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DZA: Informationsdienst Altersfragen (IDA) - Deutsches Zentrum für ...

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informationsdienst<br />

altersfragen<br />

ISSN 0724-8849<br />

A20690E<br />

Heft 03, Mai / Juni 2011<br />

38. Jahrgang<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Zentrum</strong><br />

<strong>für</strong> <strong>Altersfragen</strong><br />

Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> Demenz<br />

sind der Schwerpunkt dieser Ausgabe.<br />

Karin Wolf-Ostermann behandelt „Ambulant<br />

betreute Wohngemeinschaften <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Pflegebedarf: Die Berliner Studie zur<br />

outcomebezogenen Evaluation der gesundheitlichen<br />

Versorgung von Menschen mit<br />

Demenz (DeWeGE)“. „Die Pflegeoase als<br />

Alternative zum Einzel- oder Doppelzimmer<br />

<strong>für</strong> Menschen mit schwerer Demenz“ wird<br />

von Birgit Schuhmacher und Thomas Klie<br />

behandelt. Die „Evaluation vernetzter Ver -<br />

sorgungsstrukturen <strong>für</strong> Demenzkranke und<br />

ihre Angehörigen: Ermittlung des Innovationspotenzials<br />

und Handlungsempfehlungen<br />

<strong>für</strong> den Transfer – Ergebnisse eines Leuchtturmprojektes<br />

Demenz“ steht im Fokus von<br />

Monika Reichert.<br />

03


2<br />

Inhalt<br />

Editorial<br />

3 Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> Demenz<br />

Cornelia Au und Doris Sowarka<br />

Aus der Altersforschung<br />

5 Ambulant betreute Wohngemeinschaften <strong>für</strong><br />

Menschen mit Pflegebedarf<br />

Karin Wolf-Ostermann<br />

11 Die Pflegeoase als Alternative zum Einzel-<br />

oder Doppelzimmer <strong>für</strong> Menschen mit<br />

schwerer Demenz<br />

Birgit Schuhmacher und Thomas Klie<br />

17 Kurzinformationen aus der Altersforschung<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

18 Evaluation vernetzter Versorgungsstrukturen<br />

<strong>für</strong> Demenzkranke und ihre Angehörigen<br />

Monika Reichert<br />

24 Kurzinformationen aus Politik und Praxis<br />

der Altenhilfe<br />

25 Aus dem Deutschen <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong><br />

<strong>Altersfragen</strong><br />

26 Bibliographie gerontologischer<br />

Monographien<br />

Inhalt<br />

Impressum<br />

Herausgeber:<br />

<strong>Deutsches</strong> <strong>Zentrum</strong> <strong>für</strong> <strong>Altersfragen</strong><br />

Manfred-von-Richthofen-Straße 2<br />

12101 Berlin<br />

Telefon (030) 260 74 00, Fax (030) 785 43 50<br />

<strong>DZA</strong> im Internet:<br />

www.dza.de<br />

Presserechtlich verantwortlich:<br />

Prof. Dr. Clemens Tesch-Römer<br />

Redaktion:<br />

Cornelia Au und Dr. Doris Sowarka<br />

ida@dza.de<br />

Für die Bibliografie gerontologischer<br />

Monografien:<br />

Bibliothek und Dokumentation<br />

Pro Senectute Schweiz<br />

Fachstelle <strong>für</strong> angewandte <strong>Altersfragen</strong><br />

Bederstr. 33, 8027 Zürich, Schweiz<br />

Telefon +41-(0)44-283 89 81, Fax -283 89 84<br />

Gestaltung und Satz:<br />

Mathias Knigge (grauwert, Hamburg)<br />

Kai Dieterich (morgen, Berlin)<br />

Druck:<br />

Fatamorgana Verlag, Berlin<br />

Der <strong>Informationsdienst</strong> erscheint zweimonatlich.<br />

Bestellungen sind nur im Jahresabonnement<br />

möglich. Jahresbezugspreis<br />

25,– EURO einschließlich Versandkosten;<br />

Kündigung mit vierteljährlicher Frist zum<br />

Ende des Kalenderjahres. Bezug durch das<br />

<strong>DZA</strong>. Der Abdruck von Artikeln, Grafiken<br />

oder Auszügen ist bei Nennung der Quelle<br />

erlaubt. Das <strong>DZA</strong> wird institutionell gefördert<br />

vom Bundesministerium <strong>für</strong> Familie,<br />

Senioren, Frauen und Jugend.<br />

ISSN 0724 8849<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


1) www.barmer-gek.de/<br />

barmer/web/Portale/<br />

Presseportal/Subportal/<br />

Presseinformationen/<br />

Archiv/2010/101130-<br />

Pflegereport/PDF-Pflegereport-2010,property-<br />

=Data.pdf<br />

2)<br />

Ärztezeitung Newsletter<br />

vom 7.6.2011<br />

3) www.mds-ev.org/print/<br />

3673.htm<br />

Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> Demenz<br />

Editorial<br />

Cornelia Au und Doris Sowarka<br />

Aktuell leben in Deutschland ca. 1,2 Millionen<br />

Menschen mit Demenz, die Prognose des<br />

Barmer GEK Pflegereports geht davon aus,<br />

dass sich ihre Anzahl bis zum Jahr 2030 auf<br />

1,8 Millionen steigert 1 . Die Gesellschaft<br />

steht vor der Aufgabe, Strukturen zu schaffen,<br />

die dem wachsenden Bedarf <strong>für</strong> die<br />

Versorgung Demenzkranker gerecht werden.<br />

Mit dem Pflegeweiterentwicklungsgesetz<br />

aus dem Jahr 2008 wurden die Leistungen<br />

<strong>für</strong> Menschen mit erheblichem allgemeinen<br />

Betreuungsbedarf (Demenzkranke, Geistigbehinderte,<br />

Psychischkranke …) erweitert,<br />

die als eine wesentliche Verbesserung <strong>für</strong><br />

die Versorgung der betroffenen Menschen<br />

zu bewerten sind (§ 45a/b und 87b SGB XI).<br />

Seitdem können Leistungen aus der Pflegeversicherung<br />

vor Erreichen der Pflegestufe 1<br />

<strong>für</strong> bestimmte Hilfeangebote bezogen werden<br />

(im Leistungsumfang von 1200 – 2400<br />

Euro/Jahr). Es besteht auch ein Anspruch auf<br />

eine kostenlose halbjährliche Beratung durch<br />

einen Pflegedienst. Stationäre Einrichtungen<br />

haben die Möglichkeit, einen Leistungszuschlag<br />

<strong>für</strong> Personal, das ausschließlich <strong>für</strong><br />

die Betreuung ihrer Bewohner/-innen zuständig<br />

ist, zu beantragen.<br />

In der Fachöffentlichkeit herrscht Konsens,<br />

dass die Strukturen und Leistungen zur Zeit<br />

nicht ausreichend sind, um eine bedarfsgerechte<br />

Versorgung <strong>für</strong> die wachsende Anzahl<br />

von an Demenz Erkrankten zu gewährleisten.<br />

Auch das Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit<br />

hat sich im Rahmen seiner Pflegedialoge<br />

und der weiteren Reform der Pflegeversicherung<br />

am 14. April im Gespräch mit<br />

Vertretern von Verbänden, den Pflegekassen<br />

und dem Medizinischen Dienst mit der Verbesserung<br />

der Demenzversorgung auseinandergesetzt.<br />

Als Ergebnis des Pflegedialogs<br />

wurde u.a. die Einführung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes<br />

angekündigt. Dies<br />

entspricht einer Forderung, die von vielen<br />

Verbänden und anderen Akteuren aus dem<br />

Editorial<br />

Bereich der Pflege/Hilfe und Wissenschaft<br />

vertreten wird. Der bislang <strong>für</strong> den Bezug<br />

von Leistungen aus der Pflegeversicherung<br />

relevante Begriff ist zu stark verrichtungsbezogen<br />

auf die Kompensation körperlichen<br />

Hilfebedarfs reduziert, während der darüber<br />

hinaus gehende psychosoziale Betreuungsbedarf<br />

von z.B. an Demenz erkrankten Menschen<br />

nicht berücksichtigt wird. Die Kritik<br />

an der bislang gültigen Definition hatte dazu<br />

geführt, dass ein Gremium beauftragt wurde,<br />

den Begriff zu begutachten und einen neuen<br />

Vorschlag sowie ein darauf aufsetzendes Begutachtungsverfahren<br />

zu erarbeiten. Dessen<br />

Abschlussbericht liegt seit 2009 vor. Trotz<br />

des breiten inhaltlichen Konsens sind z.Zt.<br />

die konkrete leistungsrechtliche Umsetzung<br />

sowie die Finanzierung der wahrscheinlichen<br />

Mehrkosten noch unklar und in der politischen<br />

Diskussion. Eine neue Reform wird<br />

laut Ärztezeitung von den Sprecher/-innen der<br />

Bundestagsfraktionen erst <strong>für</strong> das 1. Halbjahr<br />

2012 erwartet 2 .<br />

Anlässlich der Pflegedialoge wurden von<br />

einigen Akteuren weitere Maßnahmen <strong>für</strong><br />

die Verbesserung der Versorgung der an Demenz<br />

erkrankten Menschen und ihrer Angehörigen<br />

gefordert. Notwendig erachtet<br />

werden bspw. der Ausbau niedrigschwelliger<br />

Entlastungs-, Unterstützungs- und Beratungsangebote<br />

und eine enge berufsgruppenübergreifende<br />

Vernetzung der Behandlung,<br />

Pflege und Betreuung (Haus- und Fachärzte,<br />

Therapeuten und Pflegende) (MDS) 3 ; abgestimmtes<br />

Handeln von Akteuren (Kranken-<br />

und Pflegekassen, Kommunen, Wohlfahrtsverbänden,<br />

Hausärzt/-innen, Interessenvertretungen,<br />

Vereine und Selbsthilfegruppen)<br />

und deren Unterstützung durch die Pflegestützpunkte,<br />

niedrigschwellige Entlastungsangebote<br />

<strong>für</strong> pflegende Angehörige und<br />

Stärkung der Vereinbarkeit von Familie und<br />

Beruf, des bürgerschaftlichen Engagements<br />

und der Nachbarschaftshilfe; der Ausbau<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (2), 2011<br />

3


4<br />

4) www.deutscher-verein.<br />

de/02-presse/2011/april/<br />

pflegedialog-mit-bundesgesundheitsminister-drphilipp-rosler-zum-themademenz<br />

5) www.devap.info/filead-<br />

min/user_upload/dateien/<br />

impulse/2011/devap_<br />

impuls_1_11.pdf<br />

6) www.sovd.<br />

de/1828.0.html<br />

7) www.paritaet-alsopf-<br />

leg.de/index.<br />

php?option=com_<br />

docman&task=doc_down<br />

8) www.bmg.bund.de/<br />

pflege/demenz/leuchtturmprojekt-demenz.html<br />

teilstationärer Pflegeangebote sowie Kurzzeit-<br />

und Verhinderungspflege und altersgerechter<br />

Wohnungen <strong>für</strong> Demente; die<br />

Schaffung und Weiterentwicklung moderner<br />

stationärer Wohn- und Betreuungsformen<br />

(Deutscher Verein <strong>für</strong> öffentliche und private<br />

Fürsorge) 4 ; ein differenzierter Mix aus familiärer<br />

Betreuung, niedrigschwelligen Angeboten,<br />

ambulanter, teil- und stationärer Versorgung<br />

sowie Teilzeit-Betreuungslösungen<br />

<strong>für</strong> pflegende Angehörige und Lösungen <strong>für</strong><br />

allein lebende Demenzerkrankte (DEVAP) 5 ;<br />

bessere Information und Aufklärung, Stärkung<br />

der häuslichen Pflege und bessere Unterstützung<br />

pflegender Angehöriger (SoVD) 6 .<br />

Den Erhalt der 2008 erreichten Verbesserungen,<br />

Leistungen zur Entlastung pflegender<br />

Angehöriger, <strong>für</strong> den Bereich der stationären<br />

Versorgung die Einbeziehung nicht pflegeversicherter<br />

demenziell Erkrankter in die<br />

Leistungen nach § 87b SGB XI, sowie eine<br />

Berücksichtigung des höheren Aufwandes<br />

bei der rein pflegerischen Betreuung in den<br />

Pflegesätzen und die Berücksichtigung des<br />

Personalbedarfs in qualitativer und quantitativer<br />

Hinsicht wurde von der Bundesarbeitsgemeinschaft<br />

der freien Wohlfahrtspflege<br />

vertreten. 7<br />

Diese beispielhaft benannten Forderungen<br />

machen deutlich, dass, entsprechend dem<br />

Krankheitsstadium und -verlauf und der<br />

unterschiedlichen sozialen Eingebundenheit,<br />

eine Vielzahl paralleler, qualitativ unterschiedlicher<br />

Versorgungsangebote nötig ist,<br />

um dem individuellen Bedarf der Menschen<br />

zu begegnen.<br />

Eine weitere Ankündigung aus dem Pflegedialog<br />

Demenz war die Stärkung neuer<br />

Wohn- und Betreuungsformen, z.B. Wohngemeinschaften<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Demenz.<br />

