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Theorien erweiterter Tonalität und vagierender Akkorde

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<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>vagierender</strong> <strong>Akkorde</strong><br />

in den Harmonielehren von<br />

Hugo Riemann, Heinrich Schenker <strong>und</strong> Arnold Schönberg<br />

Magisterarbeit<br />

im Fach Musiktheorie<br />

an der<br />

Kunstuniversität Graz<br />

eingereicht bei<br />

VProf. Dr. Christian Utz<br />

vorgelegt von<br />

Elisabeth Egger<br />

Graz, September 2008


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> <strong>vagierender</strong> <strong>Akkorde</strong> in den Harmonielehren von Hugo<br />

Riemann, Heinrich Schenker <strong>und</strong> Arnold Schönberg<br />

Die Harmonielehren von Hugo Riemann (Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre, 1880<br />

bzw. Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den tonalen Funktionen, 1893) – dem<br />

Begründer der Funktionstheorie –, Heinrich Schenker (Harmonielehre, 1906) – dessen Schichtenlehre<br />

schon in diesem ersten Band der Neuen musikalischen <strong>Theorien</strong> <strong>und</strong> Phantasien angedeutet<br />

ist – <strong>und</strong> Arnold Schönberg (Harmonielehre, 1911) – einem Vertreter der Stufenlehre –<br />

stellen epochale Werke der Musiktheorie um die Jahrh<strong>und</strong>ertwende zum 20. Jahrh<strong>und</strong>ert dar.<br />

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit der Behandlung <strong>vagierender</strong> <strong>Akkorde</strong> bei Riemann,<br />

Schenker <strong>und</strong> Schönberg auseinander <strong>und</strong> bespricht jene <strong>Theorien</strong>, die Riemann, Schenker<br />

<strong>und</strong> Schönberg in ihren Harmonielehren zur Erweiterung der <strong>Tonalität</strong> heranziehen. Doch<br />

wie geeignet sind diese <strong>Theorien</strong> für die Anwendung in der Praxis? Und inwiefern unterscheiden<br />

sich die <strong>Theorien</strong> Riemanns <strong>und</strong> Schenkers, die kompositorisch kaum tätig waren, von denen<br />

des Komponisten Schönberg? Eine Gegenüberstellung anhand ausgewählter Abschnitte von<br />

Brahms’ Intermezzo op. 117/2 <strong>und</strong> Schönbergs Verklärter Nacht op. 4 soll dies verdeutlichen.<br />

Es soll gezeigt werden, dass keine der <strong>Theorien</strong> für sich allein stehend eine vollwertige Lösung<br />

bietet, sondern nur eine Kombination von Elementen aus allen drei theoretischen Entwürfen ein<br />

adäquates Ergebnis liefern kann.


Inhalt<br />

Einleitung ...................................................................................................................................... 1<br />

I <strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> .................................................................................................... 3<br />

Hugo Riemann – Systematik der Harmonieschritte ................................................................ 3<br />

Heinrich Schenker – Dur-Moll-Mischung <strong>und</strong> Tonikalisierung ............................................. 9<br />

Arnold Schönberg – Imitationsprinzip, Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde ............................... 18<br />

II Vagierende <strong>Akkorde</strong> ................................................................................................................ 32<br />

Verminderter Dreiklang ........................................................................................................ 32<br />

Riemann .......................................................................................................................... 33<br />

Schenker .......................................................................................................................... 36<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 38<br />

Halbverminderter Septakkord ............................................................................................... 44<br />

Riemann .......................................................................................................................... 45<br />

Schenker .......................................................................................................................... 48<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 49<br />

Verminderter Septakkord ...................................................................................................... 53<br />

Riemann .......................................................................................................................... 56<br />

Schenker .......................................................................................................................... 59<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 60<br />

Übermäßiger Dreiklang ......................................................................................................... 66<br />

Riemann .......................................................................................................................... 68<br />

Schenker .......................................................................................................................... 70<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 71<br />

Tristanakkord ........................................................................................................................ 76<br />

Riemann .......................................................................................................................... 78<br />

Schenker .......................................................................................................................... 79<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 80<br />

Neapolitanischer Sextakkord ................................................................................................ 82<br />

Riemann .......................................................................................................................... 83<br />

Schenker .......................................................................................................................... 85<br />

Schönberg ........................................................................................................................ 86<br />

Übermäßige Sextakkorde ...................................................................................................... 89<br />

Riemann .......................................................................................................................... 91<br />

Schenker .......................................................................................................................... 97<br />

Schönberg ...................................................................................................................... 100


III Anwendung der <strong>Theorien</strong> ..................................................................................................... 110<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2 (ca. 1892) ............................................................ 111<br />

Verminderter Dreiklang ................................................................................................ 111<br />

Halbverminderter Septakkord ....................................................................................... 113<br />

Neapolitanischer Sextakkord ......................................................................................... 114<br />

Übermäßige Sextakkorde .............................................................................................. 116<br />

Sequenzen...................................................................................................................... 118<br />

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4 (1899) ............................................................... 123<br />

Literatur ..................................................................................................................................... 126


Einleitung<br />

1<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong><br />

Die vorliegende Untersuchung setzt sich mit den Harmonielehren von Hugo Riemann, Heinrich<br />

Schenker <strong>und</strong> Arnold Schönberg auseinander. Dabei werden besonders jene Teilabschnitte der<br />

Lehrwerke behandelt, die sich mit der Erweiterung von <strong>Tonalität</strong> <strong>und</strong> mit vagierenden <strong>Akkorde</strong>n<br />

beschäftigen. Erweiterte Harmonik <strong>und</strong> vagierende <strong>Akkorde</strong> – verminderter Septakkord,<br />

übermäßige Sextakkorde etc. – sind wichtige Bestandteile der romantischen Harmonik. Im<br />

Zentrum des Interesses steht, wie drei so unterschiedlichen Autoren wie Riemann, Schenker <strong>und</strong><br />

Schönberg mit diesem Thema umgehen <strong>und</strong> wie sie die vagierenden <strong>Akkorde</strong> behandeln. Es soll<br />

auch herausgef<strong>und</strong>en werden, inwiefern sich ihre <strong>Theorien</strong> auf die Musik in den Jahrzehnten vor<br />

1900 anwenden lassen. Ziel ist daneben auch, eine möglichst gute Übersicht über die harmonischen<br />

Systeme von Riemann, Schenker <strong>und</strong> Schönberg zu erhalten.<br />

Im ersten Kapitel werden jene <strong>Theorien</strong> beleuchtet, mit deren Hilfe Riemann, Schenker <strong>und</strong><br />

Schönberg leiterfremde <strong>Akkorde</strong> in die Tonart einbeziehen. Riemann nutzt dazu seine Systematik<br />

der Harmonieschritte, Schenker erfindet das Prinzip der „Dur-Moll-Mischung“ <strong>und</strong> Schönberg<br />

verknüpft die Dur- <strong>und</strong> Molltonleiter unter anderem mit den Kirchentonarten <strong>und</strong> Nebendominanten.<br />

Die Untersuchung stützt sich bezüglich Hugo Riemann auf sein Handbuch der Harmonielehre<br />

(in der ersten Auflage 1880 als Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre erschienen,<br />

10. Auflage 1929), zur Ergänzung wurden aber auch seine Schriften Vereinfachte Harmonielehre<br />

oder die Lehre von den tonalen Funktionen der <strong>Akkorde</strong> (1893, 2. Auflage ca. 1899) <strong>und</strong><br />

Elementar-Schulbuch der Harmonielehre (1905, 4. Auflage 1923) herangezogen. Heinrich<br />

Schenker <strong>und</strong> Arnold Schönberg haben je nur ein Werk zur Harmonielehre veröffentlicht: In<br />

Bezug auf Schenker dient der erste Band seiner Musikalischen <strong>Theorien</strong> <strong>und</strong> Phantasien als<br />

Gr<strong>und</strong>lage dieser Untersuchung, die Harmonielehre (1906, Nachdruck 1978); Ausgangspunkt<br />

bei Schönberg ist dessen Harmonielehre (1911, Nachdruck 2001 der 7. Auflage von 1966), die<br />

ursprünglich ebenfalls als erster Band eines mehrteiligen Werks geplant war. Riemann <strong>und</strong><br />

Schenker gehen stilistisch von der Harmonik der Wiener Klassik aus, während für Schönberg<br />

die Harmonik Richard Wagners Gr<strong>und</strong>lage ist. Die Harmonielehren Riemanns <strong>und</strong> Schönbergs<br />

sind als „Handwerkslehren“ gedacht. Die didaktischen Ansätze der beiden Autoren unterscheiden<br />

sich darin, dass Riemann Beispiele zum Aussetzen gibt (vorgegebene Stimme mit Akkordbezeichnung<br />

oder gegebene Funktionsbezeichnung), Schönberg jedoch anhand unrhythmisierter<br />

Tonsätze möglichst alle Verbindungen von <strong>Akkorde</strong>n zeigen will. Riemanns Harmonielehren<br />

enthalten überhaupt keine Literaturbeispiele – um die Schüler nicht zum Imitieren anzuregen –,<br />

die sehr wenigen Literaturbeispiele in Schönbergs Harmonielehre finden sich vor allem in den<br />

hinteren Kapiteln, die in erster Linie der Diskussion Schönbergs eigener Kompositionstechnik


2<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong><br />

dienen (Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde, Umkehrungen von Nonenakkorden). Schenkers Herangehensweise<br />

ist eine gänzlich andere: Seine Harmonielehre enthält fast nur Literaturbeispiele,<br />

da für ihn die Analyse den größten Stellenwert besitzt.<br />

Das zweite Kapitel der Studie widmet sich denjenigen <strong>Akkorde</strong>n, die Schönberg in seiner<br />

Harmonielehre als „vagierende“ bezeichnet: verminderter Dreiklang, halbverminderter <strong>und</strong><br />

verminderter Septakkord, übermäßiger Dreiklang, Tristanakkord, neapolitanischer Sextakkord<br />

<strong>und</strong> übermäßige Sextakkorde. Innerhalb der Kapitel findet sich auch ein Vergleich mit neueren<br />

<strong>Theorien</strong>.<br />

Im dritten Kapitel werden ausgewählte Stellen aus Johannes Brahms’ Intermezzo b-Moll op.<br />

117/2 (ca. 1892) von Schönbergs Verklärter Nacht op. 4 (1899) im Sinn von Riemann, Schenker<br />

<strong>und</strong> Schönberg harmonisch analysiert. Anhand eines Vergleiches dieser drei Theoriemodelle<br />

soll gezeigt werden, dass keine der <strong>Theorien</strong> für sich allein stehend eine vollwertige Lösung<br />

bietet, sondern nur eine Kombination von Elementen aus allen drei theoretischen Entwürfen ein<br />

adäquates Ergebnis liefern kann.


