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Volltext - Musiktheorie / Musikanalyse - Kunstuniversität Graz

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Inhaltsverzeichnis<br />

Seite<br />

Vorwort.................................................................................................................................3<br />

1. Einführung ........................................................................................................................4<br />

1.1. Zum Begriff „Glossolalie“ ...........................................................................................4<br />

1.2. Das Konzept von Dieter Schnebels glossolalie (1959/60).............................................4<br />

2. Dieter Schnebel: glossolalie (1959/60)...............................................................................6<br />

2.1.Der Strukuturkatalog.....................................................................................................6<br />

2.2.Zur Gruppierung der Materialpräparationen..................................................................7<br />

2.3.Die Parameter in den Materialpräparationen .................................................................8<br />

2.4.Beschreibung der Parameter in drei ausgewählten Materialpräparationen.....................9<br />

2.4.1.Materialindex.............................................................................................................9<br />

2.4.2.Materialcharakteristik ..............................................................................................11<br />

2.4.3.Aktionsdirektive ......................................................................................................13<br />

2.4.4.Synchronisationregel/ Synchronisationshema...........................................................15<br />

2.4.5.Raumdirektive .........................................................................................................16<br />

3. Dieter Schnebel: Glossolalie 61 (1961-1965)...................................................................18<br />

3.1. Form..........................................................................................................................18<br />

3.2. Besetzung ..................................................................................................................19<br />

3.3. Notation.....................................................................................................................21<br />

3.4. Überblick über das sprachliche Material ....................................................................22<br />

3.5. Analyse......................................................................................................................25<br />

3.5.1. MP „extentionen“ ...................................................................................................25<br />

3.5.2. MP „einverständnisse“............................................................................................28<br />

3.5.3. MP „kreise“ ............................................................................................................32<br />

4.Analyse der Ausarbeitung von drei ausgewählten Materialpräparationen durch die Klasse<br />

<strong>Musiktheorie</strong> an der Kunstuniversität <strong>Graz</strong> (2007)...............................................................34<br />

4.1. „extentionen“.............................................................................................................34<br />

4.2. „einverständnisse“ .....................................................................................................38<br />

4.3. „kreise“......................................................................................................................40<br />

5. Schlusswort .....................................................................................................................41<br />

Anhang................................................................................................................................43<br />

Literaturverzeichnis.............................................................................................................54<br />

2


Vorwort<br />

Zur Kategorie der neuen Vokalmusik zählen auch Sprachkompositionen. Der Begriff<br />

„Sprachkomposition“, der in den 1950er Jahren erstmals auftaucht, bezeichnet die<br />

Verarbeitung phonetischen Materials in Kompositionen der Gegenwart. Nach 1950 werden<br />

die Ausdrucksmöglichkeiten der Sprache erweitert. Im Gegensatz zur traditionellen Musik,<br />

gewinnt das Experimentieren mit phonetischen und semantischen Parametern an Bedeutung.<br />

In der neuen Vokalmusik werden neue artikulatorische Möglichkeiten, wie z.B. verschiedene<br />

Lauttypen oder eine Produktion extremer phonetischer Signale, aufgegriffen.<br />

Zu den Sprachkompositionen zählen beispielsweise Fa:m Ahniesgwow von Hans G. Helms,<br />

Stockhausens Gesang der Jünglinge, Ligetis Aventures und Kagels Anagrama. Zu dieser<br />

Kategorie zählt auch glossolalie von Dieter Schnebel. Die Sprache ist ein wichtiger<br />

Bestandteil des Stücks und wird von Schnebel von verschiedenen Seiten betrachtet.<br />

Mein Interesse liegt besonders an der kompositorischen Entstehung, dem Prozess von der<br />

„vorkomponierten“ zur auskomponierten Fassung dieses Werks. Die vorkomponierte<br />

Fassung, die verschiedene Materialien und Anweisungen enthält, stellt ein Konzept für<br />

mögliche Realisierungen dar. Ich werde in der folgenden Arbeit neben der vorkomponierten<br />

Fassung auch zwei verschiedene mögliche Ausarbeitungen betrachten. Die erste Ausarbeitung<br />

stammt von Schnebel selbst und ist mit dem Titel Glossolalie 61 bezeichnet. Die zweite<br />

Realisierung hat die <strong>Musiktheorie</strong>klasse der Kunstuniversität <strong>Graz</strong> 2007 ausgearbeitet. Damit<br />

wollten wir eine mögliche Variante der Realisierung des Konzepts zeigen. Aus der<br />

Verschiedenheit der Ergebnisse kann auf das Potential des konzeptuellen Entwurfs<br />

geschlossen werden.<br />

Ich beschäftige mich in der vorliegenden Arbeit also mit dem Konzept glossolalie in<br />

mehrfacher Hinsicht und werde dabei besonders auf drei Teile „extentionen“,<br />

„einverständnisse“ und „kreise“ eingehen.<br />

3


1.Einführung<br />

1.1. Zum Begriff „Glossolalie“<br />

Der Begriff „Glossolalie“ leitet sich von den altgriechischen Worten „glossa“ (Zunge) und<br />

„laleo“ (reden, plappern) ab und bedeutet „Zungenreden“. Es handelt sich hierbei um ein<br />

semantisch unverständliches Sprechen; ein Phänomen, das bereits aus der frühchristlichen<br />

Kirche überliefert ist. „Zungenreden“ wurde damals als ein Geschenk Gottes durch den<br />

heiligen Geist aufgefasst. Im Neuen Testament wird die Zungenrede im vierzehnten Kapitel<br />

des ersten Korintherbriefes beschrieben: „Wenn ich nun die Bedeutung der Sprache nicht<br />

weiß, werde ich dem Redenden ein Barbar sein und der Redende für mich ein Barbar“. 1<br />

In der Psychiatrie bezeichnet der Begriff „das weite Feld einer Form von Sprachverwirrung<br />

[...] An ihr Erkrankte artikulieren zwar einzelne, teilweise erkennbare Silben und<br />

Wortsegmente, etwa aus verschiedene Sprachen, die sie beherrschten und nunmehr<br />

willkürlich mischen. Sie sind jedoch semantisch zusammenhanglos geworden, wurden<br />

gewissermaßen dekomponiert.“ 2<br />

Dieter Schnebel spielt mit dem Titel glossolalie, auf diese Bedeutungsschichten des Begriffs<br />

an. Die Behandlung von Sprache und Sprechen als musikalisches Material in all ihren<br />

Facetten zwischen phonetischen und semantischen Ebenen steht im Mittelpunkt der<br />

Konzeptkomposition glossolalie sowie der Ausarbeitung Glossolalie 61.<br />

1.2. Konzept glossolalie<br />

Das Konzept glossolalie (1959/1960) und Glossolalie 61 gehören zur Schnebels Zyklus<br />

„Projekte“, der zwischen 1959 und 1965 enstand und unter anderem die Werke raum-zeit y<br />

(1959-60) und Das Urteil (1959) enthält. Bei glossolalie für mindestens 2-3 Sprecher und 1-2<br />

Instrumentalisten (1959/1960) handelt es sich nicht um eine konventionelle Partitur, sondern<br />

um einen Materialfundus, einen sogenannten „Strukturkatalog“ 3 , der verschiedene räumliche,<br />

klangliche und sprachliche Direktiven (Angaben) für die Ausarbeitung enthält. Die<br />

Organisation des Materials folgt Parametern, wie aus der seriellen Musik bekannt. Der<br />

Strukturkatalog, der sich aus 29 Blättern zusammensetzt, wurde als eine Folge von<br />

1 1. Korintherbrief 14,11<br />

2 Heilgendorff, Experimentelle Inszenierung von SPRACHE und MUSIK, S. 171.<br />

3 Konvolut [glossolalie] Mappe 1 (Skizzen 1), siehe Heilgendorff , Experimentelle Inszenierung, S. 433.<br />

4


„Materialpräparationen“ konzipiert: „Hier ist kein Notentext einer auskomponierten Musik<br />

gegeben, sondern präpariertes Material zur Hervorbringung von Musik.“ 4<br />

Durch die Direktiven zeigt Schnebel auf welche Weise die Interpreten die Musik glossolalie<br />

ausarbeiten sollen: „Solche Arbeit übernehmen am besten die Interpreten, auf daß sie ihre<br />

Musik spielen und nicht dem Diktat eines anderen folgen“ 5 .<br />

Jede Materialpräparation (MP) hat eine Überschrift, die auf inhaltliche, aber auch auf<br />

strukturelle und dramaturgische Besonderheiten verweist, wie z.B. „einverständnisse“,<br />

„extentionen“, „für sich“, „bewegungen“ etc. Die Umsetzung des Materials obliegt dann dem<br />

Interpreten. Die Anzahl und Reihenfolge der Materialpräparationen, die einer Ausarbeitung<br />

zugrunde liegen, ist nicht festgelegt. Es können also alle Blätter verwendet werden oder auch<br />

nur eine kleine Auswahl. Das Konzept kann von jeder beliebigen Person ausgearbeitet<br />

werden; sie muss nicht unbedingt Komponist oder Musiker sein. Das Konzept glossolalie<br />

ermöglicht demnach verschiedenste Arten der Ausarbeitung: „So implizieren die<br />

Präparationen die Möglichkeit von Prozessen; von gestaltlosen: wahllose Aufreihung von<br />

Funden und Einzelfällen, wie von gestalteten: Entwicklungen dessen, was das Material<br />

enthält, oder Darstellung seiner Konsequenzen“. 6<br />

Jeder Interpret muss also bei der Ausarbeitung von glossolalie eigene Entscheidungen<br />

einbringen; durch die „Auswahl, Ausdehnung, Form, Zusammensetzung der von den<br />

Präparationen indizierten Materialien“. 7 So entstehen immer wieder neue Ausarbeitungen<br />

mit unterschiedlichen kulturellen, sprachlichen, sozialen, politischen Prägungen.<br />

Neben dem Konzept glossolalie aus dem Jahre 1959/1960 gibt es eine Ausarbeitung des<br />

Konzeptes von Dieter Schnebel mit dem Titel glossolalie 61 (1961-65) sowie eine Version<br />

des ensemble recherche, mit dem Titel glossolalie 94 (1994). Im Rahmen der<br />

Lehrveranstaltung „Theorie, Analyse und Praxis kompositorischer Techniken“ hat die Klasse<br />

<strong>Musiktheorie</strong> an der Kunstuniversität <strong>Graz</strong> im Jahr 2007 fünf ausgewählter Blätter<br />

ausgearbeitet. Eine Analyse von drei Abschnitten dieser Ausarbeitung, findet sich im Kapitel<br />

4.<br />

4 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

5 Schnebel, Denkbare Musik, S. 257f.<br />

6 Ebda. S. 387<br />

7 Ebda.<br />

5


2. Dieter Schnebel: glossolalie (1959/1960)<br />

2.1. Der Strukturkatalog<br />

Der Strukturkatalog von Schnebels glossolalie besteht aus 29 Blättern mit jeweils sechs<br />

Feldern („Parameterräume“) auf jeder Seite, in denen das sprachlich-klangliche und räumliche<br />

Material definiert ist. Von den 29 Blättern, den „Materialpräparationen“ (MP), enthalten 27<br />

determinierte, und 2 offene Strukturen (MP „ ausbruch“ und „zustände“). Manche MPen sind<br />

sehr detalliert charakterisiert, manche enthalten dagegen nur ganz wenige Angaben.<br />

