause zuständig. Seine<br />

Methode war etwas bizarr: Er hat mich immer dazu angehalten, die<br />

Hand beim Spielen so rund zu halten, dass ein Apfel hineingepasst<br />

hätte! Zur Kontrolle saß er mit einem Staberl in der Hand neben mir<br />

und in dem Moment, wo ich meine Finger flach hielt, bekam ich<br />

auch schon einen schmerzhaften Streich mit dem Staberl. Mein<br />

15


Onkel war oft militant streng mit mir – ich habe viele Tränen vergossen.<br />

Wenn ich aber heute die Korrespondenz lese, wie er sich bei<br />

verschiedensten Stellen immer wieder für mich eingesetzt hat, dann<br />

kommen mir gleich wieder Tränen, und zwar solche der Rührung.<br />

In Mappen hat er feinsäuberlich getippte Briefe abgelegt, beispielsweise<br />

den vom 17. Februar 1958 an den Herrn Stadtrat Hans Mandl,<br />

dem damaligen Leiter des Kulturamtes der Gemeinde Wien:<br />

„Im Namen meines Neffen Rudi Buchbinder, dessen musikalischer,<br />

physischer und psychischer Betreuer ich seit Jahren an Stelle eines<br />

Vaters bin – da er keinen Vater mehr hat – …möchte ich Ihnen, Herr<br />

Stadtrat, mitteilen, dass ich schon lange den Wunsch hege, bei Ihnen<br />

vorsprechen zu können. Möchte vorausschicken, dass ich nicht materielle<br />

Wünsche vorbringen will, sondern mit Ihnen, als Leiter des Kulturamtes<br />

der Gemeinde Wien, eine kulturelle Angelegenheit besprechen<br />

möchte. Bitte Sie daher, sehr verehrter Herr Stadtrat, mir mitzuteilen,<br />

wann ich bei Ihnen vorsprechen darf.“ Die Antwort des Stadtrates<br />

war ernüchternd: „… Zu Ihrem Wunsch, bei Gelegenheit mit<br />

mir zu sprechen, muss ich Ihnen aber leider mitteilen, dass ich in<br />

absehbarer Zeit keine Möglichkeit habe, mich mit Ihnen zu treffen …“<br />

Mein Onkel gab aber nicht auf und richtete an den Stadtrat nun<br />

ein noch ausführlicheres Schreiben, in dem er unter anderem ausführte:<br />

„… Zu Ihrem Schreiben … teile ich mit, dass ich es bedaure,<br />

nicht die Möglichkeit zu haben, bei Ihnen vorzusprechen … erlaube<br />

mir nun, meinen Wunsch schriftlich vorzutragen, in der Hoffnung, bei<br />

Ihnen, Herr Stadtrat, Verständnis zu finden. Wie Sie sich selbst überzeugen<br />

konnten, ist mein Neffe ein sehr talentierter Bub auf dem<br />

Gebiete der Musik … Rudi Buchbinder studiert seit fünfeinhalb Jahren<br />

auf der Musikakademie (Klavier) und zählt nach Feststellung der<br />

dortigen Professoren zu den besten Hoffnungen. Er hat nach einem<br />

Studienjahr bereits bei öffentlichen Konzerten mitgewirkt und hat<br />

nebst steten diesbezüglichen Erfolgen im Jahre 1956 bei einem Wettbewerb<br />

den „Gasteiner Musikpreis“ gemacht, der ihn verpflichtete, in<br />

Bad Gastein ein Konzert zu geben. Er spielte damals mit dem Gasteiner<br />

Kurorchester unter Musikdirektor Hans Schneider das Klavierkonzert<br />

in D-Dur von Joseph Haydn und hatte bei dem internationalen<br />

Publikum großen Erfolg. Neben Konzerten im Wiener Konzert-<br />

16


Der kleine Pianist mit dem Spangerl im Haar: Ob „Waldspecht“ oder „Ich<br />

möchte gern Dein Herz klopfen hören“ – noch konzertierte ich ausschließlich<br />

in C-Dur.


Oben: Rudi Buchbinder – nicht eigenhändig, sondern von meiner Mutter<br />

unterschrieben.<br />

Unten: Wolfgang Amadeus – mit Mutter und Bruder.


Marianne Lauda, meine erste Klavierlehrerin.


Debüt im großen Saal des Wiener Musikvereins. Jahrzehnte später witzelte<br />

mein Freund Gerhard Bronner, für wen man wohl die drei leeren Sitze in der<br />

ersten Reihe reserviert hätte?


haus und im Musikvereinssaal spielte er am 15. Juli 1957 bei einem<br />

Konzert im Palais Lobkowitz. Außerdem spielte er des öfteren im<br />

Österreichischen Rundfunk und im Fernsehen. Am 3. Dezember 1957<br />

spielte er im Mozartsaal des Konzerthauses mit dem großen Akademieorchester<br />

unter Prof. Karl Österreicher als Solist das Klavierkonzert<br />

op. 15 in C-Dur von Ludwig van Beethoven, welches er auch am<br />

26. Jänner 1957 im großen Musikvereinssaal wiederholen musste und<br />

stets viel Erfolg hatte. Nun aber wird er ein Klavierkonzert mit Orchester<br />

bei der Weltausstellung in Brüssel spielen, wo Prof. Swarowsky<br />

dirigieren wird. Da jedoch das Kulturamt der Gemeinde Wien Konzerte<br />

veranstaltet, wäre es, wie ich glaube, nicht unangebracht, wenn<br />

Sie, sehr verehrter Herr Stadtrat, bei solchen Konzerten meinen Neffen<br />

als Solisten heranziehen würden und ich bin überzeugt, dass auch<br />

in solchem Fall der Erfolg nicht ausbleiben würde. Erlaube mir daher<br />

vorzuschlagen, eine Mitwirkung bei einem Arkadenkonzert im Rathaus<br />

und insbesondere bei den vom Kulturamt der Gemeinde Wien<br />

veranstalteten Jugendkonzerten, welche durch die Mitwirkung des<br />

11-jährigen Buben besonders wirken würde. Ich hoffe sehr, verehrter<br />

Herr Stadtrat, dass Sie meinen Wunsch nicht als Belästigung ansehen<br />

und bitte Sie, mir diesbezüglich Mitteilung zukommen zu lassen.“<br />

Die Antwort folgte drei Tage später: „In Ihrem Schreiben … haben<br />

Sie in Ergänzung zu unserer vorherigen Korrespondenz folgende zwei<br />

Wünsche, Ihren Neffen Rudi Buchbinder betreffend, herangetragen:<br />

1) Sie fragten an, ob wir den jungen Pianisten nicht bei einem Arkadenhofkonzert<br />

einsetzen könnten. Ich glaube nicht, dass es hier irgendeine<br />

Möglichkeit geben wird.<br />

2) Sie erkundigten sich, ob man Ihren Neffen nicht bei den Jugendkonzerten<br />

verwenden könnte. Hier sehe ich unter Umständen eine<br />

Möglichkeit“<br />

Manchmal durfte ich in dieser Zeit bei meinem Onkel zu Hause<br />

üben, das war die Luxusvariante, denn dort stand kein Pianino, wie<br />

bei uns, sondern ein Stutzflügel mit Wiener Mechanik. Mein Onkel<br />

sorgte auch für die Stimmung des Klaviers und ich erinnere mich<br />

noch genau an Herrn Biedler, den blinden Klavierstimmer aus der<br />

Neustiftgasse. Die Spiel-Erfahrungen mit dem Pianino und dem<br />

Stutzflügel waren meine ersten technischen Klavier-Erlebnisse.<br />

21

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