I <strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong><br />

Hugo Riemann – Systematik der Harmonieschritte<br />

3<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

Systematik der Harmonieschritte<br />

Riemann arbeitet zur Erweiterung des Tonsystems systematisch alle möglichen Harmonieverbindungen<br />

mit den „Hauptklängen einer Tonart“ 1 <strong>und</strong> den von ihnen abgeleiteten Klängen<br />

nacheinander durch. Unter „Hauptklängen“ versteht Riemann in Dur die Durtonika (T), die<br />

Durdominante (D) <strong>und</strong> die Dur- (S) <strong>und</strong> Mollsubdominante ( o S); in Moll meint er damit die<br />

Molltonika ( o T), die Mollsubdominante ( o S) <strong>und</strong> die Moll- ( o D) <strong>und</strong> Durdominante (D + ) (Abb.<br />

1). 2<br />

Abbildung 1: Hauptklänge in Dur <strong>und</strong> Moll<br />

Schon unter diesen Hauptklängen befinden sich leiterfremde <strong>Akkorde</strong>: die Mollsubdominante in<br />

Dur <strong>und</strong> die Durdominante in Moll. 3 Für die Verwendung dieser <strong>Akkorde</strong> innerhalb der Dur<strong>und</strong><br />

Molltonleiter benutzt Riemann eine eigene Bezeichnung: „Molldur“ für die Durskala mit<br />

kleiner Sext, „Durmoll“ für die Mollskala mit großer Sept (Abb. 2). 4<br />

1 Synonyme Begriffe Riemanns für „Hauptklänge“ sind auch „Hauptharmonien“ oder „Hauptfunktionen“.<br />

2 Zu diesen Hauptklängen gelangt Riemann, indem er von der Dur- <strong>und</strong> Molltonika aus den „schlichten Quintklang“,<br />

den „Gegenquintklang“ <strong>und</strong> den „Gegenklang“ bildet. Der „schlichte Quintklang“ befindet sich in<br />

Dur eine Quint über (D), in Moll unter ( o S) der jeweiligen Tonika. Der „Gegenquintklang“ ist in Dur eine Quint<br />

unter (S), in Moll eine Quint über ( o D) der Tonika. Den „Gegenklang“ erreicht Riemann über den „Seitenwechsel“<br />

der Tonika: vom gleichen „Hauptton“ (Prim in Dur, Quint in Moll) aus wird der gegensätzliche Klang –<br />

Unter- bzw. Oberklang – gebildet: der Gegenklang von c-e-g ist f-as-c ( o S), der Gegenklang von a-c-e ist e-gish<br />

(D + ). (Vgl. Riemann, Hugo: Handbuch der Harmonielehre. Leipzig: Breitkopf & Härtel 10 1929, S. 32, 38, 49<br />

f.).<br />

„ o “ steht für „Unterklang“, „ + “ (kann wegen des häufigeren Auftretens von Durdreiklängen weggelassen werden)<br />

für „Oberklang“. „Oberklang“ ist gleichgesetzt mit „Durakkord“ (c oder c + bedeutet c-e-g); „Unterklang“<br />

ergibt einen Mollakkord, entsteht aber durch Symmetrie zum Durakkord: o e („unter e“) steht für große Terz <strong>und</strong><br />

Quint unter e, also a-c-e.<br />

3 „Die Terz des Gegenklangs [steht] im Widerspruch zur Tonartvorzeichnung“ (Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 54 (im Original gesperrt); vgl. auch ebd. S. 113). Der zweite leiterfremde Zusammenklang ergibt<br />

sich durch den „Leittonwechselklang des schlichten Quintklanges“ – in Dur ein Molldreiklang auf der VII. Stufe,<br />

in Moll ein Durdreiklang auf der erniedrigten II. Stufe (der neapolitanische Sextakkord) (vgl. ebd. S. 113 f.).<br />

4 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169. Riemanns „Molldur“ entspricht Schenkers zweiter Mischungsreihe,<br />

„Durmoll“ stimmt mit der harmonischen Mollskala (bzw. Schenkers vierter Mischungsreihe)<br />

überein (vgl. Schenker, Heinrich: Neue musikalische <strong>Theorien</strong> <strong>und</strong> Phantasien von einem Künstler. Erster<br />

Band: Harmonielehre. Wien, Leipzig: Universal-Edition 1906, Nachdruck 1978, S. 110 f.).


Abbildung 2: „Molldur“ <strong>und</strong> „Durmoll“<br />

4<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

Riemann möchte im Handbuch der Harmonielehre für möglichst viele Harmonien eine Verwandtschaft<br />

mit den Hauptklängen nachweisen. 5 Das zeigt sich einerseits in der Ableitung z.B.<br />

des verminderten Dreiklangs als Dominantseptakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton, andererseits in der Bezeichnung<br />

von Nebenstufen in Dur oder Moll – die jeweils zwei Töne mit den Hauptharmonien<br />

gemeinsam haben – als Parallelklänge (Tp, Sp <strong>und</strong> Dp in Dur, o Tp, o Sp <strong>und</strong> o Dp in Moll) bzw.<br />

Leittonwechselklänge (T, S> <strong>und</strong> D> in Moll) der Hauptharmonien<br />

(Abb. 3). 6<br />

Abbildung 3: Funktionsbezeichnungen bei Hugo Riemann<br />

Parallel- <strong>und</strong> Leittonwechselklänge sind Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge – die beiden leitereigenen<br />

verminderten Dreiklänge der VII. Stufe in Dur (h-d-f in C-Dur) <strong>und</strong> der II. Stufe in Moll (d-f-as<br />

in c-Moll) können mit diesen nicht dargestellt werden 7 , auch nicht die leitereigenen Septakkorde.<br />

Die leitereigenen Septakkorde denkt sich Riemann als Hauptklänge mit hinzugefügter Sept<br />

(bzw. „Untersept“ bei den Molldreiklängen) oder Sext (bzw. Untersext bei den Molldreiklän-<br />

5 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 213.<br />

6 Parallelklänge <strong>und</strong> Leittonwechselklänge sind „Nebenformen“ der Hauptharmonien, die durch „Einstellung<br />

eines melodischen Nachbartones statt eines Akkordtones [entstanden]“ sind (Riemann, Hugo: Elementar-<br />

Schulbuch der Harmonielehre. Berlin: Max Hesses 4 1923, S. 137.). Diese sind „scheinkonsonant“, „dissonante<br />

<strong>Akkorde</strong> im Gewande der Konsonanz“ (Riemann, Hugo: Vereinfachte Harmonielehre oder die Lehre von den<br />

tonalen Funktionen der <strong>Akkorde</strong>. London: Augener & Co. 2 [ca. 1899], S. 23, 62, 77), da sie nicht eigentlich<br />

<strong>Akkorde</strong> mit Prim, Terz <strong>und</strong> Quint sind (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 16), sondern Hauptklänge<br />

mit Sext statt Quint.<br />

Die Bezeichnung Riemanns für die Leittonwechselklänge – hier vereinfacht dargestellt als nebeneinandergestellte<br />

Zeichen T< etc. – sind Abkürzungen für + T II< (Tonika mit kleiner Molluntersek<strong>und</strong>e statt Durprim, also<br />

h-e-g statt c-e-g in C-Dur), + S II< <strong>und</strong> + D II< in Dur <strong>und</strong> für o T 2> (Molltonika mit kleiner Obersek<strong>und</strong>e statt Mollprim,<br />

also c-es-as statt c-es-g in c-Moll), o S 2> <strong>und</strong> o D 2> in Moll (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 95).<br />

7 Riemann gelingt die Darstellung der verminderten Dreiklänge erst mithilfe der „natürlichen Septakkorde“ D 7<br />

<strong>und</strong> S VII (vgl. Abb. 4 <strong>und</strong> Kapitel „Verminderter Dreiklang“).


5<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

gen) (Abb. 4). 8 Die Darstellungsweise als Hauptharmonie (T, S oder D) mit hochgestellter Ziffer<br />

( 7 , VII , 6 oder VI ) erschwert jedoch das Erkennen von auf gleichen Tonleiterstufen aufgebauten<br />

Dreiklängen <strong>und</strong> Septakkorden. 9<br />

Abbildung 4: Funktionsbezeichnungen der Septakkorde 10<br />

Riemann bezeichnet die Dursubdominante mit großer Sext (S 6 ), die Durdominante mit kleiner<br />

Septim (D 7 ) <strong>und</strong> ihre Spiegelungen in Moll, die Molldominante mit großer Untersext (D VI ) <strong>und</strong><br />

die Mollsubdominante mit kleiner Untersept (S VII ) als „charakteristische Dissonanzen“. 11<br />

Nach Riemann gehören alle <strong>Akkorde</strong>, die sich in direkten Zusammenhang mit den Hauptharmonien<br />

einer Tonart bringen lassen (d.h. die mithilfe von Funktionszeichen darstellbar sind)<br />

derselben Tonart an. 12 Die „Zwischendominanten <strong>und</strong> Ellipsen“ ermöglichen Riemann noch<br />

weitere Harmonien innerhalb einer Tonart darzustellen 13 ; „Zwischendominanten“ – in r<strong>und</strong>er<br />

Klammer – sind „zwanglos eingeschobene[…] Accorde, welche Dominanten der Hauptharmonien<br />

oder ihrer leitertreuen Stellvertreter sind“. 14 Als Zwischendominanten setzt Riemann alle<br />

„Dominanten“ ein, also nicht nur die Durdominante, sondern auch die Molldominante, die Dur-<br />