Das Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit hat<br />

in den Jahren 2008 bis 2009 verschiedene<br />

Forschungsprojekte gefördert, um „… aus<br />

den vorhandenen Versorgungsangeboten die<br />

Besten zu identifizieren und weiter zu entwickeln,<br />

Defizite bei der Umsetzung einer<br />

evidenzbasierten pflegerischen und medizinischen<br />

Versorgung demenziell Erkrankter<br />

zu beseitigen und eine zielgruppenspezifische<br />

Qualifizierung <strong>für</strong> in der Versorgung engagierte<br />

Personen und beteiligte Berufsgruppen<br />

zu erreichen.“ 8<br />

Editorial<br />

Aus diesem Forschungskontext werden drei<br />

Projekte vorgestellt:<br />

Der Beitrag von Karin Wolf-Ostermann widmet<br />

sich ambulant betreuten Wohngemeinschaften<br />

<strong>für</strong> Menschen mit Demenz unter<br />

realen Alltagsbedingungen. Die systematisch<br />

in einer Studie gewonnenen Erkenntnisse<br />

erlauben neue Schlussfolgerungen über die<br />

Bedeutung der Wohngemeinschaften in<br />

der Versorgungslandschaft <strong>für</strong> demenziell erkrankte<br />

Menschen und den Vergleich von<br />

psychosozialen und gesundheitsbezogenen<br />

Kennwerten zwischen Bewohner/-innen aus<br />

ambulant betreuten Wohngemeinschaften<br />

und Spezialwohnbereichen <strong>für</strong> demenziell erkrankte<br />

Menschen in stationären Einrichtungen<br />

(Pflegeheime).<br />

Der Beitrag von Birgit Schuhmacher und<br />

Thomas Klie behandelt eine relativ neue Versorgungsform<br />

im stationären Bereich,<br />

„Pflegeoase“, die <strong>für</strong> die Spätstadien der<br />

Menschen mit Demenz eingerichtet wurde.<br />

In dem Beitrag werden ausgewählte Forschungsergebnisse<br />

im Bezug auf unterschiedliche<br />

Kennwerte wie Lebensqualität<br />

dargestellt und im Hinblick auf rechtliche,<br />

fachliche und ethische Fragen der Versorgungsform<br />

diskutiert.<br />

Der Beitrag von Monika Reichert behandelt<br />

die Vernetzung von Versorgungsstrukturen<br />

<strong>für</strong> Demenzkranke und ihre Angehörigen. Im<br />

Vordergrund stehen Besonderheiten der Demenzerkrankung,<br />

die eine Vernetzung und<br />

Integration unterschiedlicher Versorgungssysteme<br />

erfordern. Für die Versorgungssituation<br />

von Menschen mit Demenz und ihrer<br />

Angehörigen werden bestehende Versorgungsmodelle<br />

und -netzwerke in Nordrhein-<br />

Westfalen dargestellt und wichtige Erkenntnisse<br />

aus Fallstudien und einer Angehörigenbefragung<br />

mit thesenartigen Empfehlungen<br />

diskutiert. Die Erkenntnisse und Empfehlungen<br />

eignen sich <strong>für</strong> den Auf- und Ausbau von<br />

Vernetzungsstrukturen zur Verbesserung der<br />

Demenzversorgung, so dass sie dementsprechend<br />

berücksichtigt werden sollten.<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


1) gefördert durch das<br />

Bundesministerium <strong>für</strong><br />

Gesundheit im Rahmen<br />

des „Leuchtturmprojekt<br />

Demenz“<br />

Themenfeld 1 „Therapieund<br />

Pflegemaßnahmen:<br />

Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen“<br />

Ambulant betreute Wohngemeinschaften <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Pflegebedarf<br />

Die Berliner Studie zur outcomebezogenen Evaluation der gesundheitlichen<br />

Versorgung von Menschen mit Demenz (DeWeGE 1 )<br />

Karin Wolf-Ostermann<br />

Hintergrund und Zielstellung<br />

Eine ansteigende Lebensspanne sowie eine<br />

abnehmende Geburtenrate führen in den<br />

nächsten Jahren zu deutlichen Veränderungen<br />

in der demografischen Altersstruktur der<br />

Bundesrepublik Deutschland. Bis 2050 erhöht<br />

sich die Zahl der 65- bis unter 80-Jährigen<br />

von 12 Millionen im Jahr 2005 auf 13 Millionen<br />

(vgl. Statistisches Bundesamt 2006:23).<br />

Die Gruppe der 80-Jährigen und Älteren<br />

wächst um das Dreifache von 3,7 Millionen<br />

im Jahr 2005 auf annäherungsweise 10 Millionen<br />

(ebd.). Im Land Berlin wird sich die<br />

Gruppe dieser so genannten Hochaltrigen<br />

bis zum Jahr 2030 annähernd verdoppeln<br />

(vgl. Ärztekammer Berlin 2010). Konsequenzen<br />

der Bevölkerungsalterung sind u. a. die<br />

Zunahme von einerseits bestimmten altersspezifischen<br />

Erkrankungen und andererseits<br />

der Anteile von Personen mit Mehrfacherkrankungen<br />

(vgl. Wurm u. Tesch-Römer 2006).<br />

Mit der Zunahme des Anteils älterer und<br />

hochaltriger Personen in der Gesellschaft und<br />

der Veränderung in der (Multi-)Morbidität im<br />

Alter wird die Frage nach den Versorgungserfordernissen<br />

und -bedarfen zunehmend<br />

wichtig.<br />

Die Prävalenz demenzieller Erkrankungen<br />

nimmt mit dem Alter deutlich erkennbar zu<br />

und gehört zu den „häufigsten und folgenreichsten<br />

psychiatrischen Erkrankungen im<br />

höheren Alter“ (Weyerer 2005:7). Pro Jahr<br />

treten ca. 200.000 Neuerkrankungen auf, so<br />

dass im Jahr 2050 mehr als zwei Millionen<br />

Menschen an einer Demenz erkrankt sein<br />

werden (vgl. Ziegler u. Doblhammer 2009;<br />

Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2008;<br />

Bickel 2000; 2001). Die Versorgung von hilfe-<br />

und pflegebedürftigen Menschen mit Demenz<br />

erfolgt in Deutschland vor wiegend in<br />

der eigenen Häuslichkeit bzw. der Familie<br />

oder in Pflegeheimen. Während die Mehrzahl<br />

der Leistungsempfänger nach dem Pflegeversicherungsgesetzt<br />

(SGB XI) ambulant<br />

Aus der Altersforschung<br />

und zumeist auch von Angehörigen versorgt<br />

wird (vgl. Statistisches Bundesamt 2008),<br />

stellen demenzielle Erkrankungen den wichtigsten<br />

Grund <strong>für</strong> den Übergang in die vollstationäre<br />

Heimversorgung dar. Teilstationäre<br />

Angebote haben quantitativ nur eine untergeordnete<br />

Bedeutung. Seit Bestehen der<br />

Pflegestatistik findet eine graduelle Verschiebung<br />

im häuslichen Setting von der<br />

Laienpflege durch Angehörige hin zur professionellen<br />

oder professionell unterstützten<br />

Pflege statt.<br />

Als neue Versorgungsform <strong>für</strong> Menschen mit<br />

Demenz haben sich seit 1996 ambulant betreute<br />

Wohngemeinschaften (WG) <strong>für</strong> alte<br />

Menschen mit Pflegebedarf etabliert (vgl. Fischer,<br />

Kuhlmey, Wolf-Ostermann 2011). Mit<br />

ihrem Angebot stellen sie einen Zwischenschritt<br />

zwischen der ambulanten Versorgung<br />

in der eigenen Häuslichkeit oder der Familie<br />

und der vollstationären Versorgung in Heimen<br />

dar. Sie sind dadurch gekennzeichnet,<br />

dass eine Gruppe von in der Regel sechs bis<br />

acht alten Menschen (vgl. Fischer u.a. 2011;<br />

Deutsche Alzheimer Gesellschaft 2008) mit<br />

unterschiedlichem Pflege- und Versorgungsbedarf<br />

in einer WG zusammenlebt. Mit dem<br />

Eigentümer der Wohnung besteht ein (Unter-)Mietvertrag.<br />

Zusätzlich schließt der Bewohner<br />

einen Vertrag zur ambulanten<br />

Versorgung mit einem zugelassenen Pflegedienst<br />

ab. Grundsätzlich ist der Betroffene<br />

bei der Wahl des Pflegedienstes frei, in der<br />

Regel ist aber in jeder WG nur ein Pflegedienst<br />

tätig (vgl. Deutsche Alzheimer Gesellschaft<br />

2008; Wolf-Ostermann 2007; 2010).<br />

Für die Vergütung des Pflegedienstes werden<br />

in der Regel Leistungen nach dem SGB<br />

XI herangezogen. In Berlin sind seit dem Inkrafttreten<br />

des Wohnteilhabegesetzes (WtG)<br />

am 01. Juli 2010 ambulant betreute WG der<br />

Aufsicht und Prüfung durch die zuständige<br />

Landesbehörde unterstellt.<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

5


6<br />

2) Die Rekrutierung der<br />

SWB erfolgte im Längs-<br />

schnitt bereits ab Mai<br />

2008, so dass hier<strong>für</strong><br />

noch auf Listen stationärer<br />

Leistungsanbieter mit<br />

spezieller Leistungs- und<br />

Qualitätsvereinbarungen<br />

nach §80a SGB XI zurückgegriffen<br />

wurde, da das<br />

Pflege-Weiterentwicklungsgesetz<br />

erst ab Juli<br />

2008 in Kraft getreten ist.<br />

Zielsetzung ambulant betreuter WG ist es,<br />

„Menschen in einer weitgehend normalen<br />

Wohn- und Lebenssituation ein möglichst<br />

selbstständiges, zufriedenes Leben zu ermöglichen“<br />

(vgl. Kremer-Preiß u. Stolarz 2003),<br />

was der geäußerten Erwartung vieler Betroffener<br />

entspricht. WG sollen Lebensqualität<br />

trotz gesundheitlicher Einschränkungen<br />

ermöglichen. Dazu ist ihre Einbindung in ein<br />

Netzwerk erforderlich, das neben Pflegediensten<br />

auch Ärzte, Therapeuten, Dienstleister<br />

(z.B. Mobilitätshilfedienste) sowie<br />

Angehörige und ehrenamtliche Helfer umfasst.<br />

Während über die realen Versorgungsstrukturen<br />

und -ergebnisse in stationären Pflegeheimen<br />

in den letzten Jahren verschiedene<br />

Studien und auch Berichte des Medizinischen<br />

Dienstes der Gesetzlichen Krankenversicherungen<br />

(z. B. MDS 2007; Schneekloth<br />

u.a. 2007; Seidl u.a. 2007) Aufschluss<br />

geben, fehlen diese Informationen bezüglich<br />

ambulanter WG bisher weitgehend. Insgesamt<br />

ist die derzeitige Forschungslage zu<br />

den Auswirkungen unterschiedlicher Wohn-<br />

und Versorgungsformen auf Menschen mit<br />

Demenz bruchstückhaft. Während erste<br />

Strukturdaten <strong>für</strong> ambulant betreute WG <strong>für</strong><br />

Menschen mit Demenz vorhanden sind<br />

(vgl. etwa Wolf-Ostermann 2007 oder Wolf-<br />

Ostermann u. Fischer 2010), konnte bisher<br />

nichts über den Einfluss dieser Wohnform<br />

auf den Krankheits- und Versorgungsverlauf<br />

ausgesagt werden, da Vergleichserhebungen<br />

und insbesondere Längsschnittstudien fehlen.<br />

Offen ist auch, ob die Erwartungen, die<br />

an ambulant betreute WG geknüpft werden,<br />

berechtigt sind.<br />

Die vom Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit<br />

geförderte DeWeGE-Studie1 (Fischer u. Wolf-<br />

Ostermann 2008) evaluiert erstmals diese<br />

Strukturen sowie die gesundheitliche und<br />

psychosoziale Situation von Menschen, die<br />

in Demenz-WG leben und versorgt werden.<br />

Zum Vergleich wurden parallel die gleichen<br />

Angaben von allen Spezialwohnbereichen <strong>für</strong><br />

Menschen mit Demenz (SWB) in Berlin erbeten.<br />

Folgende Forschungsfragen standen im<br />

Vordergrund:<br />

1. Welche Bewohnerstruktur haben ambulant<br />

betreute WG <strong>für</strong> ältere Menschen mit<br />

Demenz?<br />

Aus der Altersforschung<br />

2. Welche Angebotsstruktur liegt in ambulant<br />

betreuten WG <strong>für</strong> ältere Menschen mit<br />

Demenz vor?<br />

3. Wie entwickelt sich der körperliche und<br />

psychosoziale Gesundheitszustand bei<br />

älteren Menschen mit Demenz innerhalb<br />

eines Jahres nach Einzug in eine WG?<br />

4. Zeigen sich Unterschiede hinsichtlich der<br />

Entwicklung des Gesundheitszustandes,<br />

der Bewohnerstruktur und der Angebotsstruktur<br />

zwischen<br />

a) WG, in denen ausschließlich ältere<br />

Menschen mit Demenz leben,<br />

b) WG, in denen ältere Menschen mit und<br />

ohne Demenz leben und<br />

c) Spezialwohnbereichen (SWB) <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Demenz in Pflegeheimen?<br />

