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Klangzentren und Tonalität - Musiktheorie / Musikanalyse ...

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<strong>Klangzentren</strong> <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong><br />

Über die Bedeutung der Zentralklänge in der<br />

Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

Dieter Kleinrath<br />

Betreuer: Univ. Prof. Dr. phil. Christian Utz<br />

Juni 2010<br />

Masterarbeit der Studienrichtung <strong>Musiktheorie</strong> (V 066 702)<br />

am Institut für Komposition, <strong>Musiktheorie</strong>, Musikgeschichte <strong>und</strong> Dirigieren<br />

Kunstuniversität Graz


meinen Eltern


ABSTRACT<br />

„<strong>Tonalität</strong>“ ist ein vielschichtiger <strong>und</strong> mehrdeutiger Terminus, der in der Musikgeschichte<br />

mehrere Veränderungen erfahren hat. Als wesentliche Bedingung der<br />

europäischen Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> wird meist ein Zentralklang – die Tonika – angegeben,<br />

auf den sich die übrigen Harmonien beziehen. Die Tonika erfüllt dabei die<br />

Funktion der formalen Gliederung <strong>und</strong> sorgt als harmonischer Ruhepunkt für das<br />

Gefühl der Abgeschlossenheit eines Werkes. 1927 führt Hermann Erpf den Begriff<br />

„Klangzentrum“ ein, um damit eine Kompositionstechnik atontaler Musik zu bezeichnen,<br />

in der ein Klang als zentraler Bezugspunkt eine vergleichbare Funktion erfüllt wie<br />

die Tonika dur-moll-tonaler Musik. Die vorliegende Arbeit untersucht zunächst den<br />

Begriff „<strong>Tonalität</strong>“ in seiner historischen Entwicklung <strong>und</strong> stellt anschließend Erpfs<br />

Begriff des Klangzentrums der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Die vordergründigen<br />

Fragestellungen sind dabei, ob sich dur-moll-tonale Musik tatsächlich aus Sicht<br />

eines einzelnen Zentralklangs beschreiben lässt <strong>und</strong> in wie weit Erpfs „Technik des<br />

Klangzentrums“ als Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien angesehen werden kann.<br />

Abschließend werden die <strong>Klangzentren</strong> dur-moll-tonaler Musik unter anderem an den<br />

Beispielen Richard Wagners (Tristan-Vorspiel, Parsifal-Vorspiel 3. Akt) <strong>und</strong> Arnold<br />

Schönbergs (Verklärte Nacht op. 4, Kammersymphonie op. 9) diskutiert.<br />

*<br />

„Tonality“ is an ambiguous term that changed its meaning multiple times throughout<br />

the course of music history. Most of the time the main characteristic for European<br />

major-minor tonality is said to be the unifying so<strong>und</strong> of the tonic, that serves as the<br />

point of reference for the other so<strong>und</strong>s. The function of the tonic is to produce formal<br />

structure and closure by providing a resting point for the harmonic progressions. In<br />

1927 Hermann Erpf defined the term „Klangzentrum“ (central so<strong>und</strong>) to analyze atonal<br />

music that exposes a central so<strong>und</strong> which serves the same function as the tonic in majorminor<br />

tonality. This article examines the historic development of the term „tonality” and<br />

compares Erpf’s „Klangzentrum“ with the tonic of major-minor tonality. The questions<br />

to be answered are, if it is actually possible to describe major-minor-tonality with a<br />

single unifying so<strong>und</strong> and, if Erpf’s „Klangzentrum“ may be considered a continuation<br />

of tonal principles in 20 th century music. Finally I will discuss the central so<strong>und</strong>s of<br />

major-minor tonality by examples of Richard Wagner (preludes to Tristan and Parsifal<br />

3rd act) and Arnold Schoenberg (Verklärte Nacht op. 4, chamber symphony op. 9).


INHALTSVERZEICHNIS<br />

EINLEITUNG 1<br />

I. ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“ 6<br />

1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert 6<br />

1.2 François-Joseph Fétis 8<br />

1.3 <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart im deutschsprachigen Raum 16<br />

1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen 27<br />

1.5 Riemann <strong>und</strong> Schenker 33<br />

1.6 Die Auflösung der <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Arnold Schönberg 38<br />

1.7 Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert 44<br />

1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf <strong>und</strong> Lissa 55<br />

1.9 Schlussfolgerungen 68<br />

II. ANALYTISCHE KONSEQUENZEN 75<br />

2.1 <strong>Klangzentren</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> 75<br />

2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan <strong>und</strong> Isolde 89<br />

2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt 100<br />

2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk 116<br />

SCHLUSSWORT 124<br />

QUELLENVERZEICHNIS 128<br />

ABBILDUNGSVERZEICHNIS 135<br />

ANHANG 137<br />

a) Weiterführende Literatur 137<br />

b) Sonstiges 139


DANKSAGUNG<br />

Mein besonderer Dank gilt Univ. Professor Dr. Christian Utz für seine w<strong>und</strong>erbare <strong>und</strong><br />

selbstlose Betreuung während des Studiums <strong>und</strong> während der Erstellung der vorliegenden<br />

Arbeit. Ohne seine fachliche Präzision <strong>und</strong> Kompetenz sowie seine ausgewogene<br />

Kritik, wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen.<br />

Weiters bedanke ich mich bei Univ. Professor Clemens Gadenstätter für sein künstlerisch-kreatives<br />

Feedback während der Studienzeit <strong>und</strong> die unkonventionelle Sichtweise<br />

auf musikalischer Probleme, die er mir beigebracht hat.<br />

Schließlich gilt mein Dank auch dem gesamten Institut für Komposition, <strong>Musiktheorie</strong>,<br />

Musikgeschichte <strong>und</strong> Dirigieren für die fortwährende Unterstützung <strong>und</strong> das angenehm<br />

fre<strong>und</strong>schaftliche Klima während des Studiums, das mir immer gerne in Erinnerung<br />

bleiben wird.<br />

ii


„Die Wege der Harmonie sind verschlungen; führen kreuz <strong>und</strong> quer; nähern sich einem<br />

Ausgangspunkt <strong>und</strong> entfernen sich von ihm immer wieder; führen irre, indem sie einem<br />

anderen Punkt eine augenblickliche Bedeutung verleihen, die sie ihm bald darauf wieder<br />

nehmen; erzeugen Höhepunkte, die sie zu übertreffen wissen; rufen Wellenberge<br />

hervor, die verebben, ohne dass die Welle zum Stillstand kommt.“ 1<br />

1 Arnold Schönberg, Der musikalische Gedanke <strong>und</strong> die Kunst, Logik <strong>und</strong> Technik seiner Darstellung<br />

[1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 203.<br />

iii


EINLEITUNG<br />

Der Begriff <strong>Tonalität</strong> gehört seit seinem Aufkommen zu Beginn des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts 2<br />

wohl zu den am häufigsten verwendeten <strong>und</strong> zugleich ambivalentesten Termini der<br />

<strong>Musiktheorie</strong>. Carl Dahlhaus schreibt diesbezüglich: „Der Terminus <strong>Tonalität</strong> ist<br />

vieldeutig, <strong>und</strong> [...] es [dürfte] vergeblich sein, eine Norm des Wortgebrauchs festsetzen<br />

zu wollen.“ 3 Das Verständnis von <strong>Tonalität</strong> hat im Laufe der Musikgeschichte viele<br />

Wandlungen erfahren. Unterschiedliche Autoren hoben dabei jeweils unterschiedliche<br />

Aspekte tonaler Musik hervor <strong>und</strong> es entwickelte sich so eine Begriffsvielfalt, die in<br />

ihrer ganzen Komplexität heute kaum überschaubar ist. Insbesondere sind dabei zwei<br />

Definitionsbereiche zu unterscheiden: 4<br />

(1) die skalenbezogene Definition von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehungen zwischen den<br />

Tönen einer Skala;<br />

(2) die akkordbezogene Definition von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehungen der Harmonien<br />

auf einen Zentralklang, die Tonika.<br />

Diese beiden Definitionen stehen sich jedoch keineswegs diametral gegenüber, sondern<br />

sie ergänzen <strong>und</strong> bedingen sich gegenseitig. So ist auch bei den meisten skalenbezogenen<br />

Definitionen durchaus die I. Stufe als ein Zentralton gegeben. Brian Hyer stellt<br />

fest, dass jede Theorie, die sich mit dem Begriff <strong>Tonalität</strong> auseinander setzt, der einen<br />

oder anderen Tradition zugewiesen oder als ein Hybrid beider Auffassungen angesehen<br />

werden kann. Die beiden musiktheoretischen Hauptströmungen innerhalb dieser Traditionen<br />

sind laut Hyer die Stufentheorie von Gottfried Weber <strong>und</strong> Heinrich Schenker<br />

(skalenbezogen) auf der einen Seite sowie Hugo Riemanns Funktionstheorie (akkordbezogen)<br />

auf der anderen Seite. 5<br />

François-Joseph Fétis verstand unter „tonalité“ 1844 noch primär die „Zusammenstellung<br />

der notwendigen Beziehungen simultan oder sukzessiv angeordneter Tonleiter-<br />

2<br />

Nach heutiger Kenntnis findet sich der erste Beleg für den Begriff bei A. É. Choron in seiner 1810<br />

erschienenen Sommaire de l’histoire de la musique. Vgl. Michael Beiche, <strong>Tonalität</strong>, in: Handwörterbuch<br />

der musikalischen Terminologie, Stuttgart: Steiner 1999, S. 2.<br />

3<br />

Carl Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, in: Die Musik in Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der<br />

Musik, Kassel: Bärenreiter 1989, S. 623.<br />

4<br />

Vgl. ebda.; Brian Hyer Tonality, in: Grove Music Online, http://www.oxfordmusiconline.com<br />

(1.6.2010).<br />

5<br />

Hyer, Tonality.<br />

1


töne“ 6 <strong>und</strong> fasst dabei die für eine <strong>Tonalität</strong> unabdingbaren Skalen <strong>und</strong> Tonsysteme 7<br />

„nicht als natürliche Gegebenheit auf, sondern begründet sie anthropologisch als auf<br />

geschichtlichen <strong>und</strong> ethnischen Voraussetzungen beruhend.“ 8 Fétis unterscheidet dem<br />

entsprechend noch zwischen unterschiedlichen „types de tonalités“, von denen die<br />

„tonalité moderne“ – die harmonische <strong>Tonalität</strong> des 17. bis 19. Jahrh<strong>und</strong>erts 9 – eine<br />

Möglichkeit sei. 10 Dabei hebt Fétis die Bedeutung der Dominante <strong>und</strong> ihrer Auflösung<br />

in die I. Stufe als konstitutive Momente der „tonalité moderne“ besonders hervor <strong>und</strong><br />

trägt so entschieden zu der mehrdeutigen Verwendung des Begriffs bei. Fast alle weiteren<br />

Auseinandersetzungen mit dem Begriff beziehen sich später in der einen oder<br />

anderen Weise auf Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff. Im weiteren Verlauf des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

wird der Begriff vorwiegend auf die europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> angewendet 11 <strong>und</strong><br />

erfährt dabei unterschiedliche Erweiterungen. Die Skala als Gr<strong>und</strong>bedingung von<br />

<strong>Tonalität</strong> wird dabei auf die diatonischen Dur- <strong>und</strong> Moll-Skalen eingeschränkt <strong>und</strong> die I.<br />

Stufe der Tonleiter gewinnt als zentraler Bezugston oder -akkord eine zunehmende<br />

Bedeutung. Insbesondere im romanischen <strong>und</strong> angelsächsischen Sprachbereich wird der<br />

Begriff zuweilen auch als Synonym für den Begriff Tonart verwendet. 12<br />

Eine weitreichende Uminterpretation erfährt der Begriff <strong>Tonalität</strong> seit den 1870er<br />

Jahren durch Hugo Riemann, der darunter die „Bezogenheit [der Akkorde] auf einen<br />

Hauptklang, die Tonika“ versteht. 13 Nachdem für Riemann die Bedeutung der Akkorde<br />

in deren Funktionen ausgedrückt wird, ist für ihn <strong>Tonalität</strong> der „Inbegriff der Akkordfunktionen“.<br />

14 Zudem war Riemann im Gegensatz zu Fétis davon überzeugt, „daß die<br />

‚types de tonalités‘ auf ein einziges ‚natürliches System‘ [...] reduzierbar seien.“ 15 Diese<br />

Riemanns <strong>Tonalität</strong>sbegriff anhaftende Naturbezogenheit führte in der Musikwissenschaft<br />

zu kontroversen Diskussionen <strong>und</strong> wurde laut Carl Dahlhaus „von Historikern<br />

6<br />

Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3f.<br />

7<br />

Vgl. ebda., S. 5<br />

8<br />

Gerhard Luchterhandt, „Viele ungenutzte Möglichkeiten“. Die Ambivalenz der <strong>Tonalität</strong> in Werk <strong>und</strong><br />

Lehre Arnold Schönbergs, Mainz: Schott 2008, S. 72; Vgl. Carl Dahlhaus, Untersuchungen über die<br />

Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong>, Kassel: Bärenreiter 1988, S. 1 0.<br />

9<br />

Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />

10<br />

Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />

11<br />

Vgl. ebda., S. 6.<br />

12<br />

Vgl. ebda., S. 7f.<br />

13<br />

Hugo Riemann, <strong>Tonalität</strong>, in: Hugo Riemann Musik-Lexikon. Sachteil [Leipzig: Bibliographisches<br />

Institut, 1882], Mainz 1967, S. 923f.<br />

14<br />

Dahlhaus, Untersuchungen, S. 9.<br />

15 Ebda., S. 7.<br />

2


<strong>und</strong> Ethnologen, die den Systemzwang scheuten, als empirisch unbegründbares Dogma<br />

verworfen.“ 16<br />

Im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert setzten sich auch einige Komponisten in ihren Lehrwerken mit dem<br />

Begriff <strong>Tonalität</strong> auseinander, wie beispielsweise Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre<br />

(1911) <strong>und</strong> Paul Hindemith in seiner Unterweisung im Tonsatz (1939). Schönberg<br />

verwendet den Begriff dabei in einer ambivalenten Weise, die leicht zu Missverständnissen<br />

<strong>und</strong> Fehlinterpretationen führen kann. Während der Begriff <strong>Tonalität</strong> bis<br />

dahin hauptsächlich unter systematischen <strong>und</strong> historischen Gesichtspunkten verstanden<br />

wurde, wird er von Schönberg auch als eine „formale Möglichkeit“ 17 beschrieben, von<br />

der ein Komponist Gebrauch machen kann oder auch nicht. 18 <strong>Tonalität</strong> wird damit<br />

gewissermaßen auf eine Kompositionstechnik, einen handwerklichen Kniff, reduziert.<br />

Damit stellt sich Schönberg entschieden gegen naturalistische <strong>und</strong> evolutionistische<br />

Theorien, die davon ausgehen, dass <strong>Tonalität</strong> das natürliche Ergebnis einer historischen<br />

Entwicklung sei. Bei der Bewertung von Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sbegriff muss allerdings<br />

berücksichtigt werden, dass Schönberg wenig daran lag, den Begriff aus Sicht der<br />

<strong>Musiktheorie</strong> zu differenzieren. Vielmehr nutzte er ihn vorrangig, um seine eigene<br />

Musik zu legitimieren <strong>und</strong> seinen Schülern einen künstlerisch freien Zugang zur<br />

Kompositionstechnik zu ermöglichen. Dabei verwendet Schönberg in seinen Analysen<br />

dur-moll-tonaler Musik gerne Begriffe wie „schwebende <strong>Tonalität</strong>“, „erweiterte <strong>Tonalität</strong>“<br />

oder „aufgelöste <strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> trug damit entschieden zu der Vorstellung bei, die<br />

<strong>Tonalität</strong> hätte sich mit der Musik der Wiener Schule „aufgelöst“. Damit hat Schönberg<br />

(bewusst oder unbewusst) auch eine Polarisierung der Musik nach 1910 heraufbeschworen.<br />

Komponisten, die nach wie vor dur-moll-tonale Musik schrieben, wurden in weiterer<br />

Folge oft als konventionell <strong>und</strong> regressiv abgestempelt.<br />

Nachfolgende Musiktheoretiker hatten es unter diesen Voraussetzungen schwer den<br />

<strong>Tonalität</strong>sbegriff neutral <strong>und</strong> werturteilsfrei weiterzudenken. Dies mag einer der Gründe<br />

dafür gewesen sein, weshalb Hermann Erpf 1927 den Begriff „Klangzentrum“ einführte,<br />

um damit einen „funktionslosen Satztypus“ zu beschreiben:<br />

16 Ebda. S. 17.<br />

17 Arnold Schönberg, Harmonielehre [1911], Wien: Universal Edition 2001, S. 27.<br />

18 Vgl. ebda.<br />

3


Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen [...] Klang, der im<br />

Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser<br />

Klang [...] in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines klanglichen Zentrums [...].<br />

Die Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der<br />

Tonika vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt<br />

[...]. 19<br />

Des inhärenten Widerspruchs, die Eigenschaften eines „funktionslosen Satztypus“ mit<br />

den Begriffen der dur-moll-tonalen Funktionstheorie zu beschreiben, war sich Erpf<br />

wahrscheinlich bewusst. Er entschloss sich aber, offenbar in Ermangelung einer besseren<br />

Alternative, diesen Kompromiss einzugehen. Interessanterweise geht Erpfs Definition<br />

der „Technik des Klangzentrums“ jedoch durchaus konform mit Riemanns Definition<br />

von <strong>Tonalität</strong> als die Beziehung von Funktionen auf eine Tonika. So gesehen<br />

handelt es sich dabei um eine Form der <strong>Tonalität</strong>, deren Zentralklang anstelle eines Durbeziehungsweise<br />

Moll-Dreiklangs auch andere Formen annehmen kann.<br />

*<br />

Die vorliegende Arbeit vertritt die These, dass eine ausschließlich monozentrische<br />

Sichtweise dur-moll-tonaler Musik, welche <strong>Tonalität</strong> auf einen einzigen Zentralklang –<br />

die Tonika – reduziert, aus heutiger Sicht nicht mehr haltbar ist. An der Entwicklung<br />

der Harmonik im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert lässt sich verfolgen, dass weitere Zentralklänge immer<br />

mehr an Bedeutung gewannen <strong>und</strong> oft gleichberechtigt nebeneinander eingesetzt<br />

wurden. In hochromantischer Musik wird dabei insbesondere die Dominante, meist in<br />

Form von verminderten Septakkorden oder übermäßigen Dreiklängen, häufig als<br />

eigenständiger Zentralklang behandelt <strong>und</strong> dient auch in größeren Abschnitten als<br />

zentraler Bezugspunkt der restlichen Harmonien. Auch die der <strong>Tonalität</strong> zugr<strong>und</strong>e<br />

liegenden Skalen haben sich in diesem Prozess gewandelt. So nehmen beispielsweise<br />

die oktatonische Skala oder die Ganztonskala in vielen Werken des ausgehenden 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts eine zentrale Rolle ein. Manchmal scheint es sogar der Fall zu sein, dass<br />

nicht ein oder mehrere Akkorde oder Töne die Zentralklänge eines Werkes darstellen,<br />

sondern die Skala selbst die Rolle des Klangzentrums übernimmt <strong>und</strong> damit den<br />

Gesamtklang entschieden beeinflusst. Erpfs „Technik des Klangzentrums“, die in<br />

19<br />

Hermann Erpf: Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik der neueren Musik, Leipzig: Breitkopf &<br />

Härtel 1927, S. 122.<br />

4


mehreren Werken des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts nachgewiesen werden kann, stellt also in vieler<br />

Hinsicht ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien dar. Es wäre falsch generell zu<br />

behaupten, dass sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> mit der Wiener Schule „aufgelöst“ hätte.<br />

Vielmehr ist es notwendig zu untersuchen, welche Prinzipien in post-tonaler Musik<br />

tatsächlich nicht mehr vorhanden sind <strong>und</strong> welche lediglich, den neuen musikalischen<br />

Gegebenheiten entsprechend, angepasst wurden.<br />

Das erste Kapitel der vorliegenden Arbeit wird sich mit der Geschichte des Begriffs<br />

<strong>Tonalität</strong> im Allgemeinen <strong>und</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Speziellen auseinander setzen.<br />

Dabei werde ich versuchen die unterschiedlichen Fragestellungen, die diesen Begriff<br />

heute begleiten, einander gegenüberzustellen; insbesondere werde ich dabei zwischen<br />

historischen, systematischen, kompositionstechnischen <strong>und</strong> hörpsychologischen Ansätzen<br />

unterscheiden. Schließlich werde ich mich in diesem Kapitel auch genauer der<br />

Technik des Klangzentrums widmen, wie sie von Hermann Erpf <strong>und</strong> Zofja Lissa in der<br />

ersten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts beschrieben wurde. Darauf aufbauend werde ich<br />

untersuchen, ob zwischen einem Klangzentrum im Sinne Erpfs <strong>und</strong> einer Tonika im<br />

Sinne der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> ein prinzipieller Unterschied besteht bzw. inwiefern die<br />

„Technik des Klangzentrums“ mit dem Begriff <strong>Tonalität</strong> vereinbar ist.<br />

Das zweite Kapitel wird schließlich die analytischen Konsequenzen aus den vorangegangenen<br />

Überlegungen ziehen. Der Schwerpunkt der Analysen liegt auf dur-molltonalen<br />

Werken, die in ihrer Harmonik mehrere <strong>Klangzentren</strong> entwerfen <strong>und</strong> in denen<br />

ursprünglich dissonante Klänge, wie der verminderte Septakkord, als zentrale Ruhepunkte<br />

Verwendung finden. Dabei wird eine auf <strong>Klangzentren</strong> basierende Analyse<br />

traditionellen Methoden der harmonischen Analyse gegenübergestellt <strong>und</strong> die Vor- <strong>und</strong><br />

Nachteile beider Methoden werden gegeneinander abgewogen.<br />

5


KAPITEL I<br />

ÜBER DEN BEGRIFF „TONALITÄT“<br />

1.1 Begriffsbildung im frühen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Der Begriff <strong>Tonalität</strong> geht auf den von französischen Musiktheoretikern seit Beginn des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts verwendeten Ausdruck „tonalité“ zurück. Der erste Beleg dafür findet<br />

sich nach heutiger Kenntnis bei Alexandre-Étienne Choron in seinem Sommaire de<br />

l’histoire de la musique 20 (1810). Unter tonalité versteht Choron „die Tonleitersysteme,<br />

von denen es entsprechend den verschiedenen Völkern <strong>und</strong> ihrer Musik eine sehr große<br />

Anzahl gebe <strong>und</strong> deren Töne immer einen konstanten Bezug zu einem Gr<strong>und</strong>ton<br />

hätten.“ 21 Choron unterscheidet zwischen der „griechischen <strong>Tonalität</strong>“, aus der die<br />

Kirchentonarten hervorgegangen seien <strong>und</strong> der „modernen <strong>Tonalität</strong>“, die sich in<br />

weiterer Folge aus den Kirchentonarten entwickelt hätte. Das bestimmende Merkmal für<br />

die „moderne <strong>Tonalität</strong>“ war für Choron der Dominantseptakkord („harmonie tonale“),<br />

dessen Ursprung er auf Claudio Monteverdi gegen Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts zurück-<br />

führte. 22<br />

In dieser ersten überlieferten Beschreibung von <strong>Tonalität</strong> sind bereits fast alle Merkmale<br />

enthalten, die sich wie ein roter Faden durch dessen Begriffsgeschichte ziehen.<br />

Zunächst erkennt man einen engen Zusammenhang zwischen den Termini <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong><br />

Tonleiter bzw. Tonart. Zudem werden die Töne der verwendeten Tonleiter auf einen<br />

Gr<strong>und</strong>ton bezogen, bei dem sich Choron wohl auf Jean-Philippe Rameaus „centre<br />

harmonique“ bezieht, dessen Theorien auf französische Musiktheoretiker um 1800<br />

einen großen Einfluss hatten. Auch ist für Choron bereits ein Akkord – die „harmonie<br />

tonale“ – ein kennzeichnendes Element der „modernen <strong>Tonalität</strong>“, allerdings ist auffällig,<br />

dass Choron nicht die Tonika als den wesentlichen Klang angibt, sondern die<br />

Dominante. Alle nachfolgenden Definitionen des Begriffs <strong>Tonalität</strong> werden sich in der<br />

einen oder anderen Weise mit diesen gr<strong>und</strong>legenden Aspekten des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs<br />

20 Alexandre-Étienne Choron, Sommaire de l’histoire de la musique, in: Alexandre-Étienne Choron /<br />

François Joseph Fayolle, Dictionnaire historique des musiciens Bd. 1, Paris 1810, S. XI-XCII.<br />

21 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 2.<br />

22 Vgl. ebda.<br />

6


auseinander setzen. Eine weitere Besonderheit, die Chorons Begriffsdefinition auszeichnet,<br />

ist, dass er bereits zwei weitere wichtige Aspekte erkennen lässt, die Untersuchungen<br />

zur <strong>Tonalität</strong> in weiterer Folge immer wieder begleiten. Einerseits impliziert<br />

er einen ethnologischen Ansatz, indem er die Tonleitersysteme verschiedener Völker in<br />

seine Definition mit einfließen lässt, andererseits verfolgt er einen historischen Ansatz<br />

23 , indem er versucht die Entstehung der „modernen <strong>Tonalität</strong>“ als eine Entwicklung<br />

von der „griechischen <strong>Tonalität</strong>“ über die Kirchentonarten zu Monteverdis „Dominantseptakkord“<br />

zu verstehen.<br />

Der erste Lexikonartikel Tonalité erscheint 1821 im Dictionnaire de musique moderne<br />

von Castil-Blaze. Dort wird der Geltungsbereich des Begriffs auf das Dur-Moll-System<br />

eingeschränkt <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> als „Eigenart der musikalischen Tonart, die im Gebrauch<br />

ihrer wesentlichen Töne“ 24 besteht, beschrieben. Als „wesentliche Töne“ werden dabei<br />

die I., IV. <strong>und</strong> V. Stufe genannt. Auch Philippe de Geslin begrenzt 1826 tonalité auf das<br />

Dur-Moll-System. „Für ihn bedeutet tonalité das Bestreben, immer ‚den Gesang‘<br />

vorzugsweise auf ‚ein <strong>und</strong> demselben Ton eines Tonsystems‘ zu beenden, <strong>und</strong> zwar auf<br />

der Tonika einer Tonart.“ 25 Weitere Aspekte werden 1830 von Daniel Jelensperger<br />

formuliert. 26 Er versteht unter <strong>Tonalität</strong> den „‚Eindruck der Tonart‘; bei einer vollständigen<br />

Modulation werde eben die <strong>Tonalität</strong> der vorangehenden Tonart gänzlich ausgelöscht,<br />

weil man in die neue Tonart kadenziere.“ 27 Jelenspergers Ansatz die beiden<br />

Begriffe Modulation <strong>und</strong> Kadenz in einen direkten Zusammenhang mit der Dur-Moll-<br />

<strong>Tonalität</strong> zu bringen, ist dabei besonders auffällig <strong>und</strong> wurde später von mehreren<br />

Musiktheoretikern aufgegriffen. Als neues Motiv innerhalb der Begriffsgeschichte lässt<br />

sich durch Jelenspergers Beschreibung von <strong>Tonalität</strong> als „Eindruck der Tonart“ bereits<br />

erstmals ein hörpsychologischer Aspekt ausmachen. Darauf deutet auch seine Übertragung<br />

des Begriffs auf konsonante <strong>und</strong> dissonante Akkorde hin: „In diesem Zusammenhang<br />

sei mit <strong>Tonalität</strong> der Eindruck gemeint, den ein Akkord hervorrufe <strong>und</strong><br />

der es ermögliche, ihn auf diese oder jene Tonleiter zu beziehen.“ 28<br />

23 Volker Helbing meint sogar, dass „Choron ihn [den Begriff <strong>Tonalität</strong>] ausschließlich [verwendet], um<br />

(historische) Differenzen innerhalb der europäischen Musik zu benennen.“ Volker Helbing, <strong>Tonalität</strong><br />

in der französischen <strong>Musiktheorie</strong> zwischen Rameau <strong>und</strong> Fétis, in: <strong>Musiktheorie</strong> (Handbuch der<br />

Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber: Laaber 2005, S. 171-202, hier S. 171.<br />

24 François H. J. Castil-Blaze, Dictionnaire de musique moderne, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3.<br />

25 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 3.<br />

26 Vgl. ebda.<br />

27 Ebda.<br />

28 Ebda.<br />

7


1.2 François-Joseph Fétis<br />

François-Joseph Fétis gilt in der musikwissenschaftlichen Literatur als der Musiktheoretiker,<br />

der den Begriff <strong>Tonalität</strong> wesentlich geprägt hat. In seiner 1844 erschienenen<br />

Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie 29 behandelt er<br />

<strong>Tonalität</strong> sowohl aus systematischer Sicht als auch in seiner historischen Entwicklung.<br />

Dabei unterscheidet er zwischen der „tonalité moderne“, die der europäischen Dur-<br />

Moll-<strong>Tonalität</strong> entspricht sowie der „tonalité ancienne“, die von den Kirchentonarten<br />

der Renaissancemusik ausgebildet wurde. Fétis argumentiert wie Choron, dass die<br />

Auflösung des Dominantseptakkords in die I. Stufe das wesentliche Element der<br />

„tonalité moderne“ sei. Aus historischer Sicht unterscheidet er daneben zwischen den<br />

Epochen („ordre“) „unitonique“, „transitonique“, „pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“.<br />

Dabei bezeichnet „ordre unitonique“ die Renaissancemusik der „tonalité ancienne“,<br />

„transitonique“ die Übergangszeit von der „tonalité ancienne“ zur „tonalité moderne“<br />

<strong>und</strong> „pluritonique“ bezeichnet die Musik seiner Zeit, in der die „tonalité moderne“<br />

bereits voll ausgebildet ist. Unter der Epoche „ordre omnitonique“ versteht Fétis<br />

schließlich die Musik der Zukunft, die laut seinen Angaben in den Werken mancher<br />

Zeitgenossen bereits begonnen hat.<br />

Fétis war von besonderer Bedeutung für die weitere Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong>,<br />

einerseits durch seine Lehrtätigkeit als Kompositionsprofessor am Pariser Konservatorium,<br />

andererseits durch seine zahlreichen Schriften, die unter nachfolgenden Musiktheoretikern<br />

weite Verbreitung <strong>und</strong> Akzeptanz fanden. Insbesondere sorgte auch die von<br />

Fétis herausgegebene Zeitschrift Revue musicale für diese Verbreitung, die in deutschsprachigen<br />

Publikationen der Zeit häufig zitiert wurde. 30 Eine weitere Leistung Fétis’<br />

war es, das musiktheoretische Wissen seiner Zeit zu sammeln <strong>und</strong> vorhandene Theorien<br />

zusammenzuführen <strong>und</strong> zu erweitern. 31 Er baute auf den Theorien von Jean-Philippe<br />

29<br />

François-Joseph Fétis, Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, Paris: Schlesinger<br />

1844.<br />

30<br />

Vgl. diesbezüglich die Fußnoten 59 <strong>und</strong> 61.<br />

31<br />

Fétis’ eigenständiger Beitrag zu der Begriffsdefinition ist allerdings nicht unumstritten. So weist<br />

Bryan Simms darauf hin, dass Fétis einen Großteil seiner Erkenntnisse <strong>und</strong> Thesen wohl fälschlicherweise<br />

unter eigenem Namen veröffentlicht hat (vgl. Bryan Simms, Choron, Fetis, and the Theory of<br />

Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 19,1), 1975, S. 112-138, hier S. 115). Allerdings sollte man<br />

dies auch nicht überbewerten, da zu Fétis Zeit nicht im selben Maße zwischen Quelle <strong>und</strong> Plagiat<br />

unterschieden wurde, wie dies heute üblich ist. Fétis hat vermutlich durchaus noch innerhalb der ethi-<br />

8


Rameau, Georg Andreas Sorge, Johann Philipp Kirnberger, Charles Simon Catel,<br />

Alexandre-Étienne Choron <strong>und</strong> anderen Musiktheoretikern auf 32 , <strong>und</strong> prägte so in<br />

seinem Traité einen <strong>Tonalität</strong>sbegriff, der vielen weiteren Musiktheoretikern als Gr<strong>und</strong>lage<br />

diente.<br />

<strong>Tonalität</strong> bildet sich laut Fétis „aus der Kollektion der notwendigen, sukzessiven oder<br />

simultanen Beziehungen der Tonleiter“ 33 , also aus Beziehungen zwischen den Harmonien<br />

<strong>und</strong> Melodien eines Musikstücks in Bezug auf eine zugr<strong>und</strong>e liegende Skala. Der<br />

Ursprung dieser Beziehungen ist dabei für Fétis weder ein akustisches oder mathematisches<br />

Phänomen, noch liegt es in der Physiologie des menschlichen Gehörs begründet;<br />

statt dessen meinte Fétis, dass die Gesetze tonaler Beziehungen „metaphysischer“ Natur<br />

<strong>und</strong> damit unergründlich seien. Unterschiedliche Kulturen stellen laut Fétis aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Gefühle, Gedanken <strong>und</strong> auch aufgr<strong>und</strong> des Intellekts 34 verschiedene Beziehungen<br />

her <strong>und</strong> entwickeln dem entsprechend unterschiedliche Typen von <strong>Tonalität</strong> („types de<br />

tonalités“). 35<br />

Der Mensch erhalte diese Ordnung [der <strong>Tonalität</strong>] <strong>und</strong> die sich daraus ergebenden melodischen<br />

<strong>und</strong> harmonischen Phänomene als Konsequenz seiner Bildung <strong>und</strong> Erziehung, <strong>und</strong> diese Tatsache<br />

bestehe durch sich selbst <strong>und</strong> unabhängig von jedem fremden Einfluss. 36<br />

Carl Dahlhaus, der sich in seinen Untersuchungen über die Entstehung der harmonischen<br />

<strong>Tonalität</strong> ausgiebig dem <strong>Tonalität</strong>sbegriff widmete, interpretierte den Begriff<br />

„Metaphysik“ bei Fétis als analog zum heutigen Bereich der „Anthropologie“ 37 <strong>und</strong> es<br />

ist wahrscheinlich, dass sich Fétis mit der Verwendung des Begriffs hauptsächlich von<br />

anderen gängigen Erklärungsversuchen seiner Zeit abgrenzen wollte (wie beispielsweise<br />

die auf Rameau zurückgehende Naturklangtheorie). Die Feststellung, dass Fétis jegliche<br />

physikalischen <strong>und</strong> physiologischen Ursachen ausschließt muss man, um Missverständ-<br />

schen <strong>und</strong> moralischen Gr<strong>und</strong>sätze seiner Zeit gehandelt, wenn er auf anderen Theorien aufbaute ohne<br />

explizit darauf hinzuweisen.<br />

32 Vgl. ebda. S. 133-134.<br />

33 Fétis: Traité complet de la théorie et de la pratique de l’harmonie, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />

34 Hyer, Tonality: „Fétis asserted that ‚primitive’ (non-Western) societies were limited to simpler scales<br />

because of their simpler brain structures, while the more complex psychological organizations of<br />

Indo-Europeans permitted them to realize, over historical time, the full musical potential of tonalité;<br />

his theories were similar in their biological determinism to the racial theories of Gobineau.“<br />

35 Vgl. zu diesem Abschnitt auch: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 4-5; Simms, Choron, Fetis, S. 124f; Dahlhaus,<br />

Untersuchungen, S. 11-14; Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 623f; Hyer, Tonality.<br />

36 Fétis, zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />

37 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />

9


nissen vorzubeugen, noch etwas genauer differenzieren. Laut Dahlhaus geht es Fétis<br />

dabei nicht darum, die Herleitung der Konsonanzgrade aus der Natur zu leugnen.<br />

Dahlhaus argumentiert, gegen ein rein auf physikalischen Ursachen basierendes System,<br />

„würde Fétis einwenden: Daß die Quint <strong>und</strong> die große Terz ‚direkt verständliche‘<br />

Intervalle sind, sei zwar von der Natur gegeben; die Entscheidung aber sie einem<br />

System zugr<strong>und</strong>ezulegen, sei ‚metaphysisch‘.“ 38 Damit hätte Fétis bereits recht genau<br />

die heute öfters vertretene Meinung widergespiegelt, dass unsere Hörphysiologie<br />

gemeinsam mit unserem Gedächtnis <strong>und</strong> unserer Erfahrung in einem stätigen Wechselspiel<br />

mit dem ästhetischen <strong>und</strong> künstlerischen Entscheidungsprozess steht.<br />

Brian Hyer widerspricht in seinem Artikel Tonality im Grove Music Online der von<br />

Dahlhaus vorgelegten Interpretation des Begriffs „Metaphysik“ <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Implikationen:<br />

He [Fétis] believed that tonality was a metaphysical principle, a fact not of the inner structure or<br />

formal properties of music but of human consciousness, which imposes a certain cognitive organization<br />

– a certain set of dynamic tendencies – on the musical material. As a metaphysical<br />

principle, then, tonality does not itself evolve, but rather remains invariant and universal, true for<br />

all people and for all time. He thus regarded what he felt to be the <strong>und</strong>eniable historical progress<br />

of Western music as a series of discrete advances toward completion, the ever more perfect realization<br />

of a musical absolute. 39<br />

Gegen Hyers Meinung, Fétis sähe <strong>Tonalität</strong> als ein unveränderbares Prinzip „für alle<br />

Menschen <strong>und</strong> zu jeder Zeit“ an, spricht allerdings Fétis Vorstellung, dass unterschiedliche<br />

Kulturen unterschiedliche <strong>Tonalität</strong>en ausbilden <strong>und</strong> seine Unterscheidung zwischen<br />

„tonalité ancienne“ <strong>und</strong> „tonalité moderne“ in der europäischen Musikgeschichte.<br />

Also ließe sich diese Aussage, wenn überhaupt, nur auf den speziellen Fall der europäischen<br />

Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> („tonalité moderne“) anwenden. In diesem Zusammenhang<br />

war Fétis scheinbar davon überzeugt, dass die „tonalité moderne“ vor einer ernsten<br />

Bewährungsprobe stand, keineswegs aber, dass dies das Aufkommen einer neuen<br />

<strong>Tonalität</strong> ausschließen würde:<br />

38 Ebda., S. 15.<br />

39 Hyer, Tonality.<br />

10


Fétis sees the omnitonic order as the ultimate stage in deriving more and more expression from<br />

major/minor tonality. [...]<br />

He sees the era as a degradation of music, allowing too great a resource for unbridled emotion<br />

and passion, and one that could itself be superseded only by a new tonality. 40<br />

Auch die Bedeutung der Harmonik für Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff wird in der Literatur<br />

unterschiedlich bewertet. So schreibt Brian Hyer:<br />

While both Choron and Fétis drew on the same basic theoretical resources, there are subtle but<br />

crucial differences between their accounts of tonalité. In contrast to Choron, who emphasizes relations<br />

between harmonies, Fétis places more stress on the order and position of pitches within a<br />

scale. This difference in emphasis corresponds to the two main historical traditions of theoretical<br />

conceptualization about tonal music: the function theories of Rameau and Riemann on the one<br />

hand and the scale-degree theories of Gottfried Weber and Schenker on the other. 41<br />

Der Behauptung, dass Fétis im Gegensatz zu Choron der skalaren Ordnung der Tonhöhen<br />

mehr Bedeutung beigemessen hätte als der Harmonik, widerspricht dagegen<br />

folgende Aussage von Bryan Simms:<br />

Shirlaw credits Fetis with the statement that scales created harmony. Fetis, in fact, says just the<br />

opposite. The f<strong>und</strong>amental relationship which generated modern tonality, he says, is the harmonic<br />

nature of the tritone. This and other appellative intervals dictated the intervallic structure<br />

of the major scale in the sense that the interval from degree seven to the tonic would be a semitone<br />

(the „natural“ resolution of the upper term of an augmented fourth), the interval from degree<br />

four to seven would be an augmented fourth, and so on, until our modern tonality (the major<br />

scale) was established in an invariant intervallic order regardless of the pitch level of the tonic.<br />

This is what Fetis means when he says that modern tonality possesses an inherent harmonic principle,<br />

since it was the harmonic nature of the augmented fourth and its proper resolution which<br />

shaped the scale in the first place. 42<br />

Folgende Aussage von Michael Beiche legt nahe, dass Fétis eine sehr ähnliche Auffassung<br />

über die Bedeutung des Dominantseptakkords hatte wie Choron (s.o.):<br />

Die notwendige Auflösung der „harmonie dissonante“ (des Dominantseptakkords als Streben,<br />

Anziehung <strong>und</strong> Bewegung) in die „harmonie consonnante“ (den Dreiklang mit dem Charakter<br />

40 Simms, Choron, Fetis, S. 132.<br />

41 Hyer, Tonality.<br />

42 Simms, Choron, Fetis, S. 124f.<br />

11


von Ruhe <strong>und</strong> Schlußbildung) sowie die Stellung ihrer Töne innerhalb der Tonleiter lege die<br />

Gesetze der Aufeinanderfolge aller Tonleitertöne fest, wodurch wiederum die unter dem Namen<br />

<strong>Tonalität</strong> gefaßten notwendigen Beziehungen der Töne festgelegt würden. 43<br />

Für die Vermutung Fétis habe mit seinen harmonischen Überlegungen an Choron<br />

angeknüpft spricht auch, dass sich Fétis bei der Entstehung der „tonalité moderne“ – der<br />

Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> – ebenso wie Choron auf Monteverdis „Entdeckung“ der Dominantseptakkordauflösung<br />

beruft. 44 Fétis sieht im Zusammenhang mit Akkorden nur Sek<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> Septimen als Dissonanzen an, die übermäßige Quart beziehungsweise die tief<br />

alterierte Quint seinen dagegen konsonant: 45<br />

It is remarkable that these intervals [augmented fourth and diminished fifth] characterize modern<br />

tonality by the energetic tendencies of their two constituent notes, the leading tone summoning<br />

after it the tonic and the fourth degree followed in general by the third. Now this phenomenon,<br />

eminently tonal, cannot involve a state of dissonance. In fact, the augmented fourth and diminished<br />

fifth are used as consonances in several harmonic progressions. The augmented fourth and<br />

diminished fifth are hence consonances, but consonances of a special kind that I call by the name<br />

„appellative consonances“. 46<br />

Diese Überlegungen hat Fétis vermutlich von Choron <strong>und</strong> Catel übernommen. 47 Der<br />

„Entdecker“ der Dominantauflösung war für Fétis Monteverdi, der zum ersten Mal<br />

unvorbereitete Septimen in die Musik einführte <strong>und</strong> den Dominantseptakkord häufig in<br />

die Tonika auflöste (vgl. Abbildung 1). Fétis ging davon aus, dass Dominantseptakkorde<br />

zuvor nur in Sextakkorde aufgelöst wurden: V 7 → V 6 (vgl. Abbildung 2). 48<br />