8 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141 ff. Diese Sexten <strong>und</strong> Septen müssen weder vorbereitet noch<br />

schrittweise erreicht werden (ebd., S. 150). Die Septakkorde mit hinzugefügter (Unter-Sext) sind außerdem<br />

„Zusammenklänge der drei Hauptklänge der reinen Systeme mit ihren Parallelklängen“ (ebd., S. 148).<br />

9 Beispielsweise ist d-f-a in C-Dur „Sp“ mit Gr<strong>und</strong>ton d, d-f-a-c ist S VII mit Gr<strong>und</strong>ton f.<br />

10 Die Funktionszeichen der beiden VII. Stufen muss man sich als durchgestrichen vorstellen, da sie unvollständige<br />

<strong>Akkorde</strong> darstellen: das durchgestrichene „D“ der Durdominante bedeutet, dass ihr Gr<strong>und</strong>ton g fehlt; das<br />

durchgestrichene „S“ der Mollsubdominante steht hier für ein fehlendes c, Hauptton der Mollsubdominante.<br />

Die Ziffer „9“ bzw. „IX“ inkludiert automatisch auch die Sept bzw. „Untersept“ (vgl. Riemann, Handbuch der<br />

Harmonielehre, S. 16).<br />

11 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141 ff. Arabische Ziffern (1, 2, 3 etc.) kennzeichnen „Oberklänge“,<br />

römische Ziffern“ (I, II, III etc.) stehen für „Untertöne“. „7“ bzw. „VII“ ohne Zusatzzeichen bedeutet<br />

„kleine Sept“ („natürliche Septime“), „7 < “ steht für eine große Obersept, „VII > “ für eine große Untersept. Wenn<br />

Ziffern auftreten, ist das Klangzeichen ( + für Durdreiklänge, o für Molldreiklänge) nicht mehr nötig (vgl. ebd.,<br />

S. 11 ff.).<br />

12 Ebd., S. 135. Harmoniefolgen „sind nicht ganz <strong>und</strong>enkbar“, wenn „sie sich noch chiffrieren lassen“ (ebd., S.<br />

134).<br />

13 Ebd., S. 121. Zwischendominanten dienen auch zur Vereinfachung von komplizierter dargestellten Funktionsfolgen<br />

(Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 148). Beispielsweise kann die Funktionsfolge<br />

o<br />

Sp – S> (As-Dur – Des-Dur in c-Moll) durch die Folge (D)S> ersetzt <strong>und</strong> damit auch anschaulicher dargestellt<br />

werden.<br />

14 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 120. In der Vereinfachten Harmonielehre <strong>und</strong> im Elementar-<br />

Schulbuch der Harmonielehre erweitert Riemann den Begriff „Zwischendominante“ zu „Zwischenkadenz“, wo<br />

ein subdominantischer <strong>und</strong> ein dominantischer Akkord auf den nächstfolgenden Akkord bezogen sind (vgl.<br />

Vereinfachte Harmonielehre, S. 140 f. bzw. Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 148 f.).


6<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

<strong>und</strong> die Mollsubdominante. 15 Eine „Ellipse“ ist die Auslassung des durch die Zwischendominante<br />

vorbereiteten Akkords; sie wird durch eine eckige Klammer kenntlich gemacht. 16<br />

Durch seine „Systematik der Harmonieschritte“ gewinnt Riemann etliche leiterfremde Harmonien<br />

– alle können durch Riemanns Funktionszeichen auf den C-Dur- bzw. den c-Moll-<br />

Dreiklang bezogen werden (Abb. 5). 17<br />

Abbildung 5: „Systematik der Harmonieschritte“ – mögliche Harmonieschritte vom C-Dur- <strong>und</strong> c-Moll-<br />

Dreiklang aus<br />

Harmoniefolge 18 Riemanns Bezeichnung 19 Riemanns Darstellung 20 <strong>und</strong> Reihenfolge 21<br />

Dur Moll Dur / Moll Dur Moll<br />

1 C-c c-C Quintwechsel c + – o g<br />

T – T3><br />

T – ( o S)D<br />

2 C-G c-f schlichter Quintschritt c + – g + T – D<br />

3 C-g c-F Ganztonwechsel c + – o d D – Sp<br />

4 C-F c-g Gegenquintschritt c + – f + T – S<br />

5 C-f c-G Seitenwechsel c + – o c T – o S<br />

o g – c +<br />

o g – o c<br />

o g – f +<br />

o g – o d<br />

o g – g +<br />

o III<<br />

T – T<br />

o o<br />

T – (D) S<br />

4<br />

o o<br />

T – S 2<br />

o S – o Dp 16<br />

o T – o D 3<br />

o T – D +<br />

6 C-eis (c-Asas) verminderter Gegensek<strong>und</strong>wechsel 22 c + – o his S> – (D


8 C-e c-As Leittonwechsel 23 c + – o h T – Dp<br />

7<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

o g – as +<br />

o T – o Sp 20<br />

9 C-As c-e Gegenterzschritt c + – as + T – o Sp<br />

S – S><br />

o o<br />

g – h<br />

o +<br />

T – Dp 7<br />

10 C-as c-E Gegenkleinterzwechsel c + – o es T – o Sp 3><br />

o<br />

S – (D)Sp<br />

o +<br />

g – e<br />

o III<<br />

T – Dp<br />

D – ( o S) o Dp 13<br />

11 C-Gis c-gis schlichter oder Gegen-Doppelterzschritt c + – gis + S> – (D)Sp<br />

o<br />

Sp – (D)Tp<br />

o o<br />

g – dis<br />

( o S)Tp – Dp +<br />

S> – (D) o F 28<br />

12 C-gis c-Fes übermäßiger Sek<strong>und</strong>wechsel c + – o dis<br />

S> – Tp o +<br />

o g – fes<br />

Sp – Dp/T<<br />

D< – o Tp<br />

+ o 29<br />

Dp – Sp/T><br />

13 C-Es c-a Gegen-Kleinterzschritt c + – es + T – (D)oSp S – o Sp<br />

o o<br />

g – e<br />

o o<br />

T – ( S)Dp<br />

o +<br />

D – Dp<br />

11<br />

14 C-es c-A Gegenganztonwechsel c + – o b (D)D – o S<br />

o +<br />

g – a<br />

o o<br />

( S) S – D 17<br />

15 C-Dis c-heses übermäßiger Sek<strong>und</strong>schritt c + – dis + S> – (D)Tp<br />

o Sp – (D)Dp<br />

16 C-dis c-Heses verminderter Kleinterzwechsel 24 c + – o ais<br />

o Sp – D<<br />

17 C-A c-es schlichter Kleinterzschritt c + + T – (D)Sp<br />

– a o +<br />

Sp – S<br />

18 C-a c-Es Terzwechsel 25 c + – o e T – S<<br />

19 C-D c-b schlichter Ganztonschritt c + +<br />

– d<br />

T – SpIII<<br />

S – D<br />

20 C-d c-B Kleinterzwechsel c + – o a<br />

T – Sp<br />

D – Tp<br />

21 C-B c-d Gegenganztonschritt c + + D – S<br />

– b<br />

Sp III< – T<br />

22 C-b c-D Gegenquintwechsel c + – o f D – o S<br />

23 C-ais c-Eses übermäßiger Terzwechsel c + – o eis S> – D<<br />

24 C-Des c-des Steigender Halbtonschritt c + – des + T – S><br />

D – o Sp<br />

25 C-des c-H Gegenterzwechsel c + – o as<br />

T – S>3><br />

T – ( o S) o Sp<br />

26 C-cis c-Ces Doppelterzwechsel c + – o gis Tp – o Sp<br />

27 C-H c-h fallender Halbtonschritt c + + T – TII 32<br />

o o<br />

g – b<br />

o o o<br />

T – ( S) Dp<br />

Sp – o S<br />

10<br />

o +<br />

g – es<br />

o<br />

T – D> 8<br />

o g – o f<br />

o g – b +<br />

o g – o a<br />

o g – d +<br />

o o 3><br />

T – Dp<br />

o o<br />

D – S<br />

o o<br />

T – Dp<br />

o o<br />

S – Tp<br />

o o<br />

S – D<br />

o 3> o<br />

Dp – T<br />

14<br />

12<br />

15<br />

o S – D + 5<br />

o +<br />

g – eses D< – S> 30<br />

o o<br />

g – as<br />

o o 2>II>IV><br />

T – T<br />

D< – o T<br />

18<br />

o g – h +<br />

o g – ces +<br />

o g – o fis<br />

o g – des +<br />

o T – D< III< 9<br />

o Tp – Dp + 27<br />

o<br />

T – D<<br />

o +<br />

S – Dp<br />

o<br />

T – S><br />

o<br />

D – T><br />

29 C-ces c-Cis Gegentritonuswechsel c + – o ges (D)D – S> 3> o g – cis + S> 3> – (D)D 25<br />

30 C-Fis c-fis schlichter Tritonusschritt c + + S> – D+<br />

– fis o<br />

Sp – (D)D<br />

31 C-fis c-Ges chromatischer Halbtonwechsel c + – o cis S – D<<br />

32 C-Ges c-ges Gegentritonusschritt c + – ges + D – S><br />

33 C-ges c-Fis Gegenleittonwechsel c + – o des o S – (D)Dp<br />

19<br />

24<br />

o o D< –<br />

g – des o S<br />

D + – o S( o S) 22<br />

o + o<br />

g – ges D – S> 26<br />

o g – o cis<br />

o S – D< 23<br />

o g – fis + D – ( o S) o Sp 21<br />

23 Der „Leittonwechsel“ ist der Ursprung der Leittonwechselklänge (z.B. D – D< in Dur, o S – S> in Moll) (vgl.<br />

Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 138).<br />

24 Der „verminderte Kleinterzwechsel“ ist der enharmonisch verwechselte „Gegenganztonwechsel“ (Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 135); Riemann nennt ihn auch „übermässiger Sextenwechsel“ (vgl. ebd., S.<br />

116).<br />

25 Der „Terzwechsel“ führt an <strong>und</strong> für sich zu den Parallelklängen (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 88 f.); Funktionsbezeichnungen dieser Harmoniefolge könnten also auch sein: T – Tp, S – Sp <strong>und</strong> D – Dp in<br />

Dur bzw. o T – o Tp, o S – o Sp <strong>und</strong> o D – o Dp in Moll. In diesem Fall findet jedoch kein Funktionswechsel statt,<br />

deshalb führt Riemann diese Bezeichnungen nicht an.