Die Titel der Materialpräparationen sind im Folgenden aufgelistet:<br />

1. iuxapositionen<br />

2. einwände/einwürfe<br />

3. für sich<br />

4. gegeneinander<br />

5. bestätigungen<br />

6. einverständnisse<br />

7. initiativen<br />

8. folgen<br />

9.fortsetzungen<br />

10. konkurrenzen<br />

11. impulsationen<br />

12. extentionen<br />

13. dis-positionen<br />

14. inkorporieren<br />

15. agglutinieren<br />

16. verbindungen<br />

17. verwicklungen<br />

18. einfälle<br />

19. vektoren<br />

20. kreise<br />

21. oppositionen<br />

22. bewegungen<br />

23 . flektieren<br />

24. isolieren<br />

25. perspektiven<br />

26. versammlungen<br />

27. kontraste<br />

+ ausbruch und zustände<br />

6


Die MP „ausbruch“ enthält keine Direktven, es handelt sich um ein ganz leeres Blatt.<br />

„Zustände“ ist nur für Instrumente konzipiert. Alle anderen MPen enthalten dagegen Angaben<br />

für Vokalisten und Instrumentalisten.<br />

2.2. Die Gruppierung der MPen<br />

Simone Heilgendorff erwähnt eine paarweise Anordnung der MPen, die sie den Skizzen<br />

Schnebels entnommen hat:<br />

Schnebel hat 28 MPen (alle mit Ausnahme von „ausbruch“) in 14 Paare angelegt 8 Z.B. bilden<br />

“extentionen“ und „impulsationen“, „bewegungen“ und „für sich“ jeweils ein Paar, da sie<br />

durch inhaltliche oder strukturelle Zusammenhänge bzw. Kontraste miteinander verknüpft<br />

sind. So kontrastieren „extentionen“ und „impulsationen“ in ihrem Ausdrucksgehalt, obwohl<br />

sie ein ähnliches sprachliches Material enthalten. Durch den Titel „extentionen“ suggeriert<br />

Schnebel einen langsamen „verlängerten“ Ausdruck, mit „impulsationen“ verbindet man<br />

hingegen eine impulsivere, schnellere Ereignisfolge. Diese Gliederung in Paaren hat eine rein<br />

systematische Bedeutung und muss bei der Ausarbeitung keine Rolle spielen. Die Intention<br />

Schnebels für die paarweise Anordnung, bestand wohl darin, kontrastierende Facetten<br />

zwischenmenschlicher Kommunikation darzustellen.<br />

Die folgende Auflistung enthält die MPen nach Paaren angeordnet:<br />

iuxtapositionen-dispositionen<br />

einverständnisse-einwände/einwürfe<br />

gegeneinander-für sich<br />

bestätigungen-folgen<br />

perspektiven-initativen<br />

verbindungen-fortsetzngen<br />

oppositionen-konkurrenzen<br />

impulsationen-extentionen<br />

agglutinieren-inkorporieren<br />

einfälle-verwicklungen<br />

kreise-vektoren<br />

zustände-bewegungen<br />

flektieren-isolieren<br />

8 Vgl. Heilgendorff, Experimentelle Inszenierung, S. 203f.<br />

7


versammlungen-kontraste<br />

2.3. Parameter in den Materialpräparationen<br />

„ Sprechen als solches und als Musik hat viele Aspekte oder Parameter, wie man in der<br />

neueren <strong>Musiktheorie</strong> sagt. Aus der breiten Skala eines jeden davon wurden einige Werte<br />

ausgewählt und miteinander verknüpft […]. Derlei Knoten von Parameterwerten wurden<br />

zunächst definiert, die vorkomponierte Musik also auf einzelnen Blättern notiert und auf diese<br />

Weise angegeben, wie das bestimmteausgewählte vokale und instrumentale Material<br />

vorzubereiten – zu präparieren – sei.“ 9<br />

Jede „Materialpräparation“ hat folgende Parameter die verbal oder graphisch notiert sind:<br />

a) Materialindex MI: graphische Notation der klanglichen und sprachlichen Bereiche.<br />

b) Materialcharakteristik MC: das Material, das durch den MI bereits abstrakt spezifiziert<br />

wurde, ist hier konkret (verbal) definiert.<br />

c) Aktionsdirektive AD: verbale Angaben zu den einzelnen Aktionen der Ausführenden.<br />

d) Synchronisationsregel SR: verbale Angaben zum Verhältnis der Aktionen zueinander.<br />

e) Synchronisationschema SS: zeitliche Organisation des Materials, Ergänzung der SR in<br />

Form einer Graphik.<br />

f) Raumdirektive RD: verbale notierte Angaben zu den Bewegungen bzw. zur<br />

Raumverteilung.<br />

Materialindex und Synchronisationschema sind also grapisch notiert, die anderen vier<br />

Parameter verbal beschreiben.<br />

Anhand von drei ausgewählten Materialpräparationen („extentionen“, „einverständnisse“ und<br />

„kreise“) werde ich nun die sechs Parameter näher erklären. Meine Entscheidung gerade diese<br />

drei Materialpräparationen zu behandeln, steht im Zusammenhang mit der Version, die wir<br />

gemeinsam in der Gruppe im Rahmen der Lehrveranstaltung“ Theorie, Analyse und<br />

kompositorische Techniken“ ausgearbeitet haben. Werner Klüppelholz hat nach Schnebels<br />

Skizzen drei verschiedene Klassen bestimmt, in die jede MP aufgrund ihrer Parameter<br />

eingeordnet werden kann. Hierin liegt ein weiterer Grund warum ich mich genau für diese<br />

MPen entschieden habe. Jede von mir gewählte MP lässt sich nämlich in eine dieser drei<br />

Klassen einteilen. Klüppelholz beschreibt diese drei Klassen wie folgt.<br />

Klasse 1: „Kennzeichend für diese Klasse sind die gleichen Anteile von Tönen,<br />

Tongemischen, Geräuschen an der gesamten Spektralstruktur, die Verwendung vowiegend<br />

9 Schnebel, Denkbare Musik, S. 257<br />

8


präparierter Instrumente und der Gebrauch von Sprache, die außerdem zumeist ‚stockend‘<br />

oder ‚heftig‘ realisiert werden soll“. 10 Zu dieser Klasse gehören folgende MP:<br />

„impulsationen“, „gegeneinander“, „iuxtapositionen“, „für sich“, „verwicklungen“, „einfälle“,<br />

„extentionen“.<br />

Klasse 2: „Diese Klasse, quantitativ die bedeutendste, weist die größten<br />

Parameterausdehnungen und reichhaltigsten Bestimmungen auf. Die zu verwendende Sprache<br />

ist entweder überhaupt nicht (‚beliebig‘) oder syntaktisch ‚Muttersprache→nahe Sprachen‘<br />

bestimmt, wobei überwiegen. Oder im Vokalpart sind Laute vorgesehen, die semantisch<br />

besetzt oder reimartig sind. Analog zur Sprache ist entweder im Instrumentalpart die Syntax<br />

Bindeglied der Varianten oder es sind Assoziationen, die instrumental erzeugt werden<br />

sollen.“ 11 Zu dieser Gruppe gehören „konkurrenzen“, „oppositionen“, „einverständnisse“,<br />

„einwände/einwürfe“, „fortsetzungen“, „perspektiven“, „bestätigungen“, „folgen“,<br />

„kontraste“, „versammlungen“, „initativen“, „verbindungen“, „dis – positionen“.<br />

Klasse 3: „Die dritte Klasse, Gegenstück zur ersten, enthält die wenigsten Bestimmungen und<br />

ist inhaltlich durch das Fehlen von Sprache charakterisiert, instrumental durch die Benutzung<br />

präparierter und nicht-instrumentaler Schallerzeuger.“ 12 Hierher gehören „flektieren“,<br />

„agglutinierren“, „vektoren“, „zustände“, „inkorporieren“, „kreise“, „bewegungen“,<br />

„isolieren“.<br />

2.4. Beschreibung der Parameter anhand von drei ausgewählten Materialpräparationen<br />

2.4.1. Materialindex MI<br />

a.MP „extentionen“:<br />

Der Materialindex MI ist in graphischer Form<br />

dargestellt und setzt sich aus drei verschiedenen<br />

Graphiken zusammen.<br />

Die Graphiken umfassen Direktiven für Frequenz,<br />

Dauer und Dynamik.<br />

Die erste Graphik mit der Bezeichung φMi gibt die<br />

Frequenz an. Das Zeichen zeigt den möglichen<br />

Frequenzbereich von unten nach oben bzw. von tief<br />

nach hoch an. Daneben werden (von links nach rechts)<br />

Töne (T), Tongemische (TG) und Geräusche (G)<br />

10 Klüppelholz, Sprache als Musik, S. 96<br />

11 Ebda. S. 96<br />

12 Ebda. S. 97<br />

9


dargestellt. Dabei ist ersichtlich, dass in dieser MP die drei Kategorien ungefähr mit gleicher<br />

Häufigkeit vorkommen sollen (gleiche Spaltenbreite). Die strichlierten horizontalen Linien<br />

grenzen den Bereich der Sprechstimme ein; der instrumentale Bereich ist durch den oberen<br />

und unteren Rand gekennzeichnet, umfasst also einen größeren Frequenzumfang.<br />

Die sich links darunter befindliche Graphik φMa beschreibt die Dauern, die zeitlichen<br />

Längeneinteilungen der auszuführenden Aktionen.<br />

Die größte Winkelöffnung steht für sehr lange, die Winkelspitze hingegen für sehr kurze<br />

Dauern. Mit dem danebenliegenden Symbol lässt sich erschließen, dass vorwiegend lange<br />

und einige kurze Dauern ausgeführt werden sollen.<br />

Die Graphik α bezieht sich auf die Dynamik. Auch sie wird durch das Zeichen reguliert.<br />

Der lauteste Bereich befindet sich am unteren Ende des Winkels, der leiseste Bereich am<br />

oberen. Für die MP „extentionen“ ist vornehmlich ein leiserer Bereich vorgesehen, laute<br />

Aktionen kommen selten vor.<br />

b. MP „einverständnisse“ :<br />

In der Direktive φMi fordert Schnebel hier einen höheren<br />

Anteil an Geräuschen, während Töne und Tongemische in<br />

annähernd gleicher Häufigkeit vorkommen sollen. Der<br />

Frequenzbereich ist deutlicher enger als in der vorherigen<br />

MP. Die Direktive φMa stellt einen kleineren Aktionsbereich<br />

vorwiegend kürzerer Dauern dar, wobei die diagonalen Linien<br />

auch die Verwendung von Ausschnitten aus dem<br />

Gesamtbereich der Dauern einräumen. Bei α sehen wir,<br />

analog dazu dass nur Aktionen von niedriger Lautstärke<br />

vorkommen.<br />

c. MP „kreise“:<br />

„kreise“ gehört zu jenen Materialpräparationen im<br />

Strukturkatalog, die nur sehr wenige Direktiven beinhalten.<br />

Es gibt wie in den MP „extentionen“ und „einverständnisse“<br />

drei Graphiken, die den Frequenzbereich, die Dauern und<br />

Dynamik regulieren, aber keinen Bezugsrahmen dazu.<br />

Obwohl das Zeichen hier fehlt, kann man aufgrund der<br />

relativen Position der Symbole erahnen, dass φMa Ereignisse<br />

10


von längeren Dauern angeben, während α einen mittleren dynamischen Bereich angibt.<br />