43 Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />

44 Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 126f .<br />

45 Vgl. ebda., S. 120-122.<br />

46 Fétis, Traité complet de la théorie, S. 8-9, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />

47 Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />

48 Ebda., S. 127.<br />

12


Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika. 49<br />

Abbildung 2: Auflösung V 7 → V 6 . 50<br />

Die unterschiedlichen Bewertungen von Fétis <strong>Tonalität</strong>sauffassung sind ein Beleg<br />

dafür, dass sich der Begriff schon in den ersten Jahren seines Aufkommens keineswegs<br />

auf eine einzige Bedeutung einschränken lässt. Bei Fétis waren sowohl der skalenbezogene<br />

als auch der akkordbezogene <strong>Tonalität</strong>sbegriff bereits implizit angelegt <strong>und</strong> es<br />

wäre willkürlich ihn auf die eine oder andere Bedeutung reduzieren zu wollen.<br />

Die Entwicklung der <strong>Tonalität</strong> innerhalb der europäischen Musikgeschichte unterteilt<br />

Fétis wie gesagt in die vier historischen Epochen „unitonique“, „transitonique“,<br />

„pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“, wobei er die Vorstellung der ersten beiden offensichtlich<br />

von Choron übernahm. Die „ancienne tonalité unitonique“ bezeichnet dabei<br />

die Musik der Renaissance bis zum Ende des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts. Der Begriff<br />

„unitonique“ bezieht sich darauf, dass es laut Fétis in der „tonalité ancienne“, der die<br />

Modi der Kirchentonarten zugr<strong>und</strong>e lagen, nicht möglich war in dem Sinn zu modulieren,<br />

wie es sich in der Dur-Moll-Harmonik etabliert hatte. Dies änderte sich erst mit<br />

der oben beschriebenen Auflösung des Dominantseptakkordes in die Tonika bei Monteverdi.<br />

Choron schrieb über diese Entwicklung: 51<br />

The most important step [in this transition] had not yet been made [during the era of Palestrina].<br />

A master of the Lombardian school (Cl. Monteverdi), who flourished aro<strong>und</strong> 1590, created the<br />

harmony of the dominant; he was the first who dared to use the dominant seventh and even ninth<br />

overtly and without preparation; the first who dared to use as consonant the diminished fifth,<br />

considered until then as dissonant. And tonal harmony was known. 52<br />

Fétis sah die Zeit der „ordre transitonique“ als eine Übergangszeit zwischen der<br />

„tonalité ancienne“ <strong>und</strong> der „tonalité moderne“ an, also als eine Entwicklung von den<br />

49 Ebda., S. 131.<br />

50 Ebda.<br />

51 Vgl. ebda., S. 126-130; Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 5.<br />

52 Choron, zit. nach: Simms, Choron, Fetis, S. 122.<br />

13


Kirchentonarten zur Dur- <strong>und</strong> Molltonart. 53 Der weitere Übergang zum „ordre<br />

pluritonique“ beinhaltete keine Änderung der <strong>Tonalität</strong>, sondern einen freieren Umgang<br />

mit Modulationen. Laut Fétis begann man einzelne Noten enharmonisch zu verwechseln,<br />

um so Beziehungen zu neuen Tonarten herstellen zu können. In diesem Zusammenhang<br />

verweist Fétis insbesonders auf die zunehmende Bedeutung des verminderten<br />

Septakkords für die Modulation, wodurch es etwa möglich wurde, die zuvor<br />

nicht aufeinander beziehbaren Tonarten a-Moll <strong>und</strong> fis-Moll zu verbinden (vgl.<br />

Abbildung 3). 54<br />

Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. 55<br />

Der in die Zukunft weisende „ordre omnitonique“ zeichnet sich schließlich dadurch aus,<br />

dass mehrere Töne eines Modulationsakkords gleichzeitig enharmonisch verwechselt<br />

werden <strong>und</strong> es so möglich ist, von einem Akkord aus potenziell in jede beliebige Tonart<br />

zu modulieren. Erste Anzeichen dieser Entwicklung finden sich laut Fétis bereits bei<br />

den Komponisten Beethoven, Rossini, Meyerbeer <strong>und</strong> Cherubini. 56 In einem 1844<br />

publizierten Artikel schrieb Fétis über die frühen Kompositionen des 21-jährigen Franz<br />

Liszt, dass dessen neue Harmonik seinem 1832 postulierten “ordre omnitonique“<br />

entspräche. 57<br />

Zusammenfassend lässt sich über Fétis <strong>Tonalität</strong>sauffassung sagen, dass er die – den<br />

Begriff <strong>Tonalität</strong> betreffend – wichtigsten Ideen, Motive <strong>und</strong> Überlegungen seiner Zeit<br />

reflektiert <strong>und</strong> weitergedacht hat. Wie Choron verfolgt er einen historischen Ansatz, den<br />

53<br />

Gewissermaßen war die „tonalité moderne“ bei Fétis ein Überbegriff für die Epochen „transitonique“,<br />

„pluritonique“ <strong>und</strong> „omnitonique“. Alle diese Epochen verwenden die „tonalité moderne“, allerdings<br />

ist die „odre transitonique“ noch in einem Übergangsstadium begriffen.<br />

54<br />

Vgl. Simms, Choron, Fetis, S. 130-132.<br />

55<br />

Ebda., S. 131.<br />

56<br />

Vgl. ebda., S. 132.<br />

57<br />

Vgl. Klára Móricz, The Ambivalent Connection between Theory and Practice in the Relationship of F.<br />

Liszt & F.-J. Fétis, in: Studia Musicologica Academiae Scientiarum Hungaricae (Bd. 35,4), 1993-<br />

1994, S. 399-420, hier S. 414.<br />

14


er versucht auf die Musik seiner Zeit auszuweiten. Auch eine kognitive Dimension wird<br />

von Fétis impliziert, allerdings ist für ihn die Wahrnehmung nicht der Gr<strong>und</strong> für das<br />

Entstehen von <strong>Tonalität</strong>, sondern ein Element, das mit dem bewussten Entscheidungsprozess<br />

des Komponisten in stetiger Wechselwirkung steht. In der Auffassung, dass<br />

Monteverdi in einer selbstständigen Handlung – das heißt nicht zwingend als Resultat<br />

einer „natürlichen“ Entwicklung – die Auflösung der Dominante in die Tonika „gef<strong>und</strong>en“<br />

hätte, wird ein weiteres Motiv deutlich, das besonders in der <strong>Musiktheorie</strong> des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts an Bedeutung gewinnt: die Vorstellung, dass <strong>Tonalität</strong> bewusst durch<br />

den Komponisten „gesetzt“ <strong>und</strong> verändert werden kann <strong>und</strong> somit in gewissem Sinne<br />

auch eine Kompositionstechnik darstellt. Dem entsprechend werden nach dieser Auffassung<br />

die, eine bestimmte <strong>Tonalität</strong> auszeichnenden, Beziehungen zwischen den<br />

Tönen <strong>und</strong> Harmonien einer Tonleiter nicht von physikalischen oder physiologischen<br />

Phänomenen gelenkt, sondern variieren abhängig von den kulturellen <strong>und</strong> soziologischen<br />

Gegebenheiten der Zeit. Insofern verwendet Fétis den Begriff <strong>Tonalität</strong> auch, um<br />

zwischen der harmonischen Syntax unterschiedlicher Epochen <strong>und</strong> unterschiedlicher<br />

Kulturen unterscheiden zu können. Die charakteristischen Merkmale der Dur-Moll-<br />

<strong>Tonalität</strong>, die aus der soziokulturellen Entwicklung der europäischen Kunstmusik<br />

hervorging, sind die Auflösung der Dominante in die Tonika <strong>und</strong> die Möglichkeit der<br />

enharmonischen Modulation. Diese Merkmale wurden von Fétis nur im besonderen<br />

Zusammenhang mit der europäischen Kunstmusik definiert <strong>und</strong> können sich von<br />

<strong>Tonalität</strong> zu <strong>Tonalität</strong> unterscheiden. Indem Fétis eine arithmetische Erklärung explizit<br />

als Beschreibung für <strong>Tonalität</strong> ausschloss 58 , wird ein weiteres für den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>ert bedeutendes Motiv offen gelegt. So wurden auch in der zweiten<br />

Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder Versuche unternommen dur-moll-tonale<br />

Musik mit der Hilfe mathematischer Modelle zu erklären (vgl. S. 46).<br />

58 Angeblich hat Fétis sechs Jahre seiner Zeit damit verbracht selbst nach einer mathematischen Begründung<br />

für die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zu suchen, bevor er diese Möglichkeit schließlich verworfen hat. Vgl.<br />

dazu: Rosalie Schellhous, Fetis’s „Tonality“ as a Metaphysical Principle: Hypothesis for a New Science,<br />

in: Music Theory Spectrum (Bd. 13,2), 1991, S. 219-240, hier S. 222.<br />

15


1.3 <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart im deutschsprachigen Raum<br />

Die Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> im deutschsprachigen Raum begann um 1830. 59<br />

1834 erschien in der Neuen Zeitschrift für Musik eine Rezension der Revue musicale mit<br />

beigefügter Übersetzung von Fétis’ Aufsatz Vergleich des jetzigen Zustands der Musik<br />

mit dem vergangener Epochen. 60 In einer Fußnote des Artikels heißt es: „Für tonalité<br />

dürfte ein bezeichnender Ausdruck im Deutschen schwer zu finden sein. Der Zusammenhang<br />

wird dem Leser den Begriff leicht geben können.“ 61 Wie der Titel des<br />

Aufsatzes bereits vermuten lässt, behandelt Fétis darin nicht die systematischen Aspekte<br />

des Begriffs, sondern die historische Entwicklung der „tonalité moderne“:<br />

Die <strong>Tonalität</strong>, Basis aller Musik, hat seit drei Jahrh<strong>und</strong>erten mehrere Veränderungen erlitten; [...]<br />

Nachdem die <strong>Tonalität</strong> von der eintönigen Form zur mehrtönigen überging, ist sie nach <strong>und</strong> nach<br />

zur alltönigen gekommen, wo sich jedwede gegebene Note, mittelst der Enharmonie, auflösen<br />

läßt. 62<br />

Aus der Sicht deutscher Musiktheoretiker waren die systematischen Aspekte, die den<br />

Begriff bei Fétis begleiteten – also die harmonische bzw. tonale Syntax (die Beziehungen<br />

zwischen Harmonien oder Tönen einer Tonleiter) <strong>und</strong> die Möglichkeit der<br />

enharmonischen Verwechslung – keinesfalls neue Erkenntnisse. Diese musikalischen<br />

Eigenschaften wurden in der deutschsprachigen Literatur der Zeit meist unter dem<br />

Begriff Tonart zusammengefasst. Georg Joseph Vogler schreibt beispielsweise 1802:<br />

„Tonart ist das, was die Tonleitung bestimmt, weil diese immer auf den Karakter der<br />

Tonart einen unverkennbaren Bezug haben muß.“ 63 Unter Tonleitung versteht Vogler<br />

59<br />

Der erste Beleg in der deutschen Literatur scheint eine beiläufige Verwendung des Begriffs in einem<br />

Artikel der Allgemeinen Musikalischen Zeitung 1830 zu sein. Bei diesem Artikel handelt es sich um<br />

eine kritische Reaktion auf Fétis’ Äußerungen bezüglich Mozarts bekanntem Streichquartett in C-Dur<br />

KV 465 („Dissonanzenquartett“). Vgl. A. C. Leduc, Ueber den Ausatz des Herrn Fétis (in dessen<br />

Revue musicale Tome V. Nr. 26. 1829), eine Stelle Mozart’s betreffend, in: Allgemeine Musikalische<br />

Zeitung (Bd. 32,8), Februar 1830, S. 117-132, hier S. 124. Eine weitere Verwendung lässt sich 1833 in<br />

der Übersetzung D. Jelenspergers L’harmonie au commencement du 19me siecle nachweisen (vgl.<br />

Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 6).<br />

60<br />

Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 6.<br />

61<br />

Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, in: Neue Leipziger Zeitschrift für Musik (Bd. 1,58)<br />

Oktober 1834, S. 230-232, hier S. 232.<br />

62<br />

Ebda.<br />

63<br />

Georg Joseph Vogler, Handbuch zur Harmonielehre <strong>und</strong> für den Generalbaß, nach den Gr<strong>und</strong>sätzen<br />

der Mannheimer Tonschule, Prag 1802, S. 8.<br />

16


das Resultat von einem allmälig <strong>und</strong> harmonisch wirkenden Eindruck der Lehre von<br />

Schlußfällen 64 <strong>und</strong> Mehrdeutigkeit 65 auf das Ohr. Die Tonleitung gibt Aufschluß über die<br />

Sukzession der Harmonien, <strong>und</strong> wie das Gefühl davon affizirt, d. i: bald überrascht, bald getäuscht<br />

wird. 66<br />

Vogler verbindet mit dem Begriff Tonart somit die „Sukzession der Harmonien“ <strong>und</strong><br />

deren Wahrnehmung, unter besonderer Berücksichtigung der Kadenz <strong>und</strong> der Mehrdeutigkeit<br />

von Akkorden. Die Ähnlichkeit dieser Auffassung mit Fétis Definition der<br />

„tonalité moderne“ mittels der Auflösung eines Dominantseptakkords in eine Tonika<br />

<strong>und</strong> der Möglichkeit enharmonischer Modulationen ist auffällig. Vogler gibt außerdem<br />

noch an, dass sich die Tonleitung auf den Hauptton – die I. Stufe der Tonart – bezieht:<br />

Da der Begriff Klang allgemeiner ist, als Ton, so nenne ich den vornehmsten Ton jeder Harmonie,<br />

der aber nicht immer zum Gr<strong>und</strong>e (im Baß) liegt, Hauptklang, den Ton, der im Baß liegt,<br />

Gr<strong>und</strong>ton, <strong>und</strong> den ersten unter den 7 Hauptklängen jeder Tonart, worauf die Tonleitung sich bezieht,<br />

Hauptton.<br />

In ähnlicher Weise beschreibt auch 1775 Johann Georg Sulzer die Bedeutung des<br />

Dreiklangs auf der ersten Stufe. Sulzer verwendet die Begriffe Hauptklang <strong>und</strong> Tonika<br />

zwar noch nicht im direkten Zusammenhang mit dem Begriff Tonart (insofern ist<br />

„Tonart“ bei Sulzer eher vergleichbar mit dem Begriff Tonleiter), 67 bei der Begriffsbeschreibung<br />

von „Tonica“ schreibt er allerdings:<br />

Mit diesem Worte [Tonica] wird der Gr<strong>und</strong>ton der diatonischen Tonleiter angedeutet, der in<br />

jedem Satz eines Stücks der Hauptton ist, in welchem der Gesang <strong>und</strong> die Harmonie fortgehen,<br />

<strong>und</strong> den Satz schließen. Die Tonica ist daher von dem eigentlichen Hauptton darin unterschieden,<br />

daß sie mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert, da dieser hingegen durchs ganze Stück<br />

derselbe bleibt. Doch wird sie auch in der Bedeutung des Haupttones genommen, wenn man<br />

sagt, der erste Theil eines Stücks habe in der Dominante geschlossen. Der fünfte Ton der Tonica<br />

ist die Dominante. 68<br />

64 Vogler verwendet den Begriff „Schlußfall statt Kadenz, worunter man auch die willkührlichen<br />

Schnörkel zu Ende der Bravour-Arie versteht.“ (Ebda., S. 6).<br />

65 „Die Lehre der Mehrdeutigkeit bestimmt [...] alle möglichen Fälle, wo entweder dieselbigen Harmonien<br />

dem Gehöre wie verschiedene, oder verschiedene dem Gehöre wie dieselben vorkommen.“<br />

(Ebda.).<br />

66 Ebda. S. 8-9.<br />

67 Vgl. Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer<br />

Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden, Artikeln. 2. Teil, Leipzig: M. G. Weidmanns Erben<br />

<strong>und</strong> Reich 1775, S. 779.<br />

68 Ebda., S. 783.<br />

17


Vergleichbares schreibt Gottfried Weber 1830 bei der Definition des Begriffes Tonart in<br />

seinem Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst:<br />

Wenn unser Gehör eine Folge von Tönen <strong>und</strong> Harmonieen vernimmt, so strebt es, seiner Natur<br />

gemäss, unter diesem Manchfaltigen einen inneren Zusammenhang, eine Beziehung auf einen<br />

gemeinsamen Mittelpunct, zu finden. [...] Das Gehör verlangt überall, einen Ton als Haupt- <strong>und</strong><br />

Centralton, eine Harmonie als Hauptharmonie zu empfinden [...].<br />

Insofern nun solchergestalt ein Ton als Haupt- <strong>und</strong> Centralton, eine Harmonie als Central-<br />

Harmonie erscheint [...], so nennt man solche Harmonie tonische Harmonie, <strong>und</strong> den Gr<strong>und</strong>ton<br />

dieser Harmonie Tonica [...]. Man [...] nennt solche Herrschaft einer Hauptharmonie über die<br />

übrigen: Tonart. 69<br />

Als erläuterndes Beispiel für den „etwas abstract ausgedrückten Satz“ 70 dieses Zitats<br />

bringt Weber eine schlichte Kadenz in C-Dur (vgl. Abbildung 4): „Beim Anhören des<br />

nachstehenden Satzes fühlt jedes Ohr den Ton c als Centralton [...] <strong>und</strong> den C-Dreiklang<br />

als die Hauptharmonie des Satzes.“ 71<br />

Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers. 72<br />

Während Fétis nur implizit die Tonika als einen Zentralklang der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong><br />

angibt, indem er die Auflösung des Dominantseptakkordes in den Dreiklang auf der I.<br />

Stufe als gr<strong>und</strong>legendes Element der „tonalité moderne“ bezeichnet, verweist Weber bei<br />

seiner Definition von Tonart explizit auf diesen Zusammenhang. Umgekehrt impliziert<br />

Weber die Auflösung des Dominantseptakkordes als entscheidendes Moment der<br />

Tonika, indem er zeigt, dass diese nur durch die Kadenz als solche wahrgenommen<br />

wird.<br />

69<br />

Gottfried Weber, Versuch einer geordneten Theorie der Tonsetzkunst, Bd. 2, Paris: B. Schott’s Söhne<br />

1830, S. 1-2.<br />

70<br />

Ebda., S. 1.<br />

71<br />

Ebda., S. 2.<br />

72<br />

Ebda.<br />

18


Auffällig an Webers Definition ist auch sein besonderes Hervorheben der Begriffe<br />

„Haupt- <strong>und</strong> Centralton“ sowie des Begriffs „Central-Harmonie“. 73 Er legte dabei<br />

offensichtlich großen Wert darauf, im Zusammenhang mit diesen Begriffen nicht<br />

missverstanden zu werden. In den Lehrbüchern des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts wurden<br />

Begriffe wie Hauptton, Tonika oder auch Hauptklang nicht immer einheitlich verwendet<br />

<strong>und</strong> teilweise als Synonyme für den Basston eines Dreiklanges in Gr<strong>und</strong>stellung – den<br />

„basse fondamentale“ – betrachtet. Vogler versteht beispielsweise in der oben zitierten<br />

Stelle unter dem Begriff Hauptton zwar dasselbe wie Weber. Den Bass eines Akkordes<br />

bezeichnet Vogler jedoch als „Gr<strong>und</strong>ton“. Dagegen bezeichnet er das, was Weber hier<br />

als „Gr<strong>und</strong>ton“ ansieht, nämlich den Basston eines Dreiklanges in Gr<strong>und</strong>stellung, 74 als<br />

„Hauptklang“ (vgl. oben). Dem gegenüber unterscheidet Sulzer explizit zwischen<br />

Hauptton <strong>und</strong> Tonika: Die Tonika verändere „mit jeder Ausweichung ihren Platz“,<br />

während der Hauptton „durchs ganze Stück derselbe bleibt“ (vgl. oben). Weber weist<br />

auch darauf hin, dass die Terz <strong>und</strong> Quint eines gr<strong>und</strong>ständigen Dreiklanges gelegentlich<br />

als „Mediante“ <strong>und</strong> „Dominante“ bezeichnet werden, er von diesen Ausdrücken in dem<br />

Zusammenhang jedoch absehe, um insbesonders den Begriff „Dominante“ auf den<br />

Dreiklang der V. Stufe anwenden zu können. 75<br />

Nachdem in der deutschen <strong>Musiktheorie</strong> der systematische Anteil von Fétis’ <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

bereits mit dem Begriff Tonart belegt war, sollte es nicht überraschen, wenn<br />

diese Begriffe bis heute häufig synonym verwendet wurden (insbesondere auch im<br />

romanischen <strong>und</strong> angelsächsischen Sprachgebrauch 76 ). Auch das in dieser Zeit zunehmende<br />

„Ersetzen“ des bestimmenden Merkmals bei Fétis – die Auflösung der Dominante<br />

– durch den Begriff Tonika erklärt sich aus diesem Zusammenhang. Gerade in<br />

den Jahren 1830 bis 1860 fällt zudem auf, dass der Begriff im deutschsprachigen Raum<br />

häufig im Zusammenhang mit der von Fétis beschriebenen historischen Entwicklung<br />

von der alten zur neuen <strong>Tonalität</strong> erwähnt wird. Insofern wurde der Teil aus Fétis<br />

<strong>Tonalität</strong>sbegriff extrahiert, der aus Sicht der deutschsprachigen <strong>Musiktheorie</strong> etwas<br />

Besonderes darstellte, nämlich das Bewerten der dur-moll-tonalen Entwicklungs-<br />

73<br />

Als Synonyme für den Begriff „tonische Harmonie“ führt Weber noch folgende an: „tonischer<br />

Accord“, „Haupt- oder Principal-Akkord“; als Synonyme für den Begriff „Tonica“: „tonische Note“,<br />

„erste Note“, „erste Stufe“, „Prime“, „Finalnote“, „Finalsaite“, „Principalnote“, „Hauptton“, „Hauptnote“<br />

(vgl. ebda.).<br />

74<br />

Vgl. ebda., S. 213.<br />

75<br />

Vgl. ebda., S. 199-200.<br />

76<br />

Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />

19


geschichte mittels der harmonischen Syntax. 77 Auf den besonderen Schwerpunkt der<br />

Musikgeschichte in Fétis’ Werk weist auch die oben erwähnte Rezension der Neuen<br />

Zeitschrift für Musik hin, wenn auch das Fehlen von „Poesie“ in seinen Schriften<br />

bemängelt wird:<br />

[...] da er [Fétis] tiefe <strong>und</strong> sehr mannichfache Kenntnis in allen Theilen der Geschichte der<br />

Musik besitzt, so herrscht das Geschichtliche auf eine auffallende Weise vor, indem es alles<br />

andere in den Hintergr<strong>und</strong> zurückdrängt. Die Poesie hat hierbei nichts zu thun, <strong>und</strong> läßt Hrn.<br />

Fétis mit seinen Jahreszahlen oft allein dastehen. 78<br />

Als musikhistorischer Ausdruck zur Unterscheidung unterschiedlicher Epochen wird<br />

der Begriff <strong>Tonalität</strong> in den 1840er Jahren häufig rezipiert. Bei der deutschen Übersetzung<br />

von Félicité Robert de Lamennais’ Gr<strong>und</strong>riss einer Philosophie (1841), der sich<br />

dabei wohl direkt auf Fétis bezieht, heißt es:<br />

Monteverde brachte, vielleicht ohne es zu wissen, diese große Revolution zu Stande. In Folge<br />

der Kühnheit seines Talents allein, schuf er, indem er das Verhältniß der Übergangsnote mit der<br />

vierten Stufe angab, die natürlichen Dissonanzen der Harmonie <strong>und</strong> sofort die Modulation; an<br />

die Stelle der <strong>Tonalität</strong> des Kirchengesanges, die sich mit diesen Abänderungen nicht vertrug,<br />

setzte er eine andere <strong>Tonalität</strong> [...], kurz er war der Erfinder einer neuen Musik. 79<br />

Carl Georg August Vivigens von Winterfeld macht in einer Biographie des Komponisten<br />

Adam Gumpelzhaimer darauf aufmerksam, dass sich bei diesem auch bereits die<br />

neue <strong>Tonalität</strong> anbahne. In diesem Artikel verweist er auch ausdrücklich auf Fétis: 80<br />

Einen wirklichen Leitton konnte deshalb die ältere Tonkunst nicht besitzen, <strong>und</strong> die <strong>Tonalität</strong><br />

unserer Tage war damals unmöglich. [...] Was die Tonlehre so bestimmt untersagt hatte, wurde<br />

aber durch einen glücklichen Instinct Monteverde’s gewagt; er schuf dadurch die natürlichen<br />

77<br />

Bryan Simms schreibt über die Bedeutung von Fétis’ historischer Darstellung: „His vision of an<br />

omnitonic order in music was a remarkable innovation to historic and theoretic concepts of the nineteenth<br />

century. Many of his contemporary critics viewed the course of music of their own time<br />

vaguely as a process of increasing complexity; others, such as Choron and Castil-Blaze, saw contemporary<br />

music as some sort of interaction of the various national ‚schools’. It was to Fetis’s credit, then,<br />

that he rightly saw the history of nineteenth-century music as essentially a matter of changing harmonic<br />

styles and techniques.“ (Simms, Choron, Fetis, S. 132).<br />

78<br />

Journalschau (Fortsetzung). VI. Revue musicale, S. 230.<br />

79<br />

Félicité Robert de Lamennais, Gr<strong>und</strong>riss einer Philosophie Bd. 3, Paris/Leipzig: Jules Renouard<br />

1841, S. 284.<br />

80<br />

Vgl. Carl Georg August Vivigens von Winterfeld, Der evangelische Kirchengesang <strong>und</strong> sein<br />

Verhältniss zur Kunst des Tonsatzes Bd. 1, Leipzig: Breitkopf <strong>und</strong> Härtel 1843, S. 498.<br />

20


Mißklänge der Harmonie, denn er erkannte den in der diatonischen Leiter enthaltenen Tritonus<br />

als rechten Hebel für die Ausweichung, <strong>und</strong> erfand dadurch die <strong>Tonalität</strong>, das chromatische Geschlecht.<br />

Ein Mann nur vor ihm, Adam Gumpelzhaimer, bahnte diese Erfindung an, aber<br />

niemand hat seiner gedacht. 81<br />

Zu den ersten musiktheoretischen Schriften im deutschsprachigen Raum, die den<br />

Ausdruck <strong>Tonalität</strong> verwenden, zählt Siegfried Wilhelm Dehns Theoretisch-praktische<br />

Harmonielehre (1840). 82 Allerdings ist für Dehn der Ausdruck <strong>Tonalität</strong> offenbar noch<br />

nicht von großer musiktheoretischer Bedeutung, so gibt er weder eine Definition des<br />

Begriffs, noch erwähnt er ihn im Stichwortverzeichnis des Buches. 83 Einmal verwendet<br />

Dehn den Begriff recht beiläufig im Zusammenhang mit den Verwandtschaftsverhältnissen<br />

der Tonarten, ein andermal – <strong>und</strong> hier eindringlicher – benutzt Dehn den Begriff<br />

im Zusammenhang mit der Geschichte der Dur-Moll-Harmonik:<br />

Bis zu den Zeiten Monteverde’s (vergl. pag. 289) herrschte die <strong>Tonalität</strong> der sogenannten<br />

Kirchentonarten [...]. Erst mit Einführung der neuen <strong>Tonalität</strong> wurde das Feld selbstständiger<br />

neuer Harmonieen erweitert, <strong>und</strong> hiermit entstand denn auch die Nothwendigkeit einer selbstständigen<br />

Harmonielehre [...]. 84<br />

Auf der angegebenen Seite 289 schreibt Dehn:<br />

Die regelmässige Behandlung der Dissonanzen, d. h. ihr Eintreten mittelst vorher liegender<br />

Consonanz, ihre stufenweise Auflösung, u. s. w., gehörte früher zu den wesentlichen Bedingungen<br />

der sogenannten strengen oder geb<strong>und</strong>enen Schreibart [...]. Bis zu der Zeit des Claudio<br />

Monteverde [...] herrschte diese Schreibart fast allgemein [...].<br />

Zu den bedeutendsten Neuerungen jener Zeit nun gehören Monteverde’s Versuche in einer freieren<br />

Behandlung der Dissonanzen; er war der Erste, welcher in mehreren Stimmen zu gleicher<br />

Zeit Vorhalte anbrachte [...]. 85<br />

Auch wenn Dehn nicht ausdrücklich Fétis als Quelle angibt, so ist der Zusammenhang,<br />

in dem der Begriff <strong>Tonalität</strong> hier verwendet wird, doch von auffälliger Ähnlichkeit zu<br />

den oben angegebenen Zitaten von Lamennais <strong>und</strong> Winterfeld. Alle drei beziehen sich<br />

81 Ebda., S. 499.<br />

82 Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />

83 Vgl. Siegfried Wilhelm Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre mit angefügten Generalbassbeispielen,<br />

Berlin: Wilhelm Thome 1840, S. 311-315.<br />

84 Ebda., S. 306-307.<br />

85 Ebda., S. 289.<br />

21


dabei auf Monteverdi als den Urheber der neuen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> dessen besondere Behandlung<br />

der Dissonanzen beziehungsweise deren Auflösung.<br />

Die weitere Stelle in der Dehn den Begriff <strong>Tonalität</strong> verwendet ist im Zusammenhang<br />

mit den Verwandtschaftsverhältnissen der Tonarten. Er spricht dabei von der unveränderten<br />

„<strong>Tonalität</strong> der Tonart C-Dur“:<br />

Weiter als bis zum vollkommenen Gr<strong>und</strong>dreiklang von D moll kann, mit Rücksicht auf unveränderte<br />

<strong>Tonalität</strong> der Tonart C Dur, diese Kette von Dreiklängen nicht geführt werden; denn<br />

nach dem Dreiklange d, f, a, würde b, d, f, folgen, der einen der Tonart C Dur fremden Ton,<br />

nemlich b, mit sich führt. 86<br />

Die Dreiklangskette, von der Dehn hier spricht, ist die alterierende Terzenreihe C-Dur,<br />

a-Moll, F-Dur, d-Moll. Das Verändern der „<strong>Tonalität</strong> der Tonart“ durch ein Weiterführen<br />

dieser Reihe mit B-Dur ist hier nichts anderes als das Verändern der Tonart<br />

selbst. In so fern bahnt sich hier bereits die spätere Vermischung der beiden Termini<br />

Tonart <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> an. Unter Tonart versteht Dehn den „Inbegriff von acht Tönen [der<br />

Dur- bzw. Moll-Tonleiter], deren jeder einzelne zu einem bestimmten Ton, Haupt- oder<br />

Gr<strong>und</strong>ton, in einem einmal als Norm angenommenen Verhältnisse der Entfernung<br />

steht.“ 87 Dehn verwendet die Bezeichnungen Hauptton <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong>ton synonym mir dem<br />

Intervall der „Prim“, von der I. Stufe der Tonart aus gerechnet. Als „Nebenbenennung“<br />

für diesen Ton gibt er die Bezeichnung „Tonica“ an. Das von der Tonika aus gerechnete<br />

Intervall der großen Terz bezeichnet Dehn des Weiteren als „Mediante“, das Intervall<br />

der Quint als „Dominante“ <strong>und</strong> das Intervall der Septime als „Leitton“. 88 Diese besondere<br />

Verbindung des Tonartbegriffs mit den Intervallen im Bezug auf die I. Stufe ist<br />

ein herausragendes Merkmal in Dehns theoretischen Überlegungen. Davon ausgehend<br />

deutet Dehn die Tonartverwandtschaften anhand der Konsonanzen <strong>und</strong> Dissonanzen der<br />

Tonart. Als konsonante Intervalle lässt Dehn in diesem Zusammenhang nur die große<br />

<strong>und</strong> kleine Terz, die reine Quint, die große <strong>und</strong> kleine Sext <strong>und</strong> die reine Oktav gelten.<br />

Die Intervalle Sek<strong>und</strong>, Quart <strong>und</strong> Septim seien dagegen dissonant. 89 Laut Dehn sind nun<br />

86 Ebda., S. 234.<br />

87 Ebda., S. 58.<br />

88 Vgl. ebda., S. 78.<br />

89 Vgl. ebda., S. 82.<br />

22


jene Tonarten miteinander verwandt, deren Gr<strong>und</strong>dreiklänge sich aus Konsonanzen<br />

einer anderen Tonart zusammensetzen:<br />

In jeder Tonart giebt es zwei vollkommene Dreiklänge, d. h. solche, die nur aus Consonanzen<br />

der Tonart bestehen. [...] In C Dur sind diese beiden Dreiklänge c, e, g <strong>und</strong> a, c, e; in C moll: c,<br />

es, g, <strong>und</strong> as, c, es; in A moll a, c, e <strong>und</strong> f, a, c; u. s. w. Beiläufig kann hier auch noch erwähnt<br />

werden, dass der Dominantenakkord jeder Tonart sich in einen dieser beiden vollkommenen<br />

Dreiklänge auflöst, wenn die Auflösung überhaupt eine regelmässige ist [...].<br />

Mit Rücksicht auf das Wesen der Consonanzen <strong>und</strong> Dissonanzen einer Tonart, [...] kann hier nun<br />

auch der Gr<strong>und</strong>satz aufgestellt werden, dass diejenigen Tonarten am nächsten mit einander verwandt<br />

sind, deren vollkommene Gr<strong>und</strong>dreiklänge (oder Dreiklänge auf dem - Gr<strong>und</strong>ton der<br />

Tonart) in einer <strong>und</strong> derselben Tonart als vollkommene Dreiklänge vorkommen. 90<br />

Dem entsprechend bildet Dehn die oben beschriebene Verwandtschaftsreihe C-Dur,<br />

a-Moll, F-Dur, d-Moll <strong>und</strong> in umgekehrter Richtung C-Dur, e-Moll <strong>und</strong> G-Dur (vgl.<br />

Abbildung 5).<br />

Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn. 91<br />

90 Ebda., S. 233.<br />

91 Ebda., S. 234.<br />

23


Als Übersicht der Verwandtschaftsbeziehungen aller Tonarten gibt Dehn folgendes<br />

Schema an (vgl. Abbildung 6).<br />

Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn 92<br />

Mit dieser außerordentlichen Einschätzung der Verwandtschaftsverhältnisse über einen<br />

alterierenden Terzenzirkel 93 widerspricht Dehn den gängigen Meinungen der meisten<br />

Zeitgenossen, welche die Tonartverhältnisse meist über den Quintenzirkel oder – wie im<br />

Falle von Gottfried Weber – aus einer Mischung von Quintenzirkel <strong>und</strong> verwandten<br />

Molltonarten deuten. 94 Für Weber, der den Quintenzirkel als ersten Verwandtschaftsgrad<br />

ansieht, sind entsprechend nicht a-Moll <strong>und</strong> e-Moll die nächst verwandten Tonarten<br />

von C-Dur, sondern F-Dur <strong>und</strong> G-Dur. 95 Auch Weber kommt zu einem vergleichbaren,<br />

jedoch nicht identischen, Schema der Verwandtschaftsgrade (vgl. Abbildung<br />

7). 96 Einer der wichtigsten Unterschiede der beiden Auffassungen ist, dass in Webers<br />

Darstellung die Tonarten A-Dur <strong>und</strong> Es-Dur dem Verwandschaftsgrad nach C-Dur sehr<br />

92<br />

Ebda., S. 235.<br />

93<br />

Der alterierende Terzenzirkel beinhaltet auch die Verwandtschaftsverhältnisse des Quintenzirkels<br />

bzw. Quartenzirkels, worauf Siegfried Wilhelm Dehn bei seinen weiteren Ausführungen auch eingeht<br />

(vgl. Dehn, Theoretisch-praktische Harmonielehre, S. 235f). Moritz Hauptmann verwendet in seinen<br />

Theorien vergleichbare Terzenzirkel, allerdings ergibt sich dieser aus anderem Zusammenhang (vgl.<br />

Abbildung 9). Bei Hugo Riemann gewinnt die Terzverwandtschaft durch die Funktionen der Parallel<strong>und</strong><br />

Wechselklänge eine große Bedeutung <strong>und</strong> im späten 20. Jahrh<strong>und</strong>ert werden die Verwandtschaftsverhältnisse<br />

des Terzenzirkels auch von der sogenannten Transformation-Theory <strong>und</strong> der<br />

musiktheoretischen Neo-Riemann-Bewegungen wieder aufgegriffen (vgl. S. Fehler! Textmarke<br />

nicht definiert.).<br />

94<br />

Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 69-86.<br />

95<br />

Vgl. ebda. S. 70f.<br />

96<br />

Für ein komplettes Schema der Verwandtschaftsverhältnisse nach Gottfried Weber, siehe Anhang b,<br />

Abbildung 77.<br />

24


viel näher liegen, als in Dehns Schema. Auf eine Inkonsequenz in diesem Zusammenhang<br />

deutet Weber selbst hin:<br />

Nach der […] Darstellung [Abbildung 7] sind die eben genannten vier Tonarten [D, A, Es <strong>und</strong><br />

B] mit C im zweiten Grade, also sämtlich gleich nahe, verwandt; dennoch ist diese Verwandtschaft,<br />

genauer betrachtet, nicht ganz gleich innig. Man fühlt es schon, ohne genaue Betrachtung,<br />

dass Es <strong>und</strong> A dem C im Gr<strong>und</strong>e doch noch fremder sind als D, B, e, d, f <strong>und</strong> g. 97<br />

Auf der anderen Seite trägt Weber der Verwandtschaft zwischen C-Dur <strong>und</strong> c-Moll<br />

Rechnung, welche in Dehns Darstellung dem Verwandtschaftsverhältnis zu Es-Dur<br />

untergeordnet ist.<br />

Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber 98<br />

Ebenso unvermittelt wie Siegfried Wilhelm Dehn verwendet Arrey von Dommer in<br />

seinem 1862 erschienenen Elemente der Musik den Begriff <strong>Tonalität</strong>. Auch Dommer<br />

gibt keinerlei Definition des Begriffs <strong>Tonalität</strong> an <strong>und</strong> hält ihn nicht für wichtig genug<br />

ihn in sein Stichwortverzeichnis als Hauptbegriff aufzunehmen. 99 Allerdings erscheint<br />

der Begriff im Stichwortverzeichnis eigenartigerweise als Unterbegriff von „Periode“<br />

(„- deren <strong>Tonalität</strong>“). 100 Die dort verwiesene Stelle ist auch die wichtigste Stelle im<br />

Buch, die sich dem Begriff widmet:<br />

Kehren wir jedoch für’s Erste zur einfachen achttaktigen Periode zurück <strong>und</strong> betrachten sie in<br />

Betreff ihrer <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Cadenzen.<br />

Die <strong>Tonalität</strong> kann verschieden sein. Eine Periode kann:<br />

1. vollständig tonisch gehalten sein, auf der Tonika beginnen, bleiben <strong>und</strong> schliessen;<br />

97<br />

Vgl. Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 81.<br />

98<br />

Ebda., S. 81.<br />

99<br />

Vgl. Arrey von Dommer, Elemente der Musik, Leipzig: T. O. Weigel 1862, S. 368.<br />

100 Vgl. ebda., S. 366.<br />

25


2. auf der Tonika beginnen <strong>und</strong> schliessen, aber durchgehend in andere leitereigene Töne<br />

modulieren;<br />

3. auf der Tonika beginnen, aber in einen anderen Ton hinein moduliren <strong>und</strong> in diesem schließen;<br />

4. weder auf der Tonika beginnen, noch in einem bestimmten Ton verharren, sondern beständig<br />

aus einem in den anderen modulieren, wie die sogenannten Modulationsperioden,<br />

welche inmitten aller grösseren Sätze vorkommen. 101<br />

Bei Dommers Beschreibung der möglichen harmonischen Schwerpunkte einer Periode,<br />

also deren Ausweichungen beziehungsweise Modulationen, lässt sich eine wichtige<br />

Bedeutungsänderung in Bezug auf den Begriff „Tonika“ feststellen. 102 Während bei<br />

Sulzer die Tonika noch „mit jeder Ausweichung ihren Platz verändert“ 103 (vgl. S. 17),<br />

verwendet Dommer den Begriff Tonika bereits, um damit einen übergeordneten<br />

Bezugspunkt zu bezeichnen, der unabhängig von den Modulationen innerhalb eines<br />

Satzes gleich bleibt. Im Zusammenhang mit der Fugenkomposition schreibt Dommer:<br />

Führer <strong>und</strong> Gefährte stehen also im Verhältniss der Tonika <strong>und</strong> Dominant. [...]<br />

Vor allem ist zu beachten, dass Einheit der <strong>Tonalität</strong> zwischen Gefährten <strong>und</strong> Führer aufrecht erhalten<br />

werde, der Gefährte also von der Haupttonart nicht zu weit sich entferne, nicht einmal die<br />

Dominanttonart gleich beim Eintritt als eine durchaus selbstständige Tonart hinstelle, sondern als<br />

eine vom Hauptton abhängige. 104<br />

Diese Aussage legt nahe, dass Dommer zwischen den Begriffen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart in<br />

ähnlicher Weise unterscheidet wie zwischen der Tonika <strong>und</strong> einer vorübergehenden<br />

Hauptstufe innerhalb einer Ausweichung. <strong>Tonalität</strong> wäre dann für Dommer ein allgemeinerer<br />

Begriff als Tonart <strong>und</strong> bezieht sich immer auf die Tonart der Tonika – die<br />

„Haupttonart“. Während sich innerhalb einer Periode die Tonart durch Ausweichung<br />

oder Modulation verändern kann, bleibt die <strong>Tonalität</strong> gemeinsam mit der Tonika bestehen.<br />

Diese wichtige Einsicht – die Möglichkeit <strong>Tonalität</strong> als übergeordneten Tonartbegriff<br />

anzusehen – wurde später auch von Hugo Riemann wieder aufgegriffen (vgl. S.<br />

35).<br />

101 Ebda., S. 156.<br />

102 Vgl. auch Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 7.<br />

103 Sulzer, Allgemeine Theorie, S. 783.<br />

104 Dommer, Elemente der Musik, S. 196.<br />

26


1.4 Hauptmann – Helmholtz – Oettingen<br />

Moritz Hauptmann vertrat in seinem Buch Die Natur der Harmonik <strong>und</strong> der Metrik<br />

(1853) bereits ähnliche Ansichten wie Arrey von Dommer, allerdings ohne dabei direkt<br />

auf den Begriff <strong>Tonalität</strong> zu verweisen. Hauptmann war der Naturklangtheorie verb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> führte in seinem Buch eine eigene Schreibweise ein, die zwischen Terzen<br />

<strong>und</strong> Quinten unterscheidet, um damit den Unterschied zwischen vier reinen Quinten <strong>und</strong><br />

einer reinen Terz hervorzuheben. Aus Sicht eines Dur-Dreiklangs bezeichnet Hauptmann<br />

Terzen mit Kleinbuchstaben, Gr<strong>und</strong>ton oder Quint dagegen mit Großbuchstaben<br />

(z.B. „e–G–C“ als erste Umkehrung von C-Dur). 105 Für ihn gab es drei unveränderliche,<br />

„direkt verständliche“ Intervalle: die Oktav, die Quint <strong>und</strong> die Terz. Die Oktav repräsentiert<br />

für Hauptmann „Identität“ <strong>und</strong> „Gleichheit“, die Quint „Zweiheit“ <strong>und</strong> „inneren<br />

Gegensatz“ <strong>und</strong> die Terz sieht er als „Gleichsetzung des Entgegengesetzten: der Zweiheit<br />

als Einheit“ an. 106<br />

Wenn die Oktave Ausdruck ist für Einheit, so spricht die Quint die Zweiheit oder Trennung aus,<br />

die Terz Einheit der Zweiheit oder Verbindung. Die Terz ist die Verbindung der Oktave <strong>und</strong><br />