8<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

Wie die Tabelle in Abb. 5 zeigt, versucht Riemann, tatsächlich alle Harmoniefolgen als Schritte<br />

innerhalb einer Tonart zu erklären. Häufig gelingt ihm das jedoch nur durch äußerst komplexe<br />

Funktionsbezeichnungen – mithilfe von Zwischen-(Sub-)Dominanten <strong>und</strong> Alterierungen –, die<br />

oft äußerst schwer nachvollziehbar sind.<br />

Für Riemann dienen diese Harmonieschritte auch zur Modulation, so kann z.B. der Harmonieschritt<br />

Sp – Dp in C-Dur (d-Moll – e-Moll) in a-Moll als o S – o D angesehen werden. 26 Diese<br />

Idee Riemanns, Harmonieschritte als „mehrdeutig“ zu betrachten, ist jener Schenkers sehr ähnlich,<br />

der Intervalle als ein- oder mehrdeutig bezeichnet 27 – „die modulatorische Kraft des Schrittes“<br />

28 Riemanns ist analog der „modulatorischen Bedeutung der Intervalle“ Schenkers.<br />

Alterierte Stufen – Bezeichnung durch Kirchentonarten<br />

Die Kirchentonarten bezieht Riemann nur am Rande in seine Harmonielehre mit ein: Er verwendet<br />

die Bezeichnungen der Kirchentonarten lediglich, um alterierte Stufen zu bezeichnen. 29<br />

In „Molldur“ <strong>und</strong> „Durmoll“ befindet sich eine übermäßige Sek<strong>und</strong> zwischen VI. <strong>und</strong> VII. Stufe;<br />

das Resultat der Erhöhung der VI. (in „Durmoll“) bzw. Erniedrigung der VII. Stufe (in<br />

„Molldur“) zur Vermeidung dieses Intervalls bezeichnet Riemann als „dorische Sexte“ (erhöhte<br />

VI. Stufe in Moll) bzw. „mixolydische Septime“ (erniedrigte VII. Stufe in Dur). Die „dorische<br />

Sexte“ <strong>und</strong> die „mixolydische Septime“ baut Riemann als alterierte Terzen der Mollsubdominante<br />

<strong>und</strong> der Durdominante in sein System ein (S III< in Moll <strong>und</strong> D 3> in Dur), da eine Dursubdominante<br />

in Moll <strong>und</strong> eine Molldominante in Dur nicht möglich seien. 30 Außerdem zählt Riemann<br />

als melodische Besonderheiten noch die „lydische Quarte“ (erhöhte IV. Stufe) <strong>und</strong> die<br />

„phrygische Sek<strong>und</strong>e“ (erniedrigte II. Stufe) auf. 31<br />

Nonenakkorde<br />

Als Nonenakkorde lässt Riemann nur dominantische <strong>und</strong> (seltenere) subdominantische Bildungen<br />

gelten. 32 Für ihn gibt es große <strong>und</strong> kleine Nonenakkorde in Dur (der dominantische „Durnonenaccord“)<br />

<strong>und</strong> in Moll (der von der Subdominante abgeleitete „Unternonenaccord“) (Abb.<br />

6). 33 Der subdominantische „Unternonenakkord“ ist eine symmetrische Bildung zum Durnonenakkord:<br />

Der Mollsubdominante – d-f-a in a-Moll – werden „Unterseptime“ (h) <strong>und</strong> „Unternone“<br />

(g bzw. gis) angefügt.<br />

26 Vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 160 f.<br />

27 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 162 ff.<br />

28 Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 161.<br />

29 Vgl. Schönberg, Arnold: Harmonielehre. Wien: Universal Edition 7 1966, Nachdruck 2001, S. 207.<br />

30 Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 140 f.; vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S.<br />

115.<br />

31 Vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 99; Elementar-Schulbuch Harmonielehre, S. 136 <strong>und</strong> S. 161 f.<br />

32 Nonenakkorde, die auf anderen Stufen stehen, bezeichnet Riemann als „zufällige[…], durch Durchgänge oder<br />

Vorhalte entstehende[…] Bildungen“ (Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 164).<br />

33 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164 f. bzw. S. 166 f. Große Nonenakkorde sind Septakkorde mit<br />

großer (Unter-)Non, sie kommen ohne Zusatzzeichen aus. Der kleine Nonenakkord wird in Dur durch das<br />

Funktionszeichen D 9> (erniedrigte Non) ausgedrückt, in Moll durch S IX< (erhöhte „Unternon“).


Abbildung 6: großer <strong>und</strong> kleiner Dur- <strong>und</strong> Unternonenakkord<br />

9<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann<br />

Riemann braucht die Nonenakkorde, um den halbverminderten <strong>und</strong> den verminderten Septakkord<br />

zu erklären, die er als Nonenakkorde ohne Hauptton versteht: der große Durnonenakkord<br />

ohne Hauptton bzw. Gr<strong>und</strong>ton ist der halbverminderte Septakkord; der kleine Nonenakkord<br />

ohne Hauptton (Gr<strong>und</strong>ton des G-Durdreiklangs bzw. Quint des d-Molldreiklangs) ergibt einen<br />

verminderten Septakkord. Über Bildungen aus mehr als fünf Tönen spricht Riemann nicht.<br />

Zusammenfassung<br />

Riemann nimmt alle Harmonieschritte in das Dur- <strong>und</strong> Mollsystem auf, die sich in irgendeiner<br />

Weise auf die Hauptharmonien Tonika, Subdominante <strong>und</strong> Dominante beziehen lassen. Riemann<br />

leitet die Dur- <strong>und</strong> Molldreiklänge auf der II., III., VI. <strong>und</strong> VII. Stufe (die Parallel- <strong>und</strong><br />

Leittonwechselklänge) bzw. den verminderten Dreiklang auf der II. <strong>und</strong> VII. Stufe (als verkürzten<br />

Septakkord) direkt von den Hauptharmonien ab, dadurch sind auch alle Verbindungen dieser<br />

Harmonien untereinander (Harmonien aus Dur mit Harmonien aus Moll <strong>und</strong> umgekehrt) für<br />

Riemann innerhalb einer Tonart erklärbar. Zusätzliche Erweiterungsmöglichkeit bietet Riemanns<br />

weitgefasstes Prinzip der Zwischendominanten (bzw. Ellipsen), da auf diese Weise auch<br />

die Verbindung mit Dominanten <strong>und</strong> Subdominanten von nachfolgenden <strong>Akkorde</strong>n möglich ist.<br />

Für Riemann gibt es also kaum eine Harmonieverbindung, die sich nicht innerhalb einer Tonart<br />

deuten lässt.<br />

Heinrich Schenker – Dur-Moll-Mischung <strong>und</strong> Tonikalisierung<br />

Dur-Moll-Mischung<br />

Um leiterfremde <strong>Akkorde</strong> innerhalb einer Tonart erklären zu können, kombiniert Schenker die<br />

Durtonleiter mit der (gleichnamigen) natürlichen Molltonleiter (z.B. C-Dur mit c-Moll, Abb. 7);<br />

er erhält auf diese Weise sechs unterschiedliche Skalen (Abb. 8). Schenker nennt diesen Vorgang<br />

„Mischung“ <strong>und</strong> bezeichnet das Resultat – die sechs sich ergebenden Reihen – als „C-Dur-


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Moll“. 34 Schenker sieht seine Vorgehensweise darin motiviert, dass kaum „ein C-dur ohne Cmollingredienzien<br />

<strong>und</strong> umgekehrt ein C-moll ohne C-duringredienzien auftritt“. 35<br />

Abbildung 7: C-Dur <strong>und</strong> c-Moll als Gr<strong>und</strong>lage für die Mischung (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110)<br />

Abbildung 8: die sechs verschiedenen C-Dur-Moll-Mischungsreihen (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110)<br />

Die erste Skala aus der Mischung entspricht der melodischen Molltonleiter. Die dritte <strong>und</strong> fünfte<br />

Mischungsreihe stimmen mit Kirchentonarten überein: Dur mit kleiner Sept ist Mixolydisch,<br />

Moll mit großer Sext ist Dorisch. Auch Riemanns „Molldur“ (Dur mit tiefalterierter VI. Stufe,<br />

also mit Mollsubdominante) <strong>und</strong> „Durmoll“ (Moll mit Durdominante, entspricht harmonischem<br />

Moll) sind als zweite <strong>und</strong> vierte Mischungsreihe vertreten. 36<br />

Das Prinzip der Mischung ermöglicht Schenker, leiterfremde Akkordbildungen zu erklären.<br />

Diese ergeben sich, indem Schenker Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde auf den Mischungsreihen<br />

errichtet (Abb. 9).<br />

34 Die Mischung sieht Schenker „als Ersatz der alten Systeme“ (der Kirchentonarten) an (Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 108). Wie in Abbildung 8 zu sehen, sind zwei der vier Kirchentonarten – Dorisch <strong>und</strong> mixolydisch – in<br />

Schenkers Mischungsprinzip enthalten.<br />

35 Schenker, Harmonielehre, S. 109.<br />

36 Vgl. ebd., S. 106-116. Die erste, zweite, vierte <strong>und</strong> sechste Mischungsreihe dürfen „nur als Mischungsresultat<br />

gelten“ (ebd., S. 110), da die Vorzeichen dieser Reihen nicht in der natürlichen Reihenfolge auftauchen. Die<br />

Vorzeichen der dritten <strong>und</strong> fünften Skala aus der Mischung (mixolydisch <strong>und</strong> Dorisch) folgen jedoch richtig<br />

aufeinander (vgl. ebd., S. 105).<br />

10


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Abbildung 9: leiterfremde Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde durch die C-Dur-Moll-Mischung 37<br />