2.4.2. Materialcharakteristik (MC)<br />

a. MP „extentionen“:<br />

Im Unterschied zum MI ist das Material in der<br />

Materialcharakteristik in verbaler Form angegeben.<br />

Das Material für Vokalisten ist mit „v“, das für<br />

Instrumentalisten mit „i“ bezeichnet.<br />

MCv (Materialcharakteristik für Vokalisten):<br />

In der MCv ist das sprachliche und klangliche<br />

Material genauer definiert und legt dessen<br />

Besonderheiten fest. Dabei finden sich an erster Stelle<br />

quantitative Angaben.<br />

In „extentionen“ verwendet Schnebel die<br />

Bezeichnung „lange Reihen/ Scharen→ 13 kurze<br />

Reihen/Scharen“.<br />

Schnebel versteht unter diesen Begriffen keine zeitlichen Einheiten, sondern „Bezeichnungen<br />

der Quantität“. 14<br />

Den Unterschied zwischen Reihen und Scharen sieht Schnebel darin, dass die Reihe eine<br />

Gliederungsform ist, in der, „ im Unterschied zur Schar, Zeit nicht dispensiert ist“. 15<br />

Scharen sind also als zeitlich ungeordnete Ereignisse, Reihen als zeitlich festgelegte<br />

Ereignisse zu verstehen. Dazu kommen weitere Angaben für die Nutzung der Laute, der<br />

Silben und der Wörter.<br />

„Nonsenssprachverläufe“ sind ein weiteres Ausdrucksmittel in der MCv. Mit ihnen assoziert<br />

wird semantische Unverständlichkeit (vgl. Glossolalie 61, Nummer 46). Als Lautreservoir<br />

dient hier ein möglichst breites Spektrum an Lauten. In MCv „extentionen“ reicht der Bereich<br />

von „sehr groß→einzelne Laute“.<br />

MCi (Materialcharakteristik für Instrumentalisten):<br />

Der instrumentale Teil hat eine ergänzende bzw. unterstüzende Funktion zum sprachlichen<br />

Teil, denn „in keinem Fall sind instrumentale Ereignise als inhaltlicher Gegensatz zu den<br />

parallelen sprachlichen Ereignissen zu verstehen“. 16<br />

13 Die Pfeile verbinden zwei Pole, zwischen denen die Aktionen ausgewählt werden können.<br />

14 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

15 Ebda.<br />

11


Schnebel verwendet auch im instrumentalen Teil die Begriffe „Reihen/Scharen“.<br />

In „extentionen“ (wie auch in vielen anderen MP) gebraucht Schnebel den Begriff<br />

„Veränderungskoeffizient“, der die „Veränderungen pro Zeit innerhalb der<br />

Ereignisse“ 17 definiert.<br />

Es gibt verschiedene Stufen des Veränderungskoeffizienten: Er reicht von „0 über sehr gering,<br />

gering, mittel, höher, hoch, beträchtlich bis erheblich“ 18 (das ist von MP zu MP verschieden).<br />

In „extentionen“ reicht der Veränderungskoeffizient von „ mittel→0“.<br />

Der Veränderungskoeffizient hängt auch von den Dauern ab (Graphik unter dem φMa-<br />

Materialindex). Je höher der Veränderungskoeffizient ist, desto kürzer sind die Zeitwerte.<br />

Das ist auch bei „extentionen“ ersichtlich, wo der Veränderungskoeffizient mit den langen<br />

Dauern in Korrespondenz steht. Die Spielweisen umfassen „vielerlei instrumentale<br />

Ereignisse“ zwischen „traditionell“ und „unkonventionell“.<br />

b. MP „einverständnisse“:<br />

MCv:<br />

Im Unterschied zu „extentionen“ benutzt<br />

Schnebel in „einverständnisse“ nicht den<br />

Begriff „Schar“, sondern verwendet<br />

stattdessen die Bezeichungen „lange→sehr<br />

lange Reihen von Wörtern“. Dabei handelt es<br />

sich um Wortfolgen in sukzessiver Gestalt.<br />

Als weitere Angaben sieht Schnebel<br />

„ Satzreihen in depravierter Syntax-<br />

Mitteilungen aus ordinären→höheren Sphären:<br />

Geschwätz“vor. Ein Sprachfundus, der in „extentionen“ nicht vorkommt, bezieht sich hier auf<br />

den Bereich der Muttersprache und auf verwandte Sprache.<br />

Anhand solcher Direktiven lässt sich erklären, dass es neben einem semantisch verständlichen<br />

Ablauf auch eine inhaltliche „Wertminderung“ durch eine depravierte Syntax gibt.<br />

Wie Schnebel genau mit depravierter Qualität arbeitet, werde ich im Kapitel 3, Analyse,<br />

aufzeigen.<br />

MCi:<br />

16 Heilgendorff, glossolalie: eine sprache der Freiheit, S. 339<br />

17 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

18 Heilgendorff, Experimentelle Inszenieung S. 195<br />

12


Es ist auch hier deutlich sichtbar, dass es Übereinstimmungen zwischen dem sprachlichen und<br />

dem instrumentalen Teil gibt. Die Angabe „lange→sehr lange Reihen“ erscheint auch im<br />

instrumentalen Teil. Schnebel fordert ein Instrumentarium „konventionellen niederen Rangs“<br />

mit „simplen und heruntergekommenen musikalischen Materialen“. Wenn man die<br />

Bezeichnung „nichtssagende Mitteilungen“ aus dem sprachlichen Teil mit den simplen und<br />

heruntergekommenen Materialen vergleicht, kommt man zu dem Schluss, dass eine klare<br />

Verbindung zwischen dem vokalen und instrumentalen Bereich besteht.<br />

Instrumentale Aktionen sind als „linear konventionell“ vorgesehen.<br />

Als Beispiel für lineare Aktionen führt Schnebel Streichen, Reiben, Blasen etc.“ an. 19<br />

c. MP „kreise“:<br />

MP „kreise“ enthält nur sehr wenige Direktiven. Als musikalische Angaben finden sich<br />

lediglich „denaturierte Vokale“ für die Sprecher und als instrumentale Basis findet sich<br />

„seriös Instrumentales“.<br />

2.4.3. Aktionsdirektive (AD)<br />

In diesem Parameter finden sich verbale Angabe zu den einzelnen Aktionen und ihrer<br />

Ausführung. Für die Sprecher sind das Atmung, Sprechtempo, Dynamik und Melodik.<br />

Für die Instrumentalisten Zeitwerte, Höhen und dynamische Werte. Die Aktionsdirektive<br />

stellen eine Art Weiterentwicklung der MC dar.<br />

a. MP „extentionen“<br />

AD für Vokalisten:<br />

Ganz oben führt Schnebel die Direktive für die Atmung der Sprecher an. Bei der MP<br />

„extentionen“ reicht das Spektrum von „möglichst lang→ jeweils tiefst Atemholen“.<br />

19 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

13


Danach folgen Direktiven für die zeitliche Anordnung der Laute, Silben und Wörter. Diese<br />

sollen „ aneinander anschließen→möglichst weit voneinandertrennen.“ Zum Sprechtempo,<br />

zur Melodik und Dynamik gibt es folgende Direktive: „ kontinuierlich→diskontinuierlich in<br />

Übergängen→fixen Werten durch geringen→großen Ambitus“.<br />

AD für Instrumentalisten:<br />

Instrumentale Ereignisse sollten zeitlich „kontinuierlich → diskontinuierlich→ punktuell“<br />

verteilt werden. Die Höhen und die Dynamik können eine „Kontinuität→Diskontinuität<br />

aufweisen“.<br />

b. MP „einverständnisse“<br />

AD für Vokalisten:<br />

Wie in der MP „extentionen“ stehen die Anweisungen für die Atmung an erste Stelle der AD.<br />

Für „einveständnisse“ hat Schnebel ein kurzes und tiefes Atemholen vorgesehen.<br />

Das sprachliche Material (Wörter) soll in „natürlicher Aufeinanderfolge“ gesprochen werden.<br />

Das Sprechtempo soll dabei ziemlich konstant bleiben in einer nachlässigen Art und Weise<br />

(Jargon). Die weiteren Angaben beziehen sich auf Sprechmelodik und Dynamik. Im<br />

Verhältniss zum Inhalt gibt es hier ein „sinnloses Auf und Ab“. Dabei ist ersichtlich, dass<br />

Schnebel das Material aus der MC durch die sprachliche Aktionsdirektive ergänzt.<br />

AD für Instrumentalisten:<br />

Der instrumentale Teil steht in deutlicher Korespondenz mit dem sprachlichen. Im Blick<br />

zurück auf die sprachliche Materialcharakteristik ist hier sichtbar, dass Schnebel eine<br />

„depravierte“ Anweisung integriert: „wenig artikluliert, unsauber spielen“. Zeitwerte, Höhen<br />

und dynamische Werte sollen „regellos angeordnet“ sein. Instrumentale Figuren ordnet<br />

Schnebel „direkt nacheinander“, was durch das Synchronisationschema noch deutlicher<br />

sichtbar gemacht wird (siehe unten).<br />

c. MP „kreise“<br />

AD für Vokalisten:<br />

Wiederum finden sich nur ganz wenig bestimmte Parameter. Schnebel benutzt „Wimmern<br />

oder Jaulen“ als eine weiterentwickelte Anweisung für das Material der MC.<br />

AD für Instrumentalisten:<br />

In Übereinstimmung mit der MC „seriös Instrumentales“ ist vorgeschrieben: „wenig<br />

veränderliche Klange andauern lassen“.<br />

14


2.4.4. Synchronisationsregel (SR) und Synchronisationschema (SS)<br />

„Synchronisationsregel (SR), ergänzt vom Synchronisationschema (SS); sie gibt an, wie die<br />

einzelnen Aktionen (zu Gruppen) zu komponieren sind, welche Auswahl, welche Menge pro<br />

Zeit, in welcher Weise, zu welchem Gesamtverlauf. Hier wird auch das Verhalten der Akteure<br />

zueinander determiniert“. 20<br />

Während die SR verbal beschrieben wird, wird das SS graphisch dargestellt. Die SR gilt für<br />

Sprecher und Instrumentalisten gemeinsam; das SS enthält getrennte Direktiven für die<br />

Akteure. In der SR führt Schnebel den Begriff „Gruppe“ ein: „Eine Gruppe ist die Gesamtzahl<br />

von Verläufen als Zusammenhang einer ausgearbeiteten Einheit einer MP“. 21<br />

a.MP „extentionen“: An erster<br />

Stelle wird hier angegeben, wie<br />

in einem Parameter Gruppen zu<br />

einem Gesamtverlauf verbunden<br />

werden können. Dies geschieht<br />

„durch Pausen des<br />

Einatmens→größere Pausen von<br />

anderen abgesetzten Gruppen“.<br />

Für die Anzahl von Verläufen<br />

sieht Schnebel eine<br />

„geringe→hohe Anzahl“ vor.<br />

Die Anzahl kann „homogen→inhomogen“ sein, sie kann sich „überschichten→weit in der<br />

Zeit positionieren“. Die Dichte bewegt sich zwischen „geringer→geringst“. Die<br />

Gesamtgestalt wird bestimmt als „langsam→langsamst“ und „einheitlich→diffus“. Ferner<br />

finden wir Angaben zu den Einsätzen („zugleich→nacheinander“). Schnebel präzisiert auch,<br />

dass wenige Ereignisse auf möglichst viel Zeit mit möglichst großen Abständen verteilt<br />

werden sollten.<br />

Aus dem SS ist ersichtlich, dass Vokalisten nach dem Einatmen (bezeichnet durch<br />

Vertiefungen in den Vokalpartien) gleichzeitig einsetzen sollen, gemeinsam mit den<br />