Ziel des Forschungsprojektes war es, Stärken<br />

und Schwächen der untersuchten Versorgungsform<br />

darzustellen, um auf dieser Basis<br />

Empfehlungen <strong>für</strong> die effiziente Gestaltung<br />

kooperativ vernetzter, bedürfnisorientierter<br />

Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> demenziell Erkrankte<br />

unter Berücksichtigung unterschiedlicher<br />

beteiligter Professionen und Institutionen<br />

auszuarbeiten.<br />

Vorgehen<br />

Die vorliegende Studie bezieht alle ambulanten<br />

Pflegedienste im Land Berlin in den Jahren<br />

2008 und 2009 ein, die <strong>für</strong> WG Pflege-<br />

bzw. Betreuungsleistungen vorhalten oder<br />

zur Verfügung stellen. Neben den ambulanten<br />

Leistungserbringern wurden alle SWB in<br />

vollstationären Alten- und Altenpflegeeinrichtungen<br />

mit spezieller Leistungs- und Qualitätsvereinbarung<br />

nach § 80a SGB XI 2 in die<br />

Studie integriert.<br />

Die Studie beinhaltet eine Querschnitt- (QS)<br />

und eine Längsschnitterhebung (LS). Im QS<br />

wurden mittels einer standardisierten, schriftlichen<br />

Befragung zum Stichtag 30.1.2009<br />

Informationen von allen in WG tätigen Pflegediensten<br />

im Land Berlin u.a. zur Bewohnerschaft<br />

(z.B. demografische Daten, Diagnosen,<br />

Alltagskompetenzen, neuropsychiatrische<br />

Symptome, Versorgungssituation etc.),<br />

zur baulichen und personellen Ausstattung<br />

der WG sowie zur Beteiligung von Freiwilligen<br />

und anderen Berufsgruppen an der Versorgung<br />

erbeten. Vergleichend wurden diese<br />

Angaben auch in allen SWB erhoben.<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