So erhält Schenker durch die Mischung von Dur <strong>und</strong> Moll zwei übermäßige Dreiklänge auf<br />

der III. <strong>und</strong> der VI. Mollstufe (Abb. 10). 38 Der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe stammt<br />

von der ersten (Mollterz) oder der vierten Mischungsreihe (kleine Terz <strong>und</strong> kleine Sext) ab,<br />

jener auf der VI. Stufe entsteht aus der zweiten (kleine Sext) oder sechsten Mischungsreihe<br />

(kleine Sext <strong>und</strong> kleine Sept).<br />

Abbildung 10: übermäßige Dreiklänge durch die C-Dur-Moll-Mischung (Schenker, Harmonielehre, S. 238)<br />

37 Es sind nur jene Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde abgebildet, die nicht schon in Dur oder Moll leitereigen vorkommen.<br />

38 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 238. Schönberg erklärt den übermäßigen Dreiklang auf der III. Stufe in Moll<br />

durch die erhöhte siebente Skalenstufe in Moll – dies ist Schenker nicht möglich, da er das melodische, harmonische<br />

<strong>und</strong> gemischte Mollsystem aufgr<strong>und</strong> der „Ordnungszahlen“ ihrer Vorzeichen als „abstrus“ bezeichnet<br />

(vgl. ebd., S. 116). Außerdem hält Schenker es für unsinnig, „bald zwei[,] bald drei verschiedene[n] Fassungen“<br />

des Mollsystems „zur Auswahl vor[zuschlagen]“ (ebd., S. 111).<br />

11


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Durch die Dur-Moll-Mischung ergeben sich auch der verminderte Septakkord <strong>und</strong> zwei weitere<br />

Septakkorde (Abb. 11), ein Mollseptakkord mit großer Sept <strong>und</strong> ein Septakkord aus übermäßigem<br />

Dreiklang mit großer Sept. 39<br />

Abbildung 11: drei weitere Septakkorde durch die C-Dur-Moll-Mischung (Schenker, Harmonielehre, S. 245)<br />

Schenker spricht in seiner Harmonielehre nur Zusammenklänge an, die durch die Mischung neu<br />

entstehen, die also als Akkordbildungen nicht leitereigen in Dur oder Moll vorhanden sind. Unerwähnt<br />

bleibt, dass auch der verminderte Dreiklang <strong>und</strong> der halbverminderte Septakkord<br />

mithilfe der Mischung auf zwei weiteren Stufen gebildet werden können (Abb. 12): auf der III.<br />

Stufe der dritten <strong>und</strong> der sechsten Mischungsreihe (beide Skalen enthalten Durterz <strong>und</strong> kleine<br />

Sept) <strong>und</strong> auf der VI. Stufe der ersten <strong>und</strong> fünften Reihe (mit kleiner Terz, aber großer Sext).<br />

Abbildung 12: zwei weitere verminderte Dreiklänge <strong>und</strong> halbverminderte Septakkorde durch die C-Dur-Moll-<br />

Mischung<br />

Tonikalisierung<br />

Nach Schenker strebt jede Stufe danach, als Tonika wahrgenommen zu werden. 40 Um dies (vorübergehend)<br />

zu erreichen, sind chromatische Veränderungen 41 an Stufen notwendig – diesen<br />

Vorgang nennt Schenker „Tonikalisierung“.<br />

Schenker spricht von „unmittelbarer Tonikalisierung“, wenn eine Stufe „auskomponiert“<br />

wird 42 : Beispielsweise wird nach Schenkers Meinung eine Stufe als Tonika empf<strong>und</strong>en, wenn<br />

die Melodie einen Ton enthält, der in der herrschenden Tonart leiterfremd, aber in der Tonart<br />

39 Vgl. ebd., S. 245. Der verminderte Septakkord steht nur auf der VII. Stufe, in der zweiten <strong>und</strong> vierten Mischungsreihe<br />

(mit kleiner Sext bzw. mit kleiner Terz <strong>und</strong> kleiner Sext). Der Mollseptakkord mit großer Sept<br />

findet sich auf der I. Stufe der ersten (Mollterz) <strong>und</strong> vierten Mischungsreihe (Mollterz <strong>und</strong> kleine Sext) <strong>und</strong> auf<br />

der IV. Stufe der zweiten <strong>und</strong> sechsten Mischungsreihe (Mollsext bzw. Mollsext <strong>und</strong> kleine Sept). Der Septakkord<br />

mit übermäßiger Quint ist leitereigen auf der III. Stufe der ersten <strong>und</strong> vierten Reihe <strong>und</strong> auf der VI. Stufe<br />

der zweiten <strong>und</strong> sechsten Mischungsreihe. Diesen Septakkord mit übermäßiger Quint bilden also dieselben<br />

Mischungsreihen, die auch den Mollseptakkord mit großer Sept hervorgebracht haben, denn beide Septakkorde<br />

enthalten den übermäßigen Dreiklang.<br />

40 Ebd., S. 333 f., 337 f.<br />

41 Schenker nennt beinahe alle Alterationen „chromatische Veränderungen“, denn „Alteration“ von Akkordtönen<br />

ist für Schenker nur bei <strong>Akkorde</strong>n vorhanden, die eine verminderte Terz zwischen Terz <strong>und</strong> Quint enthalten<br />

(vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 374 <strong>und</strong> Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“).<br />

42 Schenker, Harmonielehre, S. 338.<br />

12


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

der Stufe leitereigen ist. 43 Ein Beispiel für „unmittelbare Tonikalisierung“ findet sich z.B. in<br />

Takt 27 von Brahms’ Intermezzo b-Moll op. 117/2 (Abb. 13): Das ces am Taktbeginn ist nicht<br />

Teil von Des-Dur, aber leitereigen in es-Moll <strong>und</strong> lässt den es-Moll-Dreiklang im Moment als<br />

Tonika erscheinen. 44<br />

Abbildung 13: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 23 bis 27 45<br />

Auch d <strong>und</strong> a in Takt 27 sind nicht leitereigen in Des-Dur <strong>und</strong> unterstützen als Leittöne das<br />

vorübergehende Erscheinen des es-Moll-Akkords als Tonika: Schenker sieht diese Töne als<br />

„Miniaturtonikalisierung“ an – als „Nebennoten, die sich zu der Rolle […] einer siebenten Stufe<br />

hergeben“. 46<br />

„Mittelbare Tonikalisierung“ bedeutet, dass an einer oder zwei Stufen vor dem betreffenden<br />

Akkord chromatische Änderungen vorgenommen werden, damit dieser als Tonika erscheint. 47<br />

Diese Methode der Tonikalisierung erfordert eine fallende Quint (Abb. 14) oder eine steigende<br />

Sek<strong>und</strong>e (Abb. 15) als zugr<strong>und</strong>eliegenden Harmonieschritt, denn die vorausgehende Harmonie<br />

soll durch Chromatik auf solche Weise verändert werden, dass als Endprodukt eine Harmoniefolge<br />

nach dem Schema V-I oder VII-I resultiert. 48<br />

43 Schenker gibt in diesem Zusammenhang folgendes Beispiel: Die IV. Stufe von F-Dur wird scheinbar zur Tonika,<br />

indem im Durchgang ein – in F-Dur nicht leitereigenes – es erscheint (vgl. Schenker, Harmonielehre, S.<br />

338).<br />

44 Dieses Phänomen ist heute unter dem Begriff „Ausweichung“ geläufig.<br />

45 Der Notenausschnitt stammt aus: Brahms, Johannes: Klavierstücke. Nach Eigenschriften, Abschriften <strong>und</strong> den<br />

Handexemplaren des Komponisten, hrsg. von Monica Steegmann, Fingersatz von Walter Georgii. München:<br />

Henle 1976.<br />

46 Schenker, Harmonielehre, S. 363.<br />

47 Schenker, Harmonielehre, S. 343 f. Schönberg kritisiert Schenkers Ausdrucksweise, denn „innerhalb einer<br />

Tonart gibt es nur eine Tonika“ <strong>und</strong> „die Herstellung eines Leittons [muss] gar nichts mit einer Tonika zu tun<br />

haben […], sondern [kann] auch zu anderen Stufen führen“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 208). Außerdem<br />

kann bei Schönberg „eine solche Nebendominante rein um ihrer selbst willen entstehen […], ohne die Absicht,<br />

in eine Nebentonika zu gehen“ (ebd., S. 462).<br />

48 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 344 f. <strong>und</strong> 356 f. Schenker erwähnt auch die Möglichkeit der „Tonikalisierung<br />

bei fallenden Terzen“ nach dem Modell III-I. Er kommt aber zu dem Schluss, dass fallende Terzen zur<br />

Tonikalisierung nicht so geeignet sind wie fallende Quinten oder steigende Sek<strong>und</strong>en, da der Effekt aufgr<strong>und</strong><br />

mehrerer entsprechender Harmoniefolgen (VI-IV <strong>und</strong> VII-V) nicht eindeutig ist (vgl. ebd., S. 352 f.).<br />

13


Abbildung 14: Tonikalisierung bei fallenden Quinten<br />

Abbildung 15: Tonikalisierung bei steigenden Sek<strong>und</strong>en<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Bei einer fallenden Quint – Gr<strong>und</strong>lage ist die Harmoniefolge V-I – wird der erste Akkord chromatisch<br />

zum Durakkord verändert; eine noch bessere Wirkung erzielt der Dominantseptakkord.<br />

49 Auch möglich ist das Einsetzen der „alterierten Erscheinungen“ (also der übermäßigen<br />

Sextakkorde) statt eines Dominantsept- oder Durakkords (Abb. 14). 50 Wenn eine weitere Stufe<br />

zur Tonikalisierung von fallenden Quinten benutzt wird, dann im Sinn einer II. (Dur-)Stufe, also<br />

als Molldreiklang, so dass eine Harmoniefolge nach dem Modell II-V-I entsteht.<br />

Zur Tonikalisierung bei einem Sek<strong>und</strong>schritt nach dem Schema VII-I wird der erste Akkord<br />

zum verminderten Dreiklang; entweder durch Erniedrigen der Quint (bei zugr<strong>und</strong>eliegendem<br />

Halbtonschritt, Abb. 15) oder durch Erhöhen des Gr<strong>und</strong>tons (wenn der erste Akkord einen<br />

Ganzton unter dem zweiten Akkord liegt). Auch hier empfiehlt Schenker die Verwendung des<br />