Quint. 107<br />

In Hauptmanns Vorstellung von These, Antithese <strong>und</strong> Synthese spiegelt sich die Philosophie<br />

der Hegelschen Dialektik wider. Diese dialektische Denkweise durchdringt<br />

Hauptmanns Theorien auf allen musikalischen Ebenen: den Akkorden, den Akkordfortschreitungen,<br />

der Form <strong>und</strong> auch der Rhythmik <strong>und</strong> Metrik. 108 So verbinden sich die<br />

drei Momente Oktave, Terz <strong>und</strong> Quint im Dreiklang wiederum zum „gegliederten<br />

Ganzen“, zur „Einheit“. Als Gegensatz stehen dem Dreiklang der Tonika die Antithesen<br />

Dominante <strong>und</strong> Subdominante gegenüber, die in der Tonart als „Dreiklang höherer<br />

Ordnung“ wiederum mit der Tonika vereint werden. 109 Abbildung 8 zeigt ein Schema<br />

Hauptmanns, welches die dialektischen Beziehungen der Tonart darstellt. Die römischen<br />

Ziffern entsprechen dabei den Momenten Antithese (I–II) <strong>und</strong> Synthese (III).<br />

105<br />

Vgl. Moritz Hauptmann, Die Natur der Harmonik <strong>und</strong> der Metrik. Zur Theorie der Musik, Leipzig:<br />

Breitkopf u. Härtel 1853, S. 11.<br />

106<br />

Vgl. ebda., S. 21f.<br />

107<br />

Ebda., S. 22.<br />

108<br />

Vgl. ebda., S. 23.<br />

109<br />

Vgl. ebda., S. 27.<br />

27


Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff. 110<br />

Hauptmann vertritt also wie Weber die Vorstellung eines Tonartbegriffs, der durch die<br />

Kadenz – die Beziehungen zwischen Subdominante, Dominante <strong>und</strong> Tonika – definiert<br />

wird. Allerdings nimmt die Tonika eine besonders zentrale Rolle als verbindendes<br />

Element der Antithesen Dominante <strong>und</strong> Subdominante ein. Folgende Aussage legt sogar<br />

nahe, dass die Begriffe Tonika <strong>und</strong> Tonart aus Hauptmanns Sicht im Gr<strong>und</strong>e austauschbar<br />

sind, da das Vorhandensein einer Tonika automatisch eine Tonart entstehen lässt:<br />

Die Tonart entstand, wenn der gegebene Dreiklang, nachdem er durch den Unter- <strong>und</strong> Ober-<br />

Dominant-Accord, mit sich selbst in Gegensatz gekommen war, diesen Gegensatz als Einheit in<br />

sich zusammenfasste <strong>und</strong> damit Tonica wurde. 111<br />

Auch die Beziehungen zwischen Tonarten deutet Hauptmann in weiterer Konsequenz<br />

gemäß den Regeln der Hegelschen Dialektik. Der „tonischen Tonart“, als „Mitte eines<br />

Tonartensystems“, treten als Antithesen die Tonarten der Dominante <strong>und</strong> der Subdominante<br />

entgegen. 112 Abbildung 9 zeigt diese Tonartbeziehungen; die dargestellte alterierende<br />

Terzfolge (B–d–F–a–C usw.) erinnert zwar an das Schema der Tonartverwandtschaften<br />

von Siegfried Wilhelm Dehn (Abbildung 6), sollte jedoch nicht mit diesem<br />

verwechselt werden, da die Kleinbuchstaben sich hier nicht auf einen Moll-Dreiklang<br />

beziehen, sondern lediglich die Terz eines Dur-Dreiklangs bezeichnen.<br />

110 Ebda., S. 26.<br />

111 Ebda., S. 30.<br />

112 Ebda., S. 30f.<br />

28


Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. 113<br />

Größere Popularität erlangte der Begriff <strong>Tonalität</strong> im deutschsprachigen Raum erst in<br />

den 1860er Jahren. Auslöser dafür war Hermann von Helmholtz’ 1863 publiziertes<br />

Buch Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Gr<strong>und</strong>lage für die<br />

Theorie der Musik. Diese Veröffentlichung hatte nicht nur weit reichende Auswirkungen<br />

auf die <strong>Musiktheorie</strong> selbst, sondern auch auf benachbarte Disziplinen. Für die<br />

rasche Verbreitung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> in den folgenden Jahren sorgten unter<br />

anderem mehrere naturwissenschaftliche Fachzeitschriften, die sich mit Helmholtz’<br />

Theorien auseinander setzten. So finden sich beispielsweise im Jahresbericht über die<br />

Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 114 (1863) oder in<br />

Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft 115<br />

(1863) Rezensionen von Helmholtz’ Buch <strong>und</strong> auch in den folgenden Jahren waren<br />

seine Theorien ein sehr häufig diskutiertes Gesprächsthema in der wissenschaftlichen<br />

Literatur. Helmholtz schlug damit zum ersten Mal eine Brücke zwischen der bis dahin<br />

weitgehend isoliert voneinander agierenden <strong>Musiktheorie</strong> <strong>und</strong> den Naturwissenschaften,<br />

insbesondere der Akustik <strong>und</strong> der Psychologie. Gemeinsam mit den beiden von Carl<br />

Stumpf 1883/1890 veröffentlichten Bänden Tonpsychologie 116 hat Helmholtz damit<br />

auch die Gr<strong>und</strong>steine für die neue Wissenschaft der Musikpsychologie gelegt. Wie<br />

selbstverständlich der Begriff <strong>Tonalität</strong> zu jener Zeit plötzlich geworden war, illustriert<br />

ein Artikel aus dem Jahre 1864, in dem der Autor den Begriff <strong>Tonalität</strong> als Übersetzung<br />

des lateinischen „tonus“ einführt. 117<br />

113 Ebda., S. 31.<br />

114 Gabriel Gustav Valentin, Bericht über die Leistungen in der Psychologie, in: Jahresbericht über die<br />

Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1862 (Bd. 1 Psychologische Wissenschaften),<br />

Würzburg: Stahle’sche Buch <strong>und</strong> Kunsthandlung 1863, S. 103-, 197, hier S. 159f.<br />

115 Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen auf dem<br />

Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig: Gerhardt & Reisland 1863, S.<br />

481-487.<br />

116 Carl Stumpf, Tonpsychologie [1883/1890] (2 Bde.), Leipzig: Hirzel 1965.<br />

117 „Die <strong>Tonalität</strong> ist eine gewisse Beschaffenheit der Melodie“ – „Tonus est certa qualitas melodiae“<br />

(August Wilhelm Ambros, Die ersten Zeiten der neuen christlichen Welt <strong>und</strong> Kunst [Bd. 2 Geschichte<br />

der Musik], Breslau, F. E. C. Leuckard 1864, S. 54).<br />

29


Die neu gewonnene Nähe zu den Naturwissenschaften <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene<br />

Aussicht die <strong>Musiktheorie</strong> wissenschaftlich zu f<strong>und</strong>ieren wurde von vielen Musiktheoretikern<br />

der Zeit bereitwillig aufgenommen. . Es entstand aus diesem Streben –<br />

ganz im Sinne der wissenschaftlichen Aufbruchsstimmung des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts – die<br />

zunehmende Forderung nach wissenschaftlichen Arbeitsmethoden in der <strong>Musiktheorie</strong>.<br />

Diese Tendenz zur wissenschaftlichen Methode hat in vielen Bereichen des Fachs bis<br />

heute angehalten <strong>und</strong> wurde gerade in den letzten Jahrzehnten z.B. durch die Kognitionswissenschaft<br />

oder die transformational theory wieder belebt. Ernst Kurth war 1931<br />

der Ansicht „die <strong>Musiktheorie</strong> sei für die Musikpsychologie ungefähr das, was das<br />

Experiment für die Tonpsychologie sei.“ 118 Auch Thesen <strong>und</strong> Termini anderer Disziplinen<br />

wurden bereitwillig in den musiktheoretischen Sprachgebrauch übernommen. So<br />

verwendet Kurth beispielsweise die Begriffe „kinetische Energie“ im Zusammenhang<br />

mit melodischen Linien <strong>und</strong> „potentielle Energie“ im Zusammenhang mit Akkorden;<br />

diese Energien können laut Kurth ineinander umgewandelt werden. 119 Kurth war auch<br />

der Ansicht, „daß Töne eine Tendenz haben gegen den Naturklang hin zu ‚gravi-<br />

tieren‘.“ 120<br />

Im Gegensatz zu vorangegangenen Musiktheoretikern verwendet Helmholtz den Begriff<br />

<strong>Tonalität</strong> nicht mehr willkürlich, sondern setzt ihn gezielt <strong>und</strong> systematisch ein. Die in<br />

diesem Zusammenhang meist zitierte Stelle lautet:<br />

Die moderne Musik hat hauptsächlich das Princip der <strong>Tonalität</strong> streng <strong>und</strong> consequent entwickelt,<br />

wonach alle Töne eines Tonstücks durch die Verwandtschaft mit einem Hauptton, der<br />

Tonica, zusammengeschlossen werden. 121<br />

Dabei bezieht sich Helmholtz bewusst auf den <strong>Tonalität</strong>sbegriff von Fétis, schränkt<br />

diesen allerdings auf dessen systematischen Aspekt ein <strong>und</strong> verwirft damit die bis dahin<br />

118<br />

Ludwig Holtmeier, Die Erfindung der romantischen Harmonik, in: Zwischen Komposition <strong>und</strong><br />

Hermeneutik: Festschrift für Hartmut Fladt, Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, S. 115; Vgl.<br />

Ernst Kurth, Musikpsychologie, Hildesheim/New York: Georg Olms 1969, S. 72.<br />

119<br />

Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, Frankfurt a. M./ Wien: Lang 1994, S.<br />

229-231.<br />

120<br />

Helga de la Motte-Haber, Kräfte im musikalischen Raum. Musikalische Energetik <strong>und</strong> das Werk von<br />

Ernst Kurth, in: <strong>Musiktheorie</strong> (Handbuch der Systematischen Musikwissenschaft Bd. 2), Laaber:<br />

Laaber 2005, S. 284-310, hier S. 292.<br />

121<br />

Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Gr<strong>und</strong>lage Für die<br />

Theorie der Musik, Braunschweig: Friedrich Vieweg <strong>und</strong> Sohn 1863, S. 8.<br />

30


wichtige musikgeschichtliche Bedeutung von <strong>Tonalität</strong> als Bezeichnung einer durch<br />

harmonische Beziehungen geprägten Epoche.<br />

Wir können die Herrschaft der Tonica als des bindenden Mittelgliedes für sämtliche Töne des<br />

Satzes mit Fétis als das Princip der <strong>Tonalität</strong> bezeichnen. Dieser gelehrte Musiker hat mit Recht<br />

darauf aufmerksam gemacht, dass in den Melodien verschiedener Nationen die <strong>Tonalität</strong> in sehr<br />

verschiedenem Grade <strong>und</strong> verschiedener Weise entwickelt sei. 122<br />

Auffällig ist bei dieser Interpretation von Fétis <strong>Tonalität</strong>sbegriff, dass die Töne sich laut<br />

Helmholtz nicht auf eine Skala beziehen, sondern nunmehr einzig <strong>und</strong> allein auf den<br />

Hauptton, die Tonika. Auch wird von Helmholtz hervorgehoben, dass scheinbar unterschiedliche<br />

Nationen nicht unterschiedliche <strong>Tonalität</strong>en hervorbringen, sondern dass<br />

„die <strong>Tonalität</strong> in sehr verschiedenem Grade <strong>und</strong> verschiedener Weise entwickelt sei“.<br />

Damit hat Helmholtz den Begriff <strong>Tonalität</strong> endgültig auf eine ganz bestimmte Ausprägung<br />

musikalischer Syntax in der europäischen Kunstmusik reduziert <strong>und</strong> ihm jene<br />

Bedeutung gegeben, in der er auch heute noch zumeist verwendet wird.<br />

Inspiriert durch Helmholtz’ Veröffentlichung, begann der Physiker Arthur von<br />

Oettingen sich kurz darauf dem Thema <strong>Musiktheorie</strong> zuzuwenden. Oettingen veröffentlichte<br />

1866 sein Buch Harmoniesystem in dualer Entwickelung – Studien zur Theorie<br />

der Musik 123 , das in der wissenschaftlichen Literatur zunächst ähnlich bereitwillig<br />

rezipiert wurde wie Helmholtz’ Lehre von den Tonempfindungen. Oettingens Theorie<br />

baut auf Moritz Hauptmanns dialektischer Interpretation musikalischer Strukturen <strong>und</strong><br />

Zusammenhänge auf. Dabei denkt Oettingen streng dualistisch <strong>und</strong> stellt der Obertonreihe<br />

eine theoretische „Untertonreihe“ gegenüber, aus der er den Moll-Dreiklang sowie<br />

die Molltonart ableitet. Unter einer Untertonreihe versteht Oettingen „all diejenigen<br />

Töne, die einen gegebenen Ton als Oberton enthalten.“ 124 Oettingen bezeichnet den<br />

Gr<strong>und</strong>ton eines Dur-Dreiklanges als den „tonischen Gr<strong>und</strong>ton“. Diesem stellt er den<br />

„phonischen Oberton“ entgegen, den tiefsten Partialton, den alle Akkordtöne gemeinsam<br />

haben. 125 Der tonische Gr<strong>und</strong>ton von C-Dur ist der Ton C, der phonische<br />

Oberton ist dagegen der Ton H; der tonische Gr<strong>und</strong>ton von c-Moll der Ton As, der<br />

122<br />

Ebda., S. 395.<br />

123<br />

Arthur von Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwickelung -Studien zur Theorie der Musik,<br />

Dorpat/Leipzig: Gläser 1866.<br />

124<br />

Ebda., S. 31.<br />

125<br />

Vgl. ebda., S. 32.<br />

31


phonische Oberton ist dagegen der Ton G. 126 Oettingen bezeichnet in weiterer Folge<br />

Dur-Dreiklänge als tonische Klänge <strong>und</strong> benennt sie nach dem tonischen Gr<strong>und</strong>ton (C-<br />

Dur = „C + “); Moll-Dreiklänge bezeichnet Oettingen als phonische Klänge <strong>und</strong> benennt<br />

sie nach dem phonischen Oberton (c-Moll = „g°“). 127 In entsprechender Weise stellt<br />

Oettingen dem Begriff <strong>Tonalität</strong> auch den Begriff Phonalität gegenüber:<br />

Als dualen Gegensatz gegen das Prinzip der <strong>Tonalität</strong> stelle ich das der Phonalität auf. – Unter<br />

Phonalität aber verstehe ich das […] Prinzip, dem zufolge die gesammte Masse der Töne aus<br />

einer phonischen Klangvertretung entspringt. 128<br />

Oettingen veröffentlichte auch ein Tonnetz, das in der Horizontalen Quinten <strong>und</strong> in der<br />

Vertikalen große Terzen enthält (Abbildung 10). Dieses Tonnetz hatte besonderen<br />

Einfluss auf die Neo-Riemann-Theorie des späten 20. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Abbildung 10: Oettingens Tonnetz. 129<br />

126 Vgl. ebda., S. 33.<br />

127 Vgl. ebda., S. 45.<br />

128 Ebda., S. 64.<br />

129 Ebda., S. 15.<br />

32


1.5 Riemann <strong>und</strong> Schenker<br />

Die Thesen von Hauptmann, Helmholtz <strong>und</strong> Oettingen wurden schließlich in den<br />

1880er Jahren von Hugo Riemann aufgegriffen <strong>und</strong> erweitert. 130 Riemann war von der<br />

Naturgegebenheit der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Sinne der Naturklangtheorie fest überzeugt<br />

<strong>und</strong> postulierte – gemäß den Theorien Oettingens – eine Untertonreihe als dualistischen<br />

Gegensatz zur Obertonreihe. 131 Von Hauptmann übernahm Riemann die Vorstellung,<br />

dass Terz <strong>und</strong> Quint die einzigen direkt verständlichen Intervalle seien. 132 Die große<br />

Leistung Riemanns war es, die harmonischen Theorien des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts in einem<br />

geschlossenen musiktheoretischen System – der Funktionstheorie – zusammenzufassen.<br />

Damit machte Riemann, insbesondere im deutschsprachigen Raum, den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

einem größeren musiktheoretisch interessierten Publikum zugänglich.<br />

Zum ersten Mal verwendet Riemann den Begriff <strong>Tonalität</strong> in dem 1872 noch unter dem<br />

Pseudonym Hugibert Ries veröffentlichen Aufsatz Ueber <strong>Tonalität</strong> 133 <strong>und</strong> wendet den<br />

Begriff damals noch ausschließlich auf Tonbeziehungen an. Drei wesentliche Aspekte<br />

für Riemanns <strong>Tonalität</strong>sauffassung sind in diesem Aufsatz aber bereits deutlich erkennbar:<br />

(1) <strong>Tonalität</strong> entsteht erst durch eine Folge von mehreren Tönen. (2) <strong>Tonalität</strong> hängt<br />

wesentlich von unserer Wahrnehmung 134 <strong>und</strong> unserem Gedächtnis ab. 135 (3) Jede<br />

Aufeinanderfolge von Tönen bezieht sich auf einen Zentralton, ein Zentrum:<br />

Aristoxanes sagt: beim Anhören von Musik ist unsere Geistesthätigkeit eine doppelte, Wahrnehmung<br />

<strong>und</strong> Gedächtnis. Wahrnehmung nämlich des eben Ertönenden <strong>und</strong> Gedächtnis des<br />

Vorausgegangenen. In diesen Worten liegt das Geheimnis der <strong>Tonalität</strong>. Der Zweite Ton folgt<br />

nicht als ein anderer, dem ersten fremder, nicht am Hören des einzelnen Tones erfreuen wir uns<br />

130<br />

Riemann bezeichnete Rameau, Hauptmann, Helmholtz <strong>und</strong> Oettingen als die vier „großen Harmoniker“<br />

der Musikgeschichte (vgl. Hugo Riemann, Musikalische Logik [als Dissertation: Ueber das<br />

musikalische Hören, Leipzig 1874], Leipzig: C. F. Kahnt 1875, S. 4-6).<br />

131<br />

Vgl. ebda., S. 12f, 25.<br />

132<br />

Vgl. Dahlhaus, Untersuchungen, S. 10.<br />

133<br />

Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 9.<br />

134<br />

Der Begriff Wahrnehmung darf in diesem Zusammenhang nicht mit der akustischen Realität verwechselt<br />

werden. Riemann selbst hat die Tonika, unabhängig von der akustischen Realität, auch als „etwas<br />

Vorgestelltes, Imaginäres“ gedacht. Es handelt sich bei der Tonika gewissermaßen um eine psychische<br />

„Realität“ (vgl. auch Hans-Ulrich Fuß, Funktion, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft<br />

[Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6], Laaber: Laaber 2010, S. 127-129,<br />

hier S. 128).<br />

135<br />

Vgl. auch Riemann, Musikalische Logik, S. 64: „<strong>Tonalität</strong> ist […] Festhalten eines Tones im<br />

Gedächtniss als Hauptton (Tonus).“<br />

33


[…], sondern der zweite wird uns verständlich in seinem Verhältnis zum ersten, wir hören […]<br />

den ersten Ton auch dann noch im Gedächtnis, wenn der zweite erklingt. 136<br />

[… Wir suchen] in dem Zusammenklange wie in der Aufeinanderfolge vieler Töne einen Anhalt<br />

[…], einen Ausgangs- oder Endpunkt – ein Zentrum, um das sich alles in enger Beziehung grup-<br />

piert. 137<br />

1877 erweitert Riemann diese These auf Akkorde <strong>und</strong> Akkordverbindungen. Jeder Ton<br />

steht von da an als Vertreter für einen Akkord:<br />

Es verlangt aber eine Folge von Akkorden sowohl wie einer Folge einzelner Töne mit Akkordbedeutung<br />

(im Sinne der Klangvertretung 138 ) eine innere Einheit, eine Bezogenheit auf ein<br />

Centrum […]. Die Bezogenheit eines Harmoniegefüges auf einen Zentralklang nennt man (seit<br />

Fétis) <strong>Tonalität</strong>. 139<br />

1882 definiert Riemann <strong>Tonalität</strong> schließlich – vergleichbar mit Helmholtz – nicht mehr<br />

über die Beziehung zwischen Tönen, sondern über die „Bezogenheit [der Akkorde] auf<br />

einen Hauptklang, die Tonika.“ 140 Auf diese Definition wird heute meist Bezug genommen,<br />

wenn im engeren Sinn von <strong>Tonalität</strong> gesprochen <strong>und</strong> damit eigentlich die<br />

europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> gemeint wird (zumindest im deutschsprachigen<br />

Sprachgebrauch, der nachhaltig von Riemann geprägt wurde). <strong>Tonalität</strong> wird von<br />

Riemann nun als moderner Tonartbegriff aufgefasst, der nicht mehr an eine Tonleiter<br />

geb<strong>und</strong>en ist, sondern auch leiterfremde Töne umfasst. 141 In diesem Zusammenhang ist<br />

jedoch nicht zu vernachlässigen, dass die Tonika zwar einen zentralen Bezugsklang<br />

darstellt, jedoch selbst erst über die beiden Funktionen der Subdominante <strong>und</strong> Dominante<br />

definiert ist. Ein Akkord kann erst im harmonischen Verlauf eine Funktion im<br />

Sinne Riemanns einnehmen <strong>und</strong> ist somit – diesmal im mathematischen Sinn – eine<br />

Funktion der vorangegangenen <strong>und</strong> nachfolgenden Klänge. Auch der Begriff „funk-<br />

136<br />

Hugo Riemann, Ueber <strong>Tonalität</strong> [Neue Zeitschrift für Musik 1872, Bd. 45-46], in: Präludien <strong>und</strong><br />

Studien. Gesammelte Aufsätze zur Aesthetik, Theorie <strong>und</strong> Geschichte der Musik Bd. 3, Heilbronn:<br />

Schmidt (o. J.), S. 24.<br />

137<br />

Ebda., S. 25.<br />

138<br />

Ein Begriff, den Riemann von Helmholtz bzw. Oettingen übernahm. Vgl. auch: Julia Kursell, Konsonanz<br />

/ Dissonanz, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen<br />

Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 227-230, hier S. 228.<br />

139<br />

Hugo Riemann, Musikalische Syntaxis. Gr<strong>und</strong>riß einer harmonischen Satzbildungslehre, Leipzig:<br />

Breitkopf & Härtel 1877, S. 13f.<br />

140<br />

Riemann, <strong>Tonalität</strong>, S. 923f., zit. nach: Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 9.<br />

141 Vgl. ebda.<br />

34


tionale <strong>Tonalität</strong>“ hat sich in Riemanns Nachfolge häufig als Synonym für die Dur-<br />

Moll-<strong>Tonalität</strong> durchgesetzt.<br />

Die Tonika ist bei Riemann als Zentralklang keine abstrakte Stufe, sondern sie bezeichnet<br />

eine Funktion: Die I. Stufe ist je nach Zusammenhang auf unterschiedliche Weise zu<br />

deuten (z.B. als Zwischendominante zur Subdominante oder als Subdominante der<br />

Dominante). Der Zentralklang wechselt somit auf mikroformaler Ebene durch Modulationen<br />

seinen Platz. Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff bezieht sich bei Riemann auf die Tonika der<br />

„Haupttonart“, auf den sich, im Sinne eines übergeordneten Zentralklangs, die „Nebentonarten“<br />

beziehen. Damit sieht Riemann <strong>Tonalität</strong> gewissermaßen als eine übergeordnete<br />

Tonart an: Während die <strong>Tonalität</strong> das Ganze Stück hindurch gleich bleibt, ändert<br />

sich durch Modulationen streckenweise die Tonart <strong>und</strong> ein anderer Zentralklang gewinnt<br />

dadurch als neue Tonika an Bedeutung. 142 Dennoch sei „jede Nebentonart auch<br />

dann noch von der Haupttonart aus zu verstehen in ganz ähnlichem Sinne, wie im<br />

engsten Kreise der leitereigenen Harmonik die Dominanten der Tonika gegenüberstehen“.<br />

143 Beiche kommt zu dem Schluss, dass „in H. Riemanns Nachfolge […]<br />

<strong>Tonalität</strong> als erweiterter Tonartbegriff unter Betonung der Bezogenheit aller Klänge auf<br />

ein Zentrum tradiert“ wird. 144<br />

In seinen Ideen zu einer „Lehre von den Tonvorstellungen“ stellte Riemann ein Tonnetz<br />

dar, das mit Oettingens Tonnetz (vgl. Abbildung 10) vergleichbar ist. Dieses Tonnetz<br />

zeigt sowohl die Beziehungen von Tonhöhen <strong>und</strong> Akkorden als auch jene zwischen<br />

<strong>Tonalität</strong>en bzw. Tonarten. Eine Gruppe von drei Tönen innerhalb eines nach oben<br />

gerichteten Dreiecks stellt beispielsweise einen Dur-Dreiklang dar, während man in der<br />

Horizontalen den Quintenzirkel ablesen kann. 145<br />

142<br />

Vgl. ebda., S. 10; Hugo Riemann, Handbuch der Harmonielehre [1887], Leipzig, Breitkopf & Härtel<br />

5<br />

1912, S. 215.<br />

143<br />

Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 215.<br />

144<br />

Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 10.<br />

145<br />

Vgl. auch Brian Hyer, Reimag(in)ing Riemann, in: Journal of Music Theory (Bd. 39,1), 1995, S. 101-<br />

138, hier S. 101f.<br />

35


Abbildung 11: Riemanns Tonnetz. 146<br />

Einen etwas anderen Zugang zur Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> stellt Heinrich Schenkers Schichtenlehre<br />

dar, deren Gr<strong>und</strong>züge er zum ersten Mal in seiner Harmonielehre 147 1906<br />

veröffentlichte. Schenker reduziert in seinen Analysen während mehrerer Arbeitsschritte<br />

den harmonischen <strong>und</strong> melodischen Gehalt eines Werkes auf den „Ursatz“, der<br />

laut Schenker als „Hintergr<strong>und</strong>“ die eigentliche Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> Struktur der Werke<br />

bildet. 148 Schenker wendet seine Theorien vornehmlich auf das so genannte „Geniewerk“<br />

der Musik zwischen etwa 1700 bis 1850 an. Er baut dabei insbesondere auf die<br />

Lehre vom freien Satz nach Johann Joseph Fux <strong>und</strong> auf die Generalbasslehre nach Carl<br />

Philipp Emanuel Bach auf. 149<br />

Der „Ursatz“, den Schenker aus der Naturklangtheorie ableitet 150 , wird in verschiedenen<br />

Varianten angegeben (Abbildung 12). Die Oberstimme bezeichnet er dabei als „Urlinie“,<br />

die Unterstimme bildet als „Brechung“ (auch „Bassbrechung“) immer eine Folge<br />

der Stufen I–V–I. Urlinie <strong>und</strong> Brechung sieht Schenker als eine „Bewegung zu einem<br />

Ziele hin“. 151 Die strukturelle Melodieanalyse wird bei Schenker immer in „Zügen“<br />

gedacht. Der „Ursatz“ kann dabei immer nur aus Terzzug (Abbildung 12 links),<br />

146<br />

Hugo Riemann, Ideen zu einer ‚Lehre von den Tonvorstellungen’, in: Jahrbuch der Musikbibliothek<br />

Peters 21–22 (1914/15), Leipzig 1916, S. 1–26. hier S. 20.<br />

147<br />

Heinrich Schenker, Harmonielehre [1906] (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien Bd. 1), Wien:<br />

Universal Edition (o.J.).<br />

148<br />

Vgl. Andreas Moraitis, Zur Theorie der musikalischen Analyse, S. 208.<br />

149<br />

Vgl. Heinrich Schenker, Der freie Satz (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien Bd. 3), Wien:<br />

Universal Edition 1935, S. 1f.<br />

150<br />

Vgl. ebda., S. 30-36.<br />

151<br />

Ebda., S. 16f.<br />

36


Quintzug (Abbildung 12 Mitte) oder Oktavzug (Abbildung 12 rechts) bestehen.<br />

Zwischen dem „Vordergr<strong>und</strong>“ – der den eigentlichen Notentext bezeichnet – <strong>und</strong> dem<br />

„Hintergr<strong>und</strong>“ ist laut Schenker auch noch ein „Mittelgr<strong>und</strong>“ vorhanden, der als strukturelle<br />

Schicht zwischen Hinter- <strong>und</strong> Vordergr<strong>und</strong> vermittelt. Den Begriff „<strong>Tonalität</strong>“<br />

wendet Schenker nur auf den Vordergr<strong>und</strong> an <strong>und</strong> versteht darunter im Prinzip alles,<br />

was das musikalische Kunstwerk seiner Ansicht nach ausmacht:<br />

Nenne ich den Inhalt der […] Urlinie Diatonie […], so zeigt der Vordergr<strong>und</strong> die <strong>Tonalität</strong> als<br />

Summe aller Erscheinungen von den niedersten bis zu den umfassendsten, bis zu den scheinbaren<br />

Tonarten <strong>und</strong> Formen. 152<br />

Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug (links), Quintzug (Mitte), Oktavzug<br />

(rechts). 153<br />

Die Zentrierung der Melodik <strong>und</strong> Harmonik zugunsten eines Zentralklangs ist bei<br />

Schenker in besonderer Weise ausgeprägt. Über die Bewegung der Oberstimme schreibt<br />

Schenker: „Das Ziel, der Weg ist das Erste, in zweiter Reihe erst kommt der Inhalt.“ 154<br />

Zusätzlich zu dem „Ziel“ der Linienführung beziehen sich alle musikalischen Ereignisse<br />

auf einen einzelnen Gr<strong>und</strong>ton:<br />

Innerhalb der Oktave ergab sich […] eine Gesamtbezogenheit des Satzes nur auf den einen<br />

Gr<strong>und</strong>ton, den Gr<strong>und</strong>ton des Klanges. Die so für die Oberstimme, die Urlinie erzielte Tonfolge<br />

stellt die Diatonie vor […].<br />

Die gleiche Bezogenheit auf einen Gr<strong>und</strong>ton herrscht auch im Vordergr<strong>und</strong>: ist doch alle<br />

Vordergr<strong>und</strong>-Diminution, einschließlich der scheinbaren Tonarten aus den Stimmführungsverwandlungen,<br />

zuletzt eben aus der Diatonie im Hintergr<strong>und</strong> erflossen. 155<br />

Schenkers Begriff der „Tonart“ ist vergleichbar mit Riemanns hierarchischem <strong>Tonalität</strong>sbegriff,<br />

in dem <strong>Tonalität</strong> als übergeordnete Tonart gedacht wird:<br />

152 Ebda., S. 17.<br />

153 Heinrich Schenker, Der freie Satz. Anhang: Figurentafeln (Neue musikalische Theorien <strong>und</strong> Phantasien<br />

Bd. 3), Wien: Universal Edition 1956, S. 1f.<br />

154 Heinrich Schenker, Der freie Satz, S. 18.<br />

155 Ebda., S. 31f.<br />

37


Wohl der verhängnisvollste Fehler der üblichen Theorie ist es aber, immer schon Tonarten anzunehmen,<br />

wenn sie in Ermangelung von Hinter- <strong>und</strong> Mittelgr<strong>und</strong>-Erkenntnissen keine andere<br />

Lösung findet. […] Nichts ist so kennzeichnend für die Theorie <strong>und</strong> die Analyse, wie eben der<br />

schreiende Ueberfluß an Tonarten, den sie mit sich führen. Der Begriff Tonart als einer höheren<br />

in die Vordergr<strong>und</strong>-<strong>Tonalität</strong> eingeordneten Einheit ist ihr noch völlig fremd, sie bringt es fertig,<br />

schon einen einzigen unauskomponierten Klang als eine Tonart zu bezeichnen. 156<br />

1.6 Die Auflösung der <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Arnold Schönberg<br />

Als Riemann 1893 in seiner Vereinfachten Harmonielehre 157 zum ersten Mal die vollständigen<br />

Funktionsbezeichnungen veröffentlichte, war sein Vorhaben eine alles umfassende<br />

Theorie der dur-moll-tonalen Harmonik zu entwickeln bereits zum Scheitern<br />

verurteilt. Der „Prozess“, den man im allgemeinen musikalischen Sprachgebrauch<br />

häufig als „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ 158 bezeichnet, war bereits nicht mehr umkehrbar<br />

<strong>und</strong> seine Auswirkungen manifestierten sich in den Werken der zeitgenössischen<br />

Komponisten. Bereits 1859 hatte Richard Wagner die Komposition an seinem Tristan<br />

beendet <strong>und</strong> in der Folge der Uraufführung im Jahr 1865 bei nachfolgenden Generationen<br />

von Musiktheoretikern <strong>und</strong> Komponisten einen Diskurs ausgelöst, der bis heute<br />

nachklingt. Kaum ein anderes musikalisches Element wurde so häufig zitiert <strong>und</strong><br />

analysiert wie der berühmte Tristan-Akkord, der sich vehement jeglicher tonaler Analyse<br />

entzog <strong>und</strong> so zum Sinnbild für die „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ hochstilisiert wurde.<br />

Walter Gieseler schreibt über dessen Bedeutung: „Der Tristan-Akkord ist noch nicht die<br />

neue harmonische Welt, aber er kündigt sie an.“ 159 In seinem Parsifal, der am 26.7.1882<br />

uraufgeführt wurde, zog Richard Wagner schließlich die Konsequenzen aus der Harmonik<br />

des Tristan. Im Vorspiel des dritten Akts tritt anstelle der dur-moll-tonalen Tonika<br />

der verminderte Septakkord in das Zentrum des kompositorischen Interesses <strong>und</strong><br />

übernimmt als Zentralklang auch weitgehend deren Funktion. Ähnliche Wege beschreitet<br />

zur selben Zeit auch Franz Liszt in seinen späten Klavierwerken. Die mit übermäßigen<br />

Dreiklängen <strong>und</strong> verminderten Septakkorden angereicherte Harmonik setzt die<br />

156<br />

Ebda., S. 26.<br />

157<br />

Hugo Riemann, Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen der Akkorde<br />

[1893], London: Augener 1899.<br />

158<br />

Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 278 u. Walter Gieseler, Harmonik in der Musik des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Tendenzen - Modelle, Celle: Moeck 1996, S. 7.<br />

159<br />

Gieseler, Harmonik, S. 7.<br />

38


Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> über weite Strecken außer Kraft <strong>und</strong> weist auf neue <strong>und</strong> ungenutzte<br />

Möglichkeiten tonaler Beziehungen hin. 160 Programmatisch wirkt in diesem Zusammenhang<br />

der Titel von Liszts Klavierstück Bagatelle ohne Tonart aus dem Jahre<br />

1885. Auch wenn Richard Wagner selbst die späten Werke seines Schwiegervaters zum<br />

Teil als Senilitätserscheinung 161 abgetan hat, sind sie doch Zeugnis der neuen Aufbruchstimmung,<br />

die sich damals ausgebreitet hatte.<br />

Arnold Schönberg war zu dieser Zeit gerade zehn Jahre alt <strong>und</strong> komponierte bereits<br />

seine ersten Jugendkompositionen, noch weitgehend unbeeinflusst von den harmonischen<br />

Neuerungen der Zeitgenossen. Dies änderte sich jedoch rasch, nachdem er 1894<br />

Alexander von Zemlinsky kennen gelernt hatte, der ihn mit den Kompositionen Richard<br />

Wagners <strong>und</strong> Franz Liszts vertraut machte.<br />

Als ich ihn kennenlernte war ich ausschließlich Brahmsianer. Er liebte Brahms <strong>und</strong> Wagner gleichermaßen,<br />

wodurch ich bald darauf ebenfalls ein glühender Anhänger beider wurde. Kein<br />

W<strong>und</strong>er, daß die Musik dieser Zeit deutlich die Einflüsse dieser beiden Meister zeigte, mit einem<br />

gelegentlichen Zusatz von Liszt, Bruckner <strong>und</strong> vielleicht auch Hugo Wolf. 162<br />

Über Schönbergs Auffassung von <strong>Tonalität</strong> wurde bereits viel spekuliert. So schreibt<br />

zum Beispiel Lukas Haselböck, dass „Schönberg [...] als einzige Voraussetzung für<br />

‚<strong>Tonalität</strong>‘ das Vorhandensein sinnvoller Tonbeziehungen genannt hat.“ 163 Dieter<br />

Rexroth ist derselben Auffassung <strong>und</strong> führt aus, dass „Schönberg [...] unter ‚tonal‘ ganz<br />

allgemein eine Beziehung [versteht].“ 164 Auf der anderen Seite weist Martin Eybl darauf<br />

hin, dass Schönberg den Begriff „<strong>Tonalität</strong>“ durchaus in unterschiedlichen Bedeutungen<br />

gebraucht hat:<br />

Demgegenüber bezeichnen einige Autoren des frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>erts (Guido Adler, Arnold<br />

Schönberg) mit <strong>Tonalität</strong> die Beziehungen zwischen Tönen im Allgemeinen. Das Fehlen eines<br />

160<br />

Vgl. Dieter Kleinrath, Kompositionstechniken im Klavierwerk Franz Liszts. Eine Gegenüberstellung<br />

kompositorischer Verfahren im Früh- <strong>und</strong> Spätwerk unter besonderer Berücksichtigung des Klavierstücks<br />

Funérailles, Kunstuniversität Graz 2007, S. 10-19.<br />

161<br />

Cosima Wagner, Die Tagebücher (Bd. 2), München: Piper 1976, S. 1059. (29. November 1882).<br />

162<br />

Arnold Schönberg, Rückblick, 1949, S. 434.<br />

163<br />

Lukas Haselböck, Zwölftonmusik <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong>. Zur Vieldeutigkeit dodekaphoner Harmonik, Laaber:<br />

Laaber 2005, S. 17.<br />

164<br />

Dieter Rexroth: Arnold Schönberg als Theoretiker der tonalen Harmonik, Bonn 1971, S. 386.<br />

39


harmonischen Zentrums nennt Schönberg „aufgehobene <strong>Tonalität</strong>“, verwendet den Begriff<br />

<strong>Tonalität</strong> somit doppeldeutig. 165<br />

Gr<strong>und</strong> für die allgemeine Verwirrung um Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sauffassung ist folgende<br />

viel zitierte Fußnote seiner Harmonielehre:<br />

Nur so kann es gelten: Alles was aus einer Tonreihe hervorgeht, sei es durch das Mittel der<br />

direkten Beziehung auf einen einzigen Gr<strong>und</strong>ton oder durch komplizierte Bindungen zusammengefasst,<br />

bildet die <strong>Tonalität</strong>. [...] Ein Stück wird stets mindestens insoweit tonal sein<br />

müssen, als von Ton zu Ton eine Beziehung bestehen muß, vermöge welcher die Töne, nebenoder<br />

übereinander gesetzt, eine als solche auffaßbare Folge ergeben. [...] Zudem ist die Frage gar<br />

nicht untersucht, ob das, wie diese neuen Klänge sich schließen, nicht eben die <strong>Tonalität</strong> der<br />

Zwölftonreihe ist. Wahrscheinlich sogar ist es so [...] 166<br />

Zu diesem Zitat ist allerdings anzumerken, dass Schönberg diese Aussage machte um<br />

den Begriff „Atonalität“ zu widerlegen <strong>und</strong> sich <strong>und</strong> seine Musik davon abzugrenzen.<br />

Aus diesem Gr<strong>und</strong> hat er hier den <strong>Tonalität</strong>sbegriff wohl etwas weiter gefasst als<br />

gewöhnlich. Dennoch ist erkennbar, dass Schönberg durchaus offen war für eine erweiterte<br />

Auslegung des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs. So vergleicht er die „neuen Klänge“ seiner<br />

Musik anschließend mit dem Suchen nach dem Gr<strong>und</strong>ton zur Zeit der Kirchentonarten:<br />

„Hier [in der neuen Musik] fühlt man ihn [den Gr<strong>und</strong>ton] noch nicht einmal, aber darum<br />

ist er doch wahrscheinlich vorhanden.“ 167 Rückblickend präzisiert Schönberg 1949<br />

seine Aussage nochmals:<br />

In meiner Harmonielehre (1911) habe ich behauptet, daß die Zukunft bestimmt zeigen wird, daß<br />

eine Zentralkraft, vergleichbar der Anziehungskraft einer Tonika, auch hier noch wirksam ist.<br />

Zieht man in Betracht, daß z. B. die Gesetze von Bachs oder Beethovens satzbildenden Bedingungen<br />

oder die von Wagners Harmonik noch immer nicht in wahrhaft wissenschaftlicher Weise<br />

erforscht sind, so darf man sich nicht w<strong>und</strong>ern, daß hinsichtlich der sogenannten „Atonalität“<br />

noch kein solcher Versuch gemacht wurde. 168<br />

Zitate dieser Art sind in Schönbergs Schriften jedoch eher die Ausnahme als die Regel.<br />

Meist verwendet er den Begriff <strong>Tonalität</strong> dagegen im „traditionellen“ Sinne bzw. gemäß<br />

165<br />

Martin Eybl, <strong>Tonalität</strong>, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft (Handbuch der systematischen<br />

Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 485-488, hier S. 485.<br />

166<br />

Schönberg. Harmonielehre, S. 486.<br />

167<br />

Ebda.<br />

168<br />

Arnold Schönberg, Rückblick [1949], http://www.schoenberg.at, S. 437.<br />

40


der üblichen Bedeutung seiner Zeit; auch eine Nähe zur Naturklangtheorie ist dabei in<br />

Schönbergs Denkweise erkennbar. So deutet er beispielsweise im Harmonielehre-<br />

Kapitel Die Durtonart <strong>und</strong> die leitereigenen Akkorde die C-Dur-Skala anhand der<br />

Obertonreihe 169 <strong>und</strong> in seinem Aufsatz Problems of harmony findet sich folgender<br />

Abschnitt:<br />

Let us first examine the concept of tonality.<br />

This coincides to a certain extent with that of key, in so far as it refers not merely to the relation<br />

of tones with one another, but much more to the particular way in which all tones relate to a f<strong>und</strong>amental<br />

tone, especially the f<strong>und</strong>amental tone of the scale, whereby tonality is always comprehended<br />

in the sense of a particular scale. Thus, for example, we speak of a C-major tonality,<br />

etc. 170<br />

Für Schönberg lagen also offenbar die Begriffe <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Tonart sehr nahe bei<br />

einander. Er hebt auch die Bedeutung der Skala für seine <strong>Tonalität</strong>sauffassung hervor,<br />

allerdings fällt auf, dass auch für ihn nicht nur die Beziehungen der Töne untereinander,<br />

sondern auch die Beziehung der Töne auf einen F<strong>und</strong>amentalton (ein Begriff den<br />

ebenfalls Rameau prägte) von Bedeutung seien. Im weiteren Verlauf des oben zitierten<br />

Textes deutet Schönberg Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Tönen mit Hilfe<br />

der Obertonreihe <strong>und</strong> bezeichnet Akkordfolgen, die in mehr als einer Tonart interpretiert<br />

werden können, als „Gefahr“ für die <strong>Tonalität</strong>. 171<br />

Ein weiterer Aspekt, den Schönberg im Zusammenhang mit <strong>Tonalität</strong> immer wieder<br />

hervorgehoben hat, ist die Bedeutung von <strong>Tonalität</strong> als eine vom Komponisten bewusst<br />

eingesetzte Möglichkeit unter vielen. 172 In diesem Zusammenhang steht Schönberg dem<br />