Instrumentalisten. Ähnlich wie bei der SR sieht man auch hier, dass viele Akteure beteiligt<br />

sind. Am Ende bleibt jedoch nur ein Instrumentalist übrig.<br />

20 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

21 Simone Heilgendorff, glossolalie:eine »Sprache der Freiheit« in Schnebel 60, S.344<br />

15


. MP „einverständnisse“:<br />

Hier spielt sich die Verbindung von<br />

Gruppen im Gesamtverlauf zwischen den<br />

Polen „Gruppen die sich deutlich→gar<br />

nicht von anderen absetzen“ ab, was eine<br />

breite Palette von Verbindungen<br />

ermöglicht. Weitere Angaben nutzt<br />

Schnebel, um Schichtungen und<br />

Überlagerungen der Verläufe innerhalb<br />

einzelner Gruppen zu regeln. Daneben ist<br />

Schnebel eine „mittlere→geringe“ Anzahl<br />

von Überschichtungen angegeben, mehrere Sprechverläufe in mehreren Sprachfärbungen sind<br />

vorgesehen. Die verschiedenen Einsätze sollen nacheinander erfolgen, wobei jeder neue<br />

Einsatz beliebig innerhalb des vorigen stattfinden kann, jedoch nie mehr als zwei<br />

Sprechverläufe gleichzeitig. Die Instrumentalverläufe folgen derselben Regel. Instrumentale<br />

und vokale Partien können nach Belieben mehr oder weniger in den Vordergrund treten. Das<br />

SS veraunschaulicht auch die zeitliche Versetzung der Ereignisse.<br />

c. MP “kreise“: In beiden Parameter (SR/SS) ist ersichtlich, dass Schnebel seine<br />

instrumentalen Anweisungen als Basis für die sprachliche Ausführung betrachtet.<br />

2.4.5. Raumdirektive RD<br />

Dieser letzte Parameter enthält szenische, räumliche und dramaturgische Anweisungen.<br />

Raumdirektiven werden nur für Vokalisten geschrieben; die Instrumentalisten gelten vor<br />

allem als „Klangapparat“.<br />

In der RD werden Bewegungsraum, Bewegungstempo und Richtung (mit Verweisen auf den<br />

zeitlichen Ablauf) angegeben.<br />

16


a. MP „extentionen“: Bewegungsraum: pro Gruppe großer→größter. Während des Agierens<br />

regellose→gezielte Bewegungen, über weite Strecken sehr langsam. Als generelle<br />

Vorstellung gibt Schnebel an: „Innerhalb größter Zeiteinheiten weite Wege zu den Grenzen<br />

des Raums; auseinandergehen“.<br />

b. MP „einverständnisse“: Der Bewegungsraum ist klein, zwischen den Einsätzen sollte<br />

„starke Unruhe“ („rasche regellose Bewegungen“) herrschen, aber wenn die Vokalisten<br />

sprechen, sollte Stillstand eintreten. „Die Sprecher sind immer einander zugewandt – agieren<br />

für sich“.<br />

c. MP „kreise“:<br />

Die Bewegungen sind um den Standort der Instrumente herum orientiert. Sonst finden sich<br />

keine weiteren Anweisungen (z.B. das Bewegungstempo betreffend).<br />

17


3. Dieter Schnebel Glossolalie 61<br />

Dieter Schnebels Glossolalie 61 ist eine ausgearbeitete Version von glossolalie (1959/60) aus<br />

dem Jahr 1961. Nach der Aussage Schnebels bestand ein „Bedürfnis nach einer Realisierung<br />

der Komposition“. 22 Im Jahre 1964 hat Schnebel die Partitur noch einmal überarbeitet.<br />

Glossolalie 61 hat vier Sätze und 84 Abschnitte (Nummern). Jede dieser Nummer enthält eine<br />

oder mehere Materialpräparationen.<br />

3.1. Form<br />

Nach Angaben des Komponisten 23 sind die vier Sätze folgendermaßen charakterisiert:<br />

1. Satz: „Nebeneinanderstellen und Überblenden ziemlich verwandter Materialpräparationen.<br />

Materialpräparationen.Mittleres Tempo.<br />

2. Satz: Vielerei Materialpräparationen zu Entwicklungen verbunden, großer<br />

Tempoambitus→langsam.<br />

3. Satz: Verwandte Materialpräparationen nebeneinandergestellt, rasches Tempo<br />

4. Satz: Vielerei Materialpräparationen stark gegensätzlich komponiert. Wechselnde Tempi“<br />

Der erste Satz beginnt mit einer Introduktion, die anfangs von einem einzelnen Sprecher<br />

bestimmt wird, der das Publikum in das Stück einführt. Im zweiten Satz finden sich sehr viele<br />

sprachliche und instrumentale Zitate aus verschiedenen Lebenssphären und Situationen. Der<br />

dritte Satz ist vorwiegend ohne Worte konzipiert und weist zahlreiche isolierte Sprechlaute<br />

auf. Im vierten Satz gibt es stark kontrastierende Teile und häufige Tempowechsel.<br />

Im folgenden wird eine Übersicht der in Glossolalie 61 verwendeten MP gegebenen:<br />

22 Ebda. S. 93<br />

23 Konvolut [1] Mappe 4 (Glossolalie 1961) siehe Heilgendorff , Experimentelle Inszenierung, S. 425<br />

18


Nummer 1.Satz Nummer 2.Satz Nummer 3.Satz Nummer 4.Satz<br />

1-6<br />

7<br />

8<br />

9<br />

10<br />

11<br />

12<br />

13<br />

14<br />

15<br />

16<br />

17<br />

18<br />

19<br />

20<br />

21<br />

22<br />

23<br />

24<br />

25<br />

26<br />

introduktion<br />

versammlnugen<br />

introduktion<br />

perspektiven<br />

introduktion<br />

folgen<br />

verbindungen<br />

perspektiven,<br />

introduktion<br />

verbindungem,<br />

versammlungen<br />

folgen,<br />

perspektiven<br />

folgen.,<br />

verbindungen<br />

initiativen<br />

dis-positionen<br />

introduktion,<br />

versammlungen<br />

dis-positionen<br />

verbindungen<br />

folgen<br />

initiativen<br />

verbindungen<br />

perspektiven<br />

versammlungen<br />

introduktion<br />

27<br />

28<br />

29<br />

30<br />

31<br />

32<br />

33<br />

34<br />

35<br />

36<br />

37<br />

38<br />

39<br />

40<br />

41/42<br />

43<br />

44<br />

45<br />

46-48<br />

49<br />

50<br />

bewegungen<br />

verwicklungen<br />

gegeneinander<br />

einverständnisse<br />

fortsetzungen<br />

bewegungen<br />

agglutinieren<br />

initiativen<br />

bestätigungen<br />

iuxtapostionen<br />

für sich<br />

iuxtapositionen<br />

verbindungen oder<br />

aggltinieren<br />

einverständnisse<br />

einwände/einwürfe<br />

agglutinieren<br />

verbindungen,<br />

agglutinieren<br />

einwände/einwürfe<br />

bewegungen<br />

extentionen<br />

bewegungen<br />

für sich<br />

51<br />

52<br />

53<br />

54<br />

55<br />

56<br />

57<br />

58<br />

59<br />

60<br />

konkurrenzen<br />

flektieren<br />

oppositionen<br />

impulsationen<br />

oppositionen<br />

flektieren<br />

impulsationen<br />

konkurrenzen<br />

impulsationen<br />

flektieren<br />

61<br />

62<br />

63<br />

64<br />

65<br />

66<br />

67<br />

68<br />

69<br />

70<br />

71<br />

72<br />

73<br />

74<br />

75<br />

76<br />

77<br />

78<br />

79<br />

80<br />

81<br />

82<br />

83-84<br />

inkorporieren<br />

verwicklungen<br />

inkorporieren<br />

einwände<br />

verwicklungen<br />

kreise<br />

kontraste<br />

ausbruch<br />

kontraste<br />

einwände/einwürfe<br />

vektoren<br />

einverständnisse<br />

kreise,zustände,<br />

einfälle<br />

zustände,<br />

kontraste,einfälle<br />

kreise,zustände,<br />

einfälle<br />

einfälle<br />

initativen<br />

bestätigungen,<br />

isolieren<br />

isolieren,<br />

einverständnisse<br />

isolieren<br />

zustände<br />

isolieren<br />

einwände/einwürfe<br />

<br />

epilog (Coda)<br />

3.2. Besetzung<br />

Schon in glossolalie hat Schnebel eine bestimmte Besetzung vorgeschrieben: „Die Musik<br />

Glossolalie ist für ein Ensemble solistisch agierender Sprecher und Instrumentalisten gedacht.<br />

Sie bedarf mindestens 4 Akteure – 2-3 als Sprecher, 1-2 zur Bedienung des Instrumentariums,<br />

an manchen Stellen zugleich zum Mitsprechen.“ 24<br />

Schnebel arbeitet sehr stark mit der gesprochenen Sprache; er verwendet keine Sänger oder<br />

Sängerinnen, sondern Sprecher. In glossolalie 61 hat Schnebel die folgende Besetzung<br />

gewählt:<br />

3, eventuell 4 Sprecher (S1, S2, S3 S4):<br />

S1-Frauenstimme<br />

24 Schnebel, Erläuterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

19


S2-mittlere-hohe Männerstimme<br />

S3-tiefe Männerstimme<br />

(S4-tiefe Frauenstimme)<br />

Der instrumentales Teil ist auf 2 Klavierspieler und 1 oder 2 Schlagzeuger<br />

(I1, I2, I3a/b).<br />

Der Dirigent hat auch eine eigene Funktion als Regisseur.<br />

Das Instrumentarium ist im folgenden aufgelistet:<br />

aufgeteilt<br />

Instrumentalist 1:<br />

Harmonium (mit Perkussion,<br />

Knieschwellern Expression und<br />

reicher Registratur- 2', 4' 8', 16')<br />

1 kleine (hohe) Sirene (zum<br />

Blasen)<br />

1 Triangel<br />

1 Sistrum<br />

mehrere Maracas ( auch Büchsen<br />

mit groben oder feinen Materialien<br />

gefüllt)<br />

Sandblocs<br />

1 kleines Guiro<br />

1 Ratsche<br />

mehrere Blechdeckel<br />

mehrere Blätter Pergament- und<br />

Seidenpapier<br />

1 großer Bogen Packpapier,<br />

aufgehängt<br />

Instrumentalist 2:<br />

Klavier (Deckel abnehmen)<br />

1 Kuhglocke<br />

1 Triangel<br />

1 Tamburin<br />

3 Woodblocs verschiedener Höhe<br />

3 Glässer<br />

3 Flaschen<br />

Mehrere Porzellanstücke<br />

( Teller,Tasen etc.)<br />

1 Kasten mit Besteck<br />

Mehrere Blätter Papier<br />

Instrumentalist 3:<br />

Trommeln: 1 kleine Trommel<br />

2 Tomtoms, 1 große Trommel<br />

3 Becken verschiedener Größe<br />

3 Gongs (Tamtams) verschiedener<br />

Höhe<br />

1 Conga<br />

1 Triangel<br />

2 Maracas<br />

1 großes Guiro<br />

mehrere Blätter Papier<br />

mehrere Metallkettchen<br />

1 hohe Sirene<br />

1 tiefe Sirene (wie von Varése in<br />

Ionisation verwendet)<br />

1 sehr hohe Pfeife<br />

1 Trillerpfeife<br />

Es gibt noch weitere Instrumente, die entweder vom 4.Instrumentalisten oder von den<br />

übrigen Instrumentalisten gespielt werden. Wenn die Instrumente von den übrigen<br />

Instrumentalisten gespielt werden, ist die Aufteilung folgendermaßen:<br />

Der 1. Instrumentalist spielt: 1 Satz Röhrenglocken (c-f '), 1 Paar Holzschlägel, 1 Paar<br />