Septakkords – mit kleiner oder verminderter Sept. 51 Auch „Trugschlusschromatisierung“ – das<br />

Modell ist in diesem Fall der Harmonieschritt V-VI – ist bei einem steigenden Sek<strong>und</strong>schritt<br />

möglich (Abb. 15). 52<br />

Schenkers „mittelbare Tonikalisierung“ ist also nichts anderes als die Bildung von Zwischendominanten<br />

53 – als Dominantseptakkord, als verkürzter Dominantsept(non)akkord oder als<br />

alterierter Akkord. Die durch Tonikalisierung entstehende Chromatik soll zur Bestätigung einer<br />

Tonart eingesetzt werden: „man [kann] schon um der Diatonie selbst willen nicht genug chromatisch<br />

schreiben“ 54 , vorausgesetzt, man rückt dadurch „die Verhältnisse der Diatonie ins rechte<br />

Licht“. 55<br />

49 Ebd., S. 347.<br />

50 Ebd., S. 378. Diese weitere Möglichkeit zur Tonikalisierung – die „kombinierte Wirkung zweier Stufen <strong>und</strong><br />

zweier Tonarten“ der alterierten <strong>Akkorde</strong>, ihre Verbindung aus II. <strong>und</strong> V. Stufe (vgl. Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“)<br />

– sieht Schenker als Kombination der beiden Tonikalisierungsmodelle V – I <strong>und</strong> II – V – I. Durch<br />

den alterierten Akkord anstelle der unveränderten V. Stufe wird „der allzu eindeutige Charakter des V 7 -<br />

<strong>Akkorde</strong>s durch das g l e i c h z e itig hinzutretende Element einer zweiten Stufe in Moll gemildert“ (Schenker,<br />

Harmonielehre, S. 372, Sperrung im Original).<br />

51 Schenker, Harmonielehre, S. 356.<br />

52 Ebd., S. 360.<br />

53 bzw. „Zwischenkadenzen“, wenn vor die V. Stufe noch eine II. Stufe gesetzt wird.<br />

54 Schenker, Harmonielehre, S. 380 (im Original gesperrt).<br />

55 Ebd., S. 396.<br />

14


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Scheintonarten – chromatisch ausgestaltete Stufen<br />

Als Folge des Tonikalisierungsgedankens – Chromatisierungen einer vorangehenden zur Gewichtung<br />

einer nachfolgenden Stufe – wendet Schenker auch die Dur-Moll-Mischung zur Bekräftigung<br />

von Stufen an. Dazu überprüft Schenker, „welche Tonartmöglichkeiten sich […]<br />

innerhalb einer bestimmten Diatonie […] ergeben können“. 56 Er zeigt zunächst die möglichen<br />

Stufen, die aufgr<strong>und</strong> der Mischung (kleine <strong>und</strong> große Terz, Sext <strong>und</strong> Sept) <strong>und</strong> durch Einbeziehen<br />

der II. phrygischen Stufe in C-Dur stehen können (Abb. 16).<br />

Abbildung 16: mögliche Stufen in C-Dur durch Mischung <strong>und</strong> II. phrygische Stufe<br />

Jede dieser elf verschiedenen Stufen kann laut Schenker innerhalb der herrschenden Tonart zu<br />

einer vermeintlichen neuen Tonart, „zur Scheintonart“ werden. Infolgedessen errichtet Schenker<br />

auf all diesen Stufen Dur-Moll-Mischungen: Des-Dur-Moll, D-Dur-Moll 57 , Es-Dur-Moll etc.<br />

Insgesamt können innerhalb einer Tonart nach Schenker also eine große Anzahl leiterfremder<br />

Dreiklänge oder Septakkorde vorkommen, die „die Wirkung der Diatonie fördern können“ 58 ,<br />

wenn sie zur „chromatischen Ausgestaltung“ 59 einer Stufe herangezogen werden (Abb. 17).<br />

56 Ebd., S. 394 f.<br />

57 Aus von Schenker nicht erläuterten Gründen fehlt D-Dur-Moll in der Aufzählung durch Schenker (vgl. Schenker,<br />

Harmonielehre, S. 395).<br />

58 Schenker, Harmonielehre, S. 396; vgl. ebd., S. 380.<br />

59 Ebd., S. 392; vgl. ebd., S. 381 f.<br />

15


Abbildung 17: insgesamt in C-Dur mögliche Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde 60<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

Auf den in Abb. 16 genannten möglichen elf Stufen in C-Dur – <strong>und</strong> zusätzlich auf der zwölften,<br />

bislang fehlenden Stufe ges bzw. fis – können also alle vier möglichen Dreiklangsformen zu<br />

stehen kommen (Dur, Moll, vermindert, übermäßig). Auf der Tonika <strong>und</strong> den beiden Dominant-<br />

Tonarten (g <strong>und</strong> d) sind alle sieben möglichen Vierklänge denkbar (Dur <strong>und</strong> Moll mit großer<br />

<strong>und</strong> kleiner Sept, vermindert mit kleiner oder verminderter Sept <strong>und</strong> übermäßiger Dreiklang mit<br />

großer Sept). Auf den enharmonisch verwechselten Stufen ces, cis, dis, gis, fes, ais <strong>und</strong> heses<br />

sind maximal zwei verschiedene Dreiklänge denkbar; auf diesen Stufen fehlt zumindest entweder<br />

der Dur- oder der Molldreiklang.<br />

Nonenakkorde etc.<br />

Für Schenker gibt es keine Nonenakkorde oder „noch mehr gesteigerte Akkordbildungen“ 61 ; sie<br />

stellen für ihn entweder Vorhalte oder „Zusammensetzungen von zwei Stufen über einem Orgelpunkt“<br />

62 dar. Der Dominantseptnonakkord – der einzige in den Lehrbüchern behandelte Nonenakkord<br />

– ist nach Schenker keine „selbständige Akkordbildung“ 63 , sondern ein Zusammen-<br />

60 Die Septimen erscheinen im Gegensatz zu den Dreiklängen als Viertelnoten, da sie optional sind.<br />

61 Schenker, Harmonielehre, S. 268.<br />

62 Ebd., S. 266.<br />

63 Ebd., S. 251.<br />

16


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker<br />

wirken der „eindeutigen Erscheinungen“ Dominantseptakkord <strong>und</strong> halbverminderter bzw. verminderter<br />

Septakkord (Abb. 18). 64<br />

Abbildung 18: der „angebliche Dominantnonenakkord“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250-251)<br />

Zusammenfassung<br />

Zur Erweiterung einer Tonart ist es für Schenker zunächst nur möglich, die Dur- mit der gleichnamigen<br />

Molltonart zu vermischen, also z.B. in C-Dur Töne <strong>und</strong> <strong>Akkorde</strong> zu verwenden, die in<br />

c-Moll leitereigen sind bzw. die sich mithilfe von einzelnen Tönen aus der c-Mollskala ergeben.<br />

Weiters sind bei Schenker chromatische Veränderungen an Stufen innerhalb einer Tonart erklärbar,<br />

wenn sie sich im Sinn von Zwischendominanten auf den nächsten Akkord beziehen<br />

lassen. Durch Ausdehnung dieses „Tonikalisierungsprinzips“ auf „scheinbare“ neue Tonarten<br />

(im Sinn von Zwischenkadenzen) lassen sich auch bei Schenker sehr viele Harmonien auf ein<br />

<strong>und</strong> dieselbe Tonart beziehen, allerdings mit der Einschränkung, dass diese auch wirklich in<br />

Verbindung mit der tonikalisierten Stufe stehen.<br />

64 Ebd., S. 249 f.<br />

17


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Arnold Schönberg – Imitationsprinzip, Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde<br />

Modifizierte Kirchentonarten – Nebendominanten<br />

Schönberg bezieht in die Molltonart – welche er als „reines Kunstprodukt“ 65 betrachtet – die<br />

erhöhte sechste <strong>und</strong> siebente Mollstufe mit ein (Abb. 19). 66 Dadurch ergeben sich leitereigen auf<br />

jeder außer der I. Stufe zwei verschiedene Dreiklänge (Abb. 20) <strong>und</strong> auf allen Stufen zwei – auf<br />

der VII. Stufe vier 67 – unterschiedliche Septakkorde (Abb. 21).<br />

Abbildung 19: erhöhter bzw. erniedrigter sechster <strong>und</strong> siebenter Skalenton beim An- bzw. Abstieg der Molltonleiter<br />

Abbildung 20: die leitereigenen Dreiklänge in a-Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 114)<br />

Abbildung 21: die leitereigenen Septakkorde in a-Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 114)<br />

Schönberg überträgt nun das Prinzip des Erhöhens <strong>und</strong> Erniedrigens des sechsten <strong>und</strong> siebenten<br />

Tons beim Ansteigen bzw. Abwärtsgehen der Mollskala auf die Kirchentonarten – jedoch nicht<br />

auf die lydische Skala: hier nennt Schönberg nur die zusätzliche Verwendung der reinen Quarte<br />

(Abb. 22). Mit den erhöhten Tönen in Äolisch (fis – auch aus Mixolydisch – <strong>und</strong> gis), Phrygisch<br />

(cis – auch aus Dorisch – <strong>und</strong> dis) <strong>und</strong> der erniedrigten Sext in Dorisch (b – auch aus Lydisch)<br />

steht Schönberg nun die gesamte chromatische Skala zur Verfügung.<br />

65 Schönberg, Harmonielehre, S. 111.<br />

66 Ebd., S. 112 f. Die siebente Stufe ist zu „Leittonzwecken“ erhöht, die sechste „aus melodischen Gründen, dem<br />

siebenten zuliebe“ (ebd., S. 114).<br />

67 Unlogisch ist, wie Schönberg auf vier verschiedene Septakkorde auf der VII. Stufe in Moll kommt, da die<br />

sechste Stufe alleine nicht erhöht werden kann – der Septakkord g-h-d-fis müsste also wegfallen.<br />

18


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Abbildung 22: Modifikation der Kirchentonarten nach dem Prinzip der auf- <strong>und</strong> absteigenden Molltonleiter<br />

Schönberg bildet auf diesen abgewandelten Kirchenleitern Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde 68 (Abb.<br />