3) NPI=Neuro psych ia-<br />

trisches Inventar, ein<br />

Assessment instrument<br />

zur Erfassung von Ver-<br />

haltensstörungen. Zu<br />

Barthel u. Qualidem siehe<br />

folgende Fußnoten<br />

Im LS wurden neu in WG bzw. SWB einziehende<br />

Demenzerkrankte über ein Jahr zu<br />

drei Erhebungszeitpunkten (vor Einzug sowie<br />

sechs bzw. 12 Monate nach Einzug) beobachtet.<br />

Die primären Zielkriterien im LS sind<br />

körperliche Funktionsfähigkeit (Barthel-<br />

Index, Mahoney u. Barthel 1965) und nichtkognitive<br />

Symptome der Demenz (NPI, Cummings<br />

u.a. 1994), weiterhin wurde die Lebensqualität<br />

der Bewohner/-innen (Qualidem,<br />

Ettema 2007) sowie eine Vielzahl weiterer<br />

Merkmale wie herausforderndes Verhalten,<br />

Ernährung, freiheitseinschränkende Maßnahmen,<br />

Medikation, Schmerz, soziale Kontakte<br />

etc. untersucht. 3<br />

Ergebnisse<br />

Querschnittstudie<br />

In der Querschnittstudie konnten Daten zu<br />

572 Bewohner/innen aus 105 WG und 391<br />

SWB-Bewohner/innen aus 26 Spezialwohnbereichen<br />

erfasst werden. Im Rahmen der<br />

telefonischen Rekrutierung der Studienteilnehmer/innen<br />

wurde zum Stichtag von ca.<br />

331 zu erfassenden WG mit ca. 2.000 Bewohner/innen<br />

und 48 SWB mit ca. 750<br />

Bewohner/innen ausgegangen. Bezogen<br />

hierauf beträgt der Rücklauf 32 % in Bezug<br />

auf die WG und 28 % hinsichtlich der Bewohner/innen.<br />

Der Rücklauf seitens der Spezialwohnbereiche<br />

in den stationären Einrichtungen<br />

beläuft sich auf 53 %.<br />

In 88 % aller untersuchten WG leben Menschen<br />

mit Demenzerkrankungen. Etwas<br />

mehr als die Hälfte aller untersuchten WG<br />

sind vom integrativen Typus, etwa 37 %<br />

sind vom segregativen Typus (ausschließlich<br />

Menschen mit Demenz), <strong>für</strong> 12 % der WG<br />

konnte keine eindeutige Zuordnung vorgenommen<br />

werden. Die durchschnittliche<br />

Bewohneranzahl in den WG betrug 6,3 Personen<br />

(SWB: 16,0 Personen). Mit Ausnahme<br />

einer WG ist ausschließlich ein Leistungsanbieter<br />

pro WG tätig. Durchschnittlich sind<br />

7,4 Mitarbeitende in den untersuchten WG<br />

beschäftigt. Den größten Anteil innerhalb der<br />

Mitarbeiterschaft bildet die Gruppe der Pflegekräfte<br />

(z. B. Krankenpflegehelfer/innen,<br />

Altenpflegehelfer/innen) gefolgt von sonstigen<br />

Mitarbeiter/innen (z. B. Hauswirtschaftskräfte,<br />

Auszubildende) und Pflegefachkräften.<br />

Pflegefachkräfte mit einer gerontopsychiatri-<br />

Aus der Altersforschung<br />

schen Zusatzqualifikation sind selten in WG<br />

tätig. In den SWB werden durchschnittlich<br />

10,5 Personen (zu etwa gleichen Anteilen<br />

Pflegefachpersonen, Pflegekräfte und sonstige<br />

Mitarbeitende) beschäftigt. In den WG<br />

sind tagsüber im Mittel fast doppelt so viele<br />

Mitarbeitende insgesamt pro Bewohner/in<br />

zuständig wie in SWB. Dies betrifft auch<br />

Pflegefachkräfte, von denen in WG tagsüber<br />

durchschnittlich 0,27 und in SWB 0,15 auf<br />

eine/n Bewohner/in entfallen.<br />

Etwa drei Viertel aller Bewohner/innen in beiden<br />

Settings sind weiblich, das Durchschnittsalter<br />

liegt bei 79,4 (WG) bzw. 82,7<br />

(SWB) Jahren. Fast 79 % aller Bewohner/<br />

innen von WG und rund 92 % aus SWB sind<br />

demenzerkrankt. Etwa die Hälfte aller WG-<br />

Bewohner/innen hat eine Demenz ohne und<br />

etwa ein Viertel eine Demenz mit erheblichen<br />

Verhaltensauffälligkeiten, in den SWB<br />

kehrt sich dieses Verhältnis um. Rund die<br />

Hälfte der WG-Bewohnerschaft ist zum Zeitpunkt<br />

ihres Einzugs in Pflegestufe II eingestuft,<br />

gefolgt von jeweils ca. 22 % in Pflegestufe<br />

I bzw. III (SWB: I: 12,5 %; II: 42,5 %,<br />

III: 40,7 %). Fast jede zweite Person in einer<br />

WG und ca. jede dritte Person in einem SWB<br />

ist funktional beeinträchtigt. In beiden Settings<br />

sind die Selbstversorgungsfähigkeiten<br />

in den jeweiligen Aktivitäten des täglichen<br />

Lebens (ADL) reduziert.<br />

Der überwiegende Teil beider Bewohnerschaften<br />

wechselt aus einem Privathaushalt<br />

in die jeweilige Wohnform. WG-Bewohner/<br />

innen lebten jedoch vor dem Einzug häufig in<br />

einem Privathaushalt mit Beteiligung eines<br />

ambulanten Pflegedienstes, SWB-Bewohner/innen<br />

in einem Privathaushalt ohne Beteiligung<br />

eines ambulanten Pflegedienstes.<br />

An der Spitze der Anlässe <strong>für</strong> die Beendigung<br />

des Pflegeverhältnisses steht das Versterben<br />

von Bewohnerinnen und Bewohnern.<br />

WG stellen somit keine „Zwischenlösung“<br />

in der Versorgung dar.<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

7


8<br />

4) MMSE ist die Abkür-<br />

zung <strong>für</strong> Mini-Mental-Sta-<br />

te-Examination, ein Scree-<br />

ning-Verfahren zur Fest-<br />

stellung kognitiver Defizi-<br />

te. Eine krankheitswertige<br />

Beeinträchtigung liegt ab<br />

Werten unter 25 Punkten<br />

vor, bei unter 20 bis 10<br />

Punkten liegt eine leichte<br />

bis mittlere Demenz vor,<br />

bei unter 10 Punkten wird<br />

von einer schweren Demenz<br />

ausgegangen.<br />

5)<br />

GDS ist die Abkürzung<br />

<strong>für</strong> Global Deterioration<br />

Scale, einem Instrument<br />

zur Einschätzung kognitiver<br />

Leistungseinbußen<br />

(GDS 1= keine kognitiven<br />

Leistungseinbußen, GDS<br />

7 = sehr schwere kognitive<br />

Leistungseinbußen).<br />

6)<br />

Der Barthel-Index ist<br />

ein Instrument zur Erfassung<br />

der alltäglichen Fähigkeiten<br />

und Selbstständigkeit<br />

bzw. Pflegebedürftigkeit<br />

(Essen und Trinken,<br />

Baden/Duschen, Körperpflege,<br />

An- und Ausziehen,<br />

Stuhlkontrolle,<br />

Harnkontrolle, Benutzung<br />

der Toilette, Bett- /Stuhltransfer,<br />

Mobilität, Treppen<br />

steigen).<br />

7)<br />

Qualidem ist ein demenzspezifisches<br />

Proxy-<br />

Instrument zur Messung<br />

von Lebensqualität, erfasst<br />

werden neun Dimensionen(Pflegebeziehung,<br />

positiver Affekt, negativer<br />

Affekt, ruheloses,<br />

angespanntes Verhalten<br />

positives Selbstbild, soziale<br />

Beziehungen, soziale<br />

Isolation, sich zuhause<br />

fühlen, etwas zu tun haben)<br />

auf einer relativen<br />

Skala von 0–100, wobei<br />

höhere Werte eine bessere<br />

Lebensqualität bedeuten.<br />

Die hausärztliche Versorgung erfolgt in WG<br />

angemessen häufig, die Kontakthäufigkeit zu<br />

Fachmedizinern ist deutlich geringer. Für fast<br />

90 % der WG- und der SWB-Bewohnerschaft<br />

ist eine gesetzliche Betreuung oder<br />

eine Vorsorgevollmacht gegeben. In jeweils<br />

69 % der ambulanten und stationären Einheiten<br />

werden Angehörige aktiv in den Alltag<br />

eingebunden, die Schwerpunkte ihrer Beteiligung<br />

unterscheiden sich jedoch zwischen<br />

WG und SWB. Während sich Angehörige in<br />

den WG hauptsächlich in den Bereichen<br />

„persönliche Hilfen“ (z. B. Regelung finanzieller<br />

Dinge, Arztbesuche) und „Gesellschaft<br />

leisten und gemeinschaftliche Angebote“<br />

(z. B. Lesen, Sing- und Spielkreise, Mitwirkung<br />

bei der Organisation von Ausflügen, Festen<br />

und Veranstaltungen) beteiligen, überwiegen<br />

in den SWB „Pflege/Pflegerische Hilfen<br />

und Hilfen zur Betreuung“ (z.B. körpernahe<br />

pflegerische Tätigkeiten, Hilfe bei Mahlzeiten,<br />

Betreuung, Unterstützung bei hauswirtschaftlichen<br />

Tätigkeiten). Ehrenamtliche<br />

werden in etwa 44 % aller untersuchten WG<br />

und 89 % der SWB eingebunden. Sie engagieren<br />

sich in beiden Settings hauptsächlich<br />

in den Bereichen „Gesellschaft leisten und<br />

gemeinschaftliche Angebote“ sowie „persönliche<br />

Hilfen“.<br />

Längsschnittstudie<br />

In der Längsschnittuntersuchung wurden 56<br />

Personen zum ersten Erhebungszeitraum<br />

(13 Männer, 43 Frauen) rekrutiert, hiervon<br />

hatten 61 % das Einzugsziel WG. Der mortalitätsbezogene<br />

Ausfall innerhalb des Untersuchungszeitraums<br />

beträgt insgesamt 41 %.<br />

Über alle drei Erhebungszeitpunkte wurden<br />

33 Personen nachverfolgt (Follow-ups). Etwa<br />

drei Viertel der Studienteilnehmer/innen sind<br />

Frauen, das Einzugsziel variiert dabei signifikant<br />

nach dem Geschlecht: Während Frauen<br />

mehrheitlich in eine WG einziehen, entscheiden<br />

sich Männer größtenteils <strong>für</strong> einen<br />

SWB als zukünftige Wohnumgebung. Personen<br />

mit dem Einzugsziel „WG“ sind durchschnittlich<br />

2,2 Jahre älter als Personen mit<br />

dem Einzugsziel „SWB“ und zudem kognitiv<br />

weniger stark beeinträchtigt.<br />

Die meisten Studienteilnehmer/innen waren<br />

zum Zeitpunkt t1 in eine Pflegestufe I oder II<br />

(43 % bzw. 39 %) eingruppiert. Die Mehrzahl<br />

der Studienteilnehmer/innen verfügt bei Einschluss<br />

in die Studie über eine allgemeine,<br />

Aus der Altersforschung<br />

nicht näher diagnostizierte Demenz (41 %)<br />

und etwa ein Drittel (36 %) über eine Demenz<br />

vom Typ Alzheimer. Die an der gesamten<br />

Studie Teilnehmenden (n = 33) sind durchschnittlich<br />

82 Jahre alt und weisen einen<br />

mittleren MMSE 4 von 14,4 Punkten auf. Mehr<br />

als drei Viertel von ihnen sind von einer<br />

schweren Demenz (GDS ≥ 6 5 ; Reisberg u.a.<br />

1982, Reisberg 1988) betroffen. Bewohner/<br />

innen von Pflegeheimen sind dabei schwerer<br />

demenziell erkrankt und weisen im Mittel<br />

größere funktionale Einschränkungen auf.<br />

Sowohl kognitive wie auch funktionale Fähigkeiten<br />

(MMSE bzw. Barthel-Index 6 ; (Folstein<br />

u.a. 1975 bzw. Mahoney u. Barthel 1965)<br />

nehmen im Verlauf des Studienjahres bei<br />

den Bewohnern/innen beider Wohnformen<br />

signifikant ab. Bewohner/innen von SWB<br />

bleiben dabei im Verlauf des gesamten Studienjahres<br />

generell im Mittel schwerer eingeschränkt,<br />

ein statistisch belegbarer Unterschied<br />

zwischen beiden Settings kann jedoch<br />

aufgrund der geringen Fallzahl nicht<br />

nachgewiesen werden.<br />

Die Prävalenzen nicht kognitiver Symptome<br />

(Aggression, Depression, Apathie, Wahnvorstellungen,<br />

Halluzinationen etc.) sind bei Studienbeginn<br />

in beiden Settings hoch. Diese<br />

psychosozialen Verhaltensauffälligkeiten reduzieren<br />

sich jedoch über den Untersuchungszeitraum<br />

hinweg signifikant. WG-Bewohner/innen<br />

haben nach zwölf Monaten<br />

durchschnittlich eine bessere psychosoziale<br />

Verfassung als SWB-Bewohner/innen, jedoch<br />

kann auch hier kein statistisch signifikanter<br />

Unterschied belegt werden. Ca. 40 %<br />

der Studienteilnehmer/innen zeigen bei Studienbeginn<br />

unruhige und unangemessene<br />

Verhaltensweisen oder sind „verbal agitiert“.<br />

Während der Anteil der Verhaltensauffälligen<br />

nach Ablauf eines Jahres in den WG abgenommen<br />

hat, nimmt er in der Versorgungsform<br />

SWB zu.<br />

Die Lebensqualität der Einziehenden wurde<br />

mittels Qualidem 7 (Ettema 2007) gemessen<br />

und beruht auf einer Fremdeinschätzung<br />

durch Pflegekräfte. Personen, die in eine WG<br />

einziehen, weisen dabei insbesondere im<br />

Bereich sozialer Isolation eine signifikant<br />

besser eingeschätzte Lebensqualität auf als<br />

Personen mit dem Einzugsziel SWB. In den<br />

WG wird im zeitlichen Verlauf ein Anstieg der<br />

eingeschätzten durchschnittlichen Lebensqualität<br />

der Bewohner/innen in fast allen be-<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


obachteten Dimensionen beobachtet, eine<br />

auffallende Ausnahme bildet der Bereich<br />

„soziale Isolation“, hier ist eine abnehmende<br />

Lebensqualität zu beobachten. Signifikante<br />

Unterschiede zwischen den Versorgungsformen<br />

lassen sich in der Dimension Pflegebeziehung<br />

nachweisen: während sich die eingeschätzte<br />

Lebensqualität im Bereich Verhältnis<br />

zur Pflege/ zu Pflegepersonen bei<br />

WG-Bewohner/-innen im Untersuchungszeitraum<br />

stetig verbessert, verschlechtert sich<br />

diese bei Untersuchten im Setting „SWB“.<br />

Diskussion<br />

Insgesamt weisen die Ergebnisse auf die erhebliche<br />

Bedeutung von ambulant betreuten<br />

Wohngemeinschaften in der Versorgungslandschaft<br />

<strong>für</strong> demenziell erkrankte Menschen<br />

hin. Es zeigt sich, dass Angehörige und Ehrenamtliche<br />

nicht so eng eingebunden werden,<br />

wie postuliert wird. Ebenfalls ausbaufähig<br />

sind die Kooperations- und Netzwerkstrukturen.<br />

Eine stärkere Verzahnung von WG in das<br />

allgemeine Gesundheitsnetzwerk erscheint<br />

notwendig. Die Längsschnittergebnisse zeigen,<br />

dass sich die Bewohnerschaften beider<br />

Versorgungsformen im Hinblick auf ihre psychopathologische<br />

Entwicklung und ihre Alltagsfähigkeiten<br />

unterscheiden. Die Studie<br />

baut damit erste Ergebnisse zu ambulant betreuten<br />

WG aus (vgl. Wolf-Ostermann u. Fischer<br />

2010) und evaluiert erstmals systematisch<br />

psychosoziale und gesundheitliche<br />

Outcomes von Bewohnern/innen. Die Darstellung<br />

der Stärken und des Verbesserungspotentials<br />

der untersuchten Versorgungsformen<br />

können als Grundlage <strong>für</strong> Empfehlungen<br />

bzgl. der (Weiter-) Entwicklung kooperativer<br />

vernetzter Versorgungsstrukturen <strong>für</strong><br />

demenziell Erkrankte dienen – auch und gerade<br />

unter Einbeziehung unterschiedlicher<br />

Professionen und Institutionen. Die vorliegende<br />

Studie hat damit einen wichtigen Beitrag<br />

zur Erforschung der Versorgungssituation<br />

von demenziell erkrankten Menschen<br />

geleistet und trägt zur Verbesserung ihrer<br />

gesundheitlichen Versorgung bei.<br />

Aufbauend auf die erzielten Ergebnisse erfolgt<br />

derzeit die Entwicklung forschungs-<br />

und wissensbasierter Qualitätskriterien sowie<br />

wissenschaftlich relevanter und transparenter<br />

Konzepte zur Qualitätsentwicklung<br />

Aus der Altersforschung<br />

und –prüfung in ambulant betreuten Wohngemeinschaften<br />

<strong>für</strong> pflegebedürftige ältere<br />

Menschen mit dem Ziel der Wahrung und<br />

Steigerung der Lebensqualität Betroffener<br />

sowie der Prävention von zunehmenden gesundheitlichen<br />

Beeinträchtigungen (Gräske<br />

u.a. 2010, 2011).<br />

Prof. Dr. Karin Wolf-Ostermann lehrt Empirische<br />

Sozialforschung und Empirische<br />

Pflegeforschung an der Alice-Salomon-<br />

Hochschule Berlin und ist Projektleiterin<br />

der DeGeWE Studie.<br />

Kontakt: wolf-ostermann@ash-berlin.eu<br />

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<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

9


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Wohngemeinschaften in Berlin – Studienprotokoll.<br />

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Gräske .J.; Fischer, T.; Worch, A.; Meyer, S. u. Wolf-Ostermann,<br />

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Wohngemeinschaften <strong>für</strong> pflegebedürftige ältere<br />

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auf der Homepage der „Pflegezeitschrift“<br />

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Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Bevoelkerung/VorausberechnungBevoelkerung/KrankenhausbehandlungPflegebeduerftige58711<br />

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www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/<br />

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Inzidenz von Demenz in Deutschland – Eine Studie auf<br />

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www.rostockerzentrum.de/publikationen/rz_<br />

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<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


1) MMSE = Mini Mental<br />

State Examination; Scree-<br />

ning-Verfahren zur Erfas-<br />

sung kognitiver Defizite<br />

Die Pflegeoase als Alternative zum Einzel- oder Doppelzimmer<br />

<strong>für</strong> Menschen mit schwerer Demenz<br />

Birgit Schuhmacher und Thomas Klie<br />

Weit fortgeschrittene Demenz in der Versorgung(-sforschung)<br />

und Zielstellung<br />

Die pflegerisch-medizinische Versorgung wie<br />

auch die soziale Begleitung und Unterstützung<br />

von Menschen mit weit fortgeschrittener<br />

Demenz weist noch immer Desiderate auf.<br />

Dies betrifft sowohl die Praxis der Versorgung<br />

(Rutenkröger u. Kuhn 2010; Schäufele<br />

2008), als auch die Anzahl verfügbarer Studien<br />

über Menschen, die sehr schwer dementiell<br />

erkrankt, aber nicht unmittelbar vom<br />

Tod bedroht sind (Auer u. Reisberg 2006).<br />

Forschungen fokussieren zum einen auf die<br />

Phase der mittleren bis schweren Demenz,<br />

die gekennzeichnet ist durch stark eingeschränkte<br />

Kognition bei noch vielen erhaltenen<br />

Ressourcen (Mobilität, Nahrungsaufnahme)<br />

und zum anderen auf die palliative<br />

Versorgung von Menschen mit Demenz in<br />

einer terminalen Phase (Volicer 2001, 2005,<br />

2007; Holmerová u.a. 2007). Die Phase der<br />

schwersten Demenz (MMSE 1 < 5) mit weitgehendem<br />

Unterstützungsbedarf in allen<br />

Aktivitäten des täglichen Lebens sowie dem<br />

Verlust der verbalen Kommunikation, kann<br />

bis zu 10 Jahre andauern (Auer u. Reisberg<br />

2006). Auf Basis einer explorativen Studie<br />

zur Pflege- und Begleitungspraxis professionell<br />

Pflegender zeigen Mino und Frattini<br />

(2006) auf, dass Pflegende in dieser Phase<br />

von der Notwendigkeit einer „chronic<br />

palliative care“ sprechen. Priorität hat das<br />

Wohlbefinden der Betroffenen, der Erhalt<br />

von Fähigkeiten tritt dabei in den Hintergrund.<br />

Dennoch wäre es verfehlt, hier von<br />

Sterbenden zu sprechen, so dass der palliative<br />

Maßnahmenkatalog (End-of-life Care:<br />

Vermeidung von Wiederbelebung, aggressiven<br />

Therapien und künstlicher Ernährung;<br />

Volicer 2005) evtl. nicht ausreichend bzw.<br />

nicht angemessen ist. Die Pflege und Begleitung<br />

von Menschen mit weit fortgeschrittener<br />

Demenz, welche sich über Jahre erstrecken<br />

kann, benötigt spezifische Konzep-<br />

Aus der Altersforschung<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

11<br />

tualisierungen sowie einen eigenen Kostenrahmen<br />

(Rutenkröger u. Kuhn 2008). Mit<br />

dem Fortschreiten der Demenzerkrankung<br />

nimmt die Lebensqualität zwar ab (Albert<br />

2001), Teilhabe und Aktivität können jedoch<br />

nachweislich bis in weit fortgeschrittene<br />

Krankheitsstadien das Wohlbefinden verbessern<br />

(Chung 2004). Obwohl die Selbstwahrnehmung<br />

und die basale Wahrnehmung von<br />

Stimuli erhalten bleiben (Clare 2010), werden<br />

Menschen mit sehr schwerer Demenz häufig<br />

Teilhabe-Chancen verweigert (Chung 2004).<br />

Vor diesem Hintergrund plädiert Volicer<br />

(2001) <strong>für</strong> die Einrichtung von special care<br />

units <strong>für</strong> schwerst demenziell Erkrankte,<br />

welche noch keine Palliative Care im engeren<br />

Sinn benötigen.<br />

Pflegeoasen – eine Antwort auf Versorgungsdefizite<br />

Der Begriff der „Pflegeoase“ hat im deutschsprachigen<br />

Raum (noch) keine einheitliche<br />

oder fest umrissene Bedeutung, sondern<br />

wird <strong>für</strong> eine Vielzahl konzeptionell sehr unterschiedlicher<br />