<strong>Tonalität</strong>sbegriff von Fétis nahe, der (sofern man Dahlhaus’ Interpretation folgt) zwar<br />

die Naturklangtheorie nicht a priori ausschloss, die Entscheidung sie einem System<br />

zugr<strong>und</strong>e zu legen, jedoch in die Verantwortung des Komponisten gelegt hat (vgl. S.<br />

10). In der Harmonielehre schreibt Schönberg:<br />

169<br />

Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 20-22.<br />

170<br />

Arnold Schönberg, Problems of Harmony [1934], http://www.schoenberg.at (1.6.2010), S. 169<br />

171<br />

Vgl. ebda., S. 169-173<br />

172<br />

Vgl. Constantin Grun, Arnold Schönberg <strong>und</strong> Richard Wagner: Schriften (Spuren einer außergewöhnlichen<br />

Beziehung Bd. 2), Göttingen: V&R 2006, S. 724-726.<br />

41


Die <strong>Tonalität</strong> ist eine sich aus dem Wesen des Tonmaterials ergebende formale Möglichkeit,<br />

durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit zu erzielen. […] Ich werde […]<br />

mich […] hier darauf beschränken, bloß […] anzuführen: […] daß ich sie [die <strong>Tonalität</strong>] nicht<br />

halte, wofür sie scheinbar alle Musiktheoretiker vor mir gehalten haben: für ein ewiges Gesetz,<br />

ein Naturgesetz der Musik, obwohl dieses Gesetz den einfachsten Bedingungen des naturgegebenen<br />

Vorbilds, des Tons <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>akkords, entspricht […]. 173<br />

Schönbergs <strong>Tonalität</strong>sbegriff ist vielseitig, jedoch nicht unbedingt widersprüchlich. Die<br />

traditionelle Vorstellung von <strong>Tonalität</strong> benutzt er meist in seiner Rolle als Kompositionslehrer<br />

<strong>und</strong> Pädagoge. In diesem Zusammenhang verwendet er den Begriff <strong>Tonalität</strong><br />

im Sinne einer historischen Epoche, die sich dadurch auszeichnete, dass Komponisten<br />

aus freiem Willen den naturgegebenen Eigenschaften des Tones folgten <strong>und</strong> ihn, zum<br />

Erzielen formaler Geschlossenheit, als einen Zentralklang annahmen. Den erweiterten<br />

Tonartbegriff vertritt Schönberg dagegen in Diskussionen bezüglich der „neuen Musik“,<br />

die er selbst entscheidend mitgestaltet hat. In diesem Sinne ist sein <strong>Tonalität</strong>sbegriff ein<br />

kaum greifbarer ideeller Gedanke, der im Prinzip auf jede tonhöhenbezogene Musik<br />

angewendet werden könnte.<br />

Zur „Auflösung der <strong>Tonalität</strong>“ trug Schönberg nicht nur in seiner Funktion als innovativer<br />

Komponist bei, auch sein Sprachgebrauch in Bezug auf den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

förderte entschieden diese Vorstellung. Während Helmholtz noch meinte „die moderne<br />

Musik hat hauptsächlich das Princip der <strong>Tonalität</strong> streng <strong>und</strong> consequent entwickelt“<br />

(vgl. S. 30), wird, spätestens seit Schönberg, der <strong>Tonalität</strong>sbegriff in Bezug auf die<br />

musikalische Syntax der Spätromantik zunehmend in Frage gestellt. Im Zusammenhang<br />

mit seinen Frühwerken, wie z.B. dem 1899 komponierten Streichsextett Verklärte Nacht<br />

op. 4, sprach er von „Stellen einer unbestimmbaren <strong>Tonalität</strong>, die zweifellos als Hinweis<br />

auf die Zukunft gelten können“ 174 . Als Beispiel gibt Schönberg die Takte 138-139 aus<br />

dem Streichsextett an (Abbildung 13), in denen kein eindeutiger Gr<strong>und</strong>ton- bzw.<br />

Tonartbezug mehr erkennbar ist. Wie später noch zu sehen sein wird (vgl. S. 117), ist<br />

die Harmonik dieses Abschnitts eng verwandt mit der Harmonik der Einleitung zum<br />

dritten Akt von Richard Wagners Parsifal.<br />

173 Schönberg, Harmonielehre, S. 27.<br />

174 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />

42


Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140.<br />

Ein Kapitel seines Buchs Die formbildenden Tendenzen der Harmonie widmete Schönberg<br />

der „erweiterten <strong>Tonalität</strong>“ 175 <strong>und</strong> in seiner Harmonielehre verwendet er Begriffe<br />

wie „schwebende <strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> „aufgehobene <strong>Tonalität</strong>“ 176 . Unter schwebender<br />

<strong>Tonalität</strong> verstand Schönberg Musik, deren Harmonik sich nicht auf einen einzelnen<br />

Zentralklang beschränkt, sondern stets zwischen zwei oder mehreren oft gleichberechtigten<br />

Zentren hin <strong>und</strong> her schwankt, gleichsam zwischen diesen Klangwelten schwebt.<br />

Schwebende <strong>Tonalität</strong> erkennt Schönberg bereits im letztem Satz von Ludwig v.<br />

Beethovens e-Moll-Quartett op. 59/2 sowie im Finale von Robert Schumanns Klavier-<br />

quintett. 177<br />

175 Arnold Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie [Structural Functions of Harmony,<br />

1948], Mainz: B. Schott’s Söhne 1954, S. 74-110.<br />

176 Schönberg. Harmonielehre, S. 509.<br />

177 Ebda., S. 460.<br />

43


1.7 Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

Zum Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>ert hatte sich die Bedeutung des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs im<br />

deutschsprachigen Raum zunehmend gefestigt <strong>und</strong> wurde von Helmholtz <strong>und</strong> Riemann<br />

auf die musikalische Syntax der europäischen Kunstmusik reduziert. Das wesentliche<br />

Merkmal der Definition ist von nun an der Zentralklang – die Tonika – auf den sich alle<br />

anderen Töne <strong>und</strong> Akkorde beziehen. Die besondere Bedeutung des Zentralklanges<br />

führte dazu, dass einige Autoren Metaphern für den Begriff der Tonika einführten, wie<br />

zum Beispiel „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“, „Kraftzentrum“ oder<br />

„Brennpunkt“ („focal point“). Zugleich wird <strong>Tonalität</strong> nun immer häufiger mit hörpsychologischen<br />

Aspekten in Verbindung gebracht wie beispielsweise von Jacques<br />

Chailley, der <strong>Tonalität</strong> als eine „musikalische Wahrnehmungsart“ bezeichnet. 178 Seit<br />

den 1920er Jahren gewinnt „<strong>Tonalität</strong>“ auch als erweiterter Tonartbegriff, wie er von<br />

Riemann beschrieben wurde, zunehmend an Bedeutung. So schreibt Hermann Grabner<br />

in der Allgemeinen Musiklehre 1924: „Die Beziehungen der einzelnen Tonarten eines<br />

Stückes zur Haupttonart heißt <strong>Tonalität</strong>.“ 179<br />

Während die <strong>Musiktheorie</strong> um 1900 gerade noch dabei war den Begriff <strong>Tonalität</strong><br />

aufzuarbeiten <strong>und</strong> „die tonale Musik“ zu systematisieren, begannen Komponisten wie<br />

Franz Liszt, Arnold Schönberg oder Alexander Skrjabin die <strong>Tonalität</strong> in Frage zu stellen<br />

<strong>und</strong> sich neuen musikalischen Ausdrucksmöglichkeiten zuzuwenden <strong>und</strong> lösten mit dem<br />

darauf folgenden Stilpluralismus des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts in gewisser Weise auch einen<br />

analogen Systempluralismus in der <strong>Musiktheorie</strong> aus. Musiktheoretiker waren im 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zunehmend gezwungen ihre Theorien den neuen Gegebenheiten der zeitgenössischen<br />

Kompositionspraxis anzupassen <strong>und</strong> es scheint, als hätte man sich zumeist<br />

damit abgef<strong>und</strong>en gehabt, dass <strong>Tonalität</strong>, mit ihren reichhaltigen Facetten, eine historische<br />

Erscheinung war, die im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert nur mehr in Popularmusik oder verwandten<br />

Genres eine Gültigkeit besäße. Bestenfalls wird bei Diskussionen um die<br />

Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts vorsichtig der Begriff „post-tonal“ angewendet, um damit<br />

auszudrücken, dass tonale Elemente auch in späteren Werken der Kunstmusik noch<br />

teilweise aufgegriffen wurden oder weiterwirken. Diese Entwicklung wurde insbeson-<br />

178 Vgl. Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 10-11.<br />

179 Hermann Grabner, zit. nach Beiche, <strong>Tonalität</strong>, S. 11.<br />

44


dere auch durch die zunehmende Abneigung zeitgenössischer Komponisten gegenüber<br />

dem Begriff <strong>Tonalität</strong> nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs gefördert. Die Polarisierung<br />

während der Nachkriegszeit in Komponisten, die tonale Elemente in ihren<br />

Kompositionen nutzten, <strong>und</strong> solche, die sich ihnen verweigerten, war nicht zuletzt auch<br />

von der Rhetorik Schönbergs im Zusammenhang mit <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> neuer Musik geprägt.<br />

Ein weiterer Gr<strong>und</strong> für die zunehmende Abneigung gegen <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> der<br />

damit oft verb<strong>und</strong>enen Naturklangtheorie könnte damit zusammenhängen, dass eine von<br />

der Naturklangtheorie abgeleitete europäische Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> leicht die Züge von<br />

nationalistischem <strong>und</strong> rassenspezifischem Gedankengut annehmen konnte. So fand man<br />

zum Beispiel in der Bibliothek Adolf Hitlers ein Exemplar des Buches Der Naturklang<br />

als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische <strong>Musiktheorie</strong> in zwei Teilen von Josef<br />

Achtélik. 180 In diesem Werk versucht Achtélik, unter anderem aufbauend auf den<br />

Thesen Riemanns 181 , die Naturklangtheorie als einzig wahre Gr<strong>und</strong>lage jedweder Musik<br />

darzustellen:<br />

Für uns, die wir alle Klangmöglichkeiten eines Naturklanges als <strong>Tonalität</strong> empfinden <strong>und</strong> damit<br />

nur der Weisung der Natur folgen, für uns ist auch die jetzige Epoche nur ein Entwicklungsübergang<br />

[...] 182<br />

Die Musik der Zweiten Wiener Schule um Arnold Schönberg lehnt Achtélik dagegen<br />

kategorisch ab:<br />

Schönberg <strong>und</strong> der kleine Kreis um ihn, zum großen Teil asiatischer Abstammung, erhoben die<br />

Dissonanz zum einzigen musikalischen Zusammenklang. [...]<br />

So kommt es denn, dass man diese Musik weder verstehen noch empfinden kann, daß man sie<br />

weder schön noch erhebend, weder wohltuhend noch begeisternd finden kann. Die Musik ist<br />

zum nichtssagenden, weil alles auf einmal sagenwollenden Tongeräusch erniedrigt worden. [...]<br />

Daß Gehörreizungen durch diese Klangballungen hervorgerufen werden, wird niemand bestreiten;<br />

aber Musik ist das nicht mehr. [...] impotente Versuche degenerierter Nerven nennen es die<br />

meisten. 183<br />

180 Vgl. Library of Congress: Third Reich Collection.<br />

181 Vgl. Josef Achtélik, Der Naturklang als Wurzel aller Harmonien: eine aesthetische <strong>Musiktheorie</strong><br />

(Band 2), Frankfurt: C.F. Kahnt 1922, S. 101ff.<br />

182 Ebda., S. 145.<br />

183 Ebda.<br />

45


In den 1960er Jahren griff Carl Dahlhaus in seiner Habilitationsschrift Untersuchungen<br />

über die Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong> den <strong>Tonalität</strong>sbegriff erneut auf.<br />

Dahlhaus versuchte darin weniger die bestehenden systematischen Aspekte im Zusammenhang<br />

mit dem Begriff zu erweitern, als vielmehr „die Entstehung der harmonischen<br />

<strong>Tonalität</strong> in der Mehrstimmigkeit des 16. <strong>und</strong> 17. Jahrh<strong>und</strong>erts“ zu untersuchen.<br />

184 Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war dabei Fétis’ historischer <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

<strong>und</strong> dessen Einteilung der Musikgeschichte in unterschiedliche Epochen,<br />

basierend auf der jeweiligen harmonischen Syntax. Dahlhaus stellt fest, dass „<strong>Tonalität</strong><br />

außer einer systematischen auch eine historische Kategorie ist. Die <strong>Tonalität</strong> des 16. <strong>und</strong><br />

die des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sind Stufen einer zusammengehörigen Entwicklung.“ 185 Den<br />

Begriff „harmonische <strong>Tonalität</strong>“ verwendet Dahlhaus dabei „synonym mit Riemanns<br />

‚<strong>Tonalität</strong>‘ <strong>und</strong> Fétis’ ‚tonalité moderne‘“ 186 . Der harmonischen <strong>Tonalität</strong> stellt<br />

Dahlhaus den Begriff der „melodischen <strong>Tonalität</strong>“ gegenüber, „die der harmonischen –<br />

durch Akkorde f<strong>und</strong>ierten – des 17. Jahrh<strong>und</strong>erts vorausging“.<br />

Die rasante Entwicklung von Computertechnologien <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>ene Aufschwung<br />

der Naturwissenschaften seit den 1950er Jahren wirkte sich auch nachhaltig<br />

auf die <strong>Musiktheorie</strong> aus. Schlüsselwörter wie „Berechenbarkeit“ („computability“) <strong>und</strong><br />

„Interdisziplinarität“ sind seither in allen Wissenschaftsbereichen an der Tagesordnung<br />

<strong>und</strong> werden oft sogar als ein „Qualitätsmerkmal“ neuer Theorien angesehen. Vor allem<br />

in den USA werden Forschungsgelder oft nicht zuletzt aufgr<strong>und</strong> der Möglichkeit einer<br />

Software-Implementierung <strong>und</strong> der damit verb<strong>und</strong>enen wirtschaftlichen Aussichten<br />

vergeben.<br />

Auch die Mathematik hatte in der Folge großen Einfluss auf musiktheoretische Untersuchungen.<br />

Die von Milton Babbit 1946 <strong>und</strong> 1961 entwickelte pitch class set theory 187<br />

wurde von Allen Forte seit den 1960er Jahren als Analysewerkzeug für harmonische<br />

Zusammenhänge weiterentwickelt. Forte nutzt Erkenntnisse der mathematischen<br />

Mengenlehre <strong>und</strong> wendet diese auf Tonmengen (pitch sets) an. Eine Gruppe von Tönen,<br />

wie ein Akkord oder auch eine melodische Linie, wird von Forte in einer mathema-<br />

184<br />

Dahlhaus, Untersuchungen, S. 18.<br />

185<br />

Ebda.<br />

186<br />

Ebda.<br />

187<br />

Vgl. Stephan Lewandowski, Pitch Class Set, in: Lexikon der systematischen Musikwissenschaft<br />

(Handbuch der systematischen Musikwissenschaft Bd. 6), Laaber: Laaber 2010, S. 380-382, hier S.<br />

381.<br />

46


tischen Menge zusammengefasst <strong>und</strong> in ihre „Gr<strong>und</strong>form“ (prime form) gebracht, die<br />

anschließend gemäß ihrer Intervallstruktur zur Bezeichnung der Tonmenge dient. Ein<br />

Dreiklang (sowohl Dur als auch Moll) lautet in der prime form beispielsweise „037“<br />

(von Forte auch als „3-11“ bezeichnet). Die Zahlen beziehen sich dabei auf die – von<br />

der Ziffer Null aus gerechneten – Intervalle der kleinen Terz (3) <strong>und</strong> der reinen Quint<br />

(7). Damit erzeugte Forte einerseits einen Quasi-Standard für die Abbildung von Tonmengen<br />

in Computern mittels der Zahlen null bis elf, andererseits verzichtet die set<br />

theory auch auf enharmonische Verwechslungen <strong>und</strong> stellt damit eine allgemeine<br />

Terminologie für die abstrakte Kommunikation von Klängen zur Verfügung. 188 Die<br />

pitch class Analyse ermöglichte insbesondere neue Einblicke in die Klangorganisation<br />

post-tonaler Musik, Forte wendet sie jedoch gelegentlich auch auf Analysen spättonaler<br />

Musik, wie z.B. Werke von Franz Liszt, an. 189<br />

Auch statistische Methoden wurden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer<br />

häufiger für die musikalische Analyse herangezogen. Der Komponist Raymond Wilding-White<br />

geht 1961 sogar so weit in einem Artikel „Tonikalität“ 190 als ein (mathematisches)<br />

Verfahren anzusehen: „it is a measure of bias and represents the relative importance<br />

given to each of the subsets contained in a given set.“ 191 Die Tonika einer <strong>Tonalität</strong><br />

wäre damit der „relativ bedeutendste“ Akkord oder Ton innerhalb einer Menge von<br />

Akkorden oder Tönen.<br />

Seit den letzten 15 Jahren gewann mit der Neo-Riemann-Theorie auch eine Neuinterpretationen<br />

der Funktionstheorie Riemanns zunehmend an Bedeutung. Die Neo-<br />

Riemann-Theorie verbindet zeitgenössische Strömungen wie set theory <strong>und</strong> Berechenbarkeitstheorie<br />

mit musiktheoretischen Erkenntnissen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> steht<br />

dabei auch der Kognitionswissenschaft sowie der Sprachwissenschaft – namentlich<br />

Noam Chomskys Transformationstheorie 192 – nahe.<br />

188<br />

Vgl. Allen Forte, A Theory of Set-Complexes for Music, in: Journal of Music Theory (Bd. 8,2), 1964,<br />

S. 136-139, 141, 140, 142-183.<br />

189<br />

Vgl. Allen Forte, Liszt’s Experimental Idiom and Music of the Early Twentieth Century, in: 19th-<br />

Century Music (Bd. 10,3), 1987, S. 209-228.<br />

190<br />

Der Begriff „Tonikalität“ geht auf Rudolph Reti zurück <strong>und</strong> hebt die Bedeutung des Gr<strong>und</strong>- oder<br />

Zentraltons der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> hervor (vgl. Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 623).<br />

191<br />

Raymond Wilding-White, Tonality and Scale Theory, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,2), 1961, S.<br />

275-286, hier S. 280.<br />

192<br />

Vgl. Noam Chomsky, Syntactic Structures [1957], Berlin, New York: Mouton de Gruyter 2002.<br />

47


Riemanns Anspruch einer allumfassenden Theorie dur-moll-tonaler Harmonik wurde<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert immer wieder stark kritisiert. Harmonische Neuerungen in der<br />

zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, die nach Schönberg eine „schwebende“ oder<br />

„aufgelöste“ <strong>Tonalität</strong> darstellen, lassen sich mit der Riemannschen Funktionstheorie<br />

kaum oder nur unzulänglich beschreiben. Die zunehmende Chromatisierung romantischer<br />

Musik sowie die Verwendung „vagierender“ 193 Akkorde führte dazu, dass harmonische<br />

Folgen nicht mehr nur aus Sicht einer einzelnen Tonika gedacht werden können,<br />

sondern vielmehr in kurzen Abschnitten den Zentralklang wechseln. Außerdem wurden<br />

die traditionellen Harmoniefortschreitung im Quintenzirkel immer mehr mit mediantischen<br />

Harmoniefolgen im Terzenzirkel angereichert. Die Vorstellung eines einzelnen<br />

– die gesamte Harmonik bestimmenden – Zentralklangs scheint in Bezug auf einen<br />

großen Teil spätromantischer Musik demnach nicht mehr haltbar zu sein. Die Neo-<br />

Riemann-Theorie ist ein Versuch dieser Problematik Rechnung zu tragen, indem sie<br />

Akkorde nicht mehr auf einen Zentralklang bezieht, sondern statt dessen die direkten<br />

Beziehungen zwischen aufeinander folgenden Klängen untersucht:<br />

I propose to position triadic harmonies in relation to neither a diatonic system nor a tonal center,<br />

but rather to other triadic harmonies on the basis of the number of pitch-classes that they share,<br />

and more generally on the efficiency of the voice leading between them. 194<br />

Die Ursprünge der Neo-Riemann-Theorie gehen auf David Lewin zurück. In seinem<br />

1982 erschienenen Artikel A Formal Theory of Generalized Functions 195 definiert<br />

Lewin mathematische „Transformationen“ („transformations“) die sich auf „Riemann-<br />

193<br />

Ein Terminus den ebenfalls Schönberg prägte. Unter „vagierenden“ Akkorden versteht Schönberg<br />

Akkorde, die in unterschiedlichen Tonarten unterschiedliche Funktionen ausüben (wie z.B. der übermäßige<br />

Dreiklang, der verminderte Septakkord oder der halbverminderte Septakkord) <strong>und</strong> somit nicht<br />

auf eine einzelne Tonart bezogen werden können (Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 310ff).<br />

Allerdings ist diese Verallgemeinerung durchaus problematisch da zweifelsfrei jeder Mehrklang –<br />

auch der Dur-Dreiklang – in unterschiedlichen Tonarten gedeutet <strong>und</strong> somit als „vagierender“ Akkord<br />

gedacht werden kann. Insofern macht einen „vagierenden Akkord“ weniger der Akkordtyp aus,<br />

sondern viel mehr die Art <strong>und</strong> Weise, in der er verwendet wird. Werner Breig schreibt diesbezüglich:<br />

„Die zur Kategorie der vagierenden Akkorde gehörenden Klänge können zwar so behandelt werden,<br />

daß ihr Tonartbezug eindeutig bleibt; zu ihrer eigentlichen Wirksamkeit als ‚vagierende‘ Akkorde<br />

gelangen sie jedoch dann, wenn ihr gehäuftes Auftreten zur schwebenden <strong>und</strong> aufgehobenen <strong>Tonalität</strong><br />

führt.“ (Werner Breig, Vagierender Akkord, in: Handwörterbuch der musikalischen Terminologie,<br />

Stuttgart: Steiner 1999, S. 1).<br />

194<br />

Ebda., S. 214.<br />

195<br />

David Lewin, A Formal Theory of Generalized Tonal Functions. Journal of Music Theory (Bd. 26,1),<br />

1982, S. 32-60.<br />

48


Systeme“ anwenden lassen. 196 Eine Transformation ist dabei gewissermaßen eine<br />

Funktion, die als Input einen Klang akzeptiert <strong>und</strong> diesen Klang nach bestimmten<br />

Regeln verändert, um so zu einem neuen Klang zu gelangen. In Generalized Musical<br />

Intervals and Transformations 197 (1987) verfeinert Lewin seine Theorie <strong>und</strong> untersucht<br />

Transformationen im Zusammenhang mit konsonanten Dreiklängen. Lewin unterscheidet<br />

zwischen zwei Klassen von Transformationen: der Umkehrung („inversion“) <strong>und</strong><br />

der Verschiebung („shift“). Eine Verschiebung bewirkt, dass ein Dreiklang auf einer<br />

alterierenden Terzenskala (Abbildung 14), vergleichbar mit der Skala in Abbildung 9<br />

von Hauptmann, eine bestimmte Anzahl von Stellen nach links („left shift“) oder rechts<br />

(„right shift“) verschoben wird. 198<br />

b – Db – f – Ab – c – Eb – g – B – d – F – a – C – e – G – h – D – f# – A – c# – E – g# – H – d<br />

Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.<br />

Eine einfache Verschiebung nach links bezeichnet Lewin als MED, da der Zielakkord<br />

zum Ausgangsakkord in einer mediantischen Beziehung steht (z.B. C-Dur → a-Moll),<br />

eine doppelte Verschiebung nach links bezeichnet er entsprechend als DOM, da es sich<br />

um eine dominantische Beziehung handelt (z.B. C-Dur → F-Dur). 199 Als Umkehrungs-<br />

Transformationen definiert Lewin<br />

REL, the operation that takes any Klang into its relative major/minor. […] We can also define<br />

PAR, the operation that takes any Klang into its parallel major/minor. […] We can define Riemann’s<br />

„leading tone exchange“ as an operation LT. 200<br />

Akkordfolgen, welche diesen Transformationen entsprechen stellt Lewin in Form von<br />

zweidimensionalen gerichteten Graphen dar. 201 Abbildung 15 zeigt zwei<br />

Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von Ludwig v.<br />

196<br />

Lewin definierte seine Theorie mit Berücksichtigung möglicher Berechenbarkeit mathematisch. Die<br />

Transformationen sind demnach nicht auf Dur- <strong>und</strong> Moll-Dreiklänge beschränkt, sondern können<br />

abhängig vom zugr<strong>und</strong>e liegenden „Riemann System“ auch auf andere Dreiklänge angewendet<br />

werden (vgl. Lewin, A Formal Theory, S. 26).<br />

197<br />

David Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations [1987], Oxford/New York: Oxford<br />

University 2007.<br />

198<br />

Vgl. Richard Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory: A Survey and a Historical Perspective,<br />

in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 167-180, hier S. 170.<br />

199<br />

Vgl. ebda., S. 170f.<br />

200<br />

Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.<br />

201<br />

Vgl. Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 171.<br />

49


Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. Die Pfeile zeigen dabei nicht den harmonischen<br />

Verlauf an, sondern die Richtung der Transformation. 1993 wendet Lewin seine<br />

Theorie in Analysen auf Luigi Dallapiccolas Simbolo, Karlheinz Stockhausens Klavierstück<br />

Nr. 3 (1952), Anton Weberns op. 10/4 aus Fünf Stücke für Orchester (1911) sowie<br />

Claude Debussys Feux d'artifice (1910-1912) an. 202<br />

Abbildung 15: Zwei Transformations-Graphen der ersten Takte des langsamen Satzes von<br />

Beethovens Sonate op. 57 „Appassionata“. 203<br />

Lewins Theorie wurde von Brian Hyer aufgegriffen <strong>und</strong> weiterentwickelt. Hyer verzichtet<br />

auf die red<strong>und</strong>ante MED-Transformation, da diese im Prinzip der PAR-<br />

Transformation entspricht <strong>und</strong> reinterpretiert die DOM-Transformation als Transposition.<br />

Die Verschiebungs-Transformationen werden von da an in der Neo-Riemann-<br />

Theorie meist fallen gelassen. Eine besondere Leistung Hyers war es die Beziehungen<br />

zwischen den einzelnen Transformationen in einem Graphen darzustellen (Abbildung<br />

16). Er bezieht sich dabei direkt auf die Tabellen von Tonartverwandtschaften bzw.<br />

Tonnetze, wie sie von Musiktheoretikern des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts (z.B. Weber <strong>und</strong><br />

Oettingen, vgl. Abbildung 7 u. Abbildung 10) entworfen wurden. Die drei Koordinaten<br />

des Graphen repräsentieren dabei die drei Intervalle des diatonischen Dreiklangs (reine<br />

Quint auf der Horizontalen, große <strong>und</strong> kleine Terz auf den beiden Diagonalen); jedes<br />

Dreieck des Graphen entspricht einem Dreiklang.<br />

202<br />

Vgl. David Lewin, Musical Form and Transformation. Four Analytic Essays [1993], Oxford: Oxford<br />

University 2007.<br />

203<br />

Vgl. Lewin, Generalized Musical Intervals and Transformations, S. 178.<br />

50


Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer. 204<br />

Richard Cohn untersuchte 1996 die verschiedenen Umkehrungs-Transformationen <strong>und</strong><br />

interessierte sich dabei insbesondere für die Stimmfortschreitungen, die bei derartigen<br />

Transformationen entstehen. Bei jeder Umkehrungs-Transformation bleiben zwei<br />

Akkordtöne liegen, währen ein Akkordton in einem kleinen oder großen Sek<strong>und</strong>schritt<br />

verändert wird. Diese Akkordzusammenhänge stellte Cohn als „maximally smooth<br />

cycles“ auf einem Kreis-Diagramm dar, auf dem sich jeder Akkord durch die chromatische<br />

Veränderung von einem Ton in den nächsten verwandelt, bis zum Schluss der<br />

Ausgangsakkord wieder erreicht wurde (Abbildung 17). Diese Akkordfortschreitung<br />

basiert auf einem Großterzzirkel, einer Fortschreitung, die in spätromantischer Musik<br />

oft eine bedeutende Rolle einnahm. 205 Eine eindeutige Zentrierung auf eine Tonika im<br />

funktionstheoretischen Sinne ist innerhalb des abstrakten Zirkels unmöglich, da jeder<br />

Akkord im Verhältnis zu den anderen prinzipiell die gleiche Bedeutung hat.<br />

204 Cohn, Introduction to Neo-Riemannian Theory, S. 172.<br />

205 Vgl. Richard Cohn, Maximally Smooth Cycles, Hexatonic Systems, and the Analysis of Late-Romantic<br />

Triadic Progressions, in: Music Analysis (Bd. 15,1), 1996, S. 9-40, hier S. 9-17; Cohn, Introduction<br />

to Neo-Riemannian Theory, S. 174f.<br />

51


Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“. 206<br />

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen wandte Cohn unter anderem auf Franz Schuberts<br />

Klaviertrio in Es-Dur op. 100 (D. 929) an. Die Take 586-598 der Coda dieses Werkes<br />

enthalten den in Abbildung 18 dargestellten harmonischen Verlauf, der genau den<br />

„maximally smooth cycles“ entspricht. 207<br />

Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; harmonischer Verlauf der Takte 586-598.<br />

206 Ebda., S. 17.<br />

207 Vgl. zu Cohns Schubert-Analyse: Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for Gazing at<br />

Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (Bd. 22,3), 1999, S. 213-232, hier S. 215.<br />

52


In weiterer Folge wurde die Neo-Riemann-Theorie von vielen Autoren aufgegriffen <strong>und</strong><br />

erweitert, um damit weitere Akkordverbindungen zu untersuchen. David Kopp beschäftigte<br />

sich in seinem Buch Chromatic transformations in nineteenth-century music<br />

beispielsweise mit mediantischen Beziehungen zwischen Dreiklängen. 208 Jack Douthett<br />

<strong>und</strong> Peter Steinbach erweiterten in Korrespondenz mit Richard Cohn die „maximally<br />

smooth cycles“ auf übermäßige Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde. 209 Abbildung 19 zeigt<br />

eine dreidimensionale Darstellung der vier Zyklen, von denen jeweils zwei über einen<br />

gemeinsamen übermäßigen Dreiklang chromatisch verb<strong>und</strong>en sind. Abbildung 20 zeigt<br />

eine vergleichbare Darstellung für Dominantseptakkorde <strong>und</strong> halbverminderte Septakkorde,<br />

die über den verminderten Septakkord chromatisch verb<strong>und</strong>en sind.<br />

Abbildung 19: „Dancing Cubes“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen übermäßigen<br />

Dreiklängen <strong>und</strong> Dur- bzw. Molldreiklängen. 210<br />

208 David Kopp, Chromatic transformations in nineteenth-century music (Cambridge studies in music<br />

theory and analysis 17), Cambridge: Cambridge University Press 2002.<br />

209 Jack Douthett / Peter Steinbach, Parsimonious Graphs: A Study in Parsimony, Contextual Transformations,<br />

and Modes of Limited Transposition, in: Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 241-<br />

263.<br />

210 Ebda., S. 254.<br />

53


Abbildung 20: „Power Towers“; Darstellung der chromatischen Beziehungen zwischen verminderten<br />

Septakkorden mit dem Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem halbverminderten Septakkord.<br />

Die Vorteile der Neo-Riemann-Theorien im Vergleich zu Riemanns Funktionstheorie<br />

lassen sich an einem einfachen Beispiel aufzeigen. Abbildung 21 zeigt eine schlichte<br />

Akkordfolge in C-Dur inklusive einer möglichen funktionstheoretischen Interpretation<br />

(zu diesem Beispiel ist anzumerken, dass es keinerlei Anspruch auf künstlerischen Wert<br />

erhebt, sondern lediglich der Anschaulichkeit dient). Abbildung 22 zeigt dieselbe<br />

Akkordfolge, diesmal im Sinne der Neo-Riemann-Theorie mittels Transformationen<br />

gedeutet. Anhand des dort dargestellten gerichteten Graphen kann man, im Gegensatz<br />

zur Riemannschen Funktionsanalyse, leicht erkennen, dass die Akkordfolge einem<br />

gleich bleibendem Schema folgt. Die Transformationen PAR <strong>und</strong> LT wechseln sich<br />

kontinuierlich ab, bis hin zum B-Dur-Dreiklang in Takt 5. Die Verbindung zwischen B-<br />

Dur <strong>und</strong> G-Dur kann man wiederum als eine LT-Transformation gefolgt von einer<br />

REL-Transformation ansehen, bevor schließlich mit einer DOM-Transformation zum<br />

C-Dur-Dreiklang zurückgekehrt wird.<br />

Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet.<br />

54


A- LT F+<br />

PAR<br />

C+<br />

DOM<br />

G<br />

REL<br />

PAR+REL<br />

[G-]<br />

PAR<br />

D-<br />

LT<br />

B+<br />

PAR<br />

Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet.<br />

1.8 Der Begriff des „Klangzentrums“ bei Erpf <strong>und</strong> Lissa<br />

Hermann Erpf prägte 1927 in seinem Buch Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik<br />

der neueren Musik den Terminus „Klangzentrum“, der zahlreiche Analyseansätze posttonaler<br />

Musik beeinflusste. Er definierte die Technik des Klangzentrums wie folgt:<br />

Die Technik des Klangzentrums hat als wesentliches Merkmal einen nach Intervallzusammenhang,<br />

Lage im Tonraum <strong>und</strong> Farbe bestimmten Klang, der im Zusammenhang nach kurzen Zwischenstrecken<br />

immer wieder auftritt. Dadurch gewinnt dieser Klang, der meist ein dissonanter<br />

Vielklang von besonderem Klangreiz ist, in einem gewissen primitiven Sinn den Charakter eines<br />

klanglichen Zentrums, von dem die Entwicklung ausgeht, <strong>und</strong> in das sie wieder zurückstrebt. Die<br />

Zwischenpartien heben sich kontrastierend ab, dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika<br />

vergleichbar, so daß ein gewisser Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika zustande kommt, in dem<br />

dieses Gebilde noch in einer letzten Beziehung auf die Funktionsharmonik zurückweist. 211<br />

Erpf beschreibt die Technik des Klangzentrums als einen „funktionslosen Satztypen“,<br />

wobei er sich mit dem Begriff „Funktion“ hier auf Riemanns Funktionstheorie im Sinne<br />

der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> bezieht. Als weitere funktionslose Satztypen gibt er die<br />

211 Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 122.<br />

55


„Technik der ostinaten Unterlage“ 212 <strong>und</strong> die „Zwölf-Töne-Musik“ an. 213 Es scheint<br />

offensichtlich, dass Erpf diese Techniken nur deshalb unter einem Satztypus zusammengefasst<br />

hat, da sie seiner Meinung nach eines gemeinsam haben: die resultierende<br />

Harmonik ist aus Sicht der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> nicht oder nur schwer erklärbar;<br />

selbst wenn man einen einzelnen Klang aus Sicht der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> deuten<br />

könnte, würde er im musikalischen Zusammenhang keine Funktion im Sinne Riemanns<br />

einnehmen. Aus dieser Sicht ist es überraschend, dass Erpf die Technik des Klangzentrums<br />

trotzdem mit den Begriffen der Riemannschen Funktionstheorie als einen „gewissen<br />

Wechsel Tonika-Nichttonika-Tonika“ beschreibt <strong>und</strong> damit impliziert, dass das<br />

Klangzentrum dieser Technik dieselbe musikalische Funktion besäße wie der Zentralklang<br />

der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong>, die Tonika. Auch die Ähnlichkeit des Begriffs mit den<br />

oben erwähnten Synonymen für die Tonika – „Konzentrationston“, „Gravitationszentrum“,<br />

„Kraftzentrum“ <strong>und</strong> „Brennpunkt“ – ist sehr auffällig. Erpfs Definition der<br />

<strong>Klangzentren</strong>-Technik erweckt den Anschein, als hätte sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> in<br />

manchen Werken der Atonalität nicht zur Gänze „aufgelöst“ gehabt; statt dessen könnte<br />

das definierende Moment – der Zentralklang – im Zuge der harmonischen Neuerungen<br />

lediglich neue Formen angenommen haben.<br />

Durch den Vergleich mit einer Tonika macht Erpf gleichzeitig auch eine Aussage über<br />

die hörpsychologischen Eigenschaften des Klangzentrums. Das Klangzentrum müsste in<br />

diesem Sinne ein Klang sein, der im musikalischen Zusammenhang keiner Auflösung<br />

mehr bedarf, obwohl es sich dabei laut Erpf meist um einen dissonanten Vielklang<br />

handelt. Auch alle akkordfremden Töne beziehen sich entsprechend auf dieses Klangzentrum<br />

<strong>und</strong> sind aus dessen Sicht zu deuten. Erpf spricht in diesem Zusammenhang<br />

von „Nebennoten“ <strong>und</strong> „Vorhalten“. 214 Auch die restliche Harmonik bezieht sich laut<br />

Erpf direkt auf das Klangzentrum, wie an dem Vergleich von kontrastierenden Zwischenpartien<br />

mit „dem dominantischen Heraustreten aus der Tonika“ deutlich wird.<br />

212 Unter der „Technik der ostinaten Unterlage“ versteht Erpf mehrstimmige ostinierende Figuren im<br />

Bass, die eigenständige harmonische Folgen ausbilden. Die Melodiestimmen bewegen sich zum Teil<br />

unabhängig von der Harmonik der ostinaten Unterlage <strong>und</strong> sind insofern – im Sinne der Dur-Moll-<br />

<strong>Tonalität</strong> – nicht funktional zu deuten (vgl. ebda., S. 122f, 194-198).<br />

213 Vgl. ebda.<br />

214 Vgl. z.B. Erpfs Analyse von Schönbergs Klavierstück op. 19/6 (ebda., S. 198).<br />

56


Als Beispiel für die Technik des Klangzentrums, diskutiert Erpf Schönbergs Klavierstück<br />

op. 19/6 (1911). 215 In diesem Werk kann der in Abbildung 23 dargestellte Akkord<br />

als Zentralklang interpretiert werden. Seine sehr stabile Klangwirkung erhält der<br />

Akkord unter anderem durch seine weite Lage <strong>und</strong> die Quartenschichtung der Außenstimmen<br />

(g–c 1 –f 1 sowie fis 2 –h 2 ). Dur-moll-tonale Bezüge werden durch den gedrängten<br />

Tonvorrat (G–A–H–C–F–Fis) sowie durch die interne Intervallstruktur (2 große Nonen:<br />

g–a 1 , a 1 –h 2 ; eine kleine None: f 1 –fis 2 ; zwei Tritoni: c 1 –fis 2 , f 1 –h 2 ) weitgehend ausgeschlossen.<br />

Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6.<br />

In dem nur neun Takte dauernden Werk klingt dieser Klang in den ersten drei Takten<br />

sowie im letzten Takt (Abbildung 24). Der Klang in Takt 5-6 könnte als eine Variation<br />

des Klanges in einer Transposition des Tonvorrats nach C gedeutet werden (C–D–E–F–<br />

B–[H]). Zugleich stellt Takt fünf, durch das typische Aussetzen eines Dominantseptakkords<br />

auf E im zweiten System, auch recht eindeutige dur-moll-tonale Beziehungen<br />

her. Dies könnte der Gr<strong>und</strong> für die beiden eigentlich akkordfremden Töne Gis <strong>und</strong> Fis<br />

sein, die den Klang hier von einem vorwiegend aus Quarten zusammengesetzten Klang<br />

in einen vorwiegend ganztönigen Klang verwandeln (C–D–E–[F]–Fis–Gis–B). Als<br />

Verbindung dieser beiden Klänge erweitert Schönberg auf der zweiten Viertel von Takt<br />

Fünf die untere Quartenstruktur des Klangzentrums kurzzeitig zu einem viertönigen<br />

Quartenklang (g–c 1 –f 1 –b 1 ). Die Takte sieben <strong>und</strong> acht lassen sich nur schwer aus Sicht<br />

des Klangzentrums deuten <strong>und</strong> bilden einen Kontrast. Auffällig ist, dass die Melodie in<br />

Takt sieben die letzten beiden Töne Cis <strong>und</strong> Es der chromatischen Skala einführt <strong>und</strong><br />

damit den Tonvorrat vom achten Takt vorbereitet. Der erste Klang in Takt acht hat als<br />

strukturbildendes Element wiederum den dreistimmigen Quartenklang im unteren<br />

System. Dieses Klangelement wandert damit von den Unterstimmen (T. 1-5) in die<br />

Oberstimmen (T. 5-6) <strong>und</strong> wieder zurück (T. 8 sowie T. 9). So ist der Zentralklang nicht<br />

nur ein harmonischer Ruhepunkt, von dem die Bewegung ausgeht <strong>und</strong> in die sie wieder<br />

215 Vgl. Ebda.<br />

57


zurückkehrt, sondern dient auch als strukturbildendes Vorbild für die restlichen Klänge<br />

des Werkes.<br />

Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6.<br />

Anton Weberns erstes Lied der 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4<br />

(Abbildung 25) ist ein weiteres Beispiel für die Technik des Klangzentrums. Die<br />

Akkordstruktur des Klangzentrums im ersten Takt dient auch hier den übrigen Harmonien<br />

als Vorbild. Besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang die Quartenstrukturen<br />

(inclusive übermäßiger Quart) aus denen sich die Klänge meist aufbauen. In Takt<br />

5 sowie zum Schluss des Werkes kehrt die Harmonik wieder zum Klangzentrum zu-<br />

rück. 216<br />

216 Weitere Werke Weberns, in denen die Technik des Klangzentrums angewendet wurde sind laut<br />

Rudolf Stephan unter anderem die Lieder op. 3/4 <strong>und</strong> op. 4/4. Albern Bergs Fünf Orchesterlieder<br />

58


Abbildung 25: Anton Webern, 5 Lieder nach Gedichten von Stefan George op. 4/1, Takte 1-5.<br />

Eine etwas andere Variante der <strong>Klangzentren</strong>-Technik findet sich in Schönbergs<br />

Orchesterstück Farben op. 16/3. Neben der Bezeichnung „Farben“ gab Schönberg dem<br />

1909 komponierten Stück unter anderem auch die Namen „Akkordfärbungen“ <strong>und</strong> „Der<br />

wechselnde Akkord“, welche die zugr<strong>und</strong>e liegende Kompositionstechnik hervorheben.<br />

217 Das Klangzentrum des Anfangsakkords wird im Verlauf des Stückes sukzessive<br />

in kleinen Schritten verändert <strong>und</strong> variiert. Abbildung 26 zeigt den harmonischen<br />

Verlauf über die ersten neun Takte. Die Stimmen folgen dabei einer einfachen Logik:<br />

Jede wird einmal um einen Halbton erhöht <strong>und</strong> anschließen – aus Sicht des Zentralklangs<br />

– um einen Halbton erniedrigt. In Takt neun ergibt sich so wiederum der ursprüngliche<br />

Zentralklang um einen Halbton nach unten transponiert. In seiner ursprünglichen<br />

Transposition wird das Klangzentrum in Takt 30 <strong>und</strong> zum Schluss des Werkes<br />