Metallstäbe.<br />

Der 2. Instrumentalist spielt: 1 Vibraphon (oder Celesta), 1 Glockenspiel, 1 Paar Claves,<br />

Besen, Holzschlägel, Filzschlägel, Metallstäbe, 1 Lineal, 2 Schaber, 1 Schneebesen.<br />

Der 3. Instrumentalist spielt: 1 Marimbaphon, 1 Pauke, 1 Behälter Wasser (für Watergongs), 1<br />

Paar Claves, Holzschlägel, Lederschlägel, Gummischlägel, Filzschlägel, Besen, 2 Lineale, 1<br />

20


Bürste. Schnebel verwendet neben Klavier und Harmonium auch einen großen Apparat von<br />

Schlaginstrumenten. Neben den Instrumenten gibt es auch noch verschiedene weitere<br />

Klangmittel wie z.B. Gläser, Papier verschiedener Art, Essbesteck etc.<br />

3.3. Notation<br />

Für die Sprecher hat Schnebel den „Höhenbereich in die Regionen sehr hoch, hoch, normal,<br />

tief, sehr tief eingeteilt und für die Instrumentalisten sind Oktavräume notiert“. 25 Er<br />

verwendet eine Registernotation für die Sprechpartien, übernommen aus Hans G. Helms<br />

Daidalos: „ Zwischenräume indizieren die obengenannten 5 Regionen der Sprechhöhe“ 26 . Für<br />

die fremdsprachigen Teile benutzt Schnebel das IPA (International Phonetic Alphabet). Im<br />

instrumentalen Teil sind die oft „Tonhöhen regional abgegeben“ 27 : „Beim Klavier meinen I,<br />

II, III, IV die Räume innen zwischen den eisernen Spreizen von links nach rechts (von oben<br />

nach unten).“ 28<br />

Der dynamische Bereich ist durch eine achtstufige Skala gegliedert: fff, ff, f, mf, mp, p, pp,<br />

ppp. Fff und ppp sind Extremwerte: fff=äußert laut, aus aller Kraft; ppp kaum hörbar“. 29<br />

Tempi sind auch durch folgende Skala gegliedert: “äußerst rasch, sehr rasch, rasch, etwas<br />

(ziemlich) rasch (normal), etwas (ziemlich) langsam, langsam, sehr langsam, äußerst<br />

langsam“ 30 .<br />

Die szenische Orientierung hat Schnebel durch 12 Punkte gegliedert:<br />

25 Partitur Glossolalie 61, S.VII<br />

26 Ebda.<br />

27 Ebda.<br />

28 Ebda.<br />

29 Ebda.<br />

30 Ebda.<br />

21


3.4. Überblick über das sprachliche Material<br />

Von Simone Heilgendorff werden drei Gruppen sprachlichen Materials in Glossolalie 61<br />

unterschieden 31 :<br />

semantisch Verständliches<br />

Nr:<br />

Fremdsprachen<br />

Nr:<br />

Laute<br />

Nr:<br />

1.Satz 1-8,10,11,13-16,18,21,22,25,26 10,13,14,24 12,13,15-<br />

17,19,20,22,23<br />

2.Satz 28,30,35,40,42,48 29,34-<br />

31,33,39,42-49<br />

38,41,42,47,50<br />

3.Satz<br />

ganzes Satz aus Lauten<br />

4.Satz 61,63,65,67,72,76,77,79-81,83-<br />

85<br />

61-63,68,70-<br />

73,75,77,82,85<br />

66,69,71,78<br />

Instrumentales Material in Glossolalie 61:<br />

Das instrumentale Material ist meist graphisch dargestellt (in 71 Nummern). Es steht in<br />

Korrespondenz mit dem sprachlichen Material. Der instrumentale Teil ist als „Kolorierung“ 32<br />

des sprachlichen Materials zu verstehen. Anderseites ist in 15 Nummern auch konventionelle<br />

Notation zu finden. Im Glossolalie 61 ist das von Schnebel gewählte sprachliche und<br />

instrumentale Material stark mit der damaligen gesellschaftlichen Situation verbunden, „alle<br />

akustischen und verbalen Ereignisse des vergangenen und aktuellen Weltgeschehens gehören<br />

virtuell zum Inhalt der Glossolalie“. 33 Verschiedene sprachliche und musikalische Zitate sind<br />

„als Ausdruck einer konkreten gesellschaftlichen und künstlerischen Situation 1961“ 34<br />

aufzufassen. Zeit und Ort spielen bei jeder Ausarbeitung der glossolalie eine wesentliche<br />

Rolle. Glossolalie 61 steht mit folgenden Ereignissen in der Weltgeschichte im<br />

Zusammenhang (als Beispiel folgt Nummer 28):<br />

- am 13.08.1961 wird der Bau der Berliner Mauer begonnen<br />

- Kuba-Krise wegen geplanter Stationierung sowjetischer Raketen auf der Insel 35<br />

- Angola führt den Unabhängigkeitskrieg<br />

- Die „Demokratische Republik Kongo“ wird am 30. Juni 1961 ausgerufen<br />

- Im April 1961 schließt J.F. Kennedy einen Freundschafts- und Wirtschaftsvertrag mit Süd-<br />

Vietnam; ab Dezember wird die militärische Präsenz der USA in Vietnam weiter verstärkt<br />

31 Vgl. Heilgendorff, Experimentelle Inszenierung, S. 230f.<br />

32 Ebda. S. 231<br />

33 Borio, Musikalische Avantgarde um 1960, S. 114<br />

34 Nauck, Dieter Schnebel, Lesegänge durch Leben und Werk, S. 96<br />

35 Reininghaus, Handbuch der Musik im 20. Jahrhundert, S. 138<br />

22


- in Laos findet ein Bürgerkrieg statt (1961-1962)<br />

Verschiedene Fachausdrücke wie zum Beispiel „Synchroton“, „Kadenz“, „Oszillation“,<br />

Namen von verschiedenen Komponisten, Philosophen, Wissenschaftlern, Persönlichkeiten<br />

aus dem Showbusiness (Sophia Loren, Ella Fitzgerald, Catherina Valente) usw. gehören auch<br />

zum sprachlichen Material von Schnebels Ausarbeitung.<br />

Auch Kompositionen, die in dieser Zeit enstanden sind, erscheinen als sprachliches Material<br />

bei Zi. 63: Anagrama (Kagel), Apparitions (Ligeti), Carré (Stockhausen), Kontakte<br />

(Stockhausen), Daidalos, Fa:m Ahniesgwow (Helms), Solo for voice (Cage).<br />

Daneben bezieht Schnebel den politischen Hintergrund, das kulturelle Klima, die Umgangsund<br />

Alltagsprache sowie verschiedene Fremdsprachen ein. Worte wie „Gefahr“, „Opfer“,<br />

„Kampf“ (Zi. 80) wurden zu jener Zeit mit ganz bestimmten Ereignissen und Vorstellungen in<br />

Verbindung gebracht.<br />

Die folgende Tabelle zeigt alle verwendeten sprachlichen Materialen in Glossolalie 1961<br />

unterteilt nach den beiden Kategorien „höhere“ und „niedrigere Sphären“. 36 „Höhere<br />

Sphären“ bezeichnet dabei Zitate aus intellektuellen Bereichen, aus Literatur, Philosophie und<br />

Kunst. In dieser Kategorie werden nicht nur Zitate benutzt, sondern auch Namen von<br />

Persönlichkeiten und Fachausdrücke.<br />

36 Vgl. Heilgendorff, Experimentelle Inszenierung, S. 233f.<br />

23


Überblick zum verwendeten sprachlichen Materiales aus beiden Sphären in Glossolalie 61:<br />

Ziffer „höhere Sphäre“ „niedrigere Sphäre“<br />

7. Volksmund - über moderne Kunst<br />

11. E. Bloch: Umtriebe der Furcht<br />

13. Kritiker<br />

14/15. Modewörter und Kritiker<br />

16. Alte Wörter<br />

18. Volksmund<br />

19. R. Wagner: Wagalawaja<br />

21. Modewörter<br />

22. Alte Wörter<br />

28. Die Namen behrümter Personen<br />

30. Schlagwörter und Meinungen<br />

35. Definitionen, Rechtssätze, Imperative<br />

40. Meinungen und Schlagwörter<br />

41. P. Verlaine: Les sanglots longs, W.Shakespeare:<br />

Mahbeth - Hexenchor<br />

42. Lateinische Psalmodie, Homer: Odysee, Anfänge<br />

des Nibelunglieds, F. Schiller: Die Glocke, J.<br />

Joyce: Finnegans Wake, A. Jarry: Roi Ubu<br />

46. C. Morgenstern: Das große Lalua<br />

47. Abkürzungen<br />

50. Psalm 126<br />

62. W. Majakowski: Aus vollem Halse<br />

63. Verschiedene Kompositionstitel, politische<br />

Namen, geographische Namen<br />

68. W.Majakowski: Aus vollem Halse<br />

70. Glückwünsche<br />

75. Auschnitt über italienische Canaletto<br />

76. K.Jaspers- Textzitat „Mit dem Opfer aber ist<br />

etwas Überzeitliches und Übersinnliches und<br />

Unbedingtes verbunden; es ist, wenn auch<br />

vergeblich, nicht sinnlos.“<br />

77. Begrüßungen<br />

80. Deutsche Worte<br />

81. E. Bloch: Das Prinzip Hoffnung<br />

82. altchristlicher Gebetsruf „Maranatha“<br />

24


3.5. Analyse ausgewählter MPen aus Glossolalie 61<br />

3.5.1. MP „extentionen“ (Nr.46-49 in der Partitur):<br />

In Glossolalie 1961 ist die MP „extentionen“ mit den Nummern 46-49 beziffert. Es ist bereits<br />

im Strukturkatalog festgelegt, dass es sich bei dieser MP grundsätzlich um eine erweiterte,<br />

langsame und leise Präparation handelt. Die Besetzung umfasst hier vier Sprecherparts, wobei<br />

der Part von Sprecher 4 von den Instrumentalisten 1 und 2 alternierend übernommen wird.<br />

Der Instrumentalist 1 spielt das Harmonium und die kleine Sirene. Dem Instrumentalisten 2<br />

sind Klavier, Röhrenglocken, Glockenspiel, Glas, Tamburin und Besteck zugeteilt.<br />

Instrumentalist 3 spielt Becken, Gongs, Sirene, Trommel, Vibraphon und Xylophon.<br />

Das sprachliche Material in Nummer 46 beinhaltet das Gedicht Das große Lalula des<br />

deutschen Dichters Christian Morgenstern. Morgenstern gilt als ein wichtiger Vertreter der<br />

komischen Lyrik und Nonsense Literatur.<br />

„Das große Lalula“ ist ein Gedicht aus Morgensterns Gedichtband „Galgenlieder“ und besteht<br />

aus asemantischen Buchstabenketten. Schnebel sieht bereits in der MC „extentionen“<br />

Nonsensprachverläufe vor, die er versucht durch die Auswahl eben jenes Gedichtes zu<br />

verdeutlichen. Schnebel verwendet nur die zweite Strophe des Gedichtes. Er unterteilt die<br />