stationärer Versorgungsformen<br />

<strong>für</strong> schwerst demenzerkrankte Menschen<br />

verwendet. Kernmerkmal ist das gemeinsame<br />

Wohnen der Zielgruppe in einem<br />

besonders gestalteten Raum innerhalb einer<br />

stationären Einrichtung der Altenpflege. Der<br />

Begriff „Pflegeoase“ wurde geprägt in der<br />

Einrichtung „Sonnweid“ im Wetzikon in der<br />

Schweiz, wo bereits 1998 eine Pflegeoase<br />

gegründet wurde. Held und Ermini-Fünfschilling<br />

(2006) folgend, sollen schwer demenzerkrankte<br />

Personen einen besonderen<br />

Schutzraum erhalten, da <strong>für</strong> sie das Zusammensein<br />

mit weniger schwer demenziell<br />

erkrankten Menschen, z. B. in einer Wohn-<br />

oder Hausgemeinschaft, belastend sein<br />

kann. Verbringen aber schwer demenziell Erkrankte<br />

ihren Tag allein in einem privaten Einzel-<br />

oder Doppelzimmer, erhalten sie zu we-


12<br />

2) ADL = Activities of<br />

Daily Living; Aktivitäten<br />

des täglichen Lebens. Der<br />

Barthel Index ist ein Instrument<br />

zur Feststellung<br />

von Pflegebedürftigkeit<br />

bzw. Selbständigkeit.<br />

nig Zuwendung – eine Beobachtung, die<br />

Pflegekräfte in der Praxis häufig machen.<br />

Der fachliche Diskurs um diese neuartige<br />

Versorgungsform war in Deutschland zunächst<br />

von sehr gegensätzlichen Positionen<br />

geprägt (exemplarisch dazu: Dürrmann u.<br />

Sowinski 2008). Die zentrale Frage war, ob<br />

der Verzicht auf ein Einzel- oder Doppelzimmer<br />

<strong>für</strong> Bewohner/-innen von stationären<br />

Pflegeeinrichtungen mit einem Verlust an<br />

personaler Würde gleichzusetzen ist. Infolge<br />

der steigenden Anzahl wissenschaftlicher<br />

Begleitstudien zum Thema Pflegeoasen (vgl.<br />

u.a. Brandenburg u.a. 2011; Dettbarn-<br />

Reggentin u. Reggentin 2010; Rutenkröger<br />

u. Kuhn 2008, 2010; Klie u. Schuhmacher<br />

2010) wird nicht nur die Frage „Mehrpersonenraum<br />

oder Einzelzimmer?“ diskutiert,<br />

sondern verstärkt untersucht, wie eine pflegerisch-medizinisch<br />

optimale und gleichzeitig<br />

anregungsreiche und beschützende<br />

Begleitung von Menschen mit sehr schwerer<br />

Demenz gelingen kann.<br />

Die Zielgruppe von Pflegeoasen umfasst Personen<br />

mit sehr weit fortgeschrittener Demenz,<br />

welche geprägt ist von schwersten<br />

funktionellen und körperlichen Einschränkungen<br />

mit umfassender Pflegebedürftigkeit<br />

(MMSE


3) Die genannten absolu-<br />

ten Fallzahlen beziehen<br />

sich auf alle sechs Erhebungszeitpunkte.<br />

Zu jedem<br />

Erhebungszeitpunkt<br />

wurde der maximale Radius<br />

jedes/r Studienteilnehmer/in<br />

erfragt (VG n = 20,<br />

PG n = 37)<br />

sondern auch aufgrund von Krankheitsbildern<br />

wie Z. n. Apoplex, Korsakow-Syndrom und<br />

Wachkoma. In einigen Pflegeoasen halten<br />

sich die Bewohner/-innen nur wochenweise<br />

nach Bedarf, z. B. bei großer Unruhe, auf<br />

und kehren dann in das individuelle Zimmer<br />

zurück. Es finden sich reine Liegend-Umgebungen<br />

ebenso wie Pflegeoasen, die über<br />

Sitzgelegenheiten und einen zentralen<br />

Essplatz verfügen. Die Zubereitung bzw. Anlieferung<br />

der Mahlzeiten wird unterschiedlich<br />

gehandhabt und zum Teil unterstützt<br />

durch basale Stimulation, in dem Lebensmittel<br />

direkt in der Oase gekocht oder angebraten<br />

werden. Hinsichtlich des Personalkonzepts<br />

sehen einige Einrichtungen gemischte<br />

Teams vor, in denen die Pflegenden<br />

in der Oase, aber auch im angrenzenden<br />

Wohnbereich tätig sind, andere Einrichtungen<br />

setzen auf reine Oasenteams.<br />

Studie und zentrale Forschungsergebnisse<br />

In den Jahren 2008 bis 2010 evaluierte das<br />

Institut <strong>für</strong> angewandte Sozialforschung,<br />

Alter. Gesellschaft. Partizipation (AGP) an<br />

der Evangelischen Hochschule Freiburg in<br />

Kooperation mit dem Institut <strong>für</strong> Gerontologie<br />

(IfG) Heidelberg eine Pflegeoase in<br />

einer Einrichtung von projekt 3 e. V. in Mayen<br />

(www.projekt-3.de) im Rahmen der<br />

Forschungsförderung Leuchtturmprojekt<br />

Demenz des Bundesministeriums <strong>für</strong> Gesundheit.<br />

Ziel der Studie war es, die Lebensqualität<br />

der Bewohner/-innen, die Zufriedenheit<br />

der Angehörigen und die Arbeitszufriedenheit<br />

bzw. Belastung des Pflegepersonals<br />

zu untersuchen. Eingesetzt wurden das<br />

Heidelberger Instrument zur Erfassung der<br />

Lebensqualität Demenzkranker (H.I.L.DE;<br />

Becker, Kaspar u. Kruse 2011), qualitative<br />

Interviews und Gruppendiskussionen sowie<br />

standardisierte und offene Beobachtungen.<br />

H.I.L.DE misst die Lebensqualität der<br />

Bewohner/-innen anhand von Beobachtungen<br />

durch erfahrene und geschulte Pflegekräfte.<br />

Dabei fließen die räumliche Umwelt,<br />

das Ausmaß der Schmerzen, beobachtbare<br />

Aktivitäten, das soziale Bezugssystem und<br />

das emotionale Erleben der Bewohner/-innen<br />

mit ein.<br />

Aus der Altersforschung<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

13<br />

Untersucht wurde die Pflegeoase „Sinneswelt“<br />

in der „Villa am Buttermarkt“ in Adenau,<br />

in der seit 2007 sieben Bewohner/-innen<br />

leben. Der Raum der Pflegeoase verfügt über<br />

eine Fläche von 130 qm und ist in Nischen<br />

gegliedert, in denen sich die Bettplätze befinden.<br />

Die aufwändig in Grüntönen dekorierte<br />

„Sinneswelt“, zu der auch ein Wellness-<br />

Bad gehört, hat keine Ess- oder Sitzgruppe,<br />

allerdings können (rest-)mobile Bewohner/innen<br />

an Aktivitäten des vorgelagerten<br />

Wohnbereichs teilnehmen und auch dort ihre<br />

Mahlzeiten einnehmen. Für die Pflegeoase<br />

und den benachbarten Wohnbereich, die von<br />

einem gemeinsamen Team betreut werden,<br />

ergibt sich ein Personalschlüssel von 1,14.<br />

Die Bewohner/-innen der Pflegeoase erhalten<br />

Leistungen der Pflegeversicherung nach<br />

Pflegestufe 3 bzw. 3 mit Härtefallregelung,<br />

bei ansonsten landesüblichen Heimkosten.<br />

In die Vergleichsgruppe (VG) wurden vergleichbar<br />

schwer erkrankte Bewohner/-innen<br />

von Einzel- oder Doppelzimmern einer nahe<br />

gelegenen Einrichtung desselben Trägers<br />

aufgenommen. Für diese Einrichtung (41 Bewohner/-innen,<br />

Pflegstufe 1–3) ergibt sich<br />

ein Stellenschlüssel von 2,54. Während der<br />

Laufzeit der Studie von 20 Monaten sind<br />

insgesamt drei Studienteilnehmer/-innen<br />

verstorben, vier konnten neu aufgenommen<br />

werden, so dass letztlich zu sechs Erhebungszeitpunkten<br />

in der Pflegeoase 8 Personen<br />

(MMSE < 3) und in der Vergleichsgruppe 5<br />

Personen (MMSE = 0) untersucht wurden.<br />

Im Folgenden werden ausgewählte Forschungsergebnisse<br />

skizziert.<br />

Vergleicht man den Bewegungsradius in den<br />

beiden untersuchten Versorgungsformen,<br />

so ist der Anteil der Bewohner/-innen, die ihr<br />

eigenes Zimmer bzw. die Pflegeoase nicht<br />

mehr verlassen, in der Vergleichsgruppe geringfügig<br />

niedriger (15%, 3 3 ) als in der<br />

Programmgruppe (22%, 8). 65% (VG, 14)<br />

bzw. 70% (PG, 26) der Studienteilnehmer/innen<br />

erreichten maximal den angrenzenden<br />

Wohnbereich, nur 15% (VG, 3) bzw. 8%<br />

(PG, 3) auch andere Orte innerhalb der Einrichtung.<br />

Der Außenbereich wird nur noch<br />

im Einzelfall aufgesucht. Es wird deutlich,<br />

dass die Pflegeoase kein Sterbezimmer ist,<br />

das – einmal bezogen – in der Regel nicht<br />

wieder verlassen wird. Vielmehr nehmen<br />

mehr als zwei Drittel der Bewohner/-innen


14<br />

zumindest zeitweise am Leben auf dem angrenzenden<br />

Wohnbereich teil.<br />

Eine zentrale, dem Konzept Pflegeoase zugrunde<br />

liegende Annahme ist, dass sich dort<br />

mehr Kontaktchancen bieten als im Einzel-<br />

oder Doppelzimmer. Diese Hypothese konnte<br />

in der Studie bestätigt werden.<br />

In der Pflegeoase finden deutlich häufiger<br />

Begegnungen mit positiv besetzten Kontaktpersonen<br />

statt (vgl. Abbildung 1).<br />

Eine weitere Annahme bezieht sich auf den<br />

höheren Grad an Teilhabe, der durch das gemeinsame<br />

Leben in der Pflegeoase realisiert<br />

werden soll. Hier zeigt die Untersuchung<br />

mit H.I.L.DE zumindest, dass die Bewohner/<br />

-innen der Pflegeoase eine größere Vielfalt<br />

an positiven, angeleiteten Aktivitäten erleben<br />

(im Durchschnitt 3-4 unterschiedliche Aktivitäten)<br />

als die Studienteilnehmer aus der Vergleichsgruppe<br />

(0-1 unterschiedliche Aktivitäten).<br />

Diese Aktivitäten werden auch deutlich<br />

häufiger ausgeführt (Häufigkeits-Score PG<br />

im Mittel: 10-24; Häufigkeits-Score VG im<br />

Mittel: 0-1; vgl. Klie u. Schuhmacher 2010).<br />

Da das Aktivitätsspektrum schwerst demenziell<br />

erkrankter Menschen auch <strong>für</strong> angeleitete<br />

Aktivitäten eher schmal ist, kommt<br />

niedrigschwelligen Angeboten eine hohe<br />

Bedeutung zu. Hierzu zählen Finger- und<br />

Handmassagen, Vorlesen und Gehübungen,<br />

Abbildung 1: Häufigkeit positive Kontakte PG – VG, t1-t6<br />

Aus der Altersforschung<br />

aber auch Plätzchen backen, Beeren abzupfen<br />

und aktivierende Maßnahmen, die<br />

die Selbständigkeit der Betroffenen erhalten,<br />

z. B. durch das Stützen einer Hand beim<br />

Essen.<br />

Pflegekräfte legen in der Pflegeoase im<br />

Tagesmittel 239,1 m/h zurück, in der Vergleichsgruppe<br />

dagegen 372,1 m/h, also<br />

133 m/h mehr. Ein höherer Anteil der täglichen<br />

Arbeitszeit wird <strong>für</strong> bewohnernahe<br />

Tätigkeiten aufgewendet, die im gleichen<br />

Raum oder in unmittelbarer Nähe der<br />

Bewohner/-innen ausgeführt werden (PG:<br />

74,6%, VG: 63,5%).<br />

Pflegeoasen in rechtlicher Perspektive<br />

Es war ein langer Weg, die Vorstellung von<br />

Menschenwürde und Privatheit in Pflegeheimen<br />

auch in rechtlich verbindlicher Weise<br />

zu etablieren und durchzusetzen. In den<br />

1980er Jahren waren in Westdeutschland in<br />

Pflegeheimen 6-Bett-Zimmer, aber auch<br />

Schlafsäle Realität; noch in den 1990er Jahren<br />

stieß man auf ähnliche Anstaltsbedingungen<br />

in der ehemaligen DDR. Es war insbesondere<br />

das Kuratorium Deutsche Altershilfe<br />

(KDA), das sich <strong>für</strong> ein Recht auf Einzelzimmer<br />

eingesetzt hat. So hat zuletzt das<br />

Land Baden-Württemberg in seinen landes-<br />

Quelle: IfG, Heidelberg; AGP, Freiburg; Häufigkeitsscore: Anzahl Kontaktpersonen mal Besuchsfrequenz<br />

(6=täglich; 5=mehrmals/Woche, 4=einmal/Woche, 3=mehrmals im Monat, 2=einmal<br />

im Monat, 1=seltener); hier: Mittelwerte <strong>für</strong> PG bzw. VG; t1 und t4 signifikant auf 5%-Niveau<br />

Häufigkeitsscore<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0 1 2 3 4 5 6 7<br />