(T. 43-44) wieder erreicht, außerdem erscheinen noch weitere Transpositionen während<br />

nach Ansichtskarten von Peter Altenberg op. 4 bezeichnet Stephan als Schlüsselwerk dieser Technik<br />

(vgl. Rudolf Stephan, Neue Musik. Versuch einer kritischen Einführung, Göttingen: Vandenhoeck &<br />

Ruprecht 1958, S. 36-39).<br />

217 Vgl. Charles Burkhart, Schoenberg’s Farben: An Analysis of Op. 16, No. 3, in: Perspectives of New<br />

Music (Bd. 12/1), 1973-1974, S. 141-172, hier S. 141f.<br />

59


des Stücks. 218 Damit durchläuft das Klangzentrum dieses Werks gewissermaßen eine<br />

kontinuierliche Klangtransformation 219 , die zum Schluss wieder zu ihrem Ausgangspunkt<br />

zurückkehrt. Neben der Zentrierung auf einen Zentralklang ist in Farben<br />

demnach auch ein harmonischer Prozess vorhanden, der den „maximally smooth<br />

cycles“ von Richard Cohn (vgl. S. 51) sehr ähnlich ist. Im Sinne der Transformationstheorie<br />

könnte man auch argumentieren, dass der Klang in den ersten neun Takten der<br />

Reihe nach alle denkbaren Umkehrungs-Transformationen erfährt, die jeden Ton um<br />

eine kleine Sek<strong>und</strong>e nach oben bzw. nach unten transformieren. Eine sehr ähnliche<br />

Transformationstechnik konnte auch in manchen Klavierwerken Franz Liszts, wie<br />

beispielsweise R.W. Venezia (1883) nachgewiesen werden. Dort verwandelt sich der<br />

Zentralklang des übermäßigen Dreiklangs auf Cis in den ersten 24 Takten über b-Moll,<br />

D-Übermäßig <strong>und</strong> h-Moll in einen übermäßigen Dreiklang auf Dis. 220<br />

Abbildung 26: Harmonischer Verlauf der Takte 1-9 von Schönbergs Orchesterstück Farben op.<br />

16/3.<br />

Zofja Lissa übernimmt in den 1930er Jahren Erpfs Begriff des Klangzentrums <strong>und</strong><br />

wendet ihn auf die Musik Alexander Skrjabins an. 221 Insbesondere verwendet sie den<br />

Terminus um Skrjabins bekannten Prometheus-Akkord (Abbildung 27; auch „mystischer<br />

Akkord“ oder „synthetischer Akkord“) zu deuten, der in vielen Werken Skrjabins<br />

zweiter Schaffensperiode den Ausgangspunkt aller harmonischen <strong>und</strong> melodischen<br />

Ereignisse bildet:<br />

218<br />

Vgl. ebda. S. 143.<br />

219<br />

Christian Utz <strong>und</strong> Dieter Kleinrath wenden diesen Begriff auch auf Klangereignisse neuerer Musik an<br />

wie z.B. Iannis Xenakis’ Metastasis für Orchester (1953), in dem sich in den ersten 34 Takten ein<br />

einzelner Ton (G) durch Glissandieren in den geteilten Streichern in einen Cluster verwandelt. Das<br />

sukzessive Verändern eines Klangzentrums kann durchaus als eine Vorform metamorphosenartiger<br />

Klangprozesse angesehen werden, die in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder eine zentrale<br />

Rolle eingenommen haben (vgl. Christian Utz, Dieter Kleinrath, Klangorganisation. Zur Systematik<br />

<strong>und</strong> Analyse einer Morphologie <strong>und</strong> Syntax post-tonaler Kunstmusik, in: <strong>Musiktheorie</strong> <strong>und</strong> Improvisation.<br />

Bericht des IX. Kongresses der Gesellschaft für <strong>Musiktheorie</strong>, Mainz: Schott, in Vorbereitung.<br />

220<br />

Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 42-45.<br />

221<br />

Zofja Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, in: Acta Musicologica (Bd. 7/1), 1935, S.<br />

15-21.<br />

60


Auch die Melodik des Stückes [arbeitet] ständig <strong>und</strong> ausschließlich mit dem durch das Klangzentrum<br />

repräsentierten Tonmaterial. Das Klangzentrum bildet also die allgemeine Basis der<br />

Komposition, denn alle konstruktiven Elemente, sowohl der Harmonik, wie auch der Melodik<br />

lassen sich von ihm ableiten, auf ihn zurückführen. Ihr Tonmaterial <strong>und</strong> ihre Form ergibt sich aus<br />

den Bestandtönen <strong>und</strong> der Form des Klangzentrums. 222<br />

Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A.<br />

Skrjabins Klangzentrum vereint Skala <strong>und</strong> Harmonik zu einem geschlossenen Ganzen.<br />

Dieses Verfahren erkennt man schon an den ersten Takten (Abbildung 28) des Prometheus<br />

<strong>und</strong> sie wird das ganze Stück hindurch beibehalten. Harmonische Vielfalt erreicht<br />

Skrjabin weniger durch das Ändern des Gr<strong>und</strong>akkords, sondern hauptsächlich durch<br />

Umkehrungen <strong>und</strong> Transpositionen desselben sowie durch Herausfiltern oder Hervorheben<br />

von Farbschattierungen anhand der Instrumentation beziehungsweise durch das<br />

Weglassen einzelner Akkordtöne. Die wenigen Ausnahmen, in denen akkordfremde<br />

Töne im Prometheus erklingen (wie beispielsweise das B der Melodie, T. 12), sind<br />

durchwegs als Nebennoten beziehungsweise Akkordfarben anzusehen. Diese Tendenz –<br />

Skala <strong>und</strong> Harmonik aneinander anzugleichen – kann man auch schon in den späten<br />

Klavierwerken Liszts beobachten, in denen zum Beispiel die so genannte „Zigeunerleiter“<br />

<strong>und</strong> die Ganztonleiter eine wesentliche Rolle einnehmen. 223 Schönberg wendet in<br />

seiner ersten Kammersymphonie op. 9 ähnliche Techniken auch auf den Quartenakkord<br />

an, der in letzter Konsequenz der chromatischen Skala zugr<strong>und</strong>e liegt.<br />

Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. 224<br />

222<br />

Ebda., S. 18.<br />

223<br />

Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 19-38.<br />

224<br />

Vgl. Gottfried Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, München/Salzburg: Katzbichler, S.<br />

50.<br />

61


Abbildung 29a zeigt die nach C transponierte Skala des Prometheus-Akkords. Skrjabins<br />

Aufzeichnungen legen jedoch nahe, dass die ursprüngliche Skala die in Abbildung 29b<br />

dargestellte mixolydische Skala mit erhöhter Quart war. Er notierte in einer Skizze den<br />

zusätzlichen Ton G dieser Skala, der zwar im Prometheus eine unbedeutende Rolle<br />

einnimmt, jedoch im zur selben Zeit entstandenen Poème op. 59 sowie in späteren<br />

Werken von Bedeutung ist. 225 Zsolt Gárdonyi bezeichnet diese Skala, gemeinsam mit<br />

anderen Theoretikern der Bartók-Forschung, auch als „akustische Skala“ 226 <strong>und</strong> die von<br />

ihr ausgehende <strong>Tonalität</strong> als „akustische <strong>Tonalität</strong>“. Dabei weist Gárdonyi auf Béla<br />

Bartóks häufige Verwendung dieser Skala hin wie beispielsweise in der Sonate für zwei<br />

Klaviere <strong>und</strong> Schlagzeug oder in Melodie mit Begleitung im zweiten Heft des Mikro-<br />

kosmos. 227<br />

Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords, b) die mixolydische Skala mit erhöhter<br />

Quart.<br />

In der erwähnten Skizze bildet Skrjabin auf jedem Ton der Skala siebenstimmige<br />

Akkorde in Quarten- <strong>und</strong> Terzenschichtung (Abbildung 30). Das Auflisten dieser<br />

Klänge zeigt, wie sehr die dur-moll-tonalen Bezüge in Skrjabins Denkweise noch<br />

vorhanden waren. Zofja Lissa weist auch darauf hin, dass die Wurzeln des Prometheus-<br />

Akkords in der Dominante der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> liegen. 228 So gesehen könnte der<br />

Prometheus-Akkord auf C beispielsweise als eine Alteration der Dominanten C 7 , Fis 7<br />

oder D 7 angesehen werden, von denen er jeweils Gr<strong>und</strong>ton, Terz <strong>und</strong> kleine Sept enthält<br />

(Abbildung 31). Von diesen drei Klängen wird vor allem die Variante auf C (ein Domi-<br />

225 Vgl. ebda., S. 63f.<br />

226 Die Bezeichnung „akustische Skala“ lehnt sich an die Teiltonreihe an, aus der die Skala einen<br />

Ausschnitt vom 8. bis zum 14. Teilton bildet.<br />

227 Vgl. Zsolt Gárdonyi, Akustische <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> Distanzharmonik im Tonsatzunterricht, in: Harmonik<br />

im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert, Wien: Wiener Universitätsverlag 1993, S.46-61, hier S. 46f; sowie Zsolt<br />

Gárdonyi, Paralipomena zum Thema Liszt <strong>und</strong> Skrjabin, in: Virtuosität <strong>und</strong> Avandgarde, Untersuchungen<br />

zum Klavierwerk Franz Liszts, Mainz 1988, S. 11-14.<br />

228 Der Prometheus-Akkord kann aus einem übermäßigen Terzquartakkord mit hinzugefügter None <strong>und</strong><br />

Sexte abgeleitet werden. Die Dominante mit Sext-Vorlhalt bezeichnet Lissa auch als „Chopin-<br />

Akkord“ <strong>und</strong> weist damit auf eine wichtige Inspirationsquelle Skrjabins hin (vgl. Jörg-Peter Mittmann,<br />

Musikalische Selbstauslegung - eine sichere Quelle histori-scher <strong>Musiktheorie</strong>?, in: <strong>Musiktheorie</strong><br />

als interdisziplinäres Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung).<br />

Vgl. auch Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 49 sowie Zofja Lissa, Zur<br />

Genesis des Prometheischen Akkords bei Skrjabin, in: Musik des Ostens: Sammelbände für historische<br />

<strong>und</strong> vergleichende Forschung (Ostmittel-, Ost- <strong>und</strong> Südosteuropa) (Bd. 2), 1963.<br />

62


nantseptakkord mit hinzugefügter Sext, None <strong>und</strong> übermäßiger Quarte) – die Gr<strong>und</strong>stellung<br />

des Prometheus-Akkords – auch in der Jazzmusik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts häufig als<br />

tonikaler Klang eingesetzt.<br />

Abbildung 30: Akkorde in Quarten- (a) <strong>und</strong> Terzschichtung (b) über der mixolydischen Skala mit<br />

erhöhter Quart.<br />

Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords.<br />

Lissa weist in ihrem Artikel ausdrücklich darauf hin, dass der Begriff „Klangzentrum“<br />

bei Erpf eine andere Bedeutung hätte als bei ihr. 229 Aus Sicht der Erweiterung des<br />

Begriffs auf die Kompositionstechniken Skrjabins – Erpf hat Skrjabin in seinem Buch<br />

selbst nicht behandelt – trifft dies sicherlich zu, dennoch haben die beiden Definitionen<br />

viele Gemeinsamkeiten. Der wesentliche Unterschied zu Erpfs Auffassung des Klangzentrums<br />

ist, dass Lissa, entsprechend der Kompositionstechnik Skrjabins, Klangzentrum<br />

<strong>und</strong> Skala als eine gemeinsame Einheit auffasst. Dies allein widerspricht Erpfs<br />

Begriff noch nicht, jedoch geht Lissa in ihrer Argumentation so weit, dass sie behauptet,<br />

die Dodekaphonie bilde in diesem Sinne ihr eigenes Klangzentrum aus <strong>und</strong> könne<br />

229 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 18.<br />

63


deshalb – dem „natürlichen Evolutionsgesetz“ 230 folgend – als Weiterentwicklung <strong>und</strong><br />

Konsequenz der <strong>Klangzentren</strong>-Technik Skrjabins bewertet werden: 231<br />

Die Gr<strong>und</strong>gestalt bildet [in der Dodekaphonie] die Basis für die Konstruktion der ganzen<br />

Komposition, sowohl ihrer melodischen Motive <strong>und</strong> Themen, als auch ihrer Zusammenklänge.<br />

Sie ist […] ihr Beziehungszentrum analog dem Tonika-Akkord in der tonalen Harmonik. 232 […]<br />

Beide Systeme [die <strong>Klangzentren</strong>harmonik Skrjabins <strong>und</strong> die Dodekaphonie] haben also als gemeinsame<br />

Eigenschaft das Vorhandensein eines bestimmten Zentrums, welches das ganze Tonmaterial<br />

umfaßt <strong>und</strong> seine eigene spezifische Struktur besitzt. 233<br />

Lissa stellt dabei die <strong>Klangzentren</strong> der Dodekaphonie <strong>und</strong> der <strong>Klangzentren</strong>-Technik<br />

Skrjabins der dur-moll-tonalen Tonika gegenüber. Als Unterschiede zwischen der<br />

tonalen Harmonik <strong>und</strong> diesen beiden Techniken führt sie die folgenden an:<br />

a) die tonale Harmonik stützt sich auf die Tonika, als Beziehungszentrum, welches in seiner<br />

Struktur (der Terzenaufbau) für alle tonalen Kompositionen gleich blieb <strong>und</strong> welches nur einen<br />

Teil des Tonmaterials zum Ausdruck brachte; die Klangzentrum- <strong>und</strong> Zwölftontechnik nehmen<br />

aber als Beziehungszentrum eine bestimmte Form, eine vertikale oder horizontale Gestaltung des<br />

ganzen Tonmaterials an […]; b) […] Die tonale Harmonik scheidet einzelne Komplexe von<br />

Tonartelementen aus […]. Die beiden Systeme jedoch, […] beziehen alle Teilstrukturen der<br />

musikalischen Konstruktion auf das Zentrum als Urform. 234<br />

Die Vorstellung, dass die <strong>Klangzentren</strong>harmonik Skrjabins eine Vorform der Zwölftontechnik<br />

sei, wurde von mehreren Autoren in weiterer Folge aufgegriffen. Elmar Budde<br />

schrieb 1971, dass „die Technik des Klangzentrums […] allgemein als Vorform der<br />

Zwölftontechnik beschrieben“ 235 wird <strong>und</strong> bezieht sich dabei direkt auf Lissa.<br />

Allerdings wurde diese Sichtweise auch kritisiert; Gottfried Eberle meint, dass Lissa<br />

„die Unterschiede [zwischen Skrjabins <strong>Klangzentren</strong>harmonik <strong>und</strong> der Dodekaphonie]<br />

[…] zwar zum Teil durchaus sieht, aber unterbewertet, vielleicht aus der Genugtuung<br />

heraus, eine Vorform der Dodekaphonie entdeckt zu haben.“ 236<br />

230<br />

Ebda., S. 16.<br />

231<br />

Vgl. ebda., S. 15-20.<br />

232<br />

Ebda., S. 17.<br />

233<br />

Ebda., S. 20.<br />

234<br />

Ebda., S. 20f.<br />

235<br />

Elmar Budde, Anton Weberns Lieder op. 3. Untersuchungen zur frühen Atonalität bei Webern,<br />

Wiesbaden: Steiner 1971, S. 68.<br />

236<br />

Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 52.<br />

64


Lissas Argumentation hätte Erpf wahrscheinlich widersprochen, da er Zwölftontechnik<br />

<strong>und</strong> <strong>Klangzentren</strong>-Technik zwar unter dem Kapitel der funktionslosen Satztypen zusammengefasst<br />

hat, jedoch keineswegs eine direkte Beziehung zwischen diesen beiden<br />

Techniken herstellte. Auf einen anderen vermeintlichen Unterschied der Begriffsdefinitionen<br />

von Erpf <strong>und</strong> Lissa geht Gottfried Eberle in seinen Studien zur Harmonik Alexander<br />

Skrjabins 1978 ausführlich ein:<br />

Erpfs „Klangzentrum“ oder – um gleich die gemeinte Sache anzusprechen – der Quartenakkord<br />

in Schönbergs Klavierstück [op. 19/6], tritt immer wieder „nach kurzen Zwischenstrecken“ auf,<br />

die sich „kontrastierend abheben“. Skrjabins „Klangzentrum“ jedoch werden keine kontrastierenden<br />

Zwischenpartien gegenübergestellt, es bestimmt in seinen 12 Transpositionsstufen das<br />

Werk ganz ausschließlich. Es ist nicht ein „klangliches Zentrum, von dem die Entwicklung ausgeht<br />

<strong>und</strong> in das sie wieder zurückstrebt“, sondern es repräsentiert das Ganze, das im Gr<strong>und</strong>e<br />

keine harmonische Fortentwicklung kennt […]. 237<br />

Eberle scheint jedoch Erpfs Begriff des Klangzentrums zu verkennen. Erpf gibt zu<br />

keinem Zeitpunkt das Vorhandensein kontrastierender Zwischenstrecken als notwendige<br />

Bedingung für die Technik des Klangzentrums an. Im Gegenteil verwendet er<br />

den Begriff Klangzentrum auch im Zusammenhang mit der „Technik der ostinaten<br />

Unterlage“ wie folgt:<br />

Schrumpft die Klangfolge der ostinaten Unterlage auf einen einzigen – etwa figurierten – Klang<br />

zusammen, so geht sie in ein Klangzentrum über; dehnt sich der Klang des Klangzentrums zu<br />

einer Klangfolge aus, so kann er, bei Wiederholung in regelmäßigen Abständen, zu einer ostinaten<br />

Unterlage werden. 238<br />

Als Beispiel für eine Mischform aus ostinater Unterlage <strong>und</strong> Klangzentrum nennt Erpf<br />

Igor Strawinkys Trois pièces pour quatuor à cordes. Über die Takte 1-15 dieses Werkes<br />

schreibt Erpf:<br />

Der ganze Komplex, der übrigens den ganzen Satzablauf beherrscht, setzt sich also aus mehreren<br />

unregelmäßig verb<strong>und</strong>enen ostinaten Bewegungen zusammen, die zugleich die Figuration eines<br />

237 Ebda., S. 49.<br />

238 Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 198.<br />

65


festgehaltenen Klangzentrums bilden. […] Der Klang verzichtet ebenfalls auf Entwicklung von<br />

beziehungsmäßiger Struktur, beharrt vielmehr auf einem Punkt. 239<br />

Daraus geht zweifelsfrei hervor, dass Erpf auch statische <strong>Klangzentren</strong> in seiner Definition<br />

mit einschließt. Das Klangzentrum einer Komposition definiert sich nicht über<br />

möglicherweise vorhandene kontrastierende Zwischenstrecken; umgekehrt werden diese<br />

jedoch durch das Vorhandensein eines Klangzentrums ermöglicht. Im Allgemeinen lag<br />

Erpf wohl wenig daran, mit seinen Begriffen eine exakte Systematik zu beschreiben.<br />

Vielmehr versucht er die Zusammenhänge von unterschiedlichen Kompositionstechniken<br />

<strong>und</strong> Satzmodellen anhand konkreter Beispiele, die aus seiner Sicht ähnlichen<br />

Prinzipien folgen, aufzuzeigen, weshalb er wohl auch die Technik des Klangzentrums<br />

mit dem Begriff der dur-moll-tonalen Tonika in Beziehung gebracht hat. Erpf weist<br />

sogar ausdrücklich darauf hin, „daß die [Satz-]Typen in reiner, deutlicher Form selten<br />

auf längeren Strecken herrschen. Sie wechseln vielmehr häufig untereinander, durchdringen<br />

sich gegenseitig <strong>und</strong> sind fast immer durchsetzt von Resten funktioneller<br />

Beziehung.“ 240 So gesehen schließen sich die <strong>Klangzentren</strong>begriffe bei Erpf <strong>und</strong> Lissa<br />

keineswegs gänzlich aus. Jedenfalls beziehen sich beide auf vergleichbare Kompositionstechniken,<br />

die in den Denkmustern der Komponisten um 1900 fest verankert waren<br />

<strong>und</strong> auf ähnliche Wurzeln hindeuten.<br />

Auch Eberles Behauptung im erwähnten Zitat, dass Skrjabins Klangzentrum „nicht ein<br />

‚klangliches Zentrum [ist], von dem die Entwicklung ausgeht <strong>und</strong> in das sie wieder<br />

zurückstrebt‘“ ist sehr fragwürdig. Er bezieht sich dabei direkt auf folgende Aussage<br />

Lissas: 241<br />

Die zwölf möglichen Transpositionen des Gr<strong>und</strong>akkordes bilden nichts an sich Selbstständiges,<br />

das sich dem Klangzentrum in seiner ursprünglichen Gestalt entgegenstellen würde, es sind bloß<br />

Schattierungen seiner Tonhöhe. 242<br />

Wie soll diese Aussage verstanden werden? Ist damit gesagt, dass die Transposition des<br />

Prometheus-Akkords auf eine andere Stufe der chromatischen Skala keinerlei klangliche<br />

Auswirkung hat, die unterschiedlichen Stufen also alle in derselben tautologischen<br />

239 Ebda., 201f.<br />

240 Ebda., S. 202.<br />

241 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 65.<br />

242 Lissa, Geschichtliche Vorform der Zwölftontechnik, S. 19.<br />

66


Beziehung zum Klangzentrum stehen? Wohl kaum, denn dann wäre eine Transposition<br />

des Prometheus-Akkords an sich schon überflüssig <strong>und</strong> würde der Musik keinerlei<br />

zusätzlichen Gehalt hinzufügen, eine Behauptung, der Skrjabin wohl vehement widersprochen<br />

hätte. Auch die einzelnen Umkehrungen des Klangzentrums sind in ihrem<br />

Klangcharakter sehr unterschiedlich <strong>und</strong> werden oft weniger als Umkehrungen eines<br />

einzigen Klanges wahrgenommen, sondern vielmehr als Klänge mit durchaus eigenständigen<br />

Klangqualitäten.<br />

Fest steht jedenfalls, dass Skrjabin nicht nur zwischen den unterschiedlichen Transpositionen<br />

des Prometheus-Akkords unterschieden hat, sondern auch zwischen den einzelnen<br />

Umkehrungen des Akkordes. So legt er beispielsweise Wert darauf, dass seine<br />

Stücke meist mit der Gr<strong>und</strong>form des Klangzentrums beginnen <strong>und</strong> enden. Skrjabin<br />

bezeichnete anfangs Werke sogar noch nach dem Gr<strong>und</strong>ton des zugr<strong>und</strong>e liegenden<br />

Klangzentrums im Sinne einer Tonart. 243 Außerdem folgte Skrjabin Modulationsschemen<br />

die vorgaben wie die Transpositionen der <strong>Klangzentren</strong> aufeinander folgen. 244<br />

Der Wechsel von einer Transposition zur anderen ist dabei keineswegs willkürlich,<br />

sondern folgt ästhetischen <strong>und</strong> formalen Prinzipien, wie beispielsweise der Anzahl der<br />

gemeinsamen Töne zwischen zwei aufeinander folgenden Klängen. 245 In Skrjabins<br />

<strong>Klangzentren</strong>harmonik ist also – zumindest aus kompositionstechnischer Sicht – ganz<br />

offensichtlich eine vom Klangzentrum ausgehende <strong>und</strong> wieder zurückkehrende<br />

Akkordbewegung vorhanden.<br />

243 Vgl. Eberle, Studien zur Harmonik Alexander Skrjabins, S. 61f.<br />

244 Vgl. ebda. S. 64.<br />

245 Vgl. ebda. S. 66.<br />

67


1.9 Schlussfolgerungen<br />

Die Bedeutung des Begriffs <strong>Tonalität</strong> war im Laufe der Musikgeschichte einem ständigen<br />

Wandel unterzogen <strong>und</strong> es hat fast den Anschein, als ob man sich aus der Vielfalt<br />

der möglichen Bedeutungen jeweils jener bedienen könne, die der gerade gestellten<br />

Frage die treffende Antwort liefert. Selbst bei einzelnen Autoren, wie im Falle Schönbergs,<br />

ist die Verwendung des Begriffs nicht unbedingt eindeutig. In Anbetracht der<br />

unterschiedlichen Fragestellungen, die heute in der <strong>Musiktheorie</strong> verfolgt werden <strong>und</strong><br />

des unterschiedlichen Erkenntnisgewinnes, der daraus resultiert, scheint es wichtiger<br />

denn je einen exakten <strong>Tonalität</strong>sbegriff zu verwenden, der klar einschränkt, worüber<br />

man gerade spricht. Aussagen etwa über „die <strong>Tonalität</strong> der Zwölftonmusik“ sind bestenfalls<br />

mehrdeutig <strong>und</strong> können kaum falsifiziert werden, wenn der Begriff <strong>Tonalität</strong> nicht<br />

zuvor in einen eindeutigen Zusammenhang gebracht wurde. Wenn man den Begriff<br />

<strong>Tonalität</strong> zum Beispiel als die Beziehungen zwischen den Tönen einer Skala versteht,<br />

ist etwa die Dodekaphonie, die „Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen<br />

Tönen“, durchaus als ein tonaler Typ im Sinne Fétis’ zu verstehen. 246 Unter diesem<br />

Gesichtspunkt wäre auch die Aussage, dass sich die <strong>Tonalität</strong> mit dem Beginn der<br />

Atonalität aufgelöst hat ebenso irreführend, wie der Begriff „Atonalität“ selbst. Dass der<br />

unreflektierte Begriffsgebrauch zu Missverständnissen <strong>und</strong> einer dem Begriff unangemessenen<br />

Beliebigkeit führt, ist absehbar. Vielleicht wäre es der Sache heute sogar<br />

dienlicher, wenn man versuchte, <strong>Tonalität</strong> über das zu definieren, was sie, ihren zahlreichen<br />

Bedeutungsfacetten nach, nicht ist. Dann müsste es heißen:<br />

<strong>Tonalität</strong> ist die Antithese eines imaginären Begriffs (ich verwende hier bewusst<br />

nicht die Bezeichnung „Atonalität“), der sich auf Musik bezieht, bei der keinerlei<br />

Beziehungen zwischen den verwendeten Tönen besteht, weder im vertikalen<br />

Zusammenklang, noch im horizontalen Aufeinanderfolgen. Insbesondere ist<br />

diese Musik auch dadurch gekennzeichnet, dass keinerlei tonaler oder harmonischer<br />

Bezugspunkt als Zentralklang eine besondere Rolle einnimmt.<br />

Spätestens hier muss man allerdings fragen, was es überhaupt bedeutet, wenn sich Töne<br />

oder Akkorde „aufeinander beziehen“. So einfach diese Frage im ersten Moment auch<br />

scheint, so schwierig ist es, sie im konkreten Fall zu beantworten. Betrachtet man zum<br />

246 Vgl. Dahlhaus, <strong>Tonalität</strong>, S. 624.<br />

68


Beispiel die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im Sinne der Naturklangtheorie, so sind zumindest<br />

zwei Typen von Tonbeziehungen relevant. Einerseits die Beziehung der Töne untereinander<br />

aufgr<strong>und</strong> des Konsonanzprinzips, andererseits die Beziehung der Töne auf<br />

einen gemeinsamen Gr<strong>und</strong>ton oder -akkord, die Tonika. Wenn man den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

dagegen weiter fasst, ist die Voraussetzung ausreichend, dass die Töne des<br />

verwendeten Tonsystems in irgendeiner beliebigen Beziehung zu einander stehen. Unter<br />

diesem Gesichtspunkt ließe sich der Begriff wie gesagt durchaus auch auf Zwölftonmusik<br />

anwenden. Aber was ist das Kriterium dafür, dass sich die Töne einer Komposition<br />

auf einander beziehen? Nehmen wir einmal an, der Komponist selbst wäre dafür<br />

verantwortlich, den Tönen innerhalb seiner Komposition einen Bezugsrahmen zu geben.<br />

Dann wäre eine rein aleatorische Komposition eindeutig als Musik zu bezeichnen, die<br />

im Rezipienten kein „<strong>Tonalität</strong>sgefühl“ hervorruft, da die sich ergebenden Klänge als<br />

Zufallsprodukt des Kompositionsprozesses zu bewerten wären. Eine solche Aussage<br />

geht allerdings davon aus, dass die Kompositionstechnik des Komponisten direkten<br />

Einfluss auf die Wahrnehmung des Hörers hat, was selbstverständlich mehr als zweifelhaft<br />

ist. Ebenso wenig kann vorausgesetzt werden, dass im Umkehrschluss eine<br />

Komposition, in der die Akkorde während des Kompositionsprozesses eindeutig auf<br />

einander bezogen wurden, beim Hörer auch tatsächlich den Eindruck einer Bezogenheit<br />

der Klänge auslöst. Hier zeigt sich, dass wir den Begriff <strong>Tonalität</strong> kaum bewerten<br />

können, ohne dabei auch auf die subjektive Wahrnehmung <strong>und</strong> musikalische Sozialisierung<br />

des Rezipienten Rücksicht zu nehmen.<br />

Andererseits bestehen natürlich immer Tonbeziehungen sobald Töne in einem Musikstück<br />

vorhanden sind, unabhängig davon, ob wir diese Bezüge auch wahrnehmen oder,<br />

ob ein Komponist diese Bezüge als solche gedacht hat. Jeder Ton steht zu jedem<br />

anderen immer in einem bestimmten Verhältnis. Ein einzelner ausgehaltener Sinuston<br />

definiert sich sogar über eben dieses Verhältnis, da er in jedem Moment dem vorangegangenen<br />

gleicht. Im selben Ausmaß definiert sich „ein anderer Ton“ durch seine<br />

Beziehung zu dem Ton, von dem er sich unterscheidet. Hierin offenbart sich die Problematik<br />

einer <strong>Tonalität</strong>sdefinition als die einfache Bezogenheit der Töne oder Akkorde,<br />

basierend auf einer zugr<strong>und</strong>e liegenden Skala. Streng genommen ließe sich der Begriff<br />

<strong>Tonalität</strong> dann auf jede Tonbeziehung anwenden – sogar auf den Sinuston selbst – <strong>und</strong><br />

würde zu einem beliebigen, tautologischen Begriff verkommen. Dahlhaus stellt treffend<br />

fest:<br />

69


Ob die Zentrierung der Ton- oder Akkordbeziehungen um einen Gr<strong>und</strong>ton oder -akkord als<br />

essentielles oder als akzidentelles Merkmal der <strong>Tonalität</strong> gelten soll, ist ungewiß oder scheint es<br />

zu sein. Der Verzicht auf das definierende Merkmal „Zentrierung“ läßt „<strong>Tonalität</strong>“ zu einer<br />

generellen Bezeichnung für Tonbeziehungen verblassen; „<strong>Tonalität</strong>“ <strong>und</strong> „Tonsystem“ werden<br />

synonyme Ausdrücke, sofern man nicht „<strong>Tonalität</strong>“ als „Prinzip“ <strong>und</strong> „Tonsystem“ als „Erscheinungsform“<br />

begreift. Doch ist es […] überflüssig, den Sachverhalt, den der Ausdruck „Tonsystem“<br />

meint, durch einen zweiten Terminus zu bezeichnen. 247<br />

In diesem Zusammenhang ist auch Zofja Lissas Gleichsetzung von Klangzentrum <strong>und</strong><br />

Skala <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>ene Deutung von Dodekaphonie als Weiterentwicklung der<br />

<strong>Klangzentren</strong>-Technik kritisch zu bewerten. Jede beliebige Ansammlung von Tonhöhen<br />

kann irgendeiner Skala oder – im Falle der Dodekaphonie – einer Reihe zugr<strong>und</strong>e gelegt<br />

werden, womit sich der Begriff „Klangzentrum“ auf jede beliebige Musik anwenden<br />

ließe:<br />

Wird der <strong>Tonalität</strong>sbegriff an Umfang weiter, so muß er nach den Regeln der formalen Logik an<br />

Inhalt ärmer werden. […]<br />

Ein Begriff der alle Akkorde <strong>und</strong> Akkordverbindungen umfaßt, die denkbar sind, ist inhaltslos.<br />

[…] An dem Eingeständnis, daß der „Zentralklang“ eines Satzes nicht als realer Akkord 248 in<br />

ihm vorkommen müsse, sondern konstruiert werden könne, wird die Schwäche der Konstruktion<br />

offenbar; denn man braucht, um den gemeinsamen Ursprung aller Akkorde eines Satzes zu<br />

finden, nur die kleinste Zahl der Töne, von denen mindestens einer in jedem Akkord enthalten<br />

ist, zu einem hypothetischen „Zentralklang“ zusammenzusetzen. Das Prinzip ist also, da es für<br />

alle Musik gilt <strong>und</strong> über keine etwas besagt, leer allgemein. 249<br />

Damit ist aber nicht gesagt, dass sich Skala <strong>und</strong> Klangzentrum gegenseitig ausschließen.<br />

Jede Menge von Tönen kann im vertikalen Zusammenklang als Klangzentrum dienen<br />

<strong>und</strong> zugleich in der horizontalen Aufeinanderfolge als Skala oder Reihe Verwendung<br />

finden. Jedoch umgekehrt davon auszugehen, dass jede Skala oder Reihe auch ein<br />

Klangzentrum wäre, ist ein logischer Fehlschluss. Allerdings hat die einem Werk<br />

zugr<strong>und</strong>e liegende Skala oft einen erheblichen Einfluss auf den sich ergebenden<br />

Gesamtklang. Wenn eine Skala im Sinne einer modalen Kompositionstechnik als<br />

247 Dahlhaus, Untersuchungen, S. 17.<br />

248 Dahlhaus’ Aussage, dass ein Klangzentrum als „realer Akkord“ in einem Musikstück vorkommen<br />

muss ist allerdings schwer nachvollziehbar. Gerade die dur-moll-tonale Musik lebt schließlich von<br />

einem Klangzentrum – der Tonika – das keineswegs immer vorhanden sein muss, jedoch trotzdem<br />

wahrgenommen oder zumindest gedacht werden kann.<br />

249 Carl Dahlhaus, Der <strong>Tonalität</strong>sbegriff in der neuen Musik, in: Schönberg <strong>und</strong> andere. Gesammelte<br />

Aufsätze zur Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Schott: Mainz 1978, S. 111-117, hier S. 113.<br />

70


zentraler Bezugspunkt verwendet wird, dann mag es in manchen Fällen durchaus<br />

sinnvoll sein, sie als ein Klangzentrum zu behandeln. Die Sinnhaftigkeit eine Skala als<br />

Klangzentrum anzusehen ergibt sich jedoch allein aus ihrer Einzigartigkeit im Verhältnis<br />

zu anderen Skalen oder Klängen, welche ihr wiederum als <strong>Klangzentren</strong> gegenübergestellt<br />

werden können. Wenn die Skala dagegen für sich alleine steht, dann wäre sie als<br />

Klangzentrum bedeutungslos, da wir keinen Erkenntnisgewinn aus dieser Information<br />

ableiten könnten. Die Gr<strong>und</strong>reihe einer dodekaphonen Komposition muss an sich noch<br />

nichts über den Gesamtklang der Stelle aussagen, in der ihre Ableitungen verwendet<br />

werden. Vielmehr ergibt sich der Gesamtklang aus der bewussten Kombination unterschiedlicher<br />

Reihenformen <strong>und</strong> ändert sich demnach im Verlauf des Werkes ständig.<br />

Dass diese Kombination von Reihenformen auch Zentralklänge ausbildet, ist zwar<br />

möglich, kann aber nicht im Allgemeinen beantwortet, sondern muss im konkreten Fall<br />

erneut hinterfragt werden; insbesondere erzeugen gleiche Reihenformen nicht unbedingt<br />

dieselben <strong>Klangzentren</strong>.<br />

Auch wurde noch nicht geklärt, aus wessen Sicht ein Ton oder Akkord die Rolle eines<br />

Zentralklangs nun einnehmen muss, damit <strong>Tonalität</strong> vorhanden ist: Ist es der Komponist,<br />

der einem Klang eine besondere Bedeutung zukommen lässt, oder ist es der Hörer,<br />

der einen Klang als besonders bedeutend wahrnimmt? Oder ist es gar der Musiktheoretiker,<br />

der einer Komposition das Vorhandensein eines bestimmten Zentralklangs unterstellt<br />

oder neue <strong>Klangzentren</strong> aufdeckt, die weder dem Komponisten noch dem Hörer<br />

bekannt waren? Es dürfte schwierig sein diese Fragen endgültig zu beantworten, da jede<br />

dieser Positionen gleichermaßen ihre Berechtigung hat. Dahlhaus stellt fest, „daß<br />

<strong>Tonalität</strong> eine historische Kategorie ist, die das Moment der Zeit enthält. Auf einer<br />

späteren Entwicklungsstufe können Phänomene als tonal gelten, die man auf einer<br />

früheren vom Begriff der <strong>Tonalität</strong> ausschließen müßte“ 250 . Zusätzlich ist <strong>Tonalität</strong><br />

jedoch auch eine kompositionstechnische sowie eine hörpsychologische Kategorie, aus<br />

deren Sicht sich der Begriff substanziell unterscheiden kann. Die endgültige Bedeutung<br />

von <strong>Tonalität</strong> kann sich demnach immer nur aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus<br />

erschließen. Ob die von Erpf <strong>und</strong> Lissa auf post- bzw. atonale Werke angewandte<br />

Technik des Klangzentrums, als eine Konsequenz oder ein Weiterwirken dur-molltonaler<br />

Prinzipien angesehen werden kann, hängt insofern auch von dem jeweiligen<br />

250 Ebda.<br />

71


Untersuchungsgegenstand ab. Dass aus kompositionstechnischer Sicht <strong>Klangzentren</strong><br />

auch in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts immer wieder verwendet wurden, steht außer<br />

Frage; ob diese Klänge jedoch auch aus hörpsychologischer Sicht die Rolle eines<br />

Zentralklangs einnehmen, müsste anhand konkreter Beispiele untersucht <strong>und</strong> bewiesen<br />

werden.<br />

Die vorherigen Überlegungen legen nahe, dass irgendeine Form der „Zentrierung“ für<br />

einen sinnvollen <strong>Tonalität</strong>sbegriff unerlässlich ist. Diese Feststellung scheint Richard<br />

Cohns Beobachtungen im Zusammenhang mit den „maximally smooth cycles“ in Franz<br />

Schuberts Klaviertrio in Es- Dur op. 100 (vgl. S. 52) im ersten Moment zu widersprechen.<br />

Bei genauerer Betrachtung der Takte 586-618 wird jedoch schnell deutlich, dass<br />

auch diese Harmoniefolge (vgl. Abbildung 18) durchaus Zentrierung auf unterschiedlichen<br />

musikalischen Ebenen aufweist. Zunächst ist festzustellen, dass es sich bei der<br />

fraglichen Stelle um die Coda eines Klaviertrios in Es-Dur handelt <strong>und</strong> die Tonika Es-<br />

Dur schon allein aufgr<strong>und</strong> unserer konditionierten Erwartungshaltung (durch die vorangegangenen<br />

mehr als 500 Takte sowie unseres „Extra-Opus-Wissens“ über tonale<br />

Musik) eine besondere Rolle einnimmt. Dem entsprechend beginnt der „maximally<br />

smooth cycle“ auch mit Es-Dur <strong>und</strong> schließt wieder darin, wobei Es-Dur in den Takten<br />

615-622 durch das dreimalige Wiederholen einer Kadenz (T. 614-615) als Zentralklang<br />

hervorgehoben wird. Weiters muss festgehalten werden, dass die chromatische Stimmführung<br />

der Harmonik in diesen Takten zwar eine wichtige Rolle einnimmt, für den<br />

musikalischen Gestus <strong>und</strong> die formale Struktur jedoch eine andere Kompositionstechnik<br />

weit wichtiger ist: Die Takte 597-615 bestehen aus zwei realen Sequenzen der Takte<br />

587-569 (Abbildung 32), die jeweils von einem Dur-Dreiklang ausgehend, in einen<br />

Dur-Dreiklang um eine große Terz tiefer modulieren. Diese Sequenzen exponieren den<br />

Ausgangsakkord <strong>und</strong> den Zielakkord der Modulation in besonderer Weise <strong>und</strong> sind<br />

auch für unsere Wahrnehmung von wesentlicher Bedeutung. Der großformale Verlauf<br />

dieser Harmoniefolge erzeugt durch die Sequenzen also wiederum eine Zentrierung,<br />

<strong>und</strong> zwar auf die Tonarten Es-Dur (T. 586-587), Ces/(H)-Dur (T. 587), G-Dur (T. 606)<br />

<strong>und</strong> schließlich wieder Es-Dur (T. 615). Auch in den mikroformalen harmonischen<br />

Beziehungen werden die Dreiklänge des „maximally smooth cycles“ in ihrer Bedeutung<br />

nicht einfach gleichgeschaltet. Beispielsweise tritt der Zielakkord der in Takt 597<br />

abgeschlossenen ersten Modulation – Ces-Dur – bereits in Takt 591 als übermäßiger<br />

Quintsextakkord in es-Moll auf, der die Kadenz in den darauf folgenden zwei Takten<br />

72


einleitet; damit bringt Schubert Ces/(H)-Dur auch in einen funktionalen Kontext aus<br />

Sicht von es-Moll. Schließlich ist auch noch anzumerken, dass die „maximally smooth<br />

cycles“, wie sie von Cohn beschrieben wurden, selbst schon eine Form der „Zentrierung“<br />

darstellen: Schubert hätte zum Erzeugen chromatischer Stimmführung andere<br />

Akkorde wie beispielsweise den übermäßigen Dreiklang verwenden können, entschied<br />

sich hier jedoch bewusst für die traditionellen Akkordtypen der Tonika – Dur <strong>und</strong> Moll.<br />

Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598. 251<br />

Ich will Richard Cohns verdienstvolle Forschung im Zusammenhang mit der Bedeutung<br />

chromatischer Stimmführung während der Kunstmusik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hier<br />

keinesfalls schmälern. Natürlich treffen Cohns Beobachtungen hinsichtlich der „maximally<br />

smooth cycles“ zu <strong>und</strong> auch weitere Kompositionen zeugen von ihrer besonderen<br />

Bedeutung für die damalige Kompositionstechnik (wie auch am Beispiel Liszts <strong>und</strong><br />

Schönbergs gezeigt wurde, vgl. S. 60). Wenn man die Vorstellung eines möglichen<br />

Zentralklangs jedoch gänzlich fallen lässt, läuft man leicht Gefahr harmonische Zusammenhänge<br />

unangemessen zu verallgemeinern. In ihrer abstrakten Form bilden die<br />

„maximally smooth cycles“ keine <strong>Klangzentren</strong> aus, da ein Kreis bekanntlich keinen<br />

Anfang <strong>und</strong> kein Ende hat. Musik dreht sich jedoch nicht im Kreis, sondern bewegt sich<br />

linear fort. Deshalb wird jede konkrete harmonische Folge zumindest zwei Klänge an<br />

251 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 215.<br />

73


exponierter Stelle enthalten <strong>und</strong> damit „zentrieren“: den Anfangsklang <strong>und</strong> den Zielklang.<br />

Nachdem unsere musikalische Wahrnehmung unter anderem von unserem<br />

Gedächtnis abhängt, muss der mögliche Einfluss dieser Klänge auf die Wahrnehmung<br />

der restlichen Harmonien bei unseren Überlegungen mit berücksichtigt werden. Anstatt<br />

ein unzulängliches Theoriemodell – die absolute Zentrierung auf einen Zentralklang, die<br />