23). Jedoch transponiert er diese nicht, so dass Dorisch, Phrygisch, Lydisch, Mixolydisch <strong>und</strong><br />

Äolisch auf c stehen 69 , sondern verwendet z.B. den verminderten Dreiklang der II. Stufe von<br />

Dorisch (e-g-b) als III. Stufe in C-Dur. Auf diese Weise erhält Schönberg leiterfremde <strong>Akkorde</strong>,<br />

die er als „harmonischen Reichtum der Kirchentonarten“ 70 in die Durtonart einbezieht.<br />

Abbildung 23: leiterfremde Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde durch die modifizierten Kirchentonarten 71<br />

68 Schönberg erwähnt zwar in diesem Zusammenhang auch die Bildung von Septakkorden (Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 210); der einzige Septakkord, den er später nennt, ist aber nur der Dominantseptakkord über c (aus<br />

lydisch, vgl. ebd., S. 211).<br />

Zur Errichtung der Septakkorde in den beiden Kirchentonarten, die zwei Vorzeichen enthalten (Dorisch <strong>und</strong><br />

Phrygisch) wurde dasselbe Prinzip herangezogen, welches Schönberg bei den Septakkorden in Moll verwendet<br />

hat: es wurden alle Vorzeichen miteinander kombiniert (die Septakkorde ohne Vorzeichen – leitereigen in C-<br />

Dur – wurden jedoch weggelassen).<br />

69 Schenker hingegen vermischt die gleichnamigen Dur- <strong>und</strong> Molltonarten <strong>und</strong> erhält auf diese Weise u.a.<br />

Transpositionen von Kirchentonarten auf derselben Tonhöhe wie die Ausgangstonart.<br />

70 Schönberg, Harmonielehre, S. 209; vgl. S. 207 (Anm.).<br />

71 Jene Dreiklänge bzw. Septakkorde, die leitereigen in C-Dur stehen, wurden nicht gebildet.<br />

19


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Folgende Dreiklänge sind durch die modifizierten Kirchentonarten neu in C-Dur verwendbar<br />

(Abb. 24): auf der I. Stufe ein übermäßiger Dreiklang (aus Äolisch), auf der erhöhten I. Stufe<br />

ein verminderter Dreiklang (aus Dorisch <strong>und</strong> Phrygisch); auf der II. Stufe ein Durdreiklang (aus<br />

Mixolydisch <strong>und</strong> Äolisch), auf der erhöhten II. Stufe eine verminderte Terz <strong>und</strong> Quint (aus<br />

Phrygisch); auf der IV. Stufe ein übermäßiger Dreiklang (aus Dorisch <strong>und</strong> Phrygisch), auf der<br />

erhöhten IV. Stufe ein verminderter Dreiklang (aus Mixolydisch <strong>und</strong> Äolisch); auf der V. Stufe<br />

ein Molldreiklang (aus Dorisch <strong>und</strong> Lydisch) <strong>und</strong> ein übermäßiger Dreiklang (aus Phrygisch),<br />

auf der erhöhten V. Stufe ein verminderter Dreiklang (aus Äolisch); auf der VI. Stufe ein<br />

Durdreiklang (aus Dorisch <strong>und</strong> Phrygisch); auf der VII. Stufe ein Molldreiklang (aus Mixolydisch<br />

<strong>und</strong> Äolisch) <strong>und</strong> eine große Terz <strong>und</strong> verminderte Quint (aus Phrygisch), auf der erniedrigten<br />

VII. Stufe ein Durdreiklang (aus Dorisch <strong>und</strong> Lydisch). 72<br />

Abbildung 24: leiterfremde Dreiklänge durch die modifizierten Kirchentonarten nach Stufen<br />

Die leiterfremden Töne (im Beispiel jene mit Vorzeichen) werden verwendet wie die sechste<br />

oder siebente Stufe einer auf- oder absteigenden melodischen Molltonleiter, wodurch sich die<br />

Weiterführung des leiterfremden Tons um einen Halbton oder Ganzton auf- oder abwärts er-<br />

gibt. 73<br />

Schönberg kommt durch die Kirchentonarten also zu zusätzlichen Durdreiklängen in Dur –<br />

inklusive des „gefälschten“ Durdreiklangs auf der VII. Stufe 74 (Abb. 25), sodass nun auf allen<br />

Stufen Durdreiklänge stehen können. 75 Schönberg nennt diese Durdreiklänge auf den Nebenstufen<br />

(II., III., VI. <strong>und</strong> VII. Stufe) „Nebendominanten“. 76 Die Nebendominanten – mit „künstlichem<br />

Leitton“ – dienen dazu, „für jede Stufe einen ihr vorauszuschickenden Dominantakkord<br />

72 Schönberg nennt andere aus der phrygischen Tonart gewonnene <strong>Akkorde</strong>: Statt den mit cis gewonnenen Dreiklängen<br />

cis-e-g, f-a-cis <strong>und</strong> a-cis-e zählt Schönberg die beiden Dreiklänge h-dis-fis <strong>und</strong> dis-fis-a auf. Jedoch ist<br />

fis nicht in Schönbergs phrygischer Tonart vorhanden; vermutlich verwendet er fis, um die verminderte Terz<br />

dis-f zu meiden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 209).<br />

73 Schönberg, Harmonielehre, S. 212, 112.<br />

74 Wie schon erwähnt, stammt h-dis-fis nicht direkt aus Phrygisch, sondern ist eine Alterierung des Dreiklangs hdis-f.<br />

75 Für Schönberg sind „leiterfremde Durdreiklänge auf den Nebenstufen“ allein schon aufgr<strong>und</strong> des „Bestreben[s]<br />

eines Baßtons, seine Obertöne durchzusetzen, Gr<strong>und</strong>ton eines Dur-Akkords zu werden“ legitim; eine zweite<br />

Begründung für Schönberg wäre das „Prinzip der Nachbildung, Nachahmung“ (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

210; vgl. S. 462).<br />

76 Schönberg, Harmonielehre, S. 211. Schönberg erwähnt hier auch die Möglichkeit der Nebendominanten, als<br />

„Nebendominantseptakkorde“ aufzutreten <strong>und</strong> nimmt in diesem Zusammenhang auch den „lydischen“ Dominantseptakkord<br />

c-e-g-b (auf der I. Stufe von C-Dur) als Nebendominante auf. Die übrigen durch die abgeänderten<br />

Kirchentonarten möglichen Septakkorde bleiben unerwähnt.<br />

20


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

(Quartensprung aufwärts des F<strong>und</strong>aments) zu gewinnen“, können aber auch zu einem Trugschluss<br />

führen. 77 Diese Nebendominanten entsprechen also Zwischendominanten.<br />

Abbildung 25: „Nebendominanten“ aus den modifizierten Kirchentonarten (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

211)<br />

Außerdem liefern die abgeänderten Kirchentonarten Schönberg drei übermäßige <strong>und</strong> vier zusätzliche<br />

verminderte Dreiklänge (Abb. 26).<br />

Abbildung 26: übermäßige <strong>und</strong> verminderte Dreiklänge aus den modifizierten Kirchentonarten (Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 212)<br />

Imitationsprinzip<br />

Bei den Kirchentonarten bzw. den „Nebendominanten“ wandte Schönberg das „Prinzip der<br />

Nachbildung“ 78 an – einerseits durch die Übertragung des erhöhten VI. <strong>und</strong> VII. Skalentons in<br />

Moll auf die Kirchentonarten, andererseits durch die Erstellung von Durdreiklängen auf den<br />

Nebenstufen. Diese Methode der Imitation eines bestimmten Zusammenklangs auf anderen<br />

Stufen wendet Schönberg auch bei den „vagierenden“ 79 <strong>Akkorde</strong>n an, beispielsweise beim neapolitanischen<br />

Sextakkord, beim übermäßigen Quintsextakkord oder beim halbverminderten<br />

Septakkord. 80<br />

Mollsubdominantbereich<br />

Um die Tonart noch mehr zu „bereichern“, bezieht Schönberg auch die leitereigenen <strong>Akkorde</strong><br />

der Mollsubdominanttonart ein (in C-Dur die leitereigenen <strong>Akkorde</strong> von f-Moll, Abb. 27). 81<br />

77 Ebd., S. 216 f.; vgl. ebd. S. 227 f. Schönbergs „Nebendominanten“ sind jedoch nicht „nur wegen dieser Auflösung<br />

da“ (ebd., S. 462). Im Unterschied dazu steht Schenkers „Tonikalisierungsgedanke“, wo der dominantische<br />

Akkord deshalb gesetzt wird, um den nachfolgenden Akkord als dessen Auflösung ansehen zu können.<br />

78 Ebd., S. 210.<br />

79 „Vagierend“ nennt Schönberg im weitesten Sinn die leiterfremden <strong>Akkorde</strong> (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

157; vgl. ebd., S. 234). „Vagierende <strong>Akkorde</strong> […] gehören keiner Tonart ausschließlich an, sondern […] können<br />

[…] vielen, meist fast allen Tonarten angehören“ (ebd., S. 233 f.). Im Speziellen meint Schönberg damit<br />

den neapolitanischen Sextakkord, die übermäßigen Sextakkorde, den Tristanakkord <strong>und</strong> die „eigentlichen vagierenden“<br />

verminderter Septakkord <strong>und</strong> übermäßiger Dreiklang (vgl. ebd., S. 296 ff., S. 312). Schönberg zählt<br />

aber auch die alterierten Nonenakkorde (vgl. ebd., S. 420) <strong>und</strong> die Ganztonakkorde (vgl. ebd., S. 475) zu den<br />

vagierenden <strong>Akkorde</strong>n.<br />

80 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 284 f., 304 f. <strong>und</strong> 308 f.<br />

81 Ebd., S. 267 f.<br />

21


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Diese Erweiterung der Tonart durch die „Unterdominante“ ist als Gegenpol zu den Nebendominanten<br />

gedacht, die vorwiegend „der Oberdominantregion angehören“. 82<br />

Abbildung 27: leitereigene <strong>Akkorde</strong> in f-Moll zur Erweiterung von C-Dur 83 (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