Meßzeitpunkte<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

VG<br />

PG


4) Durchführungsverord-<br />

nung Wohn- und Teilhabe-<br />

gesetzNordrhein-West- falen<br />

5)<br />

Hamburgisches WohnundBetreuungsqualitätsgesetz<br />

6)<br />

Gesetz zur Regelung<br />

von Verträgen über Wohnraum<br />

mit Pflege- oder<br />

Betreuungsleistungen<br />

(Wohn- und Betreuungs-<br />

vertragsgesetz – WBVG)<br />

rechtlichen Regelungen das Einzelzimmer<br />

als Regelfall festgeschrieben. Vor dem Hintergrund<br />

dieser „Errungenschaften“ werden<br />

Pflegeoasen-Konzepte, die wieder Mehrpersonenräume<br />

vorsehen, als Rückfall hinter<br />

mühsam erkämpfte Standards gesehen.<br />

Auch wird, nicht immer ganz unberechtigt,<br />

der Verdacht gehegt, dass Heimträger sich<br />

durch den Betrieb von Pflegeoasen finanzielle<br />

Vorteile verschaffen könnten. So reagieren<br />

die nach Landesrecht zuständigen Aufsichtsbehörden<br />

mit Skepsis und Vorsicht gegenüber<br />

Oasenmodellen. Das Land Rheinland-<br />

Pfalz hat, um klare Kriterien <strong>für</strong> den heimrechtlichen<br />

Umgang mit den Pflegeoasen zu<br />

finden, Evaluationen unterstützt.<br />

Mehrpersonenräume, die <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Demenz genutzt werden, verstoßen zunächst<br />

gegen die baulichen Mindeststandards<br />

der Nachfolgeregelungen zum Heimgesetz.<br />

Die Länder sehen zwei Möglichkeiten<br />

vor, Pflegeoasen zuzulassen: entweder<br />

im Rahmen von Experimentierklauseln, so<br />

wie etwa § 8 der DVO WTG-NRW 4 oder aber<br />

über den Abschluss einer Vereinbarung zwischen<br />

der zuständigen Behörde und dem Betreiber<br />

des Pflegeheims. In der Vereinbarung<br />

wird das Konzept, die Abweichungen von<br />

den Mindeststandards und die Sicherung der<br />

grundlegenden Rechte der Bewohner/-innen<br />

und ihrer Interessen und Bedürfnisse verbindlich<br />

niedergelegt. Auf diese Weise sollen<br />

neue Wohn- und Betreuungsformen erprobt<br />

werden können (vgl. § 5 HmbWBG 5 ). In<br />

diesen Vereinbarungen kann auch festgelegt<br />

werden, wie die Entscheidung über die Aufnahme<br />

in eine Pflegeoase erfolgt, etwa unter<br />

Abhaltung einer ethischen Fallbesprechung.<br />

Die zuständigen Behörden bleiben so in der<br />

Verantwortung, ohne die neuen Konzepte<br />

von vornherein zu verhindern. Sinnvollerweise<br />

wird zumeist vorgesehen, dass die in<br />

den Projekten gewonnenen Erfahrungen<br />

systematisch auszuwerten und <strong>für</strong> die Weiterentwicklung<br />

der Pflege- und Betreuungskonzepte<br />

zu nutzen sind. Auch mit den<br />

Qualitätsvereinbarungen des SGB XI kommen<br />

Oasen regelmäßig in Konflikt. Schließlich<br />

verlangt das WBVG 6 eine dezidierte Leistungsbeschreibung,<br />

die sich in den entsprechenden<br />

Wohn- und Betreuungsverträgen<br />

niederzuschlagen hat.<br />

Aus der Altersforschung<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

15<br />

Pflegeoasen sind rechtlich und fachlich besonders<br />

begründungs- und legitimationsbedürftig.<br />

Dabei sollte es bleiben. Das legen<br />

auch die Ergebnisse der Begleitforschung<br />

nahe, die nicht nur die vielfältigen Variationsformen<br />

von Pflegeoasen sichtbar machen,<br />

sondern auch die besonderen Bedingungen,<br />

unter denen sie ihre ggf. positiven Wirkungen<br />

entfalten. Allgemeingültige Standards<br />

<strong>für</strong> die Zulässigkeit von Oasen, neue heimrechtliche<br />

Schubladen, erscheinen nicht als<br />

Weg, Pflegeoasen staatlicherseits mit zu<br />

verantworten.<br />

Fazit: Pflegeoasen als Lernorte<br />

Die vieldiskutierte Frage, ob durch Mehrpersonenräume<br />

die Würde von Menschen mit<br />

weitfortgeschrittener Demenz missachtet<br />

wird, lässt sich nur bedingt durch empirische<br />

Erkenntnisse beantworten. Die Achtung der<br />

Würde des Menschen wird über seine Anerkennung<br />

als Person gewährleistet (Wetzstein<br />

2010). Sie hat einen Bezug sowohl zum<br />

Recht auf Privatheit, wie auch zum Recht<br />

auf soziale Teilhabe. Das gemeinschaftliche<br />

Leben von Menschen mit sehr schwerer<br />

Demenz sollte nicht zwangsläufig gleichgesetzt<br />

werden mit einer Missachtung ihrer<br />

personalen Würde, sondern es stellt den Versuch<br />

dar, bedürfnisorientiert eine Balance<br />

zwischen privatem Rückzug und sozialer Interaktion<br />

herzustellen.<br />

„Anerkennung als Person“ bedeutet <strong>für</strong><br />

Menschen mit weit fortgeschrittener Demenz<br />

auch Anerkennung ihrer somatischen<br />

und psychosozialen Bedürfnisse, Kenntnis<br />

und bewussten Umgang mit ihrer Lebensgeschichte<br />

sowie den Aufbau von respekt-<br />

und liebevollen Beziehungen. Empirische<br />

Ergebnisse zeigen, dass diese Erfordernisse<br />

durch das gemeinsame Leben von Menschen<br />

mit weit fortgeschrittener Demenz in<br />

einem Mehrpersonenraum unterstützt<br />

werden können, da Wegezeiten kürzer und<br />

Kontaktzeiten länger werden und die Wahrnehmung<br />

und Aufmerksamkeit der professionellen<br />

Helfer/-innen <strong>für</strong> die Bewohner/-<br />

innen hoch ist.<br />

Pflegeoasen bieten einen Schutzraum, sollten<br />

aber nicht hermetisch abgeriegelt sein. Die<br />

Lern- und Arbeitsprozesse und das Leben in<br />

der Pflegeoase entwickeln sich in Auseinan-


16<br />

dersetzung mit Einflüssen aus den angrenzenden<br />

Wohnbereichen, aus der gesamten<br />

Einrichtung und mit Einflüssen von außerhalb<br />

der Einrichtung. Umgekehrt sollten positive<br />

Erfahrungen aus der Pflegeoase (z. B.<br />

mit Wellness-Bädern, Ernährungskonzepten,<br />

Aromatherapie) auch von „innen nach außen“<br />

wirken können und somit Einfluss auf andere<br />

Bereiche der Pflege nehmen können.<br />

Birgit Schuhmacher, Dipl.-Soziologin, ist<br />

Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut<br />

<strong>für</strong> angewandte Sozialforschung AGP in<br />

Freiburg und war <strong>für</strong> die Durchführung der<br />

Pflegeoasen-Studie mitverantwortlich.<br />

Prof. Dr. jur. Thomas Klie, Projektleiter der<br />

Pflegeoasen-Studie, lehrt Öffentliches<br />

Recht und Verwaltungswissenschaft an der<br />

Evangelischen Hochschule Freiburg und leitet<br />

das Institut <strong>für</strong> angewandte Sozialforschung<br />

AGP.<br />

Kontakt:<br />

schuhmacher@eh-freiburg.de<br />

klie@eh-freiburg.de<br />

Literatur<br />

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vollst. erw. Aufl., Karger, Basel<br />

Holmerová, I.; Jurasková, B.; Kalvach, Z.; Rohanová, E. u.<br />

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htm (3.6.2011)<br />

Schäufele, M. (2008): Demenzkranke in der stationären<br />

Altenhilfe: Aktuelle Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte<br />

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Wetzstein, V. (2010): Kognition und Personalität.<br />

Perspektiven einer Ethik der Demenz. In: Kruse, A.<br />

(Hg.): Lebensqualität bei Demenz? Heidelberg<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


18<br />

1) Die Bearbeitung er-<br />

folgte durch die TU Dort-<br />

mund, Forschungseinheit<br />

„Soziale Gerontologie<br />

mit dem Schwerpunkt<br />

Lebenslaufforschung“<br />

(Prof. Dr. Monika Reichert,<br />

Anja Ehlers), durch das<br />

Institut <strong>für</strong> Gerontologie<br />

an der TU Dortmund<br />

(Verena Leve, Dr. Marina<br />

Schmitt, Barbara Zimmer)<br />

und durch die Sozial-<br />

forschungsstelle, Zentrale<br />

wissenschaftliche Ein-<br />

richtung der TU Dortmund<br />

(Dr. Monika Goldmann,<br />

Kerstin Köhler, Bärbel<br />

Meschkutat). Vgl.<br />

www.leuchtturmprojektevident.de<br />

2)<br />

öffentliche Bekanntmachung<br />

des BMG,<br />

27.11.2007<br />

Evaluation vernetzter Versorgungsstrukturen <strong>für</strong> Demenzkranke<br />

und ihre Angehörigen 1<br />

Ermittlung des Innovationspotenzials und Handlungsempfehlungen <strong>für</strong> den Transfer<br />

(EVIDENT) – Ergebnisse des Leuchtturmprojektes „Demenz“<br />

Monika Reichert <strong>für</strong> das Projektteam EVIDENT<br />

Die Pflege-, Gesundheits- und Sozialpolitik<br />

steht in Anbetracht der steigenden Zahl von<br />

Menschen mit Demenz vor enormen Aufgaben,<br />

soll die Verbesserung und nachhaltige<br />

Sicherung ihrer Lebensqualität und die ihrer<br />

Angehörigen erklärtes Ziel sein. Um diesen<br />

Aufgaben gerecht zu werden, hat sich der<br />

vierte Altenbericht (BMFSFJ 2002) ausführlich<br />

dem Thema Demenz gewidmet und<br />

auch die durch das Bundesministerium <strong>für</strong><br />

Gesundheit geförderten „Leuchtturmprojekte<br />

Demenz“ dienen „… der Identifikation<br />

und Weiterentwicklung herausragender<br />

Projekte, die einen wesentlichen Beitrag zur<br />

Verbesserung der gesundheitlichen Versorgung<br />

demenziell Erkrankter leisten“ 2 .<br />

Was die Versorgungssituation <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Demenz und ihre Angehörigen betrifft,<br />

so ist zwar mittlerweile eine Vielzahl von<br />

qualitativ hochwertigen Angeboten vorhanden<br />

(Re u. Wilbers, 2004). Allerdings ist die<br />

Demenzerkrankung durch Besonderheiten<br />

gekennzeichnet, die die Inanspruchnahme<br />

unterschiedlicher Einrichtungen und Berufsgruppen<br />

notwendig machen (Alzheimer Europe<br />

2008). Pflegende Angehörige wiederum<br />

sind mehrheitlich psychisch und physisch<br />

überfordert und leiden an chronischem Zeitmangel<br />

(Zank u. Schacke, 2006). Sie empfinden<br />

die Organisation von unterschiedlichen<br />

Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten als<br />

zusätzliche Belastung. Hinzu kommen häufig<br />

eine mangelnde Informiertheit über Entlastungsangebote<br />

sowie Hemmschwellen im<br />

Hinblick auf deren Inanspruchnahme (Ehlers<br />

2010). Es steht somit außer Frage, dass<br />

beide Gruppen – Menschen mit Demenz und<br />

pflegende Angehörige – ein ganzheitliches<br />

und koordiniertes Unterstützungssystem benötigen,<br />

das den Besonderheiten der Demenzerkrankung<br />

bzw. der Lebenssituation<br />

der Betroffenen gerecht wird.<br />

Indes lassen sich in verschiedenen inhalt-<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

lichen und strukturellen Bereichen des Unterstützungssystems<br />

nach wie vor Schwächen<br />

identifizieren (Klie u.a., 2005). Diese Schwächen<br />

betreffen zum Teil generell die Versorgung<br />

Pflegebedürftiger in Deutschland,<br />

sie sind aber in ihren Auswirkungen auf<br />

Demenzkranke und ihre Angehörigen besonders<br />

bedeutsam. So werden im Fachdiskurs<br />

vor allem folgende Punkte kritisiert:<br />

– die fehlende Integration und Vernetzung der<br />

unterschiedlichen Teile des Versorgungssystems,<br />

– das Beharren auf starrer Trennung zwischen<br />

ambulanter und stationärer Versorgung und<br />

Betreuung,<br />

– die unzureichende Berücksichtigung der<br />

spezifischen Belange an Demenz Erkrankter<br />

und ihrer Angehörigen in ambulanten und<br />

stationären Einrichtungen,<br />

– eine zu wenig ausgebaute Beratungsstruktur<br />

<strong>für</strong> demenziell Erkrankte und deren Angehörige,<br />

– die fehlende Evaluation von Versorgungskonzepten<br />

und -strukturen (BMFSFJ 2004).<br />

Erfolgreiche Vernetzung – hier verstanden<br />

als das Zusammenwachsen von verschiedenen<br />

Elementen des Hilfesystems im Hinblick<br />

auf Ziele, Normen, Werte, Spielregeln (Dietz<br />

1999) – kann sowohl auf individueller Ebene<br />

(Stichwort: Case Management) als auch auf<br />

der Ebene von Diensten und Einrichtungen<br />

(Stichwort: Care Management) realisiert<br />

werden (vgl. auch Kofahl u.a. 2003). Gerade<br />

vor dem Hintergrund des Wachstums und<br />

der Differenzierung gesundheitsbezogener<br />

und sozialer Dienste <strong>für</strong> Menschen mit Demenz<br />

und ihre Angehörigen ist Vernetzung<br />

bzw. Kooperation und Koordination notwendig,<br />

soll die Effizienz und Effektivität von<br />

Diensten und Einrichtungen erhöht werden.<br />

Dies gilt u. a. in Bezug auf Qualitäts-, Ergebnis-<br />

und Patientenorientierung, aber auch in<br />

Bezug auf ethische Aspekte.<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