Tonika – durch ein anderes unzulängliches Theoriemodell – die absolute Dezentrierung<br />

zugunsten einer Analyse konkreter Akkordbeziehungen – zu ersetzt, sollte ein Mittelweg<br />

gef<strong>und</strong>en werden, der sowohl unmittelbare Akkord- <strong>und</strong> Tonbeziehungen, als auch<br />

die Beziehungen zu Zentralklängen mit einschließt.<br />

74


KAPITEL II<br />

ANALYTISCHE KONSEQUENZEN<br />

Die vorangegangenen Untersuchungen haben ergeben, dass eine Zentrierung auf einen<br />

Ton oder Akkord für den <strong>Tonalität</strong>sbegriff notwendig ist <strong>und</strong> dass Kompositionstechniken<br />

atonaler bzw. post-tonaler Musik möglicherweise als ein Weiterdenken dieses<br />

ursprünglich dur-moll-tonalen Prinzips gelten können. Es liegt nahe nun den Untersuchungsgegenstand<br />

– das Klangzentrum – näher zu betrachten <strong>und</strong> die <strong>Klangzentren</strong> der<br />

Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> mit den <strong>Klangzentren</strong> späterer Werke zu vergleichen. Im folgenden<br />

Kapitel werden unterschiedliche Formen der harmonischen Zentrierung dur-molltonaler<br />

Musik untersucht. Die vordergründigen Fragen, die es dabei zu beantworten gilt,<br />

sind: (1) Zeichnet sich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> tatsächlich dadurch aus, dass ein einzelner<br />

Zentralklang immer den zentralen Bezugspunkt darstellt? (2) Ist der Akkordtyp des<br />

Zentralklangs zwangsläufig ein Dur- oder Moll-Dreiklang oder kann er auch andere<br />

Formen annehmen?<br />

2.1 <strong>Klangzentren</strong> der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong><br />

Der Zentralklang der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> ist den meisten Definitionen nach die Tonika.<br />

Dieser Denkweise folgend beziehen sich alle Töne <strong>und</strong> Akkorde auf die I. Stufe der<br />

Tonleiter. Am deutlichsten kommt diese Überlegung in den Theorien von Riemann <strong>und</strong><br />

Schenker zum Tragen. Riemann bezieht in seiner Funktionstheorie alle Akkorde direkt<br />

auf die Tonika, selbst dann, wenn diese Tonika gar nicht im analysierten Abschnitt in<br />

Erscheinung tritt. Dabei nimmt die Tonika entweder die Form eines Dur-Dreiklangs<br />

(Symbol: T) oder eines Moll-Dreiklangs (Symbol: t) ein. Schenker blendet in seinen<br />

Analysen dagegen die mikroformalen harmonischen Beziehungen, die in der Funktionstheorie<br />

im Vordergr<strong>und</strong> stehen, bewusst aus <strong>und</strong> reduziert ganze Abschnitte oder gar<br />

Werke auf die Bewegung von einer Tonika hin zur nächsten.<br />

Es wird heute meist davon ausgegangen, dass die bezeichnete Tonika nicht nur einen<br />

abstrakten Bezugspunkt einnimmt, sondern der Hörer sie auch tatsächlich in entsprechender<br />

Weise wahrnimmt. Aus analytischer Sicht legt man sich mit der Wahl der<br />

75


Tonika als Dur- oder Moll-Dreiklang also nicht nur in Bezug auf die musikalische<br />

Struktur fest, sondern man macht gleichzeitig auch eine Aussage über die hörpsychologischen<br />

Erwartungen des Rezipienten. Dabei erfüllt die Tonika vor allem zwei relevante<br />

musikalische Funktionen: (1) Sie bezeichnet einen harmonischen Ruhepunkt; die<br />

Fortschreitung zur Tonika im Rahmen einer Kadenz wird als Auflösung wahrgenommen<br />

<strong>und</strong> führt zu einer Entspannung des harmonischen Verlaufs. (2) Sie dient der<br />

formalen Gliederung. Das Erreichen der Tonika erzeugt ein Gefühl der Abgeschlossenheit<br />

<strong>und</strong> ermöglicht damit das Anschließen eines neuen musikalischen Gedankens oder<br />

aber das Beenden des Stückes.<br />

Einem ausschließlich monozentrischen <strong>Tonalität</strong>sbegriff stünde die dualistische Vorstellung<br />

gegenüber, dass sich <strong>Tonalität</strong> nicht nur über die Tonika, sondern auch über die<br />

Dominante definiert. Selbst Riemann <strong>und</strong> Schenker, die beide der Tonika eine tragende<br />

Rolle zukommen ließen, kamen nicht ohne das Miteinbeziehen der Dominante oder der<br />

Subdominante aus. Die Tonika definiert sich allein über das Vorhandensein von<br />

harmonischen Beziehungen zu anderen Tönen oder Akkorden. Schon Choron <strong>und</strong> Fétis<br />

räumten in ihren Definitionen des <strong>Tonalität</strong>sbegriffs der Dominante tendenziell einen<br />

größeren Stellenwert ein als der Tonika <strong>und</strong> auch bei den Theorien von Vogler <strong>und</strong><br />

Weber wird die Kadenz – <strong>und</strong> damit das Wechselspiel zwischen Tonika <strong>und</strong> Dominante<br />

– als wesentliches Merkmal einer Tonart angegeben (vgl. S. 16-18). Ernst Krenek<br />

schrieb 1937 über die Bedeutung der Dominant-Tonika-Beziehung:<br />

Was die Atonalität wesentlich von der <strong>Tonalität</strong> unterscheidet, ist die Dominantwirkung, die<br />

diese besitzt, die jener fehlt;<br />

Die Konstituierung unserer <strong>Tonalität</strong> wird bewirkt durch die Orientierung eines ganzen großen<br />

musikalischen Verlaufs, eines Werkes, nach einer einzigen Dominant-Tonika-Beziehung, eben<br />

jener, die die „Haupttonart“ des Werkes repräsentiert. 252<br />

Aus dieser Sicht erscheint es sinnvoller das Klangzentrum der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> als<br />

ein Konglomerat von Dominante <strong>und</strong> Tonika aufzufassen, die Vorstellung eines einzigen<br />

Klangzentrums also zu verwerfen <strong>und</strong> die Dominante als Klangzentrum der<br />

Tonika gegenüberzustellen. Dass die Dominante über weite Strecken ein eigenständiges<br />

Zentrum ausbildet, kann schon im Barock beobachtet werden. Betrachtet man bei-<br />

252 Ernst Krenek, Über neue Musik [Wien 1937], zit. nach: Beiche <strong>Tonalität</strong>, S. 11.<br />

76


spielsweise den harmonischen Verlauf von Johann Sebastian Bachs bekanntem Präludium<br />

in C-Dur BWV 846, welches wohl als ein Paradebeispiel tonaler Musik angesehen<br />

werden kann, so wird dort der Dominante ebenso viel Platz eingeräumt wie der<br />

Tonika. Einerseits übernimmt die Dominante die Rolle einer temporären Tonika in den<br />

Takten 5-13, andererseits wird der Dominantseptakkord in den Takten 24-31 über einem<br />

Dominant-Orgelpunkt auskomponiert. Auch die aus harmonischer Sicht ungewöhnlichste<br />

Stelle des Präludiums exponiert die Dominante: In den Takten 22-23 (Abbildung<br />

33) umspielen zwei verminderte Septakkorde (Fis- <strong>und</strong> As-Vermindert) den Gr<strong>und</strong>ton<br />

der Dominante (Fis–As–G) <strong>und</strong> leiten so den Dominant-Orgelpunkt der folgenden<br />

Takte ein.<br />

Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24.<br />

Wie die Tonika erfüllt auch die Dominante zwei primäre musikalische Funktionen: (1)<br />

Sie erzeugt harmonische Spannung, die in der Auflösung zur Tonika als Lösung empf<strong>und</strong>en<br />

wird. (2) Sie dient ebenfalls der formalen Gliederung. Ausgedehnte Orgelpunkte<br />

oder Auftaktakkorde kündigen beispielsweise oft die Rückkehr zum Thema bzw. zur<br />

„Haupttonart“ an.<br />

Auch in den meisten dualistischen Interpretationen ist jedoch eine eindeutige Hierarchisierung<br />

der <strong>Klangzentren</strong> zugunsten der Tonika vorhanden. Besonders deutlich tritt<br />

diese Hierarchie in den dialektischen Theorien Moritz Hauptmanns zutage. Dominante<br />

<strong>und</strong> Subdominante treten dort als Antithese dem Zentralklang der Tonika gegenüber<br />

<strong>und</strong> erfüllen erst in der Synthese mit der Tonika ihre endgültige Bestimmung. Diese<br />

Hierarchisierung entspricht auch in vielen Werken des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts der<br />

musikalischen Realität, sowohl auf mikroformaler, als auch auf makroformaler Ebene.<br />

Nicht zuletzt prägt das abstrakte Schema der Sonatensatzform, eben diese Hierarchisierung<br />

deutlich aus. Dem gegenüber zeigt die Entwicklung der Harmonik des 20.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert jedoch eine deutliche Tendenz, dass diese Hierarchisierung mehr <strong>und</strong> mehr<br />

aufgebrochen wurde <strong>und</strong> damit andere Klänge neben der Tonika an Bedeutung gewannen.<br />

77


Zunächst ist festzustellen, dass die Rolle der Tonika in der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zugunsten<br />

der Dominante mehr <strong>und</strong> mehr zurückgedrängt wurde. Einerseits wurden die<br />

Durchführungen, die sich meist in weiten Strecken hauptsächlich dominantischen <strong>und</strong><br />

weiterführenden Techniken widmen, immer länger <strong>und</strong> komplexer, andererseits wurde<br />

dem dominantischen „Auftaktakkord“, der die Rückführung von der Durchführung zur<br />

Reprise einleitet, in den Sonatensätzen immer mehr Bedeutung beigemessen. Weiters<br />

nehmen auch dissonante Akkorde, die im Sinne der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> eigentlich als<br />

Dominanten bewertet werden müssten, in der Hochromantik häufig die Funktion eines<br />

spannungsfreien Akkords ein. Georg Andreas Sorge klassifizierte im Vorgemach der<br />

musicalischen Composition 253 bereits 1745 den übermäßigen Dreiklang als einen<br />

konsonanten Dreiklang unter den „scharfen musikalischen Gewürzen“ 254 . Carl Friedrich<br />

Weitzmann sah in seiner Schrift Der Übermäßige Dreiklang 255 den übermäßigen<br />

Dreiklang als einen der vier natürlichen Dreiklänge Dur, Moll, vermindert <strong>und</strong> übermäßig<br />

an. 256 Weitzmann veröffentlicht auch ein Tonnetz, das alle 12 Töne als Kreuzprodukt<br />

von verminderten Septakkorden <strong>und</strong> übermäßigen Dreiklängen darstellt<br />

(Abbildung 34). 257<br />

Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix. 258<br />

253 Georg Andreas Sorge, Vorgemach der musicalischen Composition, Lobenstein 1745.<br />

254 Georg Andreas Sorge, zit. nach: Larry Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, and the Augmented<br />

Triad, in: The second practice of nineteenth-century tonality, Lincoln: University of Nebraska<br />

Press 1996, S. 153-177, hier S. 154.<br />

255 Carl Friedrich Weitzmann, Der Übermäßige Dreiklang, Berlin 1853.<br />

256 Vgl. Todd, Franz Liszt, Carl Friedrich Weitzmann, S. 157.<br />

257 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 14.<br />

258 Weitzmann. Der übermäßige Dreiklang, Bsp. aus: Richard Cohn, Weitzmann’s Regions, My Cycles,<br />

and Douthett’s Dancing Cubes, in: Music Theory Spectrum (Bd. 22,1), 2000, S. 89-103, hier S. 91.<br />

78


Erste Anzeichen dieser Entwicklung, die letztendlich in der endgültigen Emanzipation<br />

der Dissonanz im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert ihren Höhepunkt fand, kann man bereits in den<br />

Durchführungen mancher klassischer Sonatensatzformen erkennen. So verselbständigen<br />

sich die ausgedehnten Orgelpunkte der Rückführung gelegentlich in einer Weise, dass<br />

sie weniger eine dominantische Wirkung entfalten, sondern vielmehr als Ruhepunkte<br />

<strong>und</strong> statische <strong>Klangzentren</strong> wirken. Ein ausgedehnter Orgelpunkt auf der Dominante<br />

findet sich beispielsweise in Beethovens Sonate op. 28 (T. 219-256). In den ersten acht<br />

Takten des Auftaktakkords (T. 219-226) wird die Dominante traditionell mit Quartsext-<br />

Vorhalten auskomponiert. In den Takten 228-256 (Abbildung 35) wird sie dagegen als<br />

konsonanter Akkord ohne die kleine Sept eingesetzt, was dazu führt, dass ihre eigentliche<br />

Funktion, die Spannung vor der Auflösung in die Tonika (T. 257), fast verloren<br />

geht.<br />

Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261.<br />

Beethovens Sonate op. 13 (T. 167-187, Abbildung 36) weist dagegen einen eigentlich<br />

dissonanten Dominantseptakkord als Auftaktakkord auf. Durch die chromatischen<br />

Umspielungen der Akkordtöne (T. 167-170 <strong>und</strong> T. 175-178) sowie die Harmonik der<br />

Takte 171-174 bzw. 179-186, wirkt die Dominante hier jedoch wie ein harmonischer<br />

Ruhepunkt, der keiner zwingenden Auflösung mehr bedarf.<br />

79


Zu diesen Beispielen ist anzumerken, dass aus hörpsychologischer Sicht natürlich nach<br />

wie vor die Tonika als unterschwelliges Klangzentrum mitschwingt, die Hierarchisierung<br />

also keinesfalls aufgehoben ist. Dies liegt jedoch hauptsächlich an unserer<br />

Erwartungshaltung in Bezug auf den formalen Ablauf der Sonatensatzform <strong>und</strong> weniger<br />

an der Spannung des Auftaktakkords selbst, ist also direkt von unserer musikalischen<br />

Sozialisierung bedingt. Gerade diese Erwartungshaltung wird aber in der Hochromantik<br />

immer häufiger enttäuscht, sodass es spätestens seit der Musik Wagners <strong>und</strong> Liszts<br />

kaum Veranlassung mehr gibt eine bestimmte – oder überhaupt eine – Auflösung eines<br />

Klanges zu erwarten.<br />

Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189.<br />

Die Dominante wurde in Rückführungen auch unabhängig von Orgelpunkten als eigenständiger<br />

Bezugspunkt der Harmoniefolgen eingesetzt. So schreibt Schönberg in den<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der musikalischen Komposition:<br />

In komplizierteren Kompositionen wird die liquidierende Passage über dem Orgelpunkt auf der<br />

Dominante durch eine Reihe von Segmenten ersetzt, die Schlußsätzen ähnlich sind, außer daß sie<br />

80


sich, statt der Tonika, wiederholt dem Auftaktakkord nähern. Sie können innere Modulation enthalten<br />

oder „schweifende“ Harmonie, die aber auf verschiedenem Wege immer wieder zum Auftaktakkord<br />

zurückkehrt. 259<br />

Als Beispiele solcher Auftaktakkorde nennt Schönberg Beethovens 3. <strong>und</strong> 5. Symphonie.<br />

260 In solchen zum Teil sehr ausgedehnten Passagen der Rückführung wird der<br />

Schwerpunkt des tonalen Klangzentrums von der Tonika zur Dominante hin verlagert,<br />

allerdings natürlich mit der damit verb<strong>und</strong>enen Erwartung, dass die Tonika in der<br />

Reprise auch tatsächlich wiederkehrt. Auf der anderen Seite findet man in Sonatensätzen<br />

auch häufig das Ausweiten der Coda <strong>und</strong> damit meist der Tonika-Region. Diese<br />

Praxis könnte durchaus als eine direkte Reaktion auf die zunehmende Bedeutung der<br />

Dominante interpretiert werden. So ist beispielsweise die Coda in Beethovens 3. Symphonie<br />

auf 135 Takte ausgeweitet <strong>und</strong> erzeugt damit einen formalen Ausgleich in Bezug<br />

auf die ausgedehnte Rückführung.<br />

Es sprechen noch weitere Argumente dafür, dass die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

nicht aus Sicht eines einzigen Klangzentrums gedeutet werden sollte. Neben der<br />

zunehmenden Bedeutung der Dominante werden auch andere Regionen immer häufiger<br />

als zentrale Bezugspunkte eingesetzt. In diesem Zusammenhang wäre zunächst die<br />

Ambivalenz zwischen Dur <strong>und</strong> Moll zu nennen, die von Komponisten seit jeher ausgenutzt<br />

wurde, um zwischen diesen beiden Klangcharakteren zu wechseln. Es gibt wohl<br />

kaum ein größeres Werk in der Literatur, das nicht sowohl Dur als auch Moll in längeren<br />

Abschnitten ausgiebig behandelt. Hier wäre einerseits die diatonische Beziehung<br />

zwischen einer Durtonart mit der parallelen Molltonart zu nennen. Siegfried Wilhelm<br />

Dehn bezeichnete 1840 die Verwandtschaft zwischen I. <strong>und</strong> VI. Stufe, gemeinsam mit<br />

der Verwandtschaft zwischen I. <strong>und</strong> III. Stufe, als den größtmöglichen<br />

Verwandschaftsgrad. Er begründete dies mit der großen Anzahl konsonanter Intervalle<br />

in diesen Klängen in Bezug auf die Dur-Tonleiter (vgl. S. 22). Als weitere wichtige<br />

Verwandtschaftsbeziehung ist die chromatische Beziehung zwischen einer Durtonart<br />

<strong>und</strong> der Molltonart auf derselben Stufe zu nennen. Diese Art der Verwandtschaft wurde<br />

in Gottfried Webers 1817 veröffentlichtem Tonnetz als Verwandtschaft ersten Grades<br />

gekennzeichnet <strong>und</strong> damit sogar als wichtiger charakterisiert als die Verwandtschaft<br />

259 Schönberg, Die formbildenden Tendenzen der Harmonie, S. 113.<br />

260 Ebda.<br />

81


zwischen Dur <strong>und</strong> paralleler Molltonart (vgl. Abbildung 7). Bella Brover-Lubovsky<br />

argumentiert, dass diese Doppeldeutigkeit zwischen Dur <strong>und</strong> Moll auf derselben Stufe<br />

bereits bei venezianischen Komponisten des frühen 17. Jahrh<strong>und</strong>erts eine häufig<br />

wiederkehrende Gr<strong>und</strong>konstellation in der tonalen Anlage von Werken darstellt (z.B.<br />

bei Antonio Vivaldi, Benedetto Marcello <strong>und</strong> Tomaso Albinoni). 261 Insbesondere im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert wurden diese (<strong>und</strong> weitere) Verwandtschaften zwischen Dur <strong>und</strong> Moll<br />

teilweise an ihre äußersten Grenzen getrieben, sodass es in manchen Harmoniefolgen<br />

kaum möglich ist, ein eindeutiges Klangzentrum auszumachen. Vielmehr scheint die<br />

Musik dann zwischen zwei Welten zu schweben <strong>und</strong> einmal der Dur-Tonika, ein<br />

anderes Mal der Moll-Tonika den Vorzug zu geben.<br />

Zusätzlich zu den ambivalenten <strong>Klangzentren</strong> der I. Stufe in Dur <strong>und</strong> Moll sowie der<br />

VI. Stufe in Moll kommen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert noch weitere <strong>Klangzentren</strong> hinzu, welche<br />

die alleinige Vorherrschaft der Tonika zunehmend in Frage stellen. Diese Entwicklung<br />

wurde insbesondere durch die häufige Verwendung von mehrdeutigen Akkorden wie<br />

dem verminderten Septakkord <strong>und</strong> dem übermäßigen Dreiklang hervorgerufen. Eine<br />

große Anzahl von vorwiegend mediantischen Akkordbeziehungen konnten so als neue<br />

<strong>Klangzentren</strong> der Tonika gegenübergestellt werden. Dies führte direkt zu jenen<br />

harmonischen Verläufen, die Schönberg später als „schwebende <strong>Tonalität</strong>“ bezeichnete.<br />

Eine eindeutige Angabe der Tonika als einzigen Bezugsklang ist in solchen Harmoniefolgen<br />

weder aus Sicht der Analyse, noch aus Sicht des Hörers möglich bzw. sinnvoll.<br />

Es hat fast den Anschein als hätten die soziokulturellen Entwicklungen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts,<br />

die mit der Französischen Revolution die Vorherrschaft des Adels über den<br />

Bürger beendeten, auch eine analoge Revolution im hierarchischen System der Dur-<br />

Moll-<strong>Tonalität</strong> hervorgerufen.<br />

Bereits in den Einleitungen zu Beethovens Streichquartetten wird ein eindeutiger<br />

Tonikabezug oft bewusst hinausgezögert. Im Streichquartett op. 59/3 werden beispielsweise<br />

mehrere <strong>Klangzentren</strong> angedeutet (G-Dur, a-Moll <strong>und</strong> Es-Dur), die Tonika C-Dur<br />

wird jedoch erst in Takt 43 eindeutig bestätigt (Abbildung 37). Es ist zwar möglich die<br />

Harmonik dieser Einleitung funktionstheoretisch in Bezug auf die Tonika zu deuten,<br />

dies würde aber wohl kaum der tatsächlichen Wahrnehmung <strong>und</strong> Erwartungshaltung<br />

261 Bella Brover-Lubovsky, Venetian Clouds and Newtonian Optics, in: <strong>Musiktheorie</strong> als interdisziplinäres<br />

Fach (musik.theorien der gegenwart 4), Saarbrücken: Pfau 2010, in Bearbeitung.<br />

82


des Hörers entsprechen. Selbst wenn man versucht, die ersten neun Takte aus Sicht der<br />

Dominante G-Dur zu deuten, wird man nicht der tatsächlichen Wahrnehmungssituation<br />

in Takt 11 gerecht, in der sich die vermeintliche Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton mit tiefalterierter<br />

None (T. 8-10) plötzlich in einen B-Dur-Septakkord verwandelt, der nach Es-Dur<br />

weiterleitet. Außerdem deuten die ersten 5 Takte der Einleitung eher auf die Tonart a-<br />

Moll hin als auf G-Dur <strong>und</strong> den verminderten Septakkord auf Fis im ersten Takt hört<br />

man im Nachhinein eher als einen Vorhalt zum nachfolgenden F 7 (das zum übermäßigen<br />

Quintsextakkord umgedeutet wird) <strong>und</strong> nicht als Dominante zu G. Auch den<br />

verminderten Septakkord auf H in den Takten 26-28 stellt Beethoven in ein harmonisches<br />

Umfeld, das nicht an C-Dur erinnert. Erst mit Beginn des Hauptthemas in T. 30<br />

wird zum ersten Mal C-Dur als Tonart angedeutet <strong>und</strong> schließlich in T. 43 bestätigt.<br />

Doch auch vor dieser Bestätigung zögert Beethoven in Takt 41 C-Dur nochmals hinaus,<br />

indem er zunächst einen Dominantseptakkord auf C setzt.<br />

Diese Einleitung scheint sich Deutungsversuchen aus Sicht eines einzigen Zentralklangs<br />

vehement zu widersetzen. Vielmehr hat es den Anschein als kreise die Harmonik – ganz<br />

im Sinne von Schönbergs schwebender <strong>Tonalität</strong> – kontinuierlich um mehrere Zentralklänge<br />

ohne sich dabei eindeutig festzulegen. Dieses Wechselspiel verschiedener<br />

<strong>Klangzentren</strong> ist nicht nur für die Analyse von Bedeutung, auch unsere Wahrnehmung<br />

vermag hier kaum einen einzelnen Bezugspunkt festzumachen.<br />

83


Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44.<br />

Ein weiteres Beispiel Beethovens, in dem ein eindeutiger Zentralklang über weite<br />

Strecken außer Kraft gesetzt wird, ist die Variation Nr. 20 aus den „Diabelli“ Variationen<br />

op. 120 (Abbildung 38). Die Variation beginnt zunächst sehr vorsichtig C-Dur<br />

als Tonika zu etablieren. Aus Sicht dieser Tonika handelt es sich bei dem verminderten<br />

Septakkord am Ende von Takt 8 um eine Dominante mit tiefalterierter None im Bass.<br />

Derselbe Akkordtyp verwandelt sich jedoch plötzlich in der zweiten Hälfte des nächsten<br />

Takts in eine „vagierende“ Klangfolge. Durch die Verbindung eines g-Moll-<br />

Septakkords mit einem Quintsextakkord auf Gis (T. 10-11) <strong>und</strong> die Verbindung eines<br />

verminderten Septakkords auf Ais mit einem C-Dur-Dreiklang (T. 12-13) verschwindet<br />

84


in den Takten 10-13 jeglicher dur-moll-tonale Bezug. Mehr noch, man hat hier fast das<br />

Gefühl, als ob der verminderte Septakkord selbst für einen kurzen Augenblick die Rolle<br />

eines Klangzentrums eingenommen hat. Der G-Moll-Septakkord in Takt 10 wirkt dabei<br />

als ein Spannungsakkord, der sich in einen E-Dur-Septakkord (Gis im Bass) auflöst, das<br />

verbindende Element ist jedoch der verminderte Septakkord auf As des vorangegangenen<br />

Taktes, der als unterschwelliges Klangzentrum den Gesamtklang beeinflusst. In<br />

Takt 14 bereitet Beethoven diesem Spuk zunächst ein Ende, indem er – dem Thema der<br />

Variation entsprechend – die Phrase in die Dominantregion auflöst.<br />

Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120.<br />

Auch der weitere harmonische Verlauf dieser Variation ist sehr auffällig. In den Takten<br />

13-19 wird deutlich, dass die Harmonik einem bestimmten Auflösungsschema folgt:<br />

Auf die schwere Taktzeit wird ein dissonanter Akkord gesetzt, der sich in einen weniger<br />

dissonanten Akkord auf der leichten Taktzeit auflöst. Die Takte 21-24 setzen dieses<br />

Schema fort, allerdings steht nun auf der leichten Taktzeit ein verminderter Septakkord<br />

auf E bzw. B <strong>und</strong> G. Dies bestärkt die vorherige Vermutung, dass der verminderte<br />

Septakkord hier als ein Zentralklang behandelt wird. Alle Töne der Takte 21-24 ent-<br />

85


stammen der mit dem verminderten Septakkord eng verwandten Ganzton-Halbton-<br />

Skala auf E. Wie zuvor der g-Moll-Septakkord, werden in diesen Takten die Dominantseptakkorde<br />

auf C <strong>und</strong> Es (enharmonisch umgedeutet) in den verminderten Septakkord<br />

aufgelöst. Dies wird auch durch die Notation der Vorzeichen in Takt 24 (Dis – E in der<br />

Oberstimme) deutlich. Auch im weiteren Verlauf der Variation bleibt ein eindeutiger<br />

Tonartbezug aus, bis sich die Harmonik schließlich im letzten Takt nach C-Dur auflöst.<br />

Mit der tragenden Rolle des verminderten Septakkordes nimmt Beethoven in dieser<br />

Variation viele harmonische Neuerungen der Hochromantik vorweg, wie später nach<br />

am Beispiel von Richard Wagners Parsifal zu sehen sein wird.<br />

Besonders auffällig ist die Ambivalenz des Klangzentrums insbesondere auch in den<br />

späten Klavierstücken von Franz Liszt. Bereits in Funérailles (1849) hatte Liszt die<br />

beiden <strong>Klangzentren</strong> f-Moll <strong>und</strong> E-Dur fast gleichberechtigt nebeneinander verwendet<br />

<strong>und</strong> dabei die gemeinsame Terz der beiden Akkorde als Bindeglied genutzt. 262 Bei La<br />

lugubre gondola I (1882) stellt Liszt anstelle der Tonika sogar eine bitonale Mischung<br />

zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll. Das erste Intervall der Melodiestimme von La lugubre<br />

gondola I deutet f-Moll an, bei den Takten 6-10 handelt es sich jedoch um einen Ausschnitt<br />

aus der E-Dur-Tonleiter. Zusammengehalten wird die Melodie durch einen<br />

übermäßigen Dreiklang auf E, der mit den beiden Akkorden E-Dur <strong>und</strong> f-Moll jeweils<br />

zwei gemeinsame Töne enthält (Abbildung 39). 263 In Unstern! sinistre, disastro (nach<br />

1881), in der Liszt verwandte Techniken anwendet, geht er sogar so weit, dass die Töne<br />

von E-Dur <strong>und</strong> f-Moll zu einem einzigen Klanggemisch vereint werden. 264<br />

262 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 46-67.<br />

263 Ebda., S. 21f.<br />

264 Ebda., S. 30.<br />

86


Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22.<br />

In diesem Abschnitt wurde gezeigt, dass es in der Musik des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts oft<br />

schwierig ist einen eindeutigen Zentralklang festzumachen <strong>und</strong> auch der Akkordtyp des<br />

Zentralklangs ist nicht klar definierbar. So nehmen in der romantischen Literatur anstelle<br />

der traditionellen Dreiklänge Dur <strong>und</strong> Moll auch dissonante Klänge – wie der<br />

Dominantseptakkord, der verminderte Septakkord oder der übermäßige Dreiklang – den<br />

Platz eines zentralen Bezugspunkts ein. Nun stellt sich die Frage, ob diese dissonanten<br />

<strong>Klangzentren</strong> nur aus systematisch-analytischer bzw. aus kompositionstechnischer Sicht<br />

eine Bedeutung haben, oder ob auch unsere Wahrnehmung diese Klänge als zentrale<br />

Ruhepunkte akzeptieren kann. Gerade bei Orgelpunkten über einer Dominante oder in<br />

Rückführungen einer Sonatensatzform scheint es ganz offensichtlich, dass man als<br />

Hörer weiterhin das Bedürfnis nach der Auflösung der Dominante in die Tonika hat <strong>und</strong><br />

diese Erwartung wird in den allermeisten Fällen auch erfüllt. So gesehen nimmt die<br />

Dominante dann zwar eine zentrale Rolle ein, die Tonika schwingt jedoch als unterschwelliger<br />

Zentralklang weiterhin mit. Dem gegenüber gibt es jedoch Beispiele, wie<br />

87


einige der späten Klavierwerke Liszts, die darauf hindeuten, dass auch dissonante<br />

Klänge durchaus als <strong>Klangzentren</strong> wahrgenommen werden, die kein zwingendes Auflösungsbedürfnis<br />

mehr hervorrufen. Auch die zeitgenössische Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

hat mit der Emanzipation der Dissonanz <strong>und</strong> des Geräuschs eindrucksvoll bewiesen,<br />

dass ein Auflösungsbedürfnis dissonanter Klänge immer nur vom jeweiligen<br />

harmonischen bzw. stilistischen Kontext abhängt. Kreneks Aussage, dass der wesentliche<br />

Unterschied zwischen Atonalität <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong> „die Dominantwirkung [ist], die<br />

diese besitzt, die jener fehlt“ (vgl. S. 76) deutet genau auf diesen Zusammenhang hin. In<br />

anderen musikalischen Strömungen des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts wiederum, die primär im durmoll-tonalen<br />

Kontext verstanden werden – wie beispielsweise dem Blues oder dem Jazz<br />

– ist die Tonika sogar meistens ein dissonanter Klang, den unsere Wahrnehmung<br />

durchaus als Ruhepunkt zu akzeptieren scheint.<br />

88


2.2 Richard Wagner: Einleitung zu Tristan <strong>und</strong> Isolde<br />

Das Loslösen von der Tonika als harmonisches Klangzentrum fand seinen ersten Höhepunkt<br />

in der viel diskutierten Einleitung (bzw. dem „Vorspiel“) zu Richard Wagners<br />

Tristan <strong>und</strong> Isolde. Der so genannte „Tristan-Akkord“ – der dem Tonvorrat eines<br />

„halbverminderten Septakkords“ 265 entspricht – wurde im Laufe der Musikgeschichte<br />

unterschiedlichsten Deutungen unterzogen, nicht zuletzt mit dem Wunsch ihn einem<br />

vorgegebenen Theoriemodell gefügsam zu machen. Ich werde mich in der vorliegenden<br />

Analyse weniger dem Wesen des Tristan-Akkords widmen, sondern vielmehr den<br />

unterschiedlichen <strong>Klangzentren</strong>, die in der Tristan-Einleitung eine Rolle spielen.<br />

Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11.<br />

Es ist durchaus möglich in den ersten vier Takten des Tristan (Abbildung 40) a-Moll als<br />

zugr<strong>und</strong>e liegenden Zentralklang anzunehmen, was der am häufigsten anzutreffenden<br />

harmonischen Deutung entspricht. 266 Die ersten drei Töne könnten dann als eine Um-<br />

265 Ich werde in der vorliegenden Analyse darauf verzichten den Akkordtyp des Tristan-Akkords gemäß<br />

einer der vielen Deutungsmöglichkeiten als z.B. „Unterseptimenakkord“ (Martin Vogel, Der Tristan-<br />

Akkord <strong>und</strong> die Krise der modernen Harmonielehre, Düsseldorf: Gesellschaft zur Förderung der<br />

systematischen Musikwissenschaft 1962, S. 140) oder „Doppelleittonklang“ (Erpf, Studien zur<br />

Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 51 u. S. 162) , zu bezeichnen. Jegliche Akkordbezeichnungen sind in<br />

weiterer Folge als eine Bezeichnung des abstrakten Tonvorrats im Sinne eines pitch sets zu verstehen<br />

<strong>und</strong> werden jeweils nach dem Gr<strong>und</strong>ton der Terzenschichtung oder, bei äquidistanten Klängen, nach<br />

dem Basston benannt; enharmonische Verwechslungen werden für die Benennung des Tonvorrates<br />

ignoriert. Der Autor geht davon aus, dass der Leser anhand des Notentextes versteht um welche konkreten<br />

Klänge es sich während der Diskussion handelt.<br />

266 Vgl. unter anderem: Vogel, Der Tristan-Akkord, S. 140; Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik,<br />

S. 51 u. S. 162; Ernst Kurth, Romantische Harmonik <strong>und</strong> ihre Krise in Wagners „Tristan“,<br />

Berlin: Max Hessels 1920, S. 44. Für weiterer Interpretationen des Tristan-Akkords vgl. auch Diether<br />

89


spielung von a-Moll ohne Terz angesehen werden <strong>und</strong> die erste Phrase würde in Takt 3<br />

auf der Dominante von a-Moll – E 7 – schließen. Gegen diese Interpretation spricht<br />

allerdings, dass in a-Moll während des gesamten Vorspiels kein einziges Mal kadenziert<br />

wird. A-Dur kommt in der Einleitung zwar vor, jedoch erst in Takt 24 <strong>und</strong> dort nur für<br />

die kurze Dauer einer punktierten Viertel innerhalb eines harmonischen Kontexts, der<br />

eher E-Dur vermuten lässt. Der Hörer wird zu diesem Zeitpunkt den A-Dur-Dreiklang<br />

wohl kaum mehr mit dem E-Dur-Septakkord aus Takt 4 (bzw. T. 16) in Verbindung<br />

bringen. Dennoch ist es wahrscheinlich, dass der geschulte Hörer, der die romantische<br />

Musik vor dem Tristan gut kennt, nach den ersten vier Takten zunächst einmal von der<br />

Tonika a-Moll ausgeht. Dies ändert sich jedoch schlagartig in den Takten 5-7, mit der<br />

leicht veränderten realen Sequenz der ersten drei Takte um eine kleine Terz höher.<br />

Würde man der vorherigen Argumentation weiter folgen, dann müsste man Takt 7 als<br />

Dominante nach C hören. Auf C-Dur würde die Nähe zur vorangegangenen Tonart a-<br />

Moll hindeuten, c-Moll könnte dagegen wegen des Tons Gis/As der Takte 5-6 nahe<br />

liegen. In den Takten 8-11 wird die erste Phrase ein drittes Mal (diesmal stärker abgeändert)<br />

variiert. Takt 10 könnte man aus Sicht von C-Dur als einen Vorhalt zu einem<br />

übermäßigen Dreiklang auf C deuten (Abbildung 41), der in Takt 11 zu einem Dominantseptakkord<br />

auf H weitergeführt wird. Damit wäre die Tonika der Takte 10-11 E-<br />

Dur oder e-Moll.<br />

A5+<br />

) R -:<br />

-:<br />

-:<br />

-:<br />

- -)<br />

* - - E§<br />

Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint.<br />

Der einzige Zentralklang, der aus Sicht der Funktionstheorie in diesen ersten Takten<br />

wenigstens annähernd bestätigt wurde, ist C-Dur. Dafür spricht einerseits die Nähe zum<br />

anfänglichen a-Moll, andererseits die Quasi-Auflösung in einen übermäßigen Dreiklang<br />

de la Motte, Harmonielehre [1976], München: Deutscher Taschenbuch Verlag / Bärenreiter 9 1995, S.<br />

225-228.<br />

90


auf C in Takt 10. C-Dur wird als Zentralklang in den folgenden Takten (T. 17-20) sogar<br />

bestätigt <strong>und</strong> in ganz traditionellen harmonischen Wendungen vier Takte lang ausgekostet.<br />

Außerdem wird zum Schluss der Einleitung die Anfangsphrase mit einem<br />

Orgelpunkt auf G in die Tonart c-Moll umgedeutet (Abbildung 42, T. 100-106), auf<br />

deren Dominante das Tristan-Vorspiel schließlich endet.<br />

Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111.<br />

Unsere Wahrnehmung scheint dieser Interpretation jedoch nicht exakt zu folgen. Zwar<br />

ist es denkbar den 3. Takt als Dominante in a-Moll zu hören, ob man jedoch tatsächlich<br />

in den folgenden Takten mit jedem neuen Dominantseptakkord einen Wechsel des<br />

Zentrums nach C <strong>und</strong> schließlich nach E wahrnimmt, obwohl weder a-Moll noch C-Dur<br />

eindeutig bestätigt wurde, ist zu bezweifeln. Spätestens nach dem 7. Takt hat sich<br />

unsere Wahrnehmung darauf eingestellt, dass ihre Erwartung bislang nicht erfüllt<br />

wurde. Außerdem nehmen die Dominantseptakkorde E 7 , G 7 <strong>und</strong> H 7 in diesem harmonischen<br />

Umfeld einen sehr stabilen Platz ein, der gar keiner zwingenden Auflösung<br />

bedarf. Dieser Effekt entsteht dadurch, dass die Dominantseptakkorde hier, im Verhältnis<br />

zu dem Tristan-Akkord, die „konsonanteren“ Klänge darstellen. Diese in sich<br />

ruhende Dominantwirkung wird auch noch durch die Auflösung der übermäßigen Quart<br />

(Ais) in die Quint (H) des Zielakkords verstärkt. Dies ist durchaus vergleichbar mit der<br />

Auflösung des G-Moll-Septakkords in den Quintsextakkord auf Gis in Beethovens<br />

„Diabelli“-Variation Nr. 20 (vgl. Abbildung 38). Ernst Kurth schreibt über die besagte<br />

Stelle der Tristan-Einleitung:<br />

91


Ein weiteres technisches Merkmal tritt schon bei dieser ersten Akkordverbindung des „Tristan“<br />

hervor; nämlich die eigentümliche Erscheinung, daß (mit dem zweiten Akkord) ein Septakkord<br />

nach der vorangehenden Alterationsdissonanz als Auflösungsform eintritt, <strong>und</strong> zwar auch der<br />

Wirkung nach als eine Auflösung, die sich hier einem konsonanten Klangeindruck nähert. 267<br />

Die Dominantseptakkorde nehmen hier demnach auf mikroformaler Ebene die Rolle<br />

von <strong>Klangzentren</strong> ein. Betrachtet man den formalen Ablauf der ersten 16 Takte unter<br />

diesem Gesichtspunkt, so sieht man, dass sich neben den <strong>Klangzentren</strong> C-Dur <strong>und</strong> a-<br />

Moll auch ein weiteres Klangzentrum auf E etabliert. Die Akkordfolge der Dominantseptakkorde<br />

– E 7 , G 7 , H 7 , E 7 – kann dann als eine Art „Kadenz“ bezogen auf das Klangzentrum<br />

E gedeutet werden.<br />

Bevor ich auf die Harmonik dieser ersten 16 Takte in Bezug auf das Klangzentrum E<br />

genauer eingehe, möchte ich nochmals einen kurzen Exkurs zu Franz Liszt machen.<br />

Wie angedeutet finden sich in Liszts Spätwerk häufig Stellen, die sich auf die beiden<br />

<strong>Klangzentren</strong> der I. Stufe (E-Dur) <strong>und</strong> der tiefalterierten II. Stufe (f-Moll) beziehen 268<br />

(vgl. S. 86). Als Bindeglied zwischen diesen beiden <strong>Klangzentren</strong> verwendet Liszt<br />

meist den übermäßigen Dreiklang auf E (Abbildung 43a) sowie den verminderten<br />

Dreiklang auf F (Abbildung 43b). Eine weitere Variante zur Verbindung von E-Dur <strong>und</strong><br />

f-Moll, die Liszt vorwiegend im Klavierstück Funérailles einsetzt, ist das Umdeuten der<br />

Dominante von f-Moll zu einem übermäßigen Dreiklang auf C, der wiederum dem<br />

übermäßigen Dreiklang auf E entspricht (Abbildung 43c). In diesem Zusammenhang<br />

verwendet Liszt auch eine direkte Verbindung zwischen dem Dominantseptakkord auf<br />

C <strong>und</strong> dem Dur-Dreiklang auf E, die man aus Sicht von f-Moll als einen erweiterten<br />

Trugschluss auffassen könnte (Abbildung 43d). 269<br />

267 Kurth, Romantische Harmonik, S. 47. Kurth führt diese ruhende Wirkung des Dominantseptakkords<br />

auf seine Terzenschichtung zurück: „das Ohr [fasst] die Rückkehr des musikalischen Gewebes in<br />

einen auf Terzlagerung zurückzuführenden Akkord als Einrenkung in ein von der Natur vorgezeichnetes<br />

System <strong>und</strong> als Ruhepunkt im musikalischen Kräftespiel [auf …].“ (Vgl. Ernst Kurth, Die<br />

Voraussetzungen der Theoretischen Harmonik, Bern: Max Drechsel 1913).<br />

268 Nachdem beide <strong>Klangzentren</strong> oft in gleichem Maße betont werden könnte man umgekehrt auch von<br />

der I. Stufe f-Moll <strong>und</strong> der erhöhten VII. Stufe E-Dur sprechen. Die Problematik der exakten Bezeichnung<br />

spiegelt gewissermaßen unsere mangelhafte Symbolschrift für multiple <strong>Klangzentren</strong> wider, da<br />

sowohl Stufentheorie als auch Funktionstheorie von einem einzigen Klangzentrum ausgehen. Im Zusammenhang<br />

mit mehreren <strong>Klangzentren</strong> wäre es vielleicht ratsam die übliche Stufenbezeichnung<br />

fallen zu lassen <strong>und</strong> statt dessen nur Akkordbezeichnungen wie z.B. „E/Fm“ zu verwenden. In der<br />