Wörter der Strophe in Silben, wobei Sprecher 1 den zweiten und vierten Vers und Sprecher 2<br />

den ersten und dritten Vers präsentiert.<br />

25


Das große Laula<br />

KroklokwafziSemememi!<br />

Seiokrontro-prafriplo:<br />

Bifzi, bafzi; hulalemi:<br />

quasti basti bo…<br />

Lalu lalu lalu lalu la!<br />

Hontraruru miromente<br />

Zasku zes rü rü<br />

Entepente, leiolente<br />

Klekwapufzi lü<br />

Lalu lalu lalu lala la!<br />

Simarat kost malzlpempu<br />

Silzuzankunkrei(;)!<br />

Marjomar dos:Quempu Lempu<br />

Siri Suri Sei[ ]!<br />

Lalu lalu lalu lalu la!<br />

Im weiteren Verlauf benutzt Schnebel in Nummern 47 und 48 verschiedene Buchstaben sowie<br />

römische und arabische Zahlen. Die Sprecher und Instrumentalisten beginnen nach dem<br />

Einatmen nicht gleichzeitig, sondern setzen nacheinander ein. Eine derartige Gestaltung<br />

entspricht den Direktiven der Synchronisationsregel SR (siehe oben). Die Gestaltung der<br />

Silben der Sprecher in Ziffer 46 wird gemäß der AD (Aktionsdirektive) auf die folgende Art<br />

umgesetzt werden: Während des Sprechvorgangs benutzen die ersten beiden Sprecher auch<br />

Instrumente, die zur Färbung des sprachlichen Materials dienen. Als Beispiel kann man das<br />

Sistrum anführen, das das Rollen (Vibrieren) des Buchstabens R verstärkt. Eine<br />

kontinuierliche Dynamik und ein beständiges Tempo, die in den AD festgelegt sind, werden<br />

deutlich ersichtlich.<br />

So gibt es zum Beispiel einen kontinuierlichen dynamischen An- und Abstieg bei den ersten<br />

zwei Sprechern. Das Tempo ist in Nummer 46 durchgehend sehr langsam gestaltet.<br />

Nummer 46 enthält gemäß der Direktiven der SR eine hohe Anzahl von Verläufen. Alle<br />

Stimmen und Instrumente verdichten und überlagern sich hier. Es gibt viele instrumentale<br />

Ereignisse, die meist unkonventionell gestaltet sind. Dies wird im folgenden Beispiel deutlich.<br />

26


Eine derartige Gestaltung führt in Nummer 46 zu einer dichten musikalischen Struktur.<br />

Im instrumentalen Teil finden sich weniger dynamische Angaben als im vokalen Teil. Die<br />

Dynamik bewegt sich innerhalb des Bereiches ppp - mp, was der Anweisung α in dem MI<br />

entspricht. Ab Nummer 47 kommt es zu einer Ausdehnug; die sprachlichen und<br />

instrumentalen Aktionen gehen immer weiter auseinander. Die Anzahl der Verläufe und somit<br />

auch der Ausführenden sinken kontinuierlich. Das musikalische Material wird dadurch immer<br />

durchsichtiger, bis am Ende von Nummer 47 nur noch ein Sprecher, ein Instrumentalist und<br />

der Dirigent übrigbleiben.<br />

In Nummer 48 wird dieses Prinzip weitergeführt, bis am Ende nur mehr ein Sprecher agiert.<br />

Auf diesem Weg setzt Dieter Schnebel seine Intentionen aus der SR und SS um. Durch die<br />

räumlichen Bewegungen der Sprecher wird Schnebels Absicht, eine erweiterte<br />

Gesamtgestaltung zu erreichen, sichtbar. Am Anfang von „extentionen“ bewegt sich jeder<br />

Sprecher in eine eigene Richtung. Sprecher 1 geht nach links Mitte, Sprecher 2 bewegt sich<br />

nach rechts neben die Instrumente und Sprecher 3 geht nach rechts Mitte. Sprecher 2 und 3<br />

stehen neben einander, während sich Sprecher 3 auf der andere Seite befindet. In Nummer 47<br />

bleibt Sprecher 1 auf seiner Position stehen, Sprecher 2 und 3 bewegen sich langsam zur<br />

gleichen Zielposition, nach rechts hinten (in die Ecke).<br />

27


Die Bewegungen dauern bis zum Ende der MP „extentionen“ an. So erreicht Schnebel sein<br />

Ziel, das in den Raumdirektiven definiert ist: es kommt zu sehr langsamen Bewegungen, die<br />

mit dem Erreichen der Raumgrenzen enden.<br />

Eine besondere Erscheinung, die in der gesamten MP präsent ist, ist die Erscheinung von<br />

semantisch verständlichem sprachlichem Material. Schnebel integiert ab Nummer 47 einen<br />

sprachlich verständlichen Text der vom Dirigenten gesprochen wird und in dem sich<br />

Angaben zu inhaltlichen Ereignissen finden, z.B. „noch langsamer“, „es entwirrt sich“, „und<br />

noch mehr auseinander“, „ und ausruhn“. Das hier verwendete sprachliche Material erscheint<br />

als ungewöhnlich, da es in der Materialpräparation nicht beschrieben ist. Solche sprachlich<br />

verständlichen Ausdrücke, die die musikalische Struktur noch verdeutlicht, finden sich auch<br />

in der Introduktion von Glossolalie 61.<br />

In der MP „extentionen“ dehnt sich die Gestaltung der zeitlichen Dauern allmählich aus. In<br />

Nummer 47 wird das musikalische Material mit der Zeit immer mehr durch Pausen<br />

unterbrochen. Dass es eine Kongruenz zwischen den instrumentalen und sprachlichen Teilen<br />

gibt, ist an folgendem Beispiel gut ersichtlich: In Nummer 48 artikuliert Sprecher 3 leise das<br />

Wort „drai“ auf einem möglichst langen Zeitraum, während im Instrumentalbereich<br />

Vibraphon oder Celesta den Ton möglichst lange ausklingen lassen.<br />

3.5.2. MP „einverständnisse“ (Nr.30 und 40 in der Partitur):<br />

Die Nummern 30 und 40 sind Umsetzungen der MP „einverständnisse“. Er besetzt diese Teile<br />

mit einer Frauenstimme, einer hohen und einer tiefen Männerstimme. Der Instrumentalpart<br />

setzt sich aus einem Harmoniumspieler, einem Pianisten und einem Schlagzeuger zusammen.<br />

Aus dem Begriff „einverständnisse“ kann man auf eine positive, freundliche Atmosphäre<br />

schließen. Schnebel bestätigt eine derartige Vorstellung durch die Wahl seiner Raumdirektive.<br />

Nummer 30 und 40 folgen nicht aufeinander, weisen aber, was die Angaben zum Raum<br />

28


etrifft, große Ähnlichkeiten auf. Eine enge Kommunikation zwischen den Sprechern ist in<br />

beiden Nummern ersichtlich. „Vorher und nachher starke Unruhe“ und „rasche regellose<br />

Bewegungen“ sind Angaben, die in der RD, aber nicht in der Partitur Nummer 30 erscheinen.<br />

In Nummer 40 werden diese Anweisungen teilweise umgesetzt: „hie und da auffallende<br />

exaltierte Bewegungen“ bereiten auf ein panisches Laufen in Nummer 41 vor.<br />

Schnebel wählt für die Ausarbeitung der beiden Teile eingerahmte Modelle, in die er das<br />

sprachliche und instrumentale Material verpackt. Das sprachliche Material greift er aus dem<br />

alltäglichen Leben in Form von primitiven Aussagen auf, z.B. politische Parolen,<br />

Zeitungschlagzeilen, Werbeslogans, Sportkommentare oder quasi Zitate von (intoleranten,<br />

undemokratischen) Ansichten sogenannter „einfacher Leute“. Dieter Schnebel versucht die<br />

Wirkung der Sätze durch eine passende musikalische Gestaltung zu unterstreichen.<br />

Der sprachliche Teil gehört in beiden Nummern zu den „niedrigeren“ Sphären (siehe Seite 21-<br />

22). Für den instrumentalen Teil benutzt Schnebel Fragmente aus verschiedenen Märschen,<br />

Liedern (Nr.30) und Zitate aus „höheren Sphären“ verschiedener Opern (Zi.40); wie z.B.<br />

Bedrich Smetana: Die verkaufte Braut: „Weiß ich doch einen“<br />

Georges Bizet: Carmen „Euren Toast kann ich wohl erwidern“<br />

Franz Lehar: Die Lustige Wittwe(Valse)<br />

Giacomo Rossini: Barbier von Sevilla: „Ich bin das Faktotum der vornehmen Welt“<br />

29


Giuseppe Verdi: „La donna e mobile“(Rigoleto)<br />

Die ein bis zwei Takte lange Fragmente benutzt Schnebel in einer „depravierten“ Form (die<br />

bereits in der MC aufscheint); er verändert das Tempo und die Tonart und fügt eigene<br />

Spielanweisungen hinzu, wie z.B. „unrein spielen“ oder „äußerst rasch“.<br />

Eine vergleichbar „karikierende“ Wiedergabe lässt sich auch im sprachlichen Teil durch die<br />

Sprachanweisungen „undeutlich, äußerst rasch“ und durch das Einfließen verschiedener<br />

Dialekte und klangliche Sprachfärbungen feststellen. Die verschiedenen sprachlichen<br />

Färbungen gehen bereits aus der SR hervor. Die Dialekte sind in Nummer 40 anhand der<br />

Lautschrift erkennbar:<br />

„angeberisch“<br />

Tiefe<br />

Männerstimmen<br />

„sächisch“<br />

Frauenstimme<br />

„schwäbisch“<br />

Frauenstimme<br />

„Auch Pleite jegangen! So bilisch, dat war ein Schick! Geben acht Prozent“<br />

„Sozialismus hat Blaz för alle. Brodukzjonsziffen wiedr übertroffn. Sabödore. Gampf<br />

fön Siesch.“<br />

„Sommabreise! Helfet spare! Koufets no! Naturrein ischs ksündr!“<br />

30


Die verschiedenen klanglichen Sprachfärbungen in Nr. 40 sind:<br />

„zwitschernd“<br />

Frauenstimme<br />

„dumpf“<br />

Hohe<br />

Männerstimme<br />

„affektiert“<br />

Tiefe<br />

Männerstimme<br />

„Müßte man den Kragen umdrehn. Er sieht so männlich aus. Entsetzlich, eine Katze<br />

umgebracht. Hat schon die vierte Frau. War schon immer für die Todesstrafe.“<br />

„Die Lage ist sehr ernst. Das war ein schwere Schlak. Trotzdem klarer 3:2 Siek.“<br />

„Ik lach misch doot! Die Masche! Sagenhaft! Dieser Ausdruck! Dolle Leistung! Aba<br />

setzen!“<br />

Beiden Nummern liegt ein marschartiger Rhythmus zugrunde. Der Rhythmus basiert auf<br />

verschiedenen Schlaginstrumenten, für die in Nummer 30 und 40 keine fixe Tonhöhe<br />

vorgegeben ist. In Nummer 30 sind die Perkussionsinstrumente, die erste und vierte Trommel<br />

und das Becken, fix festgelegt. In Nummer 40 kann der Schlagapparat frei gewählt werden.<br />

Die „starre“ Form des Marsches wandelt sich allmählich zu einer „freien“ Form der Jazz-<br />

Improvisation. Die rhythmische Gestaltung und die Wahl der Lautstärke lösen innerliche<br />

Assoziationen aus: So fühlt man sich durch den Marschcharakter in Situationen des Krieges<br />

versetzt. Auch die rasch gesetzten Aktionen im Bereich des piano können Angstgefühle<br />

auslösen.<br />

Marschartige Rhythmus in Nr. 30<br />

Marschartige Rhythmus in Nr.40<br />

31


Der Part des Dirigenten ist durch einen Pfeil, der einen Kreis beschreibt, notiert.<br />