Nicht nur in anderen Ländern (Fleury u. Mercier,<br />

2002; Lemiey-Charles u.a., 2005; Otero<br />

u.a. 2009), sondern auch in Deutschland wird<br />

zunehmend die Notwendigkeit erkannt,<br />

Akteure aus den verschiedenen Ebenen der<br />

(Demenz-)versorgung, bspw. aus ärztlichem<br />

und pflegerischem Dienst, aus Beratung und<br />

Selbsthilfe sowie bürgerschaftlichem Engagement<br />

mitein ander zu vernetzen (Hirsch<br />

2008). Durch Vernetzungsaktivitäten sollen<br />

diese Ziele verfolgt werden (vgl. von Kardorff<br />

1998; Schicker 2008):<br />

– Vermeidung von Doppelstrukturen,<br />

– Schließung von Versorgungslücken,<br />

– bessere Ausschöpfung vorhandener personeller<br />

und finanzieller Ressourcen und<br />

damit der Hilfemöglichkeiten, d.h. Nutzung<br />

von Synergieeffekten,<br />

– Arbeits-, Zeit- und Kostenersparnis,<br />

– effiziente Bündelung und Weitergabe von<br />

Informationen,<br />

– Erhöhung der Transparenz in Bezug auf<br />

Dienste und Leistungen <strong>für</strong> Anbieter und<br />

Klienten,<br />

– Überwindung der Schnittstellen und Fragmentierungen<br />

im Sozial- und Gesundheitswesen.<br />

Allerdings ist Vernetzung noch längst nicht<br />

überall gelungen (Roth u. Reichert 2004), obwohl<br />

es durchaus Modelle gibt, die von der<br />

Vernetzung von Hausärzten bis hin zu Pflegekonferenzen<br />

reichen (vgl. Poser 2008). Nach<br />

wie vor bestehen große Lücken in der Zusammenarbeit<br />

und Kommunikation der unterschiedlichen<br />

beteiligten Berufsgruppen,<br />

Sektoren und Angebotsformen (BMFSFJ<br />

2004). Hinzu kommt, dass die Frage, ob bestehende<br />

Vernetzungsbemühungen mittel-<br />

und langfristig wirksam sind, bisher nur<br />

selten wissenschaftlich untersucht wurde<br />

(Re u. Wilbers 2004). An dieser Stelle setzt<br />

EVIDENT an.<br />

Grundlegende Informationen zum Projekt<br />

EVIDENT<br />

Das Projekt EVIDENT wurde im Rahmen der<br />

Ausschreibung „Leuchtturmprojekt Demenz“<br />

vom Bundesministerium <strong>für</strong> Gesundheit<br />

in der Zeit vom 15. April 2008 bis zum<br />

31. März 2010 gefördert. EVIDENT hatte zum<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

19<br />

Ziel, bestehende Versorgungsmodelle und<br />

-netzwerke, die als „gute Praxis“ gelten<br />

können, zu evaluieren, um Empfehlungen <strong>für</strong><br />

gute Netzwerkarbeit ableiten zu können.<br />

Hierzu wurden sechs Versorgungsnetzwerke<br />

aus Nordrhein-Westfalen, die über gut ausgebaute<br />

Strukturen zur Demenzversorgung<br />

verfügen, untersucht. Es handelte sich<br />

um die Stadt Dortmund, die Stadt Köln, den<br />

Rhein-Erft-Kreis, den Rhein-Sieg-Kreis, den<br />

Verein Alt und Jung Süd-West e.V. in Bielefeld<br />

und das Demenz-Servicezentrum <strong>für</strong><br />

Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in<br />

Gelsenkirchen.<br />

Die Kooperationsbeziehungen und Kommunikationsstrukturen<br />

innerhalb dieser Netzwerke<br />

wurden im Rahmen von Fallstudien<br />

ausführlich untersucht. Neben Dokumentenanalysen<br />

und der beobachtenden Teilnahme<br />

an zahlreichen Arbeits- und Netzwerk-Treffen<br />

sowie Veranstaltungen, wurden in den sechs<br />

Regionen über 90 Interviews mit Expert/-<br />

innen aus der Versorgungspraxis geführt und<br />

inhaltsanalytisch ausgewertet. An diesen<br />

Gesprächen beteiligten sich die entsprechenden<br />

Fachstellen der Kommunen und Kreise,<br />

Wohlfahrtsverbände sowie private Anbieter<br />

ambulanter Dienste, teilstationärer und stationärer<br />

Einrichtungen, Beratungsstellen, Demenz-Servicezentren,<br />

sozialpsychiatrische-<br />

und gerontopsychiatrische Zentren, Wohnungsbaugesellschaften,Alzheimer-Gesellschaften,<br />

Haus- und Fach ärzt/-innen, Kliniken,<br />

Krankenkassen, der Medizinische Dienst der<br />

Krankenkassen (MDK), Selbsthilfegruppen und<br />

Ehrenamtlichen- Organisationen. Besonderes<br />

Augenmerk galt den Rahmenbedingungen<br />

<strong>für</strong> erfolgreiche Vernetzung sowie den zukünftig<br />

bedeutsamen Handlungsfeldern <strong>für</strong> die<br />

Zusammenarbeit in der Versorgung. Wesentliche<br />

Forschungsfragen von EVIDENT waren:<br />

– Welche Formen der Vernetzung und Netzwerkaktivitäten<br />

gibt es?<br />

– Was ist die Basis <strong>für</strong> eine Kooperation der<br />

Akteure?<br />

– Welche Motive und Interessen liegen der<br />

Vernetzung zugrunde?<br />

– Welche Rahmenbedingungen fördern oder<br />

hemmen Vernetzung?<br />

– Welche Entwicklungsmöglichkeiten gibt es<br />

<strong>für</strong> vernetzte Versorgungsstrukturen?


20<br />

3) z.B. Koordinierungs-<br />

stellen <strong>für</strong> niedrigschwel-<br />

lige Entlastungsdienste<br />

4) z.B. ehrenamtliche<br />

Pflegebegleiter/-innen<br />

Neben diesen Forschungsfragen an die Netzwerkpartner/-innen<br />

wurde bei EVIDENT auch<br />

die Perspektive der pflegenden Angehörigen<br />

von Menschen mit Demenz in den Blick genommen.<br />

Um mehr über deren Erfahrungen<br />

mit Angeboten der Demenzversorgung sowie<br />

über ihre Wünsche zur Optimierung der<br />

Pflegesituation zu wissen, wurden im Rahmen<br />

des Projektes zu Hause pflegende Angehörige<br />

aus den beteiligten Netzwerken sowohl<br />

schriftlich (n=394) als auch mündlich<br />

(n=37) befragt. Im Rahmen dieser Befragungen<br />

wurden die unterschiedlichsten Versorgungsebenen<br />

einbezogen: von ärztlichen und<br />

pflegerischen Angeboten über Beratungs-<br />

und Schulungsangebote bis zur Unterstützung<br />

durch ehrenamtliche Dienste, Haushaltshilfen<br />

sowie Selbsthilfegruppen. Eine Literaturanalyse<br />

zum Themenkreis „Versorgung Demenzkranker“<br />

rundete diesen Untersuchungsteil ab.<br />

Die untersuchten Netzwerke und ihre Besonderheiten<br />

– Dortmund hat stadtweit Seniorenbüros<br />

eingerichtet, die von der Kommune und<br />

jeweils einem Wohlfahrtsverband betrieben<br />

werden. Hier hat sich eine auf Dauer angelegte,<br />

zentral gesteuerte Netzwerkstruktur<br />

entwickelt. Die Seniorenbüros bieten eine<br />

quartiersbezogene, wohnortnahe Beratung<br />

an und koordinieren die Versorgung in ihrem<br />

Stadtbezirk. Demenzversorgung hat sich in<br />

den letzten Jahren zu einem wichtigen Teil<br />

der Arbeit ent wickelt und neue Kooperationsformen<br />

erforderlich gemacht. Netzwerkarbeit<br />

wird in diesem Modell von allen Beteiligten<br />

als klarer Arbeitsauftrag gesehen. Dialog<br />

und Abstimmung werden sichergestellt<br />

und Konkurrenzen zwischen den Trägern entschärft.<br />

– Vernetzung kann dazu beitragen, den Aus-<br />

und Aufbau von Versorgungsstrukturen auf<br />

verschiedenen Ebenen zu optimieren, wie<br />

das Beispiel der Stadt Köln eindrucksvoll aufzeigt.<br />

In Köln hat die Kommune Steuerungsinstrumente<br />

3 zur Abstimmung von Angeboten<br />

in einem ausdifferenzierten Versorgungsangebot<br />

entwickelt, wobei gerontopsychiatrische<br />

Zentren mit kommunal finanzierten<br />

Fachberatungsstellen eine große Rolle spielen.<br />

Koordinierungsaufgaben werden in<br />

kleinräumige Netzwerke innerhalb des Ge-<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

samtnetzes übertragen. Kooperationen sind<br />

zunehmend formalisiert, Strukturen werden<br />

vereinheitlicht. Aktiv betrieben wird zudem<br />

die Einbindung der niedergelassenen Ärzte<br />

über gerontopsychiatrische Fachberatung in<br />

den Praxen.<br />

– Im Rhein Erft-Kreis moderiert und koordiniert<br />

die Kreisverwaltung die demenzbezogene<br />

Vernetzung. Ein 2006 entwickeltes<br />

Konzept zum Aufbau von Versorgungsangeboten<br />

wird sukzessive umgesetzt. Ein<br />

Schwerpunkt liegt auf dem Aufbau niedrigschwelliger<br />

Hilfe- und Betreuungs angebote 4 ,<br />

die Wohnortnähe in der ländlichen Region<br />

gewährleisten sollen. Es gibt eine enge Kooperation<br />

mit Expert/-innen des Demenz-<br />

Servicezentrums Köln/Rheinland.<br />

– Im Rhein-Sieg-Kreis sind die regionalen<br />

Netzwerke zusammen mit den Sozialpsychiatrischen<br />

Zentren zu wichtigen Bausteinen<br />

in der gerontopsychiatrischen Versorgung<br />

geworden und tragen aktiv zur Verbesserung<br />

der Versorgungslandschaft bei.<br />

Das Versorgungskonzept umfasst die Koordination<br />

und Entwicklung des Hilfesystems<br />

durch den Kreis, das vor allem auf die Schaffung<br />

regionaler Versorgungsstrukturen sowie<br />

die Integration bestehender und neuer<br />

Anbieter und Angebote abzielt.<br />

– Der „Verein Alt und Jung Süd-West e.V.“<br />

in Bielefeld hat ein Modell <strong>für</strong> quartiersbezogene<br />

Versorgung entwickelt, das von<br />

vielen Menschen mit Demenz genutzt wird.<br />

Durch die enge Kooperation von Wohnungsbaugesellschaften<br />

mit Pflegediensten wird<br />

eine innovative Versorgung <strong>für</strong> hilfsbedürftige<br />

Menschen angeboten, die die Umsetzung<br />

von „ambulant vor stationär“ aktiv betreibt.<br />

Damit können Pflegebedürftige in ihrer Wohngegend<br />

bleiben und eine qualifizierte ambulante<br />

Betreuung und Pflege erhalten, gestützt<br />

durch viele niedrigschwellige Angebote<br />

und ein großes ehrenamtliches Engagement.<br />

Durch die gewachsenen vernetzten Strukturen<br />

in der Stadt Bielefeld, wurde das Konzept<br />

von vielen Organisationen übernommen und<br />

bildet einen wichtigen Bestandteil der Alten-<br />

und Demenzversorgung.<br />

– Das Demenz-Servicezentrum <strong>für</strong> Menschen<br />

mit Zuwanderungsgeschichte baut ein überregionales<br />

Angebot <strong>für</strong> die Zielgruppe und<br />

ihre pflegenden Angehörigen auf. Es kooperiert<br />

regional, wie landes- und bundesweit<br />

mit einer Vielzahl unterschiedlicher, an der<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


5) z.B. Wohnberatung, ge-<br />

rontopsychiatrischeFachberatung 6)<br />

z.B. Gewinnung von<br />

Ehrenamtlichen<br />

7)<br />

z.B. über das Stadtgebiet<br />

hinaus<br />

8)<br />

z.B. Organisation und<br />

Durchführung von Fachtagungen<br />

Demenzversorgung beteiligter Akteursgruppen.<br />

Empfehlungen <strong>für</strong> eine gelungene vernetzte<br />

Versorgung von Menschen mit<br />

Demenz und ihren Angehörigen<br />

Im Folgenden werden thesenartig einige<br />

wichtige Empfehlungen benannt, die sich<br />

aus den Fallstudienergebnissen und der<br />

Angehörigenbefragung von EVIDENT ableiten<br />

lassen und die in einer praxisorientierten Broschüre<br />

zusammengefasst sind. Diese<br />

Empfehlungen – so unsere Ansicht – sollten<br />

bei einem Auf- oder Ausbau von Vernetzungsstrukturen<br />

zur Verbesserung der Demenzversorgung<br />

Berücksichtigung finden.<br />

– Versorgungsangebote weiter ausdifferenzieren:<br />

Wenngleich in allen Netzwerken<br />

bereits ein umfassendes Unterstützungsangebot<br />

<strong>für</strong> demenziell Erkrankte und ihre<br />

pflegenden Angehörigen vorhanden ist, so<br />

ist vor dem Hintergrund des Grundsatzes<br />

„ambulant vor stationär“ dennoch der Aus-<br />

und Aufbau insbesondere von niederschwelligen<br />

Betreuungsmaßnahmen, Tages-, Nacht-<br />

und Kurzzeitpflege sowie spezifischen Beratungsangeboten<br />

5 erforderlich. Diese dienen<br />

nicht nur dem möglichst langen Verbleib der<br />

Erkrankten im häuslichen Umfeld, sondern<br />

auch der effektiven Entlastung der Pflegenden.<br />

Kann die Betreuung eines demenzkranken<br />

Menschen nicht mehr im häuslichen Setting<br />

erfolgen, so sollten neue Wohnformen<br />

wie ambulant betreute Wohngruppen in ausreichender<br />

Zahl zur Verfügung stehen. Diese<br />

bilden nicht nur eine Alternative zum Umzug<br />

in eine stationäre Einrichtung, sondern sie<br />

ent sprechen auch den sich verändernden individuellen<br />

Wohn- und Lebensbedürfnissen<br />

von Menschen mit Demenz.<br />

– Versorgungsangebote <strong>für</strong> spezielle Patientengruppen<br />

ausbauen: Netzwerke sollten<br />

die besonderen Bedürfnisse spezieller Patientengruppen<br />

in den Blick nehmen und<br />

Angebote <strong>für</strong> sie bereithalten. Beispielhaft<br />

sei hier auf allein lebende Demenzkranke<br />

oder demenzkranke Migrant/-innen verwiesen.<br />

Unterstützungsmaßnahmen <strong>für</strong> diese<br />

Gruppen können nicht nur Zugangsbarrieren<br />

zum Versorgungssystem abbauen, sondern<br />

auch ihren Bedürfnissen gerecht werden.<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011<br />