Jazztheorie gibt es beispielsweise für polytonale Akkorde verschiedene Bezeichnungsmöglichkeiten,<br />

bei der insbesondere die Bezeichnung mittels eines schrägen oder horizontalen Balkens zwischen den<br />

beiden Akkorden sinnvoll erscheint.<br />

269 Vgl. dazu auch Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 60ff.<br />

92


Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll.<br />

Besonders deutlich treten diese Beziehungen in den Takten 21-25 von Liszts oben<br />

erwähntem Klavierstück Unstern! zum Vorschein (Abbildung 44). In Takt 22 würde der<br />

Hörer hier – mit dem hinzugefügten F im Bass – als Zentralklang wahrscheinlich f-Moll<br />

annehmen, in den Takten 23-25 kommt es jedoch zu einer Umspielung eines übermäßigen<br />

Dreiklangs auf E. Strukturell gesehen vereint diese Stelle sowohl die Charakteristik<br />

von E-Übermäßig als auch von F-Vermindert.<br />

Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25.<br />

Die Beziehung der beiden Zentralklänge auf C <strong>und</strong> E in der Einleitung zu Wagners<br />

Tristan sind den Beziehungen zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll bei Liszt nicht unähnlich. So<br />

ist die Tonart C-Dur als Dominante zu f-Moll in dem oben vorgestellten Schema sogar<br />

implizit vorhanden (vgl. Abbildung 43d). Die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen<br />

C-Dur <strong>und</strong> E-Dur sind zum Vergleich in Abbildung 45 dargestellt. E-Dur hat mit C-Dur<br />

einen gemeinsamen Ton E, der jeweils der Gr<strong>und</strong>ton bzw. die Terz der Akkorde ist.<br />

Direkt sind die beiden Akkorde über den übermäßigen Dreiklang auf C bzw. E verb<strong>und</strong>en,<br />

mit dem beide Klänge jeweils zwei gemeinsame Töne teilen. Indirekt besteht<br />

auch noch eine Verbindung über F-Vermindert, das aus Sicht von C-Dur als<br />

Dominantseptnonenakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> Quinte gedeutet werden kann.<br />

93


Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur.<br />

Unter diesen Gesichtspunkten kann der Tristan-Akkord in Takt 2 wenigsten auf drei<br />

verschiedene Weisen gedeutet werden: aus Sicht der <strong>Klangzentren</strong> a-Moll bzw. C-Dur<br />

<strong>und</strong> aus Sicht des Klangzentrums E-Dur. Im ersten Fall könnte man den Tristan-Akkord<br />

als Vorhalt zu einem übermäßigen Terzquartakkord deuten, also doppeldominantisch zu<br />

a-Moll (Abbildung 46 links) oder dominantisch zu C-Dur. Die Deutung in a-Moll<br />

könnte man als die traditionelle funktionstheoretische Erklärung des Tristan-Akkords<br />

ansehen. 270 Dem zufolge müsste man den Melodieschritt Gis–A als eine Bewegung von<br />

der Sext zur Sept hören – das entspricht aber kaum der tatsächlichen Wahrnehmungssituation.<br />

Aus Sicht des Klangzentrums E-Dur ergibt sich dagegen ein etwas anderes<br />

Bild. Der halbverminderte Septakkord auf F hat wie der verminderte Dreiklang auf F<br />

(vgl. Abbildung 45) zwei gemeinsame Töne mit E-Dur (Gis <strong>und</strong> H), eine umständliche<br />

Deutung aus Sicht der Dominante ist also gar nicht unbedingt notwendig. Statt dessen<br />

könnte man den halbverminderten Septakkord auf F bereits als einen direkten Vorhalt<br />

zur Tonika E-Dur deuten (Abbildung 46 rechts). 271 Die Melodielinie Gis–A–Ais–H<br />

wäre dann einfach ein Durchgang von der Terz zur Quint des Zentralklanges E-Dur <strong>und</strong><br />

die kleine Sept könnte als zusätzliche Farbe des Zielklanges bewertet werden.<br />

F& : / D7<br />

Y7 _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 8<br />

5ö 2ö _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ _ 1<br />

Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll (links) <strong>und</strong> aus Sicht von E-Dur (rechts).<br />

270<br />

Vgl. Erpf, Studien zur Harmonie- <strong>und</strong> Klangtechnik, S. 162.<br />

271<br />

Erpf bezeichnet diese Beziehung als Doppelleittonklang da die Prim durch zwei Leittöne erreicht wird<br />

(vgl. Ebda., S. 51 u. S. 162.).<br />

94


Jedoch entspricht auch diese Interpretation nicht in jeder Hinsicht unserer Wahrnehmung<br />

der ersten Takte des Tristan. Vielmehr scheint es eher so zu sein, dass wir<br />

eine Kombination beider genannten Varianten hören <strong>und</strong> sich insofern auch alle<br />

Akkorde – a-Moll, C-Dur <strong>und</strong> E-Dur – neben einander als <strong>Klangzentren</strong> etablieren. Die<br />

oben erwähnte Beziehung zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur über den verminderten Dreiklang<br />

auf F (vgl. Abbildung 45) ist es auch, die zum Schluss des Vorspiels die Interpretation<br />

der Anfangstakte in c-Moll ermöglicht (vgl. Abbildung 42).<br />

Für die weiteren Takte ergibt sich, unter Bezug auf die beiden Zentralklänge C-Dur <strong>und</strong><br />

E-Dur folgendes Bild: Der Tristan-Akkord in Takt 6 (As-Halbvermindert) dient als<br />

Bindeglied zwischen dem in Takt 3 erreichten Zentralklang E 7 <strong>und</strong> der Dominante G 7<br />

des zweiten Zentralklangs C, in den sich die zweite Phrase in Takt 7 auflöst (Abbildung<br />

47 links). Der halbverminderte Septakkord auf As fügt dem Zentralklang E 7 dabei<br />

lediglich die große None hinzu (Abbildung 47 rechts) <strong>und</strong> hat mit dem nachfolgenden<br />

G 7 wiederum die Terz <strong>und</strong> die Quint gemeinsam. Der erreichte Dominantseptakkord auf<br />

G kann auf formaler Ebene als ein vorübergehender Zentralklang zwischen den Klängen<br />

E 7 <strong>und</strong> H 7 angesehen werden.<br />

A(E-Dur) 3ö Y2(E-Dur) D(C-Dur)<br />

Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8 (links); Verbindung zwischen E 7 <strong>und</strong> dem halbverminderten<br />

Septakkord auf Gis.<br />

Der halbverminderte Sek<strong>und</strong>akkord in Takt 10 stellt entsprechend der Interpretation in<br />

Abbildung 41 einen Vorhalt zu einem übermäßigen Dreiklang auf C dar. Dieser Dreiklang<br />

steht zu den Zentralklängen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur im selben Verhältnis <strong>und</strong> enthält<br />

von beiden Klängen den Gr<strong>und</strong>ton sowie die Terz (vgl. Abbildung 45). Die Verbindung<br />

zur nachfolgenden Dominante von E könnte man dem entsprechend wiederum aus Sicht<br />

beider Zentralklänge deuten. In Takt 16 wird H 7 schließlich in den Zentralklang E 7<br />

aufgelöst, der aber sofort zur Subdominante von C-Dur (T. 17) weitergeführt wird.<br />

95


Das darauf folgende prägnante Thema (Abbildung 48, T. 17-22, „Motiv der Blickbegegnung“),<br />

das vom Klangzentrum C-Dur in die Region der Subdominantparallele d-<br />

Moll moduliert (T. 22), ist für den weiteren harmonischen Verlauf des Vorspiels von<br />

wesentlicher Bedeutung. Zunächst bestätigen diese Takte den Zentralklang C-Dur, in<br />

den darauf folgenden Takten 23-29 wird jedoch als Ausgleich sofort wieder E-Dur in<br />

das Zentrum gerückt (bzw. in T. 28f die Dominante zu E-Dur). Auch der Zentralklang<br />

a-Moll gewinnt durch die Ausweichung zur Subdominante d-Moll (T. 22) wieder<br />

implizit an Bedeutung.<br />

Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29.<br />

Nach zwei Takten Überleitung (T. 30f) erklingt dieses Thema ein zweites Mal in C-Dur,<br />

allerdings in einer Variation <strong>und</strong> mit leicht veränderter Harmonisierung (Abbildung 49,<br />

T. 33-36). Interessant ist, dass Wagner nun auch den Zentralklang C-Dur ganz offen als<br />

Dominantseptakkord ohne Auflösung einsetzt. Zunächst in Takt 35 als Vorbereitung des<br />

anschließenden g-Moll-Dreiklangs <strong>und</strong> schließlich auch in Takt 37f als Abschluss der<br />

Phrase. Takt 41f endet abermals auf der Dominante des zweiten Zentralklang E-Dur, der<br />

in Takt 46 auch bestätigt wird.<br />

96


Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42.<br />

In den Takten 55-63 tritt das Thema schließlich zweimal hintereinander auf, wobei mit<br />

den beiden neuen Themenvarianten wiederum die beiden <strong>Klangzentren</strong> C-Dur <strong>und</strong> E-<br />

Dur einander gegenübergestellt werden (Abbildung 50). In den Takten 55-58 steht das<br />

Thema zunächst in E-Dur <strong>und</strong> ist dabei um einen halben Takt verschoben. In Takt 58<br />

moduliert das Thema jedoch nicht wie gewohnt zur Subdominantparallele fis-Moll,<br />

sondern endet mit einem Trugschluss auf einem D-Dur-Dreiklang in erster Umkehrung.<br />

Dieser leitet als Doppeldominante in die zweite Themenvariante über, die nun in C-Dur<br />

erscheint (59-62). In Takt 62 wird das Thema dann ein weiteres Mal nach E-Dur<br />

weitergeführt <strong>und</strong> in dieser Tonart endet der Abschnitt schließlich. Es folgt ein ausgedehnter<br />

Orgelpunkt über dem Klangzentrum E 7 in den Takten 63-70, der mit der<br />

Akkordfolge E 7 –G 7 –H 7 –E 7 der Einleitung beendet wird (T. 70-73).<br />

97


Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63.<br />

Eine weitere sehr interessant Stelle in Bezug auf das Klangzentrum sind die Takte 78-<br />

83. Hier wird zunächst in den Takten 78f ein halbverminderter Septakkord auf C umspielt,<br />

der in Takt 79 über den Dominantseptakkord B 7 zu einem halbverminderten<br />

Septakkord auf F weitergeleitet wird. Man könnte hier im ersten Moment vermuten,<br />

dass das Klangzentrum es-Moll ist, dies wird jedoch zu keinem Zeitpunkt bestätigt.<br />

Statt dessen scheint es in den folgenden 4 Takten fast, als würde der halbverminderte<br />

Septakkord, der enharmonisch umgedeutet dem Tristan-Akkord aus Takt 2 entspricht,<br />

für kurze Zeit selbst zu einem eigenständigen Klangzentrum werden (Abbildung 51).<br />

Besonders auffällig ist dabei auch, dass in Takt 80 ein E-Dur-Dreiklang enharmonisch<br />

umgedeutet <strong>und</strong> nun auf den halbverminderten Septakkord auf F bezogen wird (Ces–<br />

As–E, 6. Achtel). Dies suggeriert, dass Wagner den hohen Verwandtschatftsgrad dieser<br />

beiden Akkorde bewusst ausgenutzt hat, um unterschiedlichste harmonische Beziehungen<br />

zu erzeugen. In Takt 83 wird der Tristan-Akkord wieder in seine ursprüngliche<br />

Gestalt umgedeutet <strong>und</strong> löst sich dem Beginn entsprechend in den Dominantseptakkord<br />

E 7 auf (T. 84). Damit erfüllen die Takte 80-83 gewissermaßen auch die Funktion eines<br />

Auftaktakkords zu dem Zentralklang E 7 .<br />

98


Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84.<br />

Am Beispiel der Tristan-Einleitung konnte gezeigt werden, dass die Annahme mehrerer<br />

<strong>Klangzentren</strong> in romantischer Musik aus analytischer Sicht durchaus eine Berechtigung<br />

hat. Ob Wagner tatsächlich sowohl E-Dur als auch C-Dur als Zentralklänge konzipiert<br />

bzw. komponiert hat, ist eine Frage, die sich nur schwer beantworten lässt – es gibt in<br />

der Tristan-Einleitung jedoch auf mikro- <strong>und</strong> makroformaler Ebene mehrere Anzeichen<br />

die darauf hindeuten. Durch die besondere Behandlung des Dominantseptakkords sowie<br />

des halbverminderten Septakkords ist diese Einleitung auch ein Beispiel dafür, dass<br />

ursprünglich dissonante Klänge in der Spätromantik zunehmend als eigenständige <strong>und</strong><br />

stabile <strong>Klangzentren</strong> eingesetzt wurden. In der Entwicklung der europäischen Musikgeschichte<br />

kann dies als Vorläufer für komplexere <strong>Klangzentren</strong> angesehen werden, wie<br />

sie später zum Beispiel von Skrjabin, Bartók oder Schönberg eingesetzt wurden.<br />

99


2.3 Richard Wagner: Parsifal, Vorspiel zum dritten Akt<br />

Im Vorspiel zum dritten Akt des Parsifal führt Wagner die Techniken des Tristan-<br />

Vorspiels weiter. Diesmal steht jedoch nicht ein Dominantseptakkord als Zentralklang<br />

im Vordergr<strong>und</strong>, sondern ein verminderter Septakkord. Der verminderte Septakkord hat<br />

hier als Klangzentrum auch eine tonsymbolische Bedeutung. Das Vorspiel stellt Parsifals<br />

Irrfahrt dar <strong>und</strong> es gibt wohl keinen Klang, der innerhalb der Dur-Moll-Harmonik<br />

eine harmonische Irrfahrt besser ausdrücken könnte, als der verminderte Septakkord;<br />

von dem aus in praktisch alle Tonarten moduliert werden kann, der dabei jedoch keine<br />

Tonart in besonderer Weise hervorhebt. In den ersten vier Takten des Vorspiels<br />

(Abbildung 52) könnte man – den Vorzeichen entsprechend – als Klangzentrum zunächst<br />

b-Moll vermuten. Dafür spricht, dass die ersten drei Töne (B–F–Des) eine<br />

Zerlegung eines b-Moll-Dreiklangs sind <strong>und</strong> dass ein b-Moll-Dreiklang in erster Umkehrung<br />

die letzte Viertel im zweiten Takt bildet. Auch der dritte Takt ließe sich aus<br />

Sicht von b-Moll sehr gut deuten. Der es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten<br />

Viertel dieses Taktes wäre dann eine Subdominante, die auf der vierten Viertel in die<br />

Dominante F 7 mit Quartvorhalt mündet. Diese offensichtlichen Bezüge zu b-Moll<br />

werden jedoch immer wieder durch verminderte Septakkorde eingetrübt. Im zweiten<br />

Takt auf der zweiten Viertel sowie zu Beginn des dritten Takts klingt jeweils ein verminderter<br />

Septakkord auf G, der sich aus Sicht von b-Moll nur schwer erklären lässt.<br />

Auf der zweiten Viertel des vierten Taktes klingt ein verminderter Septakkord auf Ges,<br />

der sich in b-Moll immerhin als Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton deuten ließe. Allerdings<br />

wäre dann die Weiterführung dieses Klangs in den verminderten Septakkord auf D (T.<br />

4, 4. Viertel) sehr ungewöhnlich.<br />

100


Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4.<br />

Abbildung 53 zeigt eine harmonische Reduktion dieser Takte mit hinzugefügten<br />

Akkordsymbolen, in denen die verminderten Septakkorde hervorgehoben wurden. Die<br />

harmonischen Beziehungen, die Wagner in diesen vier Takten vorstellt, sind bis auf<br />

wenige Ausnahmen für den gesamten weiteren Verlauf des Vorspiels gr<strong>und</strong>legend <strong>und</strong><br />

kehren in den unterschiedlichsten Varianten wieder.<br />

Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harmonische Reduktion.<br />

Bevor ich mich der Analyse dieses Vorspiels im Detail widme, diskutiere ich zunächst<br />

einige harmonische Eigenschaften des verminderten Septakkords, die für die weitere<br />

Harmonik des Vorspiels wesentlich sind. Die wohl gr<strong>und</strong>legendste Eigenschaft des<br />

verminderten Septakkords ist, dass er wie der übermäßige Dreiklang ein äquidistanter<br />

Akkord ist, der die Oktave in vier gleiche Teile teilt. Dem entsprechend gibt es – bezogen<br />

auf den Tonvorrat – nur drei unterschiedliche verminderte Septakkorde. Daraus<br />

ergibt sich, dass jeder verminderte Septakkord zu den beiden anderen jeweils im Abstand<br />

einer kleinen Sek<strong>und</strong> steht. Wenn man den verminderten Septakkord als Klangzentrum<br />

annimmt, dann können also streng genommen nur drei dieser <strong>Klangzentren</strong> mit<br />

unterschiedlichem Tonvorrat während eines Werks verwendet werden (sofern man von<br />

101


einer gleichstufigen zwölftönigen Stimmung ausgeht). Die „Modulation“ von einem<br />

verminderten Septakkord in einen anderen kann also einfach durch eine harmonische<br />

Rückung des Zentralklangs um eine kleine Sek<strong>und</strong> geschehen. Diese Akkordketten aus<br />

verminderten Septakkorden sind seit dem Barock üblich <strong>und</strong> wurden auch von Franz<br />

Liszt gerne eingesetzt, wie beispielsweise im Klavierstück La lugubre gondola II. 272<br />

Dabei ist die traditionelle Variante das Verschieben eines verminderten Septakkords um<br />

eine kleine Sek<strong>und</strong> nach unten (aus funktionstheoretischer Sicht eine Dominantbeziehung<br />

273 ), aber auch das Verschieben um eine kleine Sek<strong>und</strong> nach oben ist durchaus<br />

üblich (vgl. z.B. J. S. Bachs Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge BWV 903, T. 34;<br />

Abbildung 58 weiter unten). Genau diese Art der harmonischen Rückung findet sich im<br />

Prinzip auch in den Takten 3-4 des hier behandelten Parsifal-Vorspiels, allerdings wird<br />

die harmonische Folge G°–Ges°–F° (D im Bass) durch die umgebenden Harmonien<br />

überdeckt. In diesen beiden Takten erklingt damit also auch der gesamte Tonvorrat der<br />

Zwölftonleiter.<br />

Eine weitere Eigenschaft des verminderten Septakkords die sich aus den bisherigen<br />

Eigenschaften ergibt ist, dass jeder Ton der restlichen Zwölftonskala als eine direkte<br />

Nebennote des verminderten Septakkords angesehen werden kann. Der verminderte<br />

Septakkord ist tatsächlich der einzige Akkord, bei dem jeder akkordfremde Ton der<br />

Zwölftonskala von einem Akkordton genau eine kleine Sek<strong>und</strong>e entfernt ist. Abbildung<br />

54 zeigt die verschiedenen Stufen des verminderten Septakkords auf C <strong>und</strong> verdeutlicht<br />

damit auch diesen Zusammenhang: Jede akkordfremde Stufe kann chromatisch in einen<br />

Akkordton weitergeleitet werden. Ich werde im Folgenden Stufenbezeichnungen bezogen<br />

auf den verminderten Septakkord gemäß Abbildung 54 benennen. Dabei bezeichnen<br />

die Stufen I, III, V <strong>und</strong> VII die Akkordtöne des verminderten Septakkords <strong>und</strong><br />

die Stufen II, IV, VI <strong>und</strong> VIII die akkordfremden Töne. Akkordfremde Töne werden<br />

immer mit einem Vorzeichen (Kreuz <strong>und</strong> B) versehen um ihre chromatische Nähe zu<br />

einem der Akkordtöne zu kennzeichnen.<br />

272 Vgl. Kleinrath, Kompositionstechniken, S. 11f.<br />

273 Der verminderte Septakkord entspricht dann einer Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton mit tiefalterierter None<br />

<strong>und</strong> Sept im Bass. Die Sept löst sich dabei um eine kleine Sek<strong>und</strong> nach unten in die Terz des nächsten<br />

Akkords auf, bei dem es sich wiederum um eine Dominante ohne Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> tiefalterierter None<br />

handelt, diesmal jedoch mit der Terz als Basston.<br />

102


Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.<br />

Die oktatonischen Skalen, die mit dem verminderten Septakkord in einer engen Beziehung<br />

stehen, können auch als Durchgänge dieses Akkords angesehen werden. Dieser<br />

Zusammenhang wird in Abbildung 55 dargestellt. Dabei entspricht Abbildung 55a der<br />

Ganzton-Halbton-Skala <strong>und</strong> Abbildung 55b der Halbton-Ganzton-Skala auf C.<br />

Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verminderten Septakkords.<br />

Wenn der verminderte Septakkord das harmonische Klangzentrum darstellt, dann<br />

können seine Nebennoten nicht nur als Durchgänge angesehen werden, sondern auch als<br />

Vorhalte. Wiederum ist dabei jede Nebennote chromatischer Vorhalt eines Akkordtons.<br />

Abbildung 56 zeigt die möglichen chromatischen Vorhalte zu einem verminderten<br />

Septakkord auf C. Die Akkordtypen, die auf den Vorhaltstönen entstehen, sind dabei<br />

halbverminderte Septakkorde (Abbildung 56a) <strong>und</strong> Dominantseptakkorde (Abbildung<br />

56b), die in Kleinterzbeziehungen sowie im Tritonusabstand zu einander stehen. Die<br />

Gr<strong>und</strong>töne dieser Septakkorde ergeben damit wiederum den Tonvorrat eines verminderten<br />

Septakkords (im Falle der Dominantseptakkorde H–D–F–A).<br />

103


Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />

Die Auflösung des halbverminderten Septakkords im vierten Takt von Abbildung 56a<br />

(CØ7 _ Cº7) entspricht im Wesentlichen der ersten Auflösung des Tristan-Akkords im<br />

Tristan-Vorspiel, mit dem Unterschied, dass sich der halbverminderte Septakkord dort<br />

in einen Dominantseptakkord auflöst, der Basston also ebenfalls chromatisch nach<br />

unten weitergeführt wird (FØ7 _ E7). Abbildung 57 verdeutlicht diesen Zusammenhang:<br />

die Stimmführung der Tristan-Auflösung wurde dort in zwei separate Schritte aufgeteilt,<br />

die über den verminderten Septakkord verb<strong>und</strong>en sind. Auch J. S. Bach verwendet<br />

bereits vergleichbare Durchgänge <strong>und</strong> Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />

Abbildung 58 zeigt die Takte 32-35 aus Bachs Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge in d-<br />

Moll BWV 903. Der Dominantseptakkord auf D (Terz im Bass) in Takt 32 (3. Viertel)<br />

entspricht dabei der Beziehung des zweiten Takts von Abbildung 56b <strong>und</strong> kann als<br />

Durchgangsakkord des verminderten Septakkords auf Fis gedeutet werden. Der anschließende<br />

Dominantseptakkord auf H (Terz im Bass) entspricht dem ersten Takt von<br />

Abbildung 56b <strong>und</strong> löst sich diesmal in einen verminderten Septakkord auf Dis auf. Die<br />

in Abbildung 56 dargestellten Akkordbeziehungen entsprechen auch den „Tower<br />

Powers“ von Jack Douthett <strong>und</strong> Peter Steinbach (vgl. Abbildung 20).<br />

Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord.<br />

104


Abbildung 58: J. S. Bach, Chromatische Fantasie <strong>und</strong> Fuge in d-Moll BWV 903, T. 32-35.<br />

Eine weitere Möglichkeit diese Vorhalte zu harmonisieren besteht darin, dass die<br />

Vorhalte nicht als Septakkorde gesetzt werden, sondern als Dreiklänge. Dabei wird der<br />

Vorhaltston verdoppelt <strong>und</strong> um eine große Sek<strong>und</strong> in umgekehrter Richtung zum<br />

eigentlichen Vorhaltston aufgelöst. Abbildung 59 zeigt einige Möglichkeiten wie diese<br />

doppelten Vorhalte ausgesetzt werden können. Die Dreiklänge, die durch den doppelten<br />

Vorhalt gebildet werden, sind Moll- (Abbildung 59a) <strong>und</strong> Durdreiklänge (Abbildung<br />

59b).<br />

Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord.<br />

Durch diese recht einfache Systematik erhält man 16 Akkorde, die man direkt auf das<br />

Klangzentrum eines verminderten Septakkords beziehen kann. Dabei haben die Dreiklänge<br />

jeweils zwei, die Septakkorde drei gemeinsame Töne mit dem Klangzentrum.<br />

Erweitert man dies auf die restlichen verminderten Septakkorde, dann lassen sich alle<br />

Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge sowie alle halbverminderten Septakkorde <strong>und</strong> Dominantseptakkorde<br />

auf eines der drei <strong>Klangzentren</strong> beziehen. Dies liegt in der Struktur des verminderten<br />

Septakkords begründet: Jeder beliebige Mehrklang lässt sich chromatisch in die<br />

Akkordtöne eines verminderten Septakkords weiterführen.<br />

105


In der folgenden Analyse werde ich untersuchen, wie sich diese Akkordbeziehungen auf<br />

die Harmonik des Vorspiels zum 3. Akt des Parsifal auswirken. Gezeigt wurde bereits,<br />

dass die Tonart b-Moll in den ersten vier Takten immer wieder durch verminderte<br />

Septakkorde in Frage gestellt wird. Wenn wir die genannten Akkordbeziehungen auf<br />

den verminderten Septakkord auf G anwenden, dann ergibt sich folgendes Harmonieschema<br />

(Abbildung 60).<br />

Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G.<br />

Die Beziehungen zu b-Moll, Ges-Dur, G-Halbvermindert <strong>und</strong> dem Dominantseptakkord<br />

auf Ges sind in dieser Abbildung hervorgehoben, um ihre besondere Bedeutung für das<br />

Parsifal-Vorspiel (3. Akt) anzudeuten. Die Harmoniefolge der ersten drei Takte (b-Moll<br />

– Ges-Dur – Ges 7 – G° – b-Moll – G°; vgl. Abbildung 53) des Vorspiels lässt sich<br />

diesem Schema folgend als eine gerichtete Folge ansehen, die das Klangzentrum G°<br />

vorbereitet.<br />

Abbildung 61 zeigt die harmonischen Beziehungen der ersten vier Takte bezogen auf<br />

den verminderten Septakkord. Dabei werden mit den Zahlen die Stufen des verminderten<br />

Septakkords (vgl. Abbildung 54) in ähnlicher Weise bezeichnet, wie dies in<br />

Riemanns Funktionstheorie bezogen auf die Tonika geschieht. Aus dieser Sicht stellen<br />

die ersten beiden Takte einen Vorhalt zum verminderten Septakkord dar, der sich auf<br />

der zweiten Viertel des zweiten Taktes auflöst. Besonders interessant ist die zweite<br />

Hälfte des dritten Taktes. Dieser kann sowohl aus Sicht von G° als auch aus Sicht des<br />

nachfolgenden Ges° gedeutet werden <strong>und</strong> wird somit als harmonisches Bindeglied<br />

zwischen G° <strong>und</strong> Ges° genutzt. Die melodische Linie der Oberstimme (b–c 1 –es 1 –des 1 )<br />

ist – bezogen auf G° – eine Umspielung der Quint, bereitet jedoch das Klangzentrum<br />

Ges° bereits vor: Der zugr<strong>und</strong>e liegende es-Moll-Sextakkord ohne Quint auf der dritten<br />

106


Viertel dieses Taktes nimmt aus Sicht von Ges° die gleiche Funktion ein wie der b-<br />

Moll-Dreiklang in G°. Die Auflösung des F 7 nach Ges° im vierten Takt (#8–1) ent-<br />

spricht der Auflösung von Ges 7 nach G° im zweiten Takt. Den verminderten Septakkord<br />

auf D habe ich, dem Tonvorrat entsprechend, in einen verminderten Septakkord auf F<br />

umgedeutet, um so den harmonischen Verlauf in kleinen Sek<strong>und</strong>en deutlicher darzu-<br />

stellen (Gº – Gbº – Fº). Auch im weiteren Verlauf der Analyse werde ich versuchen<br />

verminderte Septakkorde nicht nur gemäß ihrem tatsächlichen Gr<strong>und</strong>ton zu deuten,<br />

sondern auch gemäß ihrer strukturellen <strong>und</strong> formalen Funktion.<br />

Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den verminderten<br />

Septakkord.<br />

Abbildung 62 zeigt den harmonischen Prozess der ersten vier Takte in Form eines<br />

gerichteten Graphen. Die Bezeichnungen „+1“ <strong>und</strong> „-1“ beziehen sich dabei auf den<br />

verminderten Septakkord innerhalb desselben Rechtecks <strong>und</strong> stehen für die chromatische<br />

Erhöhung eines Akkordtons („+1“; z.B. b-Moll <strong>und</strong> G-Halbvermindert aus Sicht<br />

von G-Vermindert) bzw. die chromatische Erniedrigung eines Akkordtons (z.B. Ges-<br />

Dur oder Ges 7 aus Sicht von G-Vermindert). Die Pfeile markieren jene Zustandsänderungen<br />

der Akkorde, die in den jeweiligen Takten vorhanden sind. Man erkennt am<br />

Graphen deutlich, wie die Umspielung des verminderten Septakkords – <strong>und</strong> damit auch<br />

die dur-moll-tonalen Beziehungen – mit jedem neuen verminderten Septakkord weniger<br />

werden, bis in der zweiten Hälfte des vierten Takts nur noch die Auflösung von D-<br />

Halbvermindert in D-Vermindert überbleibt. Außerdem sieht man, dass die harmonischen<br />

Beziehungen in Bezug auf G° am konsequentesten auskomponiert wurden.<br />

107


Start<br />

+1 -1 +1 -1<br />

Gº<br />

T. 1-3 T. 3-4<br />

T. 4<br />

Fº<br />

+1<br />

Gbº<br />

Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung des harmonischen<br />

Prozesses.<br />

In ähnlicher Weise wie während des Tristan-Vorspiels werden in diesen ersten Takten<br />

des Parsifal-Vorspiels (3. Akt) mehrere <strong>Klangzentren</strong> etabliert, die nicht nur analytische<br />

Konsequenzen fordern, sondern auch unsere Wahrnehmung des Werks nachhaltig<br />

beeinflussen. Interessanterweise nimmt jedoch das Klangzentrum b-Moll im weiteren<br />

Verlauf des Vorspiels eine relativ unbedeutende Rolle ein. Während der Dominantseptakkord<br />

im Tristan-Vorspiel noch der Tonika in mancher Beziehung untergeordnet war,<br />

komponiert Wagner den verminderten Septakkord nun mit all seinen Konsequenzen als<br />

eigenständiges Klangzentrum. Fast jede Harmoniefolge des Parsifal-Vorspiels lässt sich<br />

direkt auf die harmonischen Beziehungen in Abbildung 60 zurückführen <strong>und</strong> mündet in<br />

einen verminderten Septakkord, der ohne jedwede Auflösung als tonaler Bezugspunkt<br />

dient.<br />

In den Takten 5-12 (Abbildung 63) stehen die verminderten Septakkorde auf D <strong>und</strong> E/G<br />

im Zentrum. Dabei werden die Takte 5-6 in den Takten 7-8 um einen Ganzton höher<br />

sequenziert (T. 7) bzw. um einen Halbton höher imitiert (T. 8). Die Dreiklänge gis-Moll<br />

<strong>und</strong> E-Dur in Takt 5 stehen im selben Verhältnis zu F° wie zuvor b-Moll <strong>und</strong> Ges-Dur<br />

zu G°. Dieser Zusammenhang tritt auch in der Sequenz in Takt 8 in Erscheinung, in<br />

dem wiederum b-Moll <strong>und</strong> Ges-Dur (enharmonisch umgedeutet) klingen. Der C-Dur-<br />

Dreiklang im fünften Takt leitet die „Tonart“ E°/G° ein <strong>und</strong> führt damit wieder zum<br />

Zentralklang der ersten Takte zurück. Der Dominantseptakkord auf Fis im sechsten Takt<br />

108


ist, vergleichbar mit dem Ges 7 in Takt 2, ein Vorhaltsakkord zu E°/G°. Die Auflösung<br />

des halbverminderten Septakkords in Takt 7 (b8–7) entspricht dabei der Auflösung in<br />

Takt 4 (3. Viertel) <strong>und</strong> kann wie gesagt als Variante der Tristan-Auflösung angesehen<br />

werden. Dieselbe Auflösung wird auch in Takt 10 wieder verwendet <strong>und</strong> hat im weiteren<br />

Verlauf des Vorspiels eine wesentliche motivische Bedeutung. In Takt 12 löst sich<br />

die Phrase schließlich erneut nach G° auf, sodass G° als die „Haupttonart“ des Vorspiels<br />

vermutet werden kann. Abbildung 64 zeigt wiederum einen gerichteten Graphen dieses<br />

Prozesses, bei dem die besondere Bedeutung von G-Vermindert deutlich sichtbar wird.<br />

Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harmonische Reduktion.<br />

109


Gº<br />

T. 12<br />

Start<br />

Dº -1 -1 +1<br />

+1<br />

T. 8-11<br />

Dº +1<br />

-1<br />

T. 5 T. 5-8<br />

D-Dur<br />

Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung des harmonischen<br />

Prozesses.<br />

Aus formaler Sicht hat das Parsifal-Vorspiel damit in den Takten 1-12 in gewissem<br />

Sinne eine „Kadenz“ über dem verminderten Septakkord auf G durchlaufen, in der auch<br />

kurzzeitig in die beiden „Nebentonarten“ Ges° <strong>und</strong> F° ausgewichen wurde. Takt 12, der<br />

in Takt 13 wiederholt wird („Ritt-Motive“ K<strong>und</strong>rys; erstmals Beginn des I. Akts),<br />

scheint G° als Klangzentrum (Abbildung 65) zu bestätigen. Die Harmonik dieses Taktes<br />

wird im weiteren Verlauf des Stückes noch öfters aufgegriffen <strong>und</strong> lässt die bisher<br />

genannten harmonischen Zusammenhänge besonders deutlich erkennen. Der halbverminderte<br />

Septakkord auf E sowie der Es-Dur-Dreiklang stehen dabei zu G° im selben<br />

Verhältnis wie der Ges-Dur-Dreiklang <strong>und</strong> der halbverminderte Septakkord auf G (vgl.<br />

Abbildung 60). Die Takte 12-13 werden in den Takten 14-15 um einen Halbton höher<br />

auf As° sequenziert <strong>und</strong> in Takt 16 nochmals auf A° <strong>und</strong> B° (diesmal in einer diminuierten<br />

Variante). Takt 17 führt schließlich über den verminderten Septakkord auf As/F<br />

wieder zurück zu G° (Abbildung 66). Somit bilden die Takte 12-18 eine weitere<br />

„Kadenz“ in G°, diesmal werden die „Nebentonarten“ jedoch in aufsteigenden Sek<strong>und</strong>enschritten<br />

erreicht: G° – As° – A° – B°/G° – As° – G°.<br />

Gº<br />

110


Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harmonische Reduktion.<br />

Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug).<br />

In Takt 18 werden deutlich Bezüge zum Klangzentrum e-Moll hergestellt, das wie b-<br />

Moll in Takt 1 als Nebenklang zu G° aufgefasst werden kann <strong>und</strong> zu b-Moll im Tritonusverhältnis<br />

steht. Auch das Motiv des ersten Taktes wird hier erneut aufgenommen<br />

<strong>und</strong> verarbeitet. Die halbverminderten Septakkorde auf Cis (1. <strong>und</strong> 2. Viertel) <strong>und</strong> G (3.<br />

Viertel) sind wiederum als Nebenklänge in Bezug auf G° zu deuten.<br />

111


Die Takte 19-21 verarbeiten nochmals die Harmonik aus Takt 12 <strong>und</strong> leiten in Takt 21<br />

über G° in das „Gralsmotiv“ (Abbildung 67, T. 21-22) über, das zum ersten Mal im<br />

Vorspiel scheinbar eindeutige dur-moll-tonale Harmonik in das Zentrum der Aufmerksamkeit<br />

stellt. Doch auch die in der ursprünglichen Fassung reine Diatonik des Gralsmotivs<br />

ist hier in verminderte Septakkorden eingebettet. So löst sich die Phrase zum<br />

Ende von Takt 21 nicht wie erwartet nach Es-Dur auf, sondern wird in einen verminderten<br />

Septakkord auf E weitergeführt (T. 22, 1. Viertel). In Takt 23 wird die Sequenzierung<br />

des Motivs eine große Sept höher (D-Dur) erneut in einen verminderten Septakkord,<br />

dieses Mal auf H, „aufgelöst“. Die hörpsychologische Wirkung des Gralsmotivs<br />

im Kontext des verminderten Klangzentrums ist erstaunlich <strong>und</strong> wirkt hier fast wie ein<br />

Besucher eines fremden Sterns. Dies zeigt wie gefestigt die harmonischen Bezüge um<br />

den verminderten Septakkord an dieser Stelle bereits sind <strong>und</strong> dass sich die daraus<br />

resultierende musikalische Syntax offensichtlich auch im (Unter-) Bewusstsein des<br />

Hörers etabliert hat.<br />

Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug).<br />

In den folgenden Takten (Abbildung 68, T. 22-37) wird hauptsächlich das Klangzentrum<br />

H° bzw. später As° auskomponiert. Auf großformaler Ebene erfüllt dieser<br />

durchführungsartige Abschnitt eine ähnliche Funktion wie ein Auftaktakkord in durmoll-tonaler<br />

Musik. Die bisherigen harmonischen Bezüge <strong>und</strong> Motive werden – hier<br />

bezogen auf H° – weiter entwickelt <strong>und</strong> variiert. Besonders auffällig ist an diesen<br />

112


Takten, dass die Bedeutung des „Nonvorhalts“ zum verminderten Septakkord nun in<br />

besonderer Weise akzentuiert wird (in der Abbildung durch vertikale Pfeile markiert).<br />

Diese Vorhalte entsprechen dem Vorhalt des halbverminderten Septakkords auf H in<br />

Takt 23 (bzw. T. 4, T. 7 <strong>und</strong> T. 10), mit dem Unterschied, dass der Vorhaltston nun im<br />

Akkord bereits enthalten ist. Die Sequenz des „Torenspruch-Motivs“ der Takte 24-27 in<br />

den Takten 28-31 führt dazu, dass in den Takten 23-33 „Nonvorhalte“ die strukturelle<br />

Basis bilden, welche den Auflösungen der halbverminderten Septakkorde HØ (T. 23), FØ<br />

(T. 29) <strong>und</strong> AbØ (T.30-33) entsprechen. Erst in Takt 34 löst sich diese harmonische<br />

Folge schließlich in einen verminderten Septakkord auf As auf. Aus dieser Sicht könnte<br />

man diesen Abschnitt als einen ausgedehnten Vorhalt zum verminderten Septakkord<br />

ansehen. Dies entspricht der Deutung, dass Wagner hier einen durchführungsartigen<br />

Abschnitt im Sinne eines Auftaktakkords komponiert hat, allerdings mit dem Unterschied,<br />

dass der Auftaktakkord sich zunächst nach As° <strong>und</strong> nicht nach G° – dem eigentlichen<br />

Klangzentrum des Vorspiels – auflöst (G° erscheint erst wieder in Takt 37).<br />

Zudem ist die Ähnlichkeit dieses Abschnitts zu den Takten 79-84 des Tristan-Vorspiels<br />

auffällig: Dort wurde der halbverminderte Septakkord als ein Auftaktakkord zum<br />

Zentralklang E 7 auskomponiert (vgl. Abbildung 51).<br />

Die beiden Septakkorde G 7 <strong>und</strong> B 7 in Takt 24 <strong>und</strong> Takt 28 stellen in Bezug auf H°<br />

wiederum jene Nebenklänge dar, die im Parsifal-Vorspiel schon zuvor mehrfach<br />

Verwendung fanden (vgl. z.B. T. 3, 6 <strong>und</strong> 9); der Klang Ces–Es–B in Takt 34 ist in<br />

entsprechender Weise aus Sicht von As° zu deuten. In Takt 35, kurz vor dem Erreichen<br />

des Zentralklangs G°, wird wiederum mit einer Auflösung eines halbverminderten<br />

Septakkords (EbØ) nach Bes/A° ausgewichen. Die Takte 35-37 wirken daher wie eine<br />

kleine Abschlusskadenz des Abschnitts (T. 24-37) auf As°. An der Notation des Fes-<br />

Dur-Dreiklangs in Takt 34 (As-Fes-Ces) erkennt man dabei recht deutlich, dass dieser<br />

Klang aus Sicht von As° zu interpretieren ist.<br />

113


Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harmonische Reduktion.<br />

Nach der Rückkehr zum Klangzentrum G° in Takt 37 folgt eine „diatonische“ Sequenz<br />

in kleinen Terzen, die diesen Zentralklang nochmals als „Haupttonart“ bestätigt<br />

(Abbildung 69, T. 39-43). Wagner setzt die harmonischen Beziehungen zwischen dem<br />

Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem Moll-Dreiklang zum verminderten Septakkord hier in<br />

besonders plakativer Weise aus. Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen<br />

(„Motiv der verdorrten Blumen“; Ende von Akt II) lösen sich die Dominantseptakkorde<br />

Es 7 (T. 39), C 7 (T. 41) <strong>und</strong> A 7 (T. 43) über die Molldreiklänge g-Moll, e-Moll <strong>und</strong> cis-<br />

Moll alle in den Tonvorrat des verminderten Septakkords auf G auf. Damit hat Wagner<br />

im Parsifal-Vorspiel (3. Akt) alle in Abbildung 56 <strong>und</strong> Abbildung 59 vorgestellten<br />

Möglichkeiten der Auflösung zum verminderten Septakkord zumindest einmal verwendet.<br />

Das Vorspiel endet schließlich in Takt 45 mit einem halbverminderten Septakkord<br />

auf Es. Im anschließenden Teil „Von dorther kam das Stöhnen“ löst Wagner<br />

diesen halbverminderten Septakkord – im Sinne des Tristan-Akkords – nach D-Dur auf<br />

<strong>und</strong> schließlich nach d-Moll.<br />

114


Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harmonische Reduktion.<br />

Wagner hat im Parsifal-Vorspiel zum dritten Akt die Konsequenzen aus dem Tristan-<br />

Vorspiel gezogen <strong>und</strong> den Zentralklang der Tonika fast vollständig durch einen (ursprünglich)<br />

dissonanten Akkordtyp – den verminderten Septakkord – ersetzt. Anders<br />

jedoch als in manchen Spätwerken Liszts schafft es Wagner im Pasifal-Vorspiel (3.<br />

Akt) durch den geschickten Einsatz von bekannten Akkordtypen – dem Dur- <strong>und</strong> Moll-<br />

Dreiklang, dem Dominantseptakkord <strong>und</strong> dem halbverminderten Septakkord – weiterhin<br />

das Gefühl dur-moll-tonaler Bezüge zu einem gewissen Grad aufrecht zu erhalten.<br />

Dennoch etabliert sich das Klangzentrum des verminderten Septakkords in einer Weise,<br />

dass Reste der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> (wie z.B. das Gralsmotiv in T. 21-22) hier wie<br />

Fremdkörper gegenüber der inhärenten musikalischen Syntax erscheinen.<br />

115


2.4 Arnold Schonbergs Frühwerk<br />

Arnold Schönberg war einer jener Komponisten, die in ihrer Musik die Dur-Moll-<br />

<strong>Tonalität</strong> an ihre Grenzen trieben <strong>und</strong> sich in letzter Konsequenz von ihr loslösten. 274<br />

Als Schönberg sich 1894 mit den Kompositionen Richard Wagners <strong>und</strong> Franz Liszts<br />

vertraut machte, hatte sich die harmonische Syntax der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> bereits<br />

zusehends von der Zentrierung auf einen einzelnen Zentralklang entfernt. Der hohe<br />

Grad chromatischer Stimmführung, die überschäumende Alterationstechnik sowie der<br />

Einsatz von symmetrischen Akkorden <strong>und</strong> äquidistanten Harmoniefolgen führten dazu,<br />

dass die Tonika nicht mehr im selben Maße die wichtige Funktion der formalen Gliederung<br />

ausüben konnte wie zuvor. Diese Entwicklung wurde auch durch die zunehmende<br />

Emanzipation der Dissonanz verstärkt. Dissonante Vielklänge, die nun auch als harmonische<br />

Ruhepunkte Verwendung fanden, stellten die Funktion der Tonika immer mehr<br />

in Frage. 275<br />

Schönberg war sich der Problematik bewusst <strong>und</strong> es hat den Anschein, dass er in seinen<br />

frühen Werken gezielt versuchte dieser Tendenz entgegenzuwirken. Die Tonika wurde<br />

von ihm in Form von Dur- <strong>und</strong> Moll-Dreiklängen in besonderer Weise akzentuiert, um<br />

so im formalen Verlauf „durch eine gewisse Einheitlichkeit eine gewisse Geschlossenheit<br />

zu erzielen“ 276 . Hans Redlich schrieb über Schönbergs <strong>Tonalität</strong>:<br />

Vergleicht man die Werke seiner ersten Periode mit gleichzeitig entstandenen Werken etwa von<br />

Strauß, Reger oder Pfitzner, so fällt vor allem bei Schönberg das starke Gravitieren zum F<strong>und</strong>amentalton,<br />

die ausgesprochene <strong>Tonalität</strong>sfarbe […] auf […]. […]<br />

Das Klangspiel in Es zu Anfang der Gurrelieder, das hartnäckige Zurückstreben zum d-Moll des<br />

Anfangs im d-Moll Quartett, das eigensinnige lydische E-Dur der Kammersymphonie welches<br />

das Werk wie eine Eisenklammer in allen Teilen zusammenhält – wo gibt es bei einem anderen<br />

Meister ähnliche Stellen, ja Werke von solcher tonaler Eindeutigkeit, von solcher Überbetonung<br />

der f<strong>und</strong>amentalen Gr<strong>und</strong>stimmung? 277<br />

274<br />

Dazu ist allerdings anzumerken, dass Schönberg in einigen seiner späten Werke, wie beispielsweise<br />

der zweiten Kammersymphonie op. 38 wieder zur <strong>Tonalität</strong> zurückkehrte <strong>und</strong> dabei einige Techniken<br />

der Zwölftonkomposition auch auf tonale Musik anwandte.<br />

275<br />

Vgl. auch Catherine Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies: the crystallization and redescovery of<br />

a style, Aldershot: Ashgate 2000, S. 1.<br />

276<br />

Schönberg, Harmonielehre, S. 27.<br />

277<br />

Hans Friedrich Redlich, Schönbergs <strong>Tonalität</strong>, in: Anrnold Schönberg <strong>und</strong> seine Orchesterwerke,<br />

Wien: Universal Edition 1927, S. 22-24, hier S. 22f.<br />

116


Doch konnte das gezielte Zentrieren auf den Zentralklang der Tonika den Tendenzen<br />

der neuen musikalischen Syntax offensichtlich nicht mehr länger entgegenwirken. Über<br />

sein zweites Streichquartett op. 10 (1907–1908), das als Wendepunkt den Übergang zur<br />

Atonalität kennzeichnet, schreibt Schönberg:<br />

Schon im ersten <strong>und</strong> zweiten Satz kommen Stellen vor, in denen die unabhängige Bewegung der<br />

einzelnen Stimmen keine Rücksicht darauf nimmt, ob deren Zusammentreffen in „anerkannten“<br />

Harmonien erfolgt. Dabei ist hier […] eine Tonart an allen Kreuzwegen der formalen Konstruktion<br />

deutlich ausgedrückt. Doch konnte die überwältigende Vielheit dissonanter Klänge nicht<br />

länger durch gelegentliche Anbringung von solchen tonalen Akkorden ausbalanciert werden, die<br />

man gewöhnlich zum Ausdruck einer Tonart verwendet. 278<br />

Im Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (1899) finden sich erste Anzeichen dafür, dass<br />

es Schönberg immer schwerer fiel, die Tonika als Zentralklang zu festigen. Catherine<br />

Dale kommt zu dem Schluss, dass:<br />

[…] as in [the first chamber symphony] op. 9, Schoenberg was uncertain about the amount of<br />

dominant preparation necessary in order to create closure in his tonally expanded style. […]<br />

Moreover, the evasion of the dominant and, in particular, its substitution by whole-tone and<br />

quartal harmonies […] are anticipated in op. 4 […]. 279<br />

Die Harmonik des Streichsextetts ist gekennzeichnet durch Passagen dur-moll-tonaler<br />

Dezentrierung zugunsten dissonanter Klänge sowie der anschließenden Rückkehr zur<br />

Tonika als formalen Bezugspunkt. Die Takte 138-139, die Schönberg selbst als eine<br />

Stelle unbestimmbarer <strong>Tonalität</strong> bezeichnete (vgl. S. 42), 280 weisen beispielsweise<br />

Gemeinsamkeiten mit der Zentrierung auf einen verminderten Septakkord auf, die<br />

bereits in der Harmonik des Parsifal-Vorspiels zum dritten Akt besprochen wurde (vgl.<br />

S. 101-106). Abbildung 70 zeigt, dass die Harmonik hier aus Sicht der verminderten<br />

Septakkorde D° <strong>und</strong> F° als Nebennoten bzw. Vorhalte gedeutet werden kann (die<br />

Zahlen beziehen sich dabei wie zuvor bei den Parsifal-Analysen auf die Stufen des<br />

verminderten Septakkords; vgl. dazu Seite 102 sowie Abbildung 54). Insofern ist<br />

tatsächlich die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> dieser Takte unbestimmbar, da das Klangzentrum<br />

nicht einen Dur- oder Moll-Dreiklang, sondern einen verminderten Septakkord darstellt.<br />

278 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />

279 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 6.<br />

280 Schönberg, Rückblick, S. 437.<br />

117


Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion.<br />

Auch der formale Zusammenhang wird in der Verklärten Nacht nicht mehr ausschließlich<br />

über die Tonika hergestellt. Statt dessen verwendet Schönberg einen<br />

Dominantseptnonenakkord mit der None im Bass, um die formale Gliederung hervorzuheben.<br />

Theodor W. Adorno schrieb:<br />

Dieser wechselnder Auflösungen fähige Akkord erscheint in der „Verklärten Nacht“ wiederholt,<br />

<strong>und</strong> zwar an entscheidenden Einschnitten der Form, absichtsvoll anorganisch. Er bewirkt<br />

Zäsuren im Idiom. Ähnlich verfährt dann Schönberg in der Ersten Kammersymphonie mit dem<br />

berühmt gewordenen, ebenfalls in der traditionellen Harmonielehre nicht verzeichneten Quartenakkord.<br />

Er wird zur Leitharmonie <strong>und</strong> markiert alle wichtigen Einschnitte <strong>und</strong> Verklammerungen<br />

der großen Form. 281<br />

Schönberg sah bekanntlich symmetrische Klänge wie den übermäßigen Dreiklang den<br />

Quartenakkord oder den sechsstimmigen Ganztonakkord, als Alterationen der Dominante<br />

an. In seiner Harmonielehre löste er diese Klänge konsequent in andere Klänge<br />

auf bzw. führte sie in andere Klänge weiter. Abbildung 71 zeigt die Auflösung des<br />

281 Theodor W. Adorno, Sprache <strong>und</strong> ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren, in: Theodor W.<br />

Adorno: Gesammelte Schriften Bd. 16 (Musikalische Schriften I-III), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978,<br />

S. 649-664, hier S. 655.<br />

118


Ganztonakkords (links) <strong>und</strong> des Quartenakkords (rechts); es fällt dabei auf, dass Schönberg<br />

den Quartenakkord hier nicht in Toniken, sondern in Dominanten auflöst.<br />

Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords (links) <strong>und</strong> des Quartenakkords (rechts) nach<br />

Schönberg. 282<br />

Dennoch sah Schönberg die symmetrischen Akkorde durchaus auch als eigenständige<br />

Klänge an. 283 Dies wird z.B. an seiner „Auflösung“ eines Quartenakkords in einen<br />

Ganztonakkord besonders deutlich. Abbildung 72 zeigt, wie ein Quartenakkord durch<br />

die chromatische Stimmenbewegung von drei Stimmen zunächst in einen Ganztonakkord<br />

geführt wird <strong>und</strong> anschließend durch das Weiterführen der übrigen drei Stimmen<br />

ein Quartenakkord um eine kleine Sek<strong>und</strong> tiefer entsteht. Dieses Beispiel weist erneut<br />

auf die große Bedeutung der chromatischen Stimmführung für die spättonale Harmonik<br />

hin (vgl. auch Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; S. 59f).<br />

Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord nach Schönberg. 284<br />

Der Dualismus zwischen Tonika <strong>und</strong> Dominante war in Schönbergs Musik besonders<br />

stark ausgeprägt. Schönberg ersetzte die Dominante sukzessive mit symmetrischen<br />

Klängen, die als „vagierende“ Akkorde in praktisch jede beliebige Tonart weitergeführt<br />

werden können. Dies führt zu einer Dezentrierung der dur-moll-tonalen Tonika in<br />

Passagen der Dominante einerseits <strong>und</strong> zu einer überbetonten Zentrierung der Tonika<br />

im Rahmen von Schlusskadenzen andererseits. In der symphonischen Dichtung für<br />

282 Schönberg, Harmonielehre, S. 469 u. 485.<br />

283 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 12.<br />

284 Schönberg, Harmonielehre, S. 485.<br />

119


Orchester Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5 (1902–1903) wurden Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde<br />

von Schönberg zum ersten Mal konsequent eingesetzt. 285 In seiner Harmonielehre<br />

stellt er eine Passage aus Pelleas <strong>und</strong> Melisande als Beispiel für Ganztonharmonik<br />

vor. 286 Durch die chromatische Gegenbewegung der Stimmen eines übermäßigen<br />

Dreiklangs entsteht auf jeder zweiten Viertel ein Ganztonakkord. Diese Technik ist in<br />

gewissem Sinne das Gegenteil von Richard Cohns „maximally smooth cycles“, da<br />

keiner der Akkorde einen gemeinsamen Akkordton besitzt. Es handelt sich also um<br />

einen „maximally rough cycle“, der auf jeder Viertel den gesamten Tonvorrat einer der<br />

beiden Ganztonskalen erklingen lässt. Die Ganztonskala bestimmt den Gesamtklang<br />

diese Stelle in einer Weise, dass sie selbst die Funktion eines Klangzentrums einnimmt.<br />

Abbildung 73: Schönberg, Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32. 287<br />

Schönbergs erste Schaffensperiode kulminierte in der Kammersymphonie op. 9. Es ist<br />

bekannt, dass Quarten- <strong>und</strong> Ganztonakkorde in diesem Werk eine wesentliche Rolle<br />

einnehmen <strong>und</strong> dabei den dur-moll-tonalen Kontext immer wieder in Frage stellen. In<br />

der Kammersymphonie folgt Schönberg mit einer Sonatensatzform 288 einem klaren durmoll-tonalen<br />

Formschema <strong>und</strong> setzt diesem formale Abschnitte gegenüber, deren<br />

<strong>Klangzentren</strong> auf Quarten- <strong>und</strong> Ganzton-Harmonik basieren. Dieses Prinzip stellt<br />

Schönberg bereits in den einleitenden Takten (Abbildung 74) der Kammersymphonie<br />

vor <strong>und</strong> es bestimmt von da an die gesamte harmonische Syntax. Zuerst wird in den<br />

Takten 1-2 ein Quartenakkord gesetzt, der in Takt 3 in einen unvollständigen Ganztonakkord<br />

weitergeführt wird. In Takt 4 löst sich dieser in einen F-Dur-Dreiklang auf (aus<br />

Sicht von E-Dur die Tonart des neapolitanischen Sextakkords).<br />

285<br />

Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 8.<br />

286<br />

Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 470.<br />

287<br />

Ebda.<br />

288<br />

Vgl. Claus-Steffen Mahnkopf, Gestalt <strong>und</strong> Stil. Schönbergs Kammersymphonie <strong>und</strong> ihr Umfeld,<br />

Kassel: Bärenreiter 1994, S. 35-46.<br />

120


Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug.<br />

Anthony Payne schrieb, dass<br />

the fact that many such paragraphs end in tonal cadence should not lead us to overemphasize the<br />

structural importance of tonality. The absence of key-feeling prior to these terminal points sometimes<br />

lends them an arbitrary air, and in theory their punctuating function could be replaced by<br />

one of the many referential features, harmonic, melodic or rhythmic. 289<br />

Catherine Dale weist in weiterer Folge darauf hin, dass diese weiterweisenden Merkmale<br />

(„referential features“), bei denen es sich unter anderem um Quarten- <strong>und</strong> Ganztonakkorde<br />

handelt, in Kadenzen nicht nur die Dominante, sondern gelegentlich auch<br />

die Tonika ersetzen. Die harmonischen Fortschreitungen basieren dabei auf dem Prinzip<br />

der stufenweisen Stimmführung. 290<br />

Das Quartenmotiv der Takte 4-6 stellt eine Horizontalisierung des Quartenakkords dar<br />

<strong>und</strong> wird in Takt 6-7 wieder der Ganztonharmonik gegenübergestellt. Takt 8 leitet die<br />

Kadenzierung in E-Dur (T. 9-10) über einen verminderten Septakkord auf A ein, der<br />

hier als Dominante mit Sept im Bass zu deuten ist. Der Kontrast zwischen der dur-molltonalen<br />

Dezentrierung der Takte 5-9 <strong>und</strong> der anschließenden Betonung der Tonika im<br />

Rahmen der Kadenz (T. 9-10) ist hier sehr deutlich ausgeprägt <strong>und</strong> wird auch im weiteren<br />

Verlauf der Kammersymphonie immer wieder thematisiert.<br />

289 Anthony Payne, zit. nach Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21.<br />

290 Vgl. Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 21f.<br />

121


Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug.<br />

In weiterer Folge wird der Quartenakkord sowie das Quartenmotiv – vergleichbar mit<br />

dem Dominantseptnonenakkord der Verklärten Nacht – an Schlüsselpositionen eingesetzt,<br />

um die formale Gliederung der Sonatensatzform zu markieren (z.B. Anfang <strong>und</strong><br />

Ende der Durchführung [T. 278-280 u. T. 376-377] sowie Beginn der Coda [T. 573-<br />

581]). 291 Damit unterstützt das Klangzentrum des Quartenakkords auch die formbildende<br />

Funktion der dur-moll-tonalen Tonika. In der dritten Hälfte der Durchführung<br />

erfahren die <strong>Klangzentren</strong> des Quartenakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Dreiklangs ihren<br />

Höhepunkt. Ab der vierten Viertel von Takt 334 dient eine Ganztonskala auf C als<br />

Klangzentrum, auf das die durchgeführten Themen bezogen werden. Der Höhepunkt<br />

dieser Stelle beginnt ab Takt 354: Durch gegenläufige übermäßige Dreiklänge klingt auf<br />

jeder Viertel ein anderer Ganztonakkord. In diese Ganztonharmonik wird zugleich auch<br />

das Quartenmotiv eingebettet, womit hier gewissermaßen eine Kombination der beiden<br />

<strong>Klangzentren</strong> wirksam ist. Zum Schluss bleibt nur noch die Quartenharmonik übrig, die<br />

ab Takt 364 in Form ausgehaltener Quartenakkorde diesen Abschnitt beendet<br />

(Abbildung 76).<br />

291 Vgl. Mahnkopf, Gestalt <strong>und</strong> Stil, S. 70f; Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 24f.<br />

122


Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. 292<br />

In Schönbergs erster Schaffensperiode prallen die Gegensätze zwischen der dur-molltonalen<br />

Tonika <strong>und</strong> symmetrischen <strong>Klangzentren</strong> wie dem Ganzton- <strong>und</strong> dem Quartenakkord<br />

direkt aufeinander. Schönberg zog daraus die Konsequenz, die Tonika als<br />

Klangzentrum fallen zu lassen <strong>und</strong> entschloss sich während der atonalen Phase andere<br />

Klänge als harmonische Bezugspunkte zu verwenden. Dennoch sind die Kompositionstechniken,<br />

die Schönberg später anwandte, durchaus mit den Techniken seiner ersten<br />

Schaffensperiode vergleichbar. So setzt Schönberg auch weiterhin <strong>Klangzentren</strong> ein, die<br />

als formbildende Ruhepunkte dienen, wie z.B. im Klavierstück op. 19/6 oder im<br />

Orchesterstück Farben op. 16/3. Chromatische <strong>und</strong> stufenweise Stimmführungstechniken<br />

werden dabei häufig mit der Technik des Klangzentrums kombiniert <strong>und</strong> führen<br />

zu Klangprozessen, die das Klangzentrum transformieren <strong>und</strong> auch die formale Struktur<br />

der Werke mit beeinflussen.<br />

292 Dale, Schoenbergs Chamber Symphonies, S. 25.<br />

123


SCHLUSSWORT<br />

<strong>Tonalität</strong> – oder vielmehr jene Eigenschaft, die wir mit diesem Begriff assoziieren – ist<br />

ein komplexer <strong>und</strong> vielschichtiger Gedankenkomplex, der sich auf allen musikalischen<br />

Parametern entfaltet. Die Vorstellung eine „allgemein gültige Norm des Begriffs<br />

<strong>Tonalität</strong> festsetzten zu wollen“ wäre utopisch. Viele Aspekte, die den <strong>Tonalität</strong>sbegriff<br />

begleiten, wie z.B. die Bedeutung metrischer <strong>und</strong> rhythmischer Strukturen, die Instrumentationstechnik<br />

oder auch die Interpretation, mussten in der vorliegenden Arbeit<br />

weitgehend unberücksichtigt blieben, zeugen jedoch von dem Beziehungsreichtum, der<br />

den Begriff begleiten kann. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass bestimmte Konstanten<br />

für einen sinnhaften <strong>Tonalität</strong>sbegriff notwendig sind, da der Begriff sonst zu einer<br />

Beliebigkeit tendieren würde, die seiner Bedeutung nicht gerecht wird. Ohne eine<br />

differenzierte Zentrierung auf ein oder mehrere <strong>Klangzentren</strong>, welche den Klängen eine<br />

relative Bedeutsamkeit <strong>und</strong> einzigartige Funktion im harmonischen Verlauf zugesteht,<br />

wird nicht nur der Begriff <strong>Tonalität</strong> bedeutungslos, sondern auch der Begriff des Klangzentrums<br />

selbst. Ein Klangzentrum kann für sich alleine nicht existieren; der Begriff<br />

„Zentrum“ beinhaltet zwangsläufig, dass andere Klänge vorhanden sein müssen die im<br />

Verhältnis zu diesem eine „geringere“ – oder vielmehr andere Bedeutung einnehmen.<br />

Es versteht sich von selbst, dass die Klänge dabei unterschiedliche Funktionen einnehmen<br />

<strong>und</strong> ihre relative Bedeutung deshalb immer abhängig vom konkreten musikalischen<br />

Kontext neu hinterfragt werden muss. Streng genommen existiert zu keinem<br />

Zeitpunkt ein einzelner Zentralklang, auf den sich alle anderen Klänge beziehen.<br />

Stattdessen bestehen mehrere potenzielle Zentralklänge, deren relative Bedeutung<br />

ständig von anderen Klängen in Frage gestellt wird. Abhängig von der harmonischen<br />

Syntax entscheidet sich immer wieder aufs Neue, welche Klänge wir als zentral wahrnehmen<br />

bzw. welche Bedeutung wir ihnen beimessen. Auch die Stimmführung der<br />

Akkordverbindungen darf in diesem Zusammenhang nicht vernachlässigt werden.<br />

Stimmführung <strong>und</strong> Zentrierung gehen in der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> Hand in Hand <strong>und</strong><br />

bedingen sich gegenseitig: Die zunehmende chromatische Stimmführung in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts führte zu Zusammenklängen, welche die dur-moll-tonale<br />

Syntax streckenweise außer Kraft setzte. Umgekehrt führte die zunehmende Zentrierung<br />

auf symmetrische Akkorde sowie auf Harmoniefolgen in großen <strong>und</strong> kleinen Terzen zu<br />

124


einer vorwiegend chromatischen Stimmführung wie beispielsweise den „maximally<br />

smooth cycles“ Richard Cohns.<br />

Unter diesen Gesichtspunkten ist es notwendig, das Wesen des Zentralklangs dur-molltonaler<br />

Musik neu zu bewerten. Der Zentralklang ist ein Klang, der sich durch seine<br />

direkten Beziehungen zu anderen Klängen, seine formbildende Wirkung oder allgemein<br />

seine harmonische Funktion in besonderer Weise auszeichnet. Dabei ist festzuhalten,<br />

dass der Akkordtyp des Zentralklangs sich nicht alleine auf Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge<br />

einschränken lässt, sondern auch andere Formen annehmen kann. Wir können zwischen<br />

örtlichen <strong>Klangzentren</strong>, die sich durch die unmittelbare Stimmführung der Akkordfolgen<br />

ergeben, <strong>und</strong> übergeordneten <strong>Klangzentren</strong>, die als entfernte Bezugspunkte eine<br />

Bedeutung einnehmen, unterscheiden. Allerdings können, abhängig vom Untersuchungsgegenstand,<br />

durchaus unterschiedliche Klangbeziehungen <strong>und</strong> <strong>Klangzentren</strong> in<br />

einem Werk wirksam sein. Wenn wir die Kompositionstechnik untersuchen, wäre es<br />

denkbar auch ein „ideelles“ Klangzentrum anzunehmen: zum Beispiel einen Klang, der<br />

als kompositorischer Ausgangspunkt alle weiteren Klänge generiert, jedoch selbst gar<br />

nicht zum Einsatz kommt. Ob dieser Klang auch als Klangzentrum wahrgenommen<br />

wird, ist in diesem Zusammenhang aus kompositionstechnischer Sicht irrelevant. Aus<br />

hörpsychologischer Sicht sind dagegen nur jene <strong>Klangzentren</strong> von Interesse, die auch<br />

tatsächlich als solche wahrgenommen werden; „wahrgenommen“ im eigentlichen Sinn<br />

des Wortes: nämlich etwas als wahr bzw. real annehmen. Auch in diesem Fall muss das<br />

Klangzentrum nicht unbedingt als reales akustisches Ereignis existieren, sondern<br />

lediglich in der Vorstellung des Rezipienten.<br />

Nachdem ein Klang als Singularität kein Klangzentrum darstellt, sondern erst durch das<br />

Vorhandensein anderer Akkorde als solches erkannt wird, ist zu keinem Zeitpunkt nur<br />

ein einzelnes Klangzentrum von Bedeutung. Eine Tonika muss zumindest durch das<br />

Vorhandensein der Dominante bestätigt werden, womit automatisch auch die Dominante<br />

als potenzielles Klangzentrum an Bedeutung gewinnt. So entsteht eine Hierarchie<br />

von Klängen, die abhängig von der harmonischen Syntax unterschiedliche <strong>Klangzentren</strong><br />

in unterschiedlicher Weise akzentuiert. Diese Hierarchie kann im einfachsten Fall eine<br />

Form annehmen, wie sie zum Beispiel von Moritz Hauptmann postuliert wurde: die<br />

Tonika steht im Zentrum, während die Dominant- <strong>und</strong> Subdominantregionen lediglich<br />

als untergeordnete <strong>Klangzentren</strong> die Tonikaregion bestätigen. Chromatische Stimm-<br />

125


führung sowie „vagierende“ <strong>und</strong> äquidistante Akkorde führen jedoch zwangsläufig zu<br />

einer harmonischen Syntax, die diese Hierarchie aufbricht <strong>und</strong> anderen <strong>Klangzentren</strong><br />

eine größere Bedeutung zukommen lässt. Dabei ist es nicht ausgeschlossen, dass<br />

mehrere <strong>Klangzentren</strong> eine annähernd gleiche Bedeutung erlangen. Im Spezialfall<br />

könnte dies theoretisch soweit führen, dass alle Klänge die gleiche Bedeutung haben<br />

<strong>und</strong> eine Zentrierung der Harmonik – <strong>und</strong> damit ihre harmonische Gestalt – nicht mehr<br />

gegeben ist; der Begriff des Klangzentrums würde in diesem Fall bedeutungslos<br />

werden. Ob jedoch eine Harmonik, in der jeder Klang dieselbe Bedeutung bzw. Funktion<br />

hat, auch praktisch umgesetzt werden kann, ist zu bezweifeln.<br />

So gesehen existiert die Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> nicht. Statt dessen gibt es selbst in einzelnen<br />

Werken eine Vielzahl unterschiedlicher <strong>Tonalität</strong>en, die sich aus der relativen<br />

Bedeutung der vorhandenen Klangbeziehungen ergeben. Diese Klangbeziehungen<br />

entstehen dabei sowohl in der direkten Aufeinanderfolge der einzelnen Klänge als auch<br />

in ihrer Bezogenheit auf ein oder mehrere <strong>Klangzentren</strong>. Es ist jedoch möglich bestimmte<br />

Tendenzen in der harmonischen Hierarchie aufzudecken, um so Gemeinsamkeiten<br />

<strong>und</strong> Unterschiede der zugr<strong>und</strong>e liegenden <strong>Tonalität</strong>en zu kommunizieren.<br />

Die Frage in wie weit der Begriff des Klangzentrums in der Musik des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

als ein Weiterdenken dur-moll-tonaler Prinzipien gelten kann ist nicht nur eine Frage<br />

der Terminologie, sondern auch unseres historischen Selbstverständnisses <strong>und</strong> unserer<br />

Wahrnehmung. Es gilt zu beantworten, welche musikalischen Parameter tatsächlich mit<br />

der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> „verloren“ gegangen sind <strong>und</strong> welche Parameter lediglich eine<br />

Entwicklung durchgemacht haben. Schließlich gilt es zu beantworten ob wir komplexe<br />

<strong>Klangzentren</strong> der neuen Musik wie dissonante Vielklänge in ähnlicher Weise als Ruhepunkte<br />

akzeptieren können wie die Tonika der Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong>. Dass auch in atonaler<br />

<strong>und</strong> post-tonaler Musik <strong>Klangzentren</strong> als formbildende Kompositionstechniken<br />

Verwendung fanden, wurde an den Beispielen von Schönberg <strong>und</strong> Skrjabin gezeigt. Ob<br />

diese Klänge jedoch auch hörpsychologisch mit der Wirkung einer Tonika verglichen<br />

werden können, bleibt vorerst offen. Sicher scheint allerdings bereits zu sein, dass die<br />

Antwort auf diese Frage nicht ausschließlich von unserer Hörphysiologie abhängt,<br />

sondern auch von unserem Gedächtnis, unserer musikalischen Erfahrung <strong>und</strong> unserem<br />

sozialen Umfeld. Ob Zwölftonmusik eine <strong>Tonalität</strong> ausbildet, kann im Allgemeinen<br />

nicht beantwortet, sondern müsste am konkreten Beispiel immer neu hinterfragt werden.<br />

126


Es ist durchaus möglich, gemäß „den Regeln“ der Dodekaphonie zu komponieren <strong>und</strong><br />

dabei den Eindruck spätromantischer Dur-Moll-<strong>Tonalität</strong> zu erzeugen. Ebenso ist es<br />

aber auch möglich, eine zwölftönige Passage so zu konzipieren, dass sie den Anschein<br />

höchstmöglicher Bezuglosigkeit – <strong>und</strong> damit Bedeutungslosigkeit – der entstandenen<br />

Klänge erweckt.<br />

Richard Cohn schrieb 1999 in Bezug auf ein Zitat – „Schubert’s tonality is as wonderful<br />

as star clusters“ 293 – von Donald Francis Tovey:<br />

The traditional metaphorical source for tonal relations is the solar system, where positions are<br />

determined relative to a central unifying element. A star cluster evokes a network of elements<br />

and relations, none of which hold prior privileged status. These two contrasting images of cosmic<br />

organization provide a lens through which to compare two conceptions of tonal organization<br />

in Schubert’s music. 294<br />

Sternenhaufen <strong>und</strong> Sonnensysteme entstehen – um bei dieser Analogie zu bleiben –<br />

aufgr<strong>und</strong> desselben Prinzips: der Gravitation. Die Schönheit eines Sternenhaufens<br />

ergibt sich aus seiner internen Struktur; die Sterne des Haufens tragen dabei, abhängig<br />

von ihrer Masse, in unterschiedlichem Maße zu seiner einzigartigen Gestalt bei. Gerade<br />

die Zentrierung – das Ausformen von differenzierten Strukturen – macht das Wesen<br />

eines Sternenhaufens aus. Ohne die Gravitation würde er sich in eine homogene <strong>und</strong><br />

charakterlose Masse von Molekülen auflösen.<br />

293 Donald Francis Toveys, zit. nach: Richard Cohn, As Wonderful as Star Clusters: Instruments for<br />

Gazing at Tonality in Schubert, in: 19th-Century Music (1999/22,3), S. 213-232, hier S. 213.<br />

294 Cohn, As Wonderful as Star Clusters, S. 213.<br />

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Wissenschaftliche Begründung der Musik, in: Aus der Natur. Die neuesten Entdeckungen<br />

auf dem Gebiet d. Naturwissenschaft (Bd. 25 oder neue Folge Bd. 13), Leipzig:<br />

Gerhardt & Reisland 1863, S. 481-487.<br />

134


ABBILDUNGSVERZEICHNIS<br />

Abbildung 1: Auflösung Dominante → Tonika. ........................................................ 13<br />

Abbildung 2: Auflösung V 7 → V 6 .............................................................................. 13<br />

Abbildung 3: Auflösung eines verminderten Septakkords nach Fétis. ...................... 14<br />

Abbildung 4: C-Dur Kadenz Gottfried Webers.......................................................... 18<br />

Abbildung 5: Verwandtschaftsreihe der Tonarten nach Siegfried Wilhelm Dehn..... 23<br />

Abbildung 6: Schema der Tonartverwandtschaften nach Siegfried Wilhelm Dehn... 24<br />

Abbildung 7: Schema der Tonartverwandtschaften nach Gottfried Weber................ 25<br />

Abbildung 8: Hauptmanns dialektischer Tonartbegriff.............................................. 28<br />

Abbildung 9: Dialektische Tonartbeziehungen Hauptmanns. .................................... 29<br />

Abbildung 10: Oettingens Tonnetz............................................................................... 32<br />

Abbildung 11: Riemanns Tonnetz. ............................................................................... 36<br />

Abbildung 12: Schenkers Ursatz-Varianten; Terzzug, Quintzug, Oktavzug................ 37<br />

Abbildung 13: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140..................................... 43<br />

Abbildung 14: Alternierende Terzenskala.................................................................... 49<br />

Abbildung 15: Transformations-Graphen; Beethovens Sonate op. 57.......................... 50<br />

Abbildung 16: Beziehungen der unterschiedlichen Transformationen nach Hyer....... 51<br />

Abbildung 17: Cohns „maximally smooth cycles“....................................................... 52<br />

Abbildung 18: Schubert, Klaviertrio in Es-Dur op. 100; T. 586-598........................... 52<br />

Abbildung 19: „Dancing Cubes“. ................................................................................. 53<br />

Abbildung 20: „Power Towers“. .................................................................................. 54<br />

Abbildung 21: Akkordfolge in C-Dur funktionstheoretisch gedeutet. ......................... 54<br />

Abbildung 22: Akkordfolge in C-Dur im Sinne der Neo-Riemann-Theorie gedeutet. 55<br />

Abbildung 23: Zentralklang aus Schönberg, Klavierstück op. 19/6............................. 57<br />

Abbildung 24: Schönberg, Klavierstück op. 19/6. ....................................................... 58<br />

Abbildung 25: Webern, 5 Lieder op. 4/1, Takte 1-5..................................................... 59<br />

Abbildung 26: Schönbergs Orchesterstück Farben op. 16/3; T. 1-9............................ 60<br />

Abbildung 27: Skrjabins Prometheus-Akkord auf A. .................................................. 61<br />

Abbildung 28: Prometheus, Takte 1-10; harmonische Reduktion. .............................. 61<br />

Abbildung 29: a) Die Skala des Prometheus-Akkords,<br />

b) die mixolydische Skala mit erhöhter Quart...................................... 62<br />

Abbildung 30: Akkorde in Quarten- <strong>und</strong> Terzschichtung über der mixolydischen<br />

Skala mit erhöhter Quart........................................................................63<br />

Abbildung 31: Dur-moll-tonale Deutung des Prometheus-Akkords............................ 63<br />

Abbildung 32: Schubert, Klaviertrio in Es- Dur op. 100, T. 586-598.......................... 73<br />

Abbildung 33: J. S. Bach, Präludium in C-Dur BWV 846, T. 22-24. .......................... 77<br />

Abbildung 34: Weitzmanns Zwölftonmatrix................................................................ 78<br />

Abbildung 35: Beethoven, Sonate op. 28 „Pastorale“, T. 240-261. ............................. 79<br />

Abbildung 36: Beethoven, Sonate op. 13 „Pathétique“, T. 173-189............................ 80<br />

Abbildung 37: Beethoven, Streichquartett Nr. 9 op. 59/3, T. 1-44. ............................. 84<br />

Abbildung 38: Beethoven Variation Nr. 20 aus Variationen op. 120........................... 85<br />

Abbildung 39: Liszt, La lugubre gondola I, Takte 1-22............................................... 87<br />

Abbildung 40: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 1-11. ...................................................... 89<br />

Abbildung 41: Tristan-Vorspiel, T. 10, gedeutet als Tonika mit übermäßiger Quint. . 90<br />

Abbildung 42: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 100-111. ................................................ 91<br />

Abbildung 43: Harmonische Zusammenhänge zwischen E-Dur <strong>und</strong> f-Moll. .............. 93<br />

Abbildung 44: Liszt, Unstern!, Takte 21-25. ............................................................... 93<br />

135


Abbildung 45: Harmonische Zusammenhänge zwischen C-Dur <strong>und</strong> E-Dur. .............. 94<br />

Abbildung 46: Tristan-Akkord aus Sicht von a-Moll <strong>und</strong> aus Sicht von E-Dur. ......... 94<br />

Abbildung 47: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 5-8; Verbindung zwischen E 7 <strong>und</strong><br />

dem halbverminderten Septakkord auf Gis. ......................................... 95<br />

Abbildung 48: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 17-29. .................................................... 96<br />

Abbildung 49: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 32-42. .................................................... 97<br />

Abbildung 50: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 55-63. .................................................... 98<br />

Abbildung 51: Wagner, Tristan-Vorspiel, T. 80-84. .................................................... 99<br />

Abbildung 52: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4. ................................. 101<br />

Abbildung 53: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; harm. Reduktion. .... 101<br />

Abbildung 54: Die Stufen des verminderten Septakkords.......................................... 103<br />

Abbildung 55: Oktatonische Skalen als Durchgänge eines verm. Septakkords......... 103<br />

Abbildung 56: Chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord...................... 104<br />

Abbildung 57: Tristan-Auflösung über den verminderten Septakkord...................... 104<br />

Abbildung 58: J. S. Bach, Chrom. Fantasie <strong>und</strong> Fuge BWV 903, T. 32-35............... 105<br />

Abbildung 59: Doppelte chromatische Vorhalte zum verminderten Septakkord....... 105<br />

Abbildung 60: Harmonische Beziehungen des verminderten Septakkords auf G...... 106<br />

Abbildung 61: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; bezogen auf den<br />

verminderten Septakkord.................................................................... 107<br />

Abbildung 62: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 1-4; Graph-Darstellung<br />

des harmonischen Prozesses............................................................... 108<br />

Abbildung 63: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; harm. Reduktion. .. 109<br />

Abbildung 64: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 5-12; Graph-Darstellung.110<br />

Abbildung 65: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 12; harm. Reduktion....... 111<br />

Abbildung 66: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 13-18 (Klavierauszug). .. 111<br />

Abbildung 67: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 21-24 (Klavierauszug). .. 112<br />

Abbildung 68: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 23-37; harm. Reduktion. 114<br />

Abbildung 69: Wagner, Parsifal, Vorspiel zum 3. Akt, T. 38-48; harm. Reduktion. 115<br />

Abbildung 70: Schönberg, Verklärte Nacht op. 4, T. 137-140; Klavier-Reduktion... 118<br />

Abbildung 71: Auflösung des Ganztonakkords <strong>und</strong> des Quartenakkords.................. 119<br />

Abbildung 72: Weiterführen eines Quartenakkords in einen Ganztonakkord............ 119<br />

Abbildung 73: Schönberg, Pelleas <strong>und</strong> Melisande op. 5, 3 Takte vor Ziffer 32........ 120<br />

Abbildung 74: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 1-4; Klavierauszug. ........... 121<br />

Abbildung 75: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 5-10; Klavierauszug. ......... 122<br />

Abbildung 76: Schönberg, Kammersymphonie op. 9, T. 364-368; Klavierauszug. ... 123<br />

Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber................... 139<br />

136


ANHANG<br />

a) Weiterführende Literatur<br />

BAKER, James M.: Scriabin's Implicit Tonality, in: Music Theory Spectrum (Bd. 2),<br />

1980, S. 1-18.<br />

BAUER, Hans-Joachim: Wagners „Parsifal“. Kriterien der Kompositionstechnik,<br />

München-Salzburg: Emil Katzbichler 1977.<br />

BRINER, Andres: A New Comment on Tonality, in: Journal of Music Theory (Bd. 5,1),<br />

1961, S. 109-112.<br />

BROWN, Matthew, DEMPSTER, Douglas, HEADLAM, Dave: The #IV(bV) Hypo-<br />

thesis: Testing the Limits of Schenker's Theory of Tonality, in: Music Theory<br />

Spectrum (Bd. 19, 2), 1997, S. 155-183.<br />

CHERLIN, Michael: Schoenberg and Das Unheimliche: Spectres of Tonality, in: The<br />

Journal of Musicology (Bd. 11, 3), 1993, S. 357-373.<br />

CLAMPITT, David: Alternative Interpretations of Some Measures from "Parsifal", in:<br />

Journal of Music Theory (Bd. 42,2), 1998, S. 321-334.<br />

COLLIN, Mason: Versuch einer Analyse. <strong>Tonalität</strong>, Symmetrie <strong>und</strong> latentes Reihendenken<br />

in Bartóks viertem Streichquartett (1957), in: Zur Musikalischen Analyse,<br />

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1974, S. 241-260.<br />

DAHLHAUS Carl:<br />

― <strong>Tonalität</strong> – Struktur <strong>und</strong> Prozeß, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10<br />

Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 393-401.<br />

― Tristan-Harmonik <strong>und</strong> <strong>Tonalität</strong>, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in 10<br />

Bänden Bd. 2 (19. Jahrh<strong>und</strong>ert IV. Richard Wagner – Texte zum Musiktheater),<br />

Laaber: Laaber 2004, S. 435-442.<br />

― Über den Begriff der tonalen Funktion, in: Carl Dahlhaus, Gesammelte Schriften in<br />

10 Bänden Bd. 2 (Allgemeine Theorie der Musik II), Laaber: Laaber 2001, S. 187-<br />

196.<br />

FORKEL, Johann Nikolaus: Musikalisch-kritische Bibliothek Bd. 3, Gotha: Carl<br />

Wilhelm Ettinger 1779.<br />

GERLACH, Reinhard: Mystik <strong>und</strong> Klangmagie in Anton von Weberns hybrider <strong>Tonalität</strong>.<br />

Eine Jugendkrise im Spiegel von Musik <strong>und</strong> Dichtung der Jahrh<strong>und</strong>ertwende, in:<br />

Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 33,1), 1976, S. 1-27.<br />

137


HINRICHSEN, Hans-Joachim: "Eines der dankbarsten Mittel zur Erzielung musikalischer<br />

Formwirkung". Zur Funktion der <strong>Tonalität</strong> im Frühwerk Arnold Schönbergs,<br />

in: Archiv für Musikwissenschaft (Bd. 57,4), 2000, S. 340-361.<br />

KUPKOVIC, Ladislav: The Role of Tonality in Contemporary and 'Up-to-Date'<br />

Composition, in: Tempo, New Series (Bd. 135), 1980, S. 15-19.<br />

LORENZ, Alfred: Der musikalische Aufbau von Richard Wagners „Parsifal“, Tutzing:<br />

Hans Schneider 1966.<br />

LOWINSKY, Edward E.: Tonality and Atonality, in: Music & Letters (Bd. 43,3), 1962,<br />

S. 295-298.<br />

MARK, Christopher: Contextually Transformed Tonality in Britten, in: Music Analysis<br />

(Bd. 4,3), 1985, S. 265-287.<br />

MARX, Adolf Bernhard: Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch<br />

theoretisch Bd. 4 [1847], neu bearbeitet von Hugo Riemann, Leipzig: Breitkopf <strong>und</strong><br />

Härtel 5 1888.<br />

MCCRELESS, Patrick: Ernst Kurth and the Analysis of the Chromatic Music of the<br />

Late Nineteenth Century, Music Theory Spectrum (Bd. 5), 1983, S. 56-75.<br />

NEMECEK, Robert: Untersuchungen zum frühen Klavierschaffen von Piere Boulez,<br />

Kassel: Gustav Bosse 1998.<br />

PERSCHMANN, Wolfgang: Richard Wagner Parsifal. Schwanenschluß - Wissenskuß -<br />

glühende Befreiung, Graz: Richard-Wagner-Gesellschaft 1991.<br />

RIEMANN, Hugo:<br />

― Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, Leipzig: Max Hesses 1923.<br />

― Geschichte der <strong>Musiktheorie</strong> im IX. - XIX. Jahrh<strong>und</strong>ert, Hildesheim: Georg Olms<br />

1964.<br />

SCHMITT, Theo: Zur Entstehung der harmonischen <strong>Tonalität</strong>, in: Archiv für Musikwissenschaft<br />

(Bd. 41,1), 1984, S. 27-34.<br />

SCHÖNBERG, Arnold: Stil <strong>und</strong> Gedanke, Frankfurt a. M. : Fischer Taschenbuch 1992.<br />

STUMPF, Carl, Tonpsychologie [1883] (2 Bände), Leipzig: Hirzel 1965.<br />

TOVEY, Donald F.: Tonality, in: Music & Letters, (Bd. 9,4), 1928, S. 341-363.<br />

VON DER NÜLL, Edwin: Moderne Harmonik, Leipzig: Fr. Kistner 1932.<br />

WHITE, Harry: The Holy Commandments of Tonality, in: The Journal of Musicology<br />

(Bd. 9,2), 1991, S. 254-268.<br />

WIENPAHL, Robert W.: English Theorists and Evolving Tonality, in: Music & Letters<br />

(Bd. 36,4), 1955, S. 377-393.<br />

138


) Sonstiges<br />

Abbildung 77: Tabelle der Tonverwandtschaften nach Gottfried Weber. 295<br />

295 Weber, Versuch einer geordneten Theorie, S. 86<br />

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