John Cage beschreibt eine derartige Funktion des Dirigenten als chronometrisch: „Die<br />

Kontrolle aufgeben, so daß Töne Töne sein dürfen (sie sind keine Menschen, sie sind Töne),<br />

heißt beispielweise: der Dirigent eines Orchesters ist nicht länger ein Polizist, sondern einzig<br />

ein Anzeiger der Zeit – nicht in Schlägen, sondern wie ein Chronometer. In einem Konzert hat<br />

er seine eigene Stimme.“ 37<br />

In der Darstellung des SSs ist ersichtlich, dass die Ereignisse möglichst zeitlich versetzt<br />

gestaltet werden sollten.<br />

In der Ausarbeitung sieht es dann so aus, dass der Dirigent die Einsätze gibt. Er hat dafür<br />

eine bestimmte Zeit zur Verfügung, innerhalb der bestimmte, in der Partitur<br />

niedergeschriebene Ereignisse passieren sollen. Dazu gehören alle Parameter des<br />

Strukturkatalogs, die nun in „einverständnisse“ realisiert werden.<br />

In der Partitur Nummer 30 gibt es Veränderungen in der Dynamik, die ursprünglich im<br />

Strukturkatalog nicht notiert wurden. So ist eine pp Grunddynamik im Schlagzeugbereich<br />

durch eine ff-Stelle durchbrochen. Das ist als eine Erinnerung an die vorhergehenden Teile zu<br />

verstehen, die sich sehr stark im ff-Bereich bewegen.<br />

3.5.3. MP „kreise“<br />

In Glossolalie 61 hat die MP „kreise“ die Nummer 64. Es handelt sich dabei um einen sehr<br />

kurzen Abschnitt, der zwischen den MPen „verwicklungen“ und „kontraste“ steht.<br />

„Kreise“ hat die Funktion eines Übergangs, was deutlich im instrumentalen Teil sichtbar ist.<br />

So wurde in der vorhergehenden MP „verwicklungen“ (Nummer 63) Papier in den inneren<br />

Teil des Klaviers gelegt und der Instrumentalist 2 streicht mit einer Gabel über die Saiten. In<br />

„kreise“ soll der Instrumentalist 2 nur das Papier wieder wegräumen und für die nächste<br />

Präparation eine Ratsche holen. Ähnlich verhält es sich mit Instrumentalist 3 und dem<br />

Schlagapparat. In Nummer 63 lässt Instrumentalist 3 auf die Trommeln allerlei Schlägel<br />

37 Cage, Silence S. 271<br />

32


fallen. In „kreise“ wird er angewiesen die Schlägel wieder wegzuräumen und sich zwei<br />

Holzschlägel in Vorbereitung auf die nächste MP zu nehmen. Die Anweisungen für die<br />

Sprecher sind für alle drei gleich. Obwohl in der RD nur Bewegungen um den Platz der<br />

Instrumente herum beschrieben wird, sollen sie sich gemäß den Angaben langsam nach vorne<br />

bewegen. Was den Sprechvorgang an sich betrifft, sollen die Sprecher durch ein starkes<br />

Zusammenpressen der Lippen Vibrierlaute von sich geben. Dabei sollten sie 1-2 Mal durch<br />

kurze heftige Atemausstöße „sff“ artikulieren. Bei „kreise“ handelt es sich um eine MP, die<br />

man musikalisch ziemlich frei gestalten kann, da Schnebel seine Direktiven wenig detailliert<br />

angibt.<br />

33


4. Analyse der Ausarbeitung von drei ausgewählten Materialpräparationen durch die<br />

Klasse <strong>Musiktheorie</strong> an der Kunstuniversität <strong>Graz</strong> (2007)<br />

„Ist gleichwohl in den Materialen vieles schon determiniert – vorkomponiert –, so überhaupt<br />

nicht die Form: es läßt sich ein kurzes Stück bilden, aber auch ein abendfüllendes, ein<br />

einheitliches, ein diskontinuierliches, ein Zyklus von Stücken, ein offenes, ein…“ 38<br />

Im Rahmen der Lehrveranstaltung „Theorie, Analyse und Praxis kompositorischer<br />

Techniken“ hat unsere Klasse im Sommersemester 2007 fünf Materialpräparationen aus<br />

Dieter Schnebels glossolalie realisiert und am 28.6.2007 in der Aula der Kunstuniversität<br />

<strong>Graz</strong> zur Aufführung gebracht. Jeder Teilnehmer und jede Teilnehmerin (insgesamt vier<br />

Personen) hat eine eigene MP ausgearbeitet. Unsere Auswahl der MP stand im<br />

Zusammenhang mit der Unterteilung seiner MPen in Paare. So haben wir die Form und den<br />

Ablauf der MP auch paarweise organisiert: „extentionen – impulsationen“, „einverständnisse<br />

– einwände/einwürfe“.<br />

Die letzte Präparation unseres Zyklus bildete die MP „kreise“, an der wir gemeinsam<br />

arbeiteten. Der Ablauf unserer Ausarbeitung basierte auf Kontrasten und Gemeinsamkeiten.<br />

Die einzelnen MP folgen ohne längere Pausen aufeinander und kommen jeweils nur einmal<br />

vor. Das Stück beginnt mit „extentionen“, wobei es sich um eine MP handelt, die eine sehr<br />

leise Grunddynamik und der langsam Bewegungsabläufe hat. Auf diese MP folgt<br />

„impulsationen“, die im Unterschied zu „extentionen“ sehr laut und impulsiv ist. Man findet<br />

allerdings auch gewisse Gemeinsamkeiten zwischen den beiden ersten MP, wie z.B.<br />

Nonsenssprachverläufe. Die dritte MP „einverständnisse“ unterscheidet sich sehr stark von<br />

„impulsationen“ durch ihr sprachliches und instrumentales Material. Es handelt sich um die<br />

leiseste, semantisch am deutlichsten verständliche MP und bildet mit „einwände/einwürfe“<br />

ein Paar. Die MP „einwände/einwürfe“ verfügt über ein breites dynamisches Spektrum und<br />

eine große Frequenzbreite. Als Sprachen haben wir Deutsch, Kroatisch und Chinesisch<br />

verwendet, wobei wir Deutsch als Muttersprache festgelegt haben. Die Wahl der Sprachen<br />

ergab sich aus den verschiedenen Nationalitäten innerhalb unserer Gruppe (zwei Kroatinnen,<br />

eine Chinesin und ein Deutscher).<br />

Ein großer Unterschied zur Ausarbeitung Schnebels bestand darin, dass wir als eine Gruppe<br />

zusammengearbeitet haben, während der Komponist sein Konzept allein ausgearbeitet hat:<br />

„Interpreten wählen gemeinsam die Präparationen aus, die sie ausarbeiten wollen. Nach den<br />

Vorschriften der Präparatioenen stellen sie dann Material zusammen, die ihnen gut scheinen;<br />

38 Schnebel, Erläterung zur glossolalie (1959/60), Vorbemerkungen<br />

34


machen sich also selber ans Suchen und Erfinden. Zugleich probieren sie diese Partien,<br />

studieren sie auch ein, synchronisieren sie und fügen endlich die vorbereiteten Perioden<br />

collageähnlich zusammen. So spielten die Ausführenden wirklich ihre glossolalie.“ 39<br />

Dieses Zitat bildete einen Ausgangspunkt für uns. Unsere Arbeit erstreckte sich durch ein<br />

ganzes Semester. Viele Materialien mussten gesammelt werden und nur durch eine gute<br />

Kommunikation konnten wir schließlich unsere glossolalie als eine gemeinsame Arbeit<br />

präsentieren. Unsere Ausarbeitung haben wir auch selbst einstudiert und die Besetzung so<br />

gewählt, dass jeder von uns als Instrumentalist/in bzw. Sprecher/in mitwirken konnte.<br />

Zusätzlich haben wir bei der Aufführung auch Unterstützung von anderen Kollegen und<br />

Kolleginnen des Instituts 1 Komposition, <strong>Musiktheorie</strong>, Dirigieren und Musikgeschichte<br />

erhalten. Die Besetzung unserer Ausarbeitung umfasste:<br />

Ein Dirigent, drei Sprecher, ein Klavier, eine Violine, mehrere Schlaginstrumente, eine<br />

Gitarre und zahlreiche Objekte wie z.B. Wasser, kleine Bälle, Bleistift etc. Die Raumdirektive<br />

konnten wir bei der Aufführung nicht beachten, weil die Bühne es platztechnisch nicht zuließ.<br />

4.1. Extentionen, ausgearbeitet von Pei-Yu Fu<br />

Die Sprecherrollen sind in zwei Frauenstimmen und eine Männerstimme unterteilt. Die<br />

instrumentale Besetzung besteht aus Geige, Klavier, einem Paar Becken, einem kleinen Tam-<br />

Tam, Pauke, Vibraphon sowie Papier, Teller und Wasser. Nach dem kurzen und leisen<br />

Einatmen beginnen in „extentionen“ alle Beteiligten gleichzeitig. Der Satz dauert<br />

insgesamt 4:40 Minuten. Das sprachliche Material auf den ersten beiden Seiten besteht aus<br />

verschiedenen Silben, die in einem „Nonsenszusammenhang“ stehen.<br />

Obwohl die MP „extentionen“ als die leiseste Präparation determiniert ist, benutzt Pei-Yu Fu<br />

hier auch kontrastierende dynamische Verläufe, die meist durch Sprecher 1 sichtbar werden.<br />

Die Silben werden nacheinander, durch die Stimmen versetzt, ausgesprochen. Es gibt<br />

allerdings auch Stellen, an denen die Silben der verschiedenen Sprecher, zusammenfallen.<br />

39 Dieter Schnebel, Denkbare Musik, S. 387<br />

35


Im Instrumentalbereich verwendet Pei-Yu Fu gleichberechtigt traditionelle (wie z.B. Tremolo,<br />

Flagolett) und unkonventionelle Aktionen. Eine sehr interessante Stelle findet sich auf Seite 3,<br />

wo der instrumentale Part den sprachlichen Part unterstützt („Kolorierung“): in diesem<br />

Beispiel artikuliert Sprecher 1 die Namen verschiedener Tiere in kroatischer Sprache (später<br />

auch auf Chinesisch), während der instrumentale Part diese Wörter musikalisch verdeutlicht.<br />

So spricht Sprecher 1 das Wort „Osa“ („Wespe“) mit sehr hoher Stimme aus, die Geige spielt<br />

in einer sehr hohen Tonlage mit Tremolo und auf dem Klavier (in das man vorher einen Teller<br />

hineingelegt hat) lässt man einen hohen Ton klingen.<br />

36


Wie bei Schnebel gibt es auch bei Pei-Yu Fus Version um ein langsames Absteigen in vielen<br />

Parametern, wie z.B. in der Dynamik, der Zahl der Ausführenden (ein Sprecher verbleibt am<br />

Ende allein) oder dem Tempo (ritardando).<br />

37


4.2. Einverständnisse, ausgearbeitet von Petra Zidaric<br />

Die MP„einverständnisse“ steht zwischen der mit ihr kontrastierenden MP „impulsationen“<br />

und der MP „einwände/einwürfe“, mit der sie ein Paar bildet.<br />

Die Besetzung setzt sich aus zwei Frauenstimmen und einer Männerstimme zusammen. Das<br />

Instrumentarium besteht aus Geige, Klavier und manchen geräuschaften Sachen wie z.B.<br />

Papier, Buch oder Bleistift.<br />

Mein Ausgangspunkt für die Ausarbeitung war die Klärung der Bedeutung des Wortes<br />