21<br />

Werden sie trägerübergreifend initiiert, ist<br />

ein möglichst breites Versorgungsspektrum<br />

bei geringer Risikoverteilung auf die jeweiligen<br />

Netzwerkpartner/-innen gewährleistet.<br />

Ergänzt werden könnte das Angebot durch<br />

eine enge Kooperation mit Fachärzt/-innen.<br />

– Sozialraum- bzw. quartiersbezogene Strukturen<br />

ausbauen: Der Erhalt und Ausbau der<br />

quartiersbezogenen Strukturen ist zukünftig<br />

<strong>für</strong> die Versorgung vom Menschen mit Demenz<br />

zwingend, da durch die wohnortnahe<br />

Versorgung der Verbleib in der eigenen Häuslichkeit<br />

oder im späteren Krankheitsverlauf<br />

auch stationär im Quartier gesichert werden<br />

kann. Dies gilt insbesondere <strong>für</strong> ländliche<br />

Regionen, wo häufig weite Anreisen zum<br />

nächstgelegenen Versorgungsangebot nötig<br />

sind und dies bei oft geringer Anbindung an<br />

den öffentlichen Nahverkehr. Sozialraumbezogene<br />

Netzwerke arbeiten zudem deutlich<br />

effektiver, wenn es um die Umsetzung konkreter<br />

Projekte 6 geht. Netzwerke, die überregional<br />

agieren 7 , werden stattdessen eher<br />

<strong>für</strong> die Bearbeitung übergeordneter Themen<br />

als sinnvoll angesehen 8 . Zur Förderung des<br />

Sozialraumbezugs eignen sich bspw. der Aufbau<br />

quartiersbezogener Runder Tische oder<br />

von Arbeitskreisen „Demenz“, die eine<br />

sinnvolle Ergänzung zu den stadt- oder kreisweit<br />

agierenden Gremien sein können. Um<br />

Netzwerkprozesse im Sozialraum zu initiieren,<br />

koordinieren und begleiten, bedarf es zu<br />

schaffender Zeit- und Personalressourcen.<br />

– Wichtige Akteure einbinden: Wenn die Lebensqualität<br />

von Menschen mit Demenz und<br />

ihren pflegenden Angehörigen nachhaltig<br />

verbessert werden soll, ist eine stärkere Einbindung<br />

wichtiger Akteure wie Haus- und<br />

Fachärzt/-innen, aber auch von Pflegekassen,<br />

Wohnungsbaugenossenschaften und „altenhilfefernen“<br />

Akteuren in ein Versorgungsnetzwerk<br />

notwendig. Bei der Einbindung<br />

kommt den Ärzt/-innen eine besondere Bedeutung<br />

zu, denn sie sind häufig die ersten<br />

Kontaktpersonen <strong>für</strong> Erkrankte und ihre Angehörigen<br />

und können eine wichtige Türöffner-Funktion<br />

zum Hilfesystem übernehmen.<br />

Insgesamt ist daher ein stärkeres Engagement<br />

der Ärzteschaft im Hinblick auf Vernetzung<br />

zu fördern bzw. gilt es, vorhandene Ärztenetzwerke<br />

in bereits bestehende Netzwerkaktivitäten<br />

einzubinden. Allerdings erweist<br />

sich dies – so die bisherige Erfahrung – als<br />

schwierig, da auch Finanzierungsfragen eine


22<br />

9) Das „DemenzNetz Aa-<br />

chen“ ist eine Initiative<br />

der Arbeitsgemeinschaft<br />

Aachener Hausärzte<br />

(AGAH) und des Alexianer<br />

Krankenhauses Aachen<br />

GmbH in Kooperation mit<br />

der Leitstelle „Älter werden“<br />

der Stadt Aachen,<br />

der Servicestelle Hospiz<br />

Aachen und der katholischen<br />

Fachhochschule<br />

NRW, Abteilung Aachen,<br />

hier ist der Einbezug von<br />

Hausärzten durch eine<br />

Anreizfinanzierung gelungen.<br />

Siehe auch<br />

www.demenznetzaachen.de.<br />

Rolle spielen. Gefragt sind also innovative<br />

Lösungen, wie sie z.B. im Leuchtturmprojekt<br />

„DemenzNetz Aachen“ 9 angeboten werden.<br />

Umfassende Informationen <strong>für</strong> „altenhilfeferne“<br />

Akteure wie Polizei, Einzelhandel und<br />

Apotheken zum Krankheitsbild Demenz sind<br />

wiederum wichtig, da diese Akteure hilfebedürftige<br />

Menschen mit Demenz und deren<br />

Angehörige in ihren Lebens- und Sozialräumen<br />

unterstützen und sie z.B. bei Bedarf an kompetente<br />

Beratungsstellen verweisen können.<br />

Auch kann so zu einer Enttabuisierung der<br />

Erkrankung beigetragen werden – <strong>für</strong> pflegende<br />

Angehörige eine enorme Entlastung! Mit<br />

Blick auf die Aktivierung von Selbsthilfepotenzialen<br />

erscheint ein stärkerer Einbezug der<br />

Interessensvertretungen wie Selbsthilfeorganisationen<br />

sinnvoll. Über die Vernetzung<br />

mit den Interessensvertretungen kann im<br />

Quartiersbezug die Beteiligung der Bürger/innen<br />

an der Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen<br />

eben so gesichert werden,<br />

wie ihr ehrenamtliches Engagement in der<br />

Unterstützung von Demenzkranken und ihren<br />

Angehörigen.<br />

– Steuerfunktion von Kommunen stärken: Den<br />

Kommunen kommt vor dem Hintergrund der<br />

ausdifferenzierten Angebotsstrukturen, der<br />

vorliegenden Trägervielfalt und des gesetzlichen<br />

Auftrags zur Öffnung des Pflegemarktes<br />

eine zentrale Steuer funktion zu. Kommunen<br />

können durch entsprechende Steuerungsinstrumente<br />

den Ausbau von Versorgungsstrukturen<br />

und Netzwerken begleiten, einer<br />

Monopolbildung in der Versorgungslandschaft<br />

sowie dem Aufbau von Doppelstrukturen<br />

entgegenwirken und Konkurrenzen<br />

durch ihre weitestgehende Neutralität entschärfen.<br />

Zudem können sie einen Überblick<br />

über Netzwerk aktivitäten im Kreis- oder<br />

Stadtgebiet geben, als auch eine Vernetzung<br />

mit überregionalen Angeboten forcieren.<br />

Des Weiteren kann durch die verstetigte Bereitstellung<br />

von Unterstützungsleistungen<br />

von Seiten der Kommune Nachhaltigkeit gesichert<br />

werden. Die Schaffung von Anreizstrukturen<br />

fördert wirkungsorientierte Ansätze<br />

im Auf- und Ausbau der Versorgungsstrukturen<br />

und lässt die Kommunen moderierend<br />

tätig werden. Gleichwohl kann es sinnvoll<br />

sein, Koordinierungsaufgaben dezentral in<br />

kleinräumige Netzwerke innerhalb des Gesamtnetzwerks<br />

zu übertragen.<br />

Aus Politik und Praxis der Altenhilfe<br />

– Qualifikationsprofil <strong>für</strong> Netzwerker/-innen<br />

entwickeln: Netzwerker/-innen haben anspruchsvolle<br />

und nicht immer leichte Aufgaben.<br />

Für ihre Tätigkeit sind daher besondere<br />

Kompetenzen wie Kommunikationsfähigkeit,<br />

diplomatisches Geschick, Offenheit und<br />

Kontaktfreude notwendig. Es wird dringend<br />

empfohlen, ein entsprechendes Fort- und<br />

Weiterbildungskonzept zu entwickeln und<br />

anzubieten, dies könnte es Netzwerker/-innen<br />

ermöglichen, ihre Tätigkeit qualifiziert<br />

auszuüben bzw. besser zu bewältigen.<br />

– Case Management weiterentwickeln: Bei<br />

einer Erkrankung wie der Demenz mit sich<br />

ständig wandelndem Versorgungsbedarf,<br />

wird Case Management zukünftig eine große<br />

Bedeutung zukommen, u.a. weil dadurch der<br />

Zugang zu allen Versorgungsbe reichen gesichert<br />

werden kann. Notwendig <strong>für</strong> gutes<br />

Case Management sind eine Professionalisierung<br />

desselben sowie eine transparent<br />

gestaltete Aufgabenbeschreibung und Zielformulierung.<br />

Des Weiteren erleichtert<br />

sozialraum bezogene Vernetzung von bestehenden<br />

Beratungsangeboten unter Einbezug<br />

der ge rontopsychiatrischen Beratungsstellen<br />

die Implementierung eines flächendeckenden<br />

Case Managements.<br />

– Öffentlichkeitsarbeit intensivieren: Trotz<br />

zahlreicher bereits vorhandener Aktivitäten<br />

bestehen in der breiten Öffentlichkeit nach<br />

wie vor große Berührungsängste und Informationsdefizite<br />

zum Thema Demenz. Ziel<br />

muss somit eine allgemeine Aufklärung zum<br />

bzw. die Akzeptanz des Themas Demenz<br />

sein, d.h. insbesondere von Personen, die<br />

keine oder wenig direkte Bezüge zu Menschen<br />

mit Demenz hatten. Darüber hinaus ist es notwendig,<br />

durch eine gezielte Öffentlichkeitsarbeit<br />

schwer erreichbaren Gruppen wie<br />

allein lebenden Menschen mit Demenz den<br />

Anschluss ans Hilfesystem zu ermöglichen.<br />

Schließlich muss mit Blick auf die pflegenden<br />

Angehörigen das immer noch vorhandene<br />

Informationsdefizit im Hinblick auf Unterstützungsangebote<br />

gedeckt werden; sie sind<br />

zu ermutigen, diese ohne Vorbehalte in Anspruch<br />

zu nehmen. Zu empfehlen ist eine<br />

kontinuierliche, nach Möglichkeit innerhalb<br />

eines Netzwerks abgestimmte, Öffentlichkeitsarbeit.<br />

– Unterstützung von Netzwerkaktivitäten<br />

durch Kostenträger und Politik ausbauen:<br />

Unabdingbar <strong>für</strong> vielfältige Netzwerkaktivi-<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011


täten ist schließlich eine effektive Unterstützung<br />

durch die Kostenträger und durch die<br />

Politik. So sollte darüber nachgedacht werden,<br />

wie bisher nicht refinanzierbare Kosten <strong>für</strong><br />

Vernetzungsarbeit in der Sozialgesetzgebung<br />

entsprechend abgebildet werden können.<br />

Auch das Nebeneinander der verschiedenen<br />

Säulen der Sozialgesetzgebung wird als<br />

deutlich zu komplex empfunden und zieht<br />

hohen bürokratischen Aufwand <strong>für</strong> Pflegende<br />

und Beratende bei der Beantragung von<br />

Leistungen und letztendlich der Zusammenstellung<br />

eines bedarfsgerechten Hilfesystems<br />

nach sich. Hier sollten Lösungen<br />

entwickelt werden, die der Fragmentierung<br />

der Leistungsbereiche entgegenwirken.<br />

Es sei noch erwähnt, dass die Ergebnisse<br />

der Angehörigenbefragung die Ergebnisse<br />

der Fallstudien sinnvoll ergänzen. So ist <strong>für</strong><br />

einen leichteren Zugang zum Versorgungssystem<br />

durch Angehörige die Verfügbarkeit<br />

gebündelter Informationen über vorhandene<br />

Angebote (bspw. über „case management“)<br />

ebenso bedeutsam wie die Lotsenfunktion<br />

von Hausärzt/-innen. Zudem betonen Angehörige<br />

das hohe Entlastungspotenzial einer<br />

wohnortnahen Versorgung mit Tages-, Nacht-<br />

und Kurzzeitpflege und von niedrigschwelligen<br />

Angeboten. Schließlich weisen sie immer<br />

wieder auf die Rolle der Öffentlichkeitsarbeit<br />

bei der Enttabuisierung der Demenzerkrankung<br />

hin.<br />

Prof. Dr. phil. Monika Reichert ist Professorin<br />

<strong>für</strong> Soziale Gerontologie mit dem Schwerpunkt<br />

Lebenslaufforschung, Leiterin des<br />

Studiums <strong>für</strong> Seniorinnen und Senioren an<br />

der TU Dortmund<br />

Kontakt:<br />

mreichert@fk12.tu-dortmund.de<br />

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28<br />

<strong>DZA</strong>, Manfred-von-Richthofen-Str. 2, 12101 Berlin<br />

PVST, Deutsche Post AG Entgelt bezahlt<br />

A 20690E<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> im Internet: www.dza.de<br />

<strong>Informationsdienst</strong> <strong>Altersfragen</strong> 38 (3), 2011

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