267)<br />

Weiters nennt Schönberg noch drei <strong>Akkorde</strong> aus c-Moll, die noch nicht durch die Kirchentonarten<br />

<strong>und</strong> die Mollsubdominanttonart f-Moll eingeführt wurden (Abb. 28). 84<br />

Abbildung 28: Dreiklänge aus c-Moll 85 (Schönberg, Harmonielehre, S. 267)<br />

Schönberg verbindet alle Dreiklänge von C-Dur mit allen neu hinzugetretenen <strong>Akkorde</strong>n aus f-<br />

<strong>und</strong> c-Moll <strong>und</strong> stellt fest, dass „keine dieser Verbindungen […], obwohl ungebräuchlich,<br />

schlecht oder unbrauchbar [ist]“. 86<br />

Unter Einbeziehung der modifizierten Kirchentonarten, der Tonart der Mollsubdominante (f-<br />

Moll) <strong>und</strong> der gleichnamigen Molltonart (c-Moll), sind nun auf jeder Stufe in C-Dur mindestens<br />

vier unterschiedliche Dreiklänge möglich (Abb. 29).<br />

82 Ebd., S. 269.<br />

83 Im Vergleich zu den in Abb. 20 aufgezählten möglichen <strong>Akkorde</strong>n in a-Moll durch Einbeziehung der erhöhten<br />

sechsten <strong>und</strong> siebenten Tonleiterstufe gibt Schönberg hier den Moll-Akkord auf der II. Stufe (g-b-d) <strong>und</strong> den<br />

Durakkord auf der V. Stufe (c-e-g) nicht an. Beide fehlenden <strong>Akkorde</strong> sind schon auf andere Art in C-Dur integriert:<br />

c-e-g ist leitereigene I. Stufe in C-Dur, g-b-d ist aus Dorisch <strong>und</strong> lydisch bekannt (als Dreiklang auf der<br />

IV. bzw. II. Stufe). Jedoch zählt Schönberg hier zwei andere Dreiklänge auf, die ebenfalls schon aus Dorisch<br />

bzw. lydisch bekannt sind: den Durdreiklang auf der IV. <strong>und</strong> den verminderten Dreiklang auf der erhöhten VII.<br />

Stufe. Dies lässt sich mit der besseren Herleitung dieser <strong>Akkorde</strong> aus der Mollsubdominanttonart f-Moll erklären.<br />

84 Die unveränderten <strong>Akkorde</strong> der I., II., III., IV., VI. <strong>und</strong> VII. Stufe in c-Moll (ohne Hinzuziehung der erhöhten<br />

sechsten <strong>und</strong> siebenten Skalenstufe) entsprechen der V., der erhöhten VI., der VII., der I., der III. <strong>und</strong> der IV.<br />

Stufe mit erhöhter Terz in f-Moll. Die II. Stufe mit erhöhter Quint, die IV. <strong>und</strong> V. Stufe mit erhöhter Terz <strong>und</strong><br />

die erhöhte VII. Stufe sind leitereigen in C-Dur.<br />

85 Schönberg nennt den Molldreiklang g-b-d, obwohl dieser schon aus Dorisch (als IV. Stufe) <strong>und</strong> lydisch (als II.<br />

Stufe) bekannt ist. Es ist anzunehmen, dass die Ableitung dieses Dreiklangs von der Molldominante für Schönberg<br />

die naheliegendere ist. Dasselbe gilt für den Durdreiklang auf der IV. Stufe <strong>und</strong> den verminderten Dreiklang<br />

auf der erhöhten VII. Stufe in f-Moll (b-d-f <strong>und</strong> e-g-b), die ebenfalls schon in Dorisch <strong>und</strong> lydisch eingeführt<br />

wurden.<br />

86 Schönberg, Harmonielehre, S. 271. Mit „ungebräuchlich“ meint Schönberg z.B. Akkordverbindungen, bei<br />

denen sich leicht parallele Quinten ergeben oder die nur mit verminderten oder übermäßigen Stimmschritten<br />

möglich sind (vgl. ebd., S. 271 f.).<br />

22


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Abbildung 29: mögliche Dreiklänge in C-Dur durch die Kirchentonarten, f-Moll <strong>und</strong> c-Moll<br />

Die chromatische Skala als Gr<strong>und</strong>lage der <strong>Tonalität</strong><br />

Als Folge seines Versuches, für die <strong>Akkorde</strong> des-, es-, fis- bzw. ges- <strong>und</strong> h-Moll in C-Dur eine<br />

„verwandtschaftliche Beziehung [zu zeigen]“ 87 , stellt Schönberg im Schlussteil seiner Harmonielehre<br />

eine Theorie vor, die von den zwölf Tönen der chromatischen Skala ausgeht, nicht wie<br />

bisher von den sieben Tönen einer Durtonleiter. Er bildet zunächst unzählige Skalen auf diesen<br />

zwölf Tönen 88 , kommt dann aber zu dem Schluss, dass man für die Analyse zeitgenössischer<br />

Musik nicht „durch die Methoden der Rückführung auf Stufen […] zur Klarheit über ihre Funktion“<br />

gelangt, da die „Zusammenklänge [wie in den früheren Epochen] Ergebnis der Stimmführung<br />

[sind]“ – die Melodie ist „Rechtfertigung“ genug. 89<br />

Nonenakkorde etc.<br />

Für Schönberg ist der Nonenakkord „mindestens ebenso legitim“ wie der Septakkord. 90 Er gibt<br />

zwar die „Künstlichkeit“ des Nonenakkords zu – diese beginnt laut Schönberg aber bereits mit<br />

der Bildung des Mollakkords. Wenn also (Moll- <strong>und</strong>) Septakkorde erlaubt sind, „dann sind auch<br />

9-<strong>Akkorde</strong>, 11-<strong>Akkorde</strong> usw. möglich“. 91 Schönberg will auch Umkehrungen von Nonenakkorden<br />

„verwendungsfähig“ wissen, die er etwa in seinem Streichsextett Verklärte Nacht op. 4<br />

verwendet. 92<br />

Die Auflösung eines Nonenakkords für „Vorsichtige“ 93 ist auf allen Stufen der um eine<br />

Quint tiefere Akkord; die Dissonanzen Sept <strong>und</strong> Non werden dabei schrittweise abwärts weitergeführt<br />

(Abb. 30).<br />

87 Ebd., S. 463.<br />

88 Z.B. bildet Schönberg auf diesen zwölf Tönen zwölfmal sieben Kirchentonarten, zwölf Dur- <strong>und</strong> Molltonarten<br />

etc. (ebd., S. 464 f.).<br />

89 Ebd., S. 466. Interessanterweise widerspricht sich Schönberg mit dieser Aussage selbst; denn nur kurz vorher<br />

sagt er, wenn er über die Selbständigkeit von (alterierten) Nonakkorden spricht: „[…] man wird dazu neigen,<br />

sie als chromatische Durchgangsnoten einzuschätzen; aber das soll man nicht, denn die Beziehung auf F<strong>und</strong>amente<br />

ist für die harmonische Analyse noch immer das zweckentsprechendere Hilfsmittel als die Rechtfertigung<br />

durchs Melodische. Diese sagt nur etwas über die Entstehung des Akkords. Jene aber gibt einheitliche<br />

Aufschlüsse über seine Verwendung <strong>und</strong> über seine Triebe“ (ebd., S. 429).<br />

90 Ebd., S. 416.<br />

91 Ebd.<br />

92 Vgl. ebd., S. 416 f. <strong>und</strong> Abb. 199 im 3. Kapitel.<br />

93 Schönberg, Harmonielehre, S. 418.<br />

23


Abbildung 30: Auflösung des Nonenakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 418)<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Aber auch der Trugschluss ist eine optionale Weiterführung des Nonenakkords – hier können<br />

Sept <strong>und</strong> Non auch liegen bleiben (Abb. 31). Der Nonenakkord mit trugschlüssiger Auflösung<br />

ist laut Schönberg „deshalb schon berechtigt“, weil er „als Stimmführungsereignis<br />

vor[kommt]“ 94 (Abb. 32).<br />

Abbildung 31: Auflösung des Nonenakkords – Trugschluss (Schönberg, Harmonielehre, S. 418)<br />

Abbildung 32: Der Nonenakkord als „Stimmführungsereignis“ im Trugschluss (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

419)<br />

Der Dominantseptnonakkord wird „von niemandem bestritten“ 95 , daher fordert Schönberg zumindest<br />

die Legitimierung der ihm nachgebildeten Nebendominant-Nonakkorde (Abb. 33).<br />

94 Ebd., S. 419. Für Schönberg sind wohl auch noch andere Weiterführungen von Nonenakkorden möglich –<br />

indem „man noch das Wegspringen aus der Dissonanz versuch[t]“ (ebd.) –, er gibt dafür aber keine Beispiele.<br />

95 Ebd.<br />

24


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Abbildung 33: Nebendominant-Nonakkorde in C-Dur (Schönberg, Harmonielehre, S. 419)<br />

Auch Nonenakkorde werden – meist aus Wunsch nach einem zusätzlichen Leitton 96 – bei<br />

Schönberg auf unterschiedliche Art alteriert (Abb. 34), ähnlich wie die Septakkorde (Abb. 35). 97<br />

Gr<strong>und</strong>tonalterierung 98 wie bei den Dreiklängen (Abb. 36) schließt Schönberg für die Sept- <strong>und</strong><br />

Nonenakkorde allerdings aus. Schönberg möchte auch nicht alle Alterationsmöglichkeiten aufzeigen,<br />

„ohne Rücksicht darauf, ob es in der Literatur schon vorkommt“. 99<br />

Abbildung 34: Alterierungen an Nonenakkorden (Schönberg, Harmonielehre, S. 430)<br />

Abbildung 35: Alterierungen an Septakkorden 100 (Schönberg, Harmonielehre, S. 427)<br />

Abbildung 36: Alterierungen an Dreiklängen (Schönberg, Harmonielehre, S. 422-423)<br />

Schönberg betrachtet diese alterierten <strong>Akkorde</strong> als autonome Zusammenklänge, aber „wer Lust<br />

hat, mag sie als durchgehende Erscheinungen ansehen“. 101 Schönberg bevorzugt die Auