RUDOLF BUCHBINDER DA CAPO - Styria
RUDOLF BUCHBINDER DA CAPO - Styria
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Werk im Zusammenhang vor. So erlebte ich wirklich hautnah, wie<br />
sich die Sonaten in Buchbinders Seele kontinuierlich weiterentwickelten,<br />
bereicherten, verwandelten. Nicht so sehr, doch auch, was<br />
das Pianistische, Manuelle angeht. Wohl aber im Hinblick auf Tiefe<br />
und Gehalt. Was ich ihm dabei zumutete, machte ich mir kaum<br />
hinreichend klar. Einmal, es ging um die „Hammerklaviersonate“,<br />
op. 106, redete ich fast 50 Minuten lang. Er aber durfte nicht ruhig<br />
vor sich hinträumend dabei sitzen, sondern musste gespannt aufpassen,<br />
weil ja immerfort Zitate von ihm erbeten wurden, um dann<br />
letztendlich nach diesem anstrengenden Diskurs die wohl schwerste<br />
Sonate der Klavierliteratur komplett darzubieten.<br />
Die Frage, warum große Musik einen Interpreten lebenslang fesseln<br />
kann, selbst wenn ihm nichts anderes vorschwebt, als die Kompositionen<br />
„nur“ werktreu zu verlebendigen, ohne ihnen Gewalt<br />
anzutun – diese Frage kann folgendermaßen beantwortet werden:<br />
In bedeutungsvoller Klassik steckt ein Reichtum an nuancierten<br />
seelischen Gestalten, Bekundungen, Erlebnissen und Einsichten,<br />
von dem amusische Zeitgenossen kaum etwas ahnen. Solche Musik<br />
gleicht einem unendlichen Reservoir emotionaler Erfahrung! Sie<br />
lehrt uns, immer Zarteres, Verästelteres, Differenziertes wahrzunehmen.<br />
Mendelssohn hatte schon recht, als er einmal feststellte,<br />
Musik sei nicht etwa begriffslos-vage und nationale Sprache konkret<br />
klar. Sondern in Tönen gäbe es unendlich mehr Zwischenstufen<br />
gestalteter Gefühle, als Worte existieren, all diese Schattierungen<br />
zu benennen. Und damit nimmt es ein großer Pianist auf.<br />
Um nun die Aufgaben zu bewältigen, wie sie von den Werken der<br />
traditionellen Kunst und der „klassischen Moderne“ gestellt werden,<br />
helfen Rudolf Buchbinder einige bemerkenswerte künstlerische<br />
und menschliche Besonderheiten. Zunächst: Er ist für mich<br />
das größte pianistische Naturtalent, dem ich in meinem Leben<br />
begegnet bin. Er braucht sich nie Fingersätze zu notieren, tut es<br />
auch nicht, selbst bei heikelsten Schwierigkeiten! Die Finger finden<br />
es schon von selbst. Darauf kann er beneidenswerterweise fest vertrauen.<br />
So sagt er hier: „Es gibt drei Arten von Fingersätzen: den,<br />
den man studiert, den, den man den Kollegen empfiehlt, und den,<br />
den man beim Konzert erwischt.“ Das Verbum „erwischt“ verrät<br />
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