„Einverständnis“. Ich wollte eine nervöse, aufgeregte, angespannte Atmosphäre schaffen, die<br />

am Ende der MP mit einer positiven, freundlichen Gestalt, den „einverständnissen“ schließt.<br />

Ich habe den Übergang von „impulsationen“ zu „einverständnisse“ durch geräuschartige<br />

Aktionen dargestellt. Am Anfang der MP gibt es kein sprachliches Material; die Sprecher<br />

murmeln leise durcheinander und erzeugen mit Hilfe von Papier verschiedene Geräusche<br />

(Papier zerfetzen, schnelles Durchblättern von Seiten). Neben diesen Effekten werden auch<br />

punktuelle Figuren auf konventionellen Instrumenten gespielt (Klavier und Geige). Obwohl<br />

wir bei unserer Ausarbeitung im Allgemeinen keine Raumdirektive verwendet haben, habe<br />

ich um eine aufgeregte Atmosphäre zu schaffen, die Angabe „während des Sprechens<br />

Stillstand, vorher und naher Unruhe“ benutzt.<br />

Geräuschhaften Teil (auch in der MI sind Geräusche hervorgehoben) kommt ein bestimmtes<br />

sprachliches Material zum Einsatz. Für eine bessere Verständlichkeit, habe ich wie Schnebel,<br />

die Materialen in Form von eingerahmten Modellen notiert. In der von mir bearbeiteten<br />

Präparation ist die Hauptsprache Deutsch; daruber hinaus verwende ich auch einen deutschen<br />

Slang z.B „Er gab sich große Muhe. Pass aufs Kreuz auf. Ihm fällt die Decke auf den Kopf.“<br />

Ich habe verschieden lange Reihen von Wörtern aus dem Wörterbuch benutzt wie und auch<br />

Sätze aus verschiedenen Magazinen, Zeitungen und dem Internet entlehnt. Weil die MP<br />

„einverständnisse“ als leise Präparation angelegt ist und ich mich in der Dynamik nicht stark<br />

entfalten konnte, habe ich versucht die nervöse und aufgeregte Atmosphäre vor allem durch<br />

die Mimik und Kontakte zwischen den Sprechenden (z.B. Augenkontakt) zu erreichen. Von<br />

Schnebels Direktiven hab ich vor allem die Anweisung der AD „im Verhältnis zum Inhalt<br />

sinnloses Auf und Ab“ stark einfließen lassen.<br />

Die Geräusche bleiben in verschiedener Form die gesamte MP hindurch präsent. Meistens<br />

werden sie durch Instrumente erzeugt, wie z.B. Blasen in die Violine, Schlagen mit dem<br />

Bogenhaar etc. Gleichzeitig sind sie auch bei den Sprechern präsent und zwar durch Wispern,<br />

Murmeln und leises Reden mit sich selbst. Eine depravierte Qualität ist durch die Benutzung<br />

38


eines deutschen Slangs der Sprecher bzw. durch unsaubere, nicht klar definierte und einfache<br />

Figuren im instrumentalen Teil ersichtlich.<br />

Die Einsätze der Instrumente und Sprechstimmen sind zeitlich meist nacheinander gestellt.<br />

Auschnit aus dem sprachlichen Teil:<br />

Auschnit aus dem instrumentalen Teil:<br />

39


4.3. MP „kreise“<br />

Die Besetzung ist in „kreise“ wie folgt: Klavier, Geige, Gitarre und 3 Frauenstimmen. Die MP<br />

„Kreise“ sticht aus den anderen Präparationen vor allem durch ihre starke rhythmische<br />

Gestaltung hervor. Es gibt einen exakten 9/8 Rhythmus, der in drei verschiedenen Varianten<br />

vorkommt: 2+2+2+3, 3+3+3, 3+2+2+2. Der Rhythmus wird zuerst von den Instrumentalisten<br />

in Form einer kanonischen Gestalt eingeführt. Danach greifen die Sprecher denselben<br />

Rhythmus unter der Verwendnug verschiedener Vokale auf. Es kommt zur einem langsamen<br />

crescendo, von p bis ff. Unsere glossolalie endet mit einem Satz in drei verschiedenen<br />

Sprachen. Der Satz hat in allen drei Sprachen dieselbe Bedeutung.<br />

Mit dem Aufräumen der Bühne – schlussendlich bleibt kein Instrument an seinem Platz –<br />

„klingt“ unsere glossolalie aus.<br />

40


5. Schlusswort<br />

Abschließend möchte ich zwei Aspekte in Schnebels Komposition hervorheben, die diese<br />

Arbeit als zentral dargestellt hat: der Zusammenhang zwischen Freiheit und Begrenzung in<br />

der Umsetzung des Strukturkatalogs, die Bedeutung menschlicher Interaktion.<br />

Das Konzept Glossolalie bietet den Ausarbeitenden einerseits sehr viele Möglichkeiten, ihrer<br />

Kreativität freien Lauf zu lassen, andererseits bieten die Parameter einen Rahmen, der davor<br />

schützen soll, das Konzept gegen Schnebels Sinn auszuarbeiten. Ein wichtiger Aspekt der<br />

Freiheit stellt etwa die Wahl der Sprachen dar. Er gibt keine expliziten Anweisungen, welche<br />

Muttersprache und welche daraus resultierenden verwandten bzw. entfernten Sprache<br />

verwendet werden sollen. Ein weiterer Aspekt, der frei verändert werden kann, stellen<br />

Schnebels Anweisungen zur Verwendung unkonventioneller Aktionen dar. Auch der<br />

„organisatorische“ Aspekt kann hier erwähnt werden: Das Konzepts legt keine Form im Sinne<br />

einer Abfolge von MPen fest. Wie schon erwähnt hat Schnebel für seine Glossolalie 61 eine<br />

viersätzige Form gewählt. Unsere <strong>Musiktheorie</strong>klasse hingegen hat einen fünfteiligen Zyklus<br />

erarbeitet, der auf paarweisen Anordnungen der Materialpräparationen beruht. Daraus kann<br />

gefolgert werden, dass die Form bei jeder neuen Ausarbeitung variieren kann. Die Offenheit<br />

des Konzepts wird auch durch die zeitlich und örtlich freie Umsetzung sowie die jeweils<br />

verschiedenen Ausführenden, die individuelle Form und Ordnung der Präparationen<br />

verdeutlicht.<br />

Was das Konzept jedoch einzigartig macht ist die Tatsache, dass auch die Dimension der<br />

Kommunikation zwischen den Ausführenden prominent berücksichtigt wird, vor allem über<br />

die Parameterfelder RD und SR. Wenn man diese Direktiven ernst nimmt, ergeben sich<br />

bestimmte Bewegungen, Zugewandheit oder Abgewandtheit zwischen den Ausführenden mit<br />

entsprechend kurzen, langen, lauten, leisen oder mehr oder weniger „konkreten“ Klängen.<br />

Auch ist im Konzept eine sehr starke Verbindung zwischen dem sprachlichen und dem<br />

instrumentalen Bereich festgelegt. Diese Verbindung bleibt in jeder möglichen Realisierung<br />

des Konzepts bestehen, solange man sich an Schnebels Anweisungen hält. Seine Direktiven<br />

geben somit einen Rahmen der zwar Freiheiten erlaubt, aber davor bewahrt, dass eine<br />

Ausarbeitung willkürlich wird.<br />

Besonders faszinierend erscheint mir die Tatsache, dass jede (auch jede zukünftige)<br />

Ausarbeitung des Konzepts immer wieder die aktuelle Situation der Gesellschaft<br />

widerspiegelt (widerspiegeln wird). Schnebel hat sein Konzept so gestaltet, dass es in jeder<br />

Zeit neu umgesetzt werden kann und durch die Ausführenden, die immer auch von der<br />

aktuellen Umwelt geprägt sind, beeinflusst wird. Dies zeigt er in seiner Glossolalie 61 in der<br />

41


die damalige gesellschaftliche und politische Situation im sprachlichen und instrumentalen<br />

Material zum Ausdruck kommt.<br />

Im Strukturkatalog hat Schnebel seine MPen paarweise geordnet um die kontrastierenden<br />

Facetten zwischenmenschlicher Kommunikation aufzuzeigen. In den MPen integriert er durch<br />

das sprachliche Material einen Bezug zu unserem Alltag, den jeweils aktuellen Musik- und<br />

Welterfahrungen und den menschlichen Umgang miteinander. Das wurde in dieser Arbeit<br />

besonders deutlich in der MP „einverständnisse“, da der kommunikative Aspekt in beiden<br />

besprochenen Ausarbeitungen eine wichtige Rolle spielt. Auch der Titel glossolalie, der auf<br />

die verlorene Sinnhaftigkeit menschlicher Interaktion verweist, hebt diesen Bezug zum<br />

jeweiligen Alltag und der Bedeutung des „kommunikativen Handelns“ hervor. Da die<br />

menschliche Interaktion einen großen Teil in Schnebels Direktiven einnimmt, wird sie in<br />

späteren glossolalien immer ein wesentlicher Aspekt sein.<br />

42


Anhang: Ausgewählte MPen aus die Partitur von <strong>Musiktheorie</strong> Klasse:<br />

43


Literaturvezeichnis:<br />

- Borio, Gianmario: Musikalische Avantgarde um 1960, Entwurf einer Theorie der<br />

informellen Musik, Laaber: Laaber 1993.<br />

- Cage, John: Silence, Middletown, Conn: Wesleyan Univ.Press 1979<br />

- Heilgendorff, Simone: Experimentelle Inszenierung von Sprache und Musik, Vergleichende<br />

Analysen zu Dieter Schnebel und John Cage, Freiburg im Breisgau: Rombach Druck- und<br />

Verlagshaus GmbH and Co.KG 2002.<br />

- Heilgendorff, Simone: glossolalie eine sprache der Freiheit, Schnebel 60, Grünzweig,<br />

Werner Gesine Schröder, Martin Supper, herausgegeben von Wolke Verlag, Hofheim 1990<br />

- Klüppelholz, Werner: Sprache als Musik, Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz<br />

Stockhausen, Hans G.Helms, Mauricio Kagel, Dieter Schnebel und György Ligeti,<br />

Saarbrücken: PFAU- Verlag, 1995.<br />

- Nauck, Gisela: Dieter Schnebel, Lesegänge durch Leben und Werk, Mainz: Schott Musik<br />

International 2001.<br />

- Reininghaus, Frieder: Chronik der Musik im 20. Jahrhundert, Band 13, Laaber: Laaber<br />

2007.<br />

- Grünzweig, Werner Gesine Schröder, Martin Supper, Schnebel 60 herausgegeben von<br />

Wolke Verlag , Hofheim 1990<br />

- Schnebel, Dieter: Denkbare Musik, Schriften 1952-1972, hrsg. von Hans-Rudolf Zeller,<br />

DuMont, Köln 1972<br />

- Schnebel, Dieter: Erläuterungen zur glossolalie 1959/60, Vorbemerkungen<br />

- Schnebel, Dieter: Partitur Glossolalie 61, Mainz: Schott, 1974.<br />

Notenbeispiele:<br />

- Schnebel, Dieter: glossolalie (handgeschrieben), Sammlung Dieter Schnebel Paul Sacher<br />

Stiftung, Basel<br />

- Schnebel, Dieter: Glossolalie 61 für 3(4) Sprecher und 3(4) Instrumentalisten, Ausarbeitung<br />

des 1959-60 definierten Projektes glossolalie, Mainz: Schott, 1974.<br />

- Partitur von drei ausgewählten Materialpräparationen durch die Klasse <strong>Musiktheorie</strong> an der<br />

Kunstuniversität <strong>Graz</strong> (2007)<br />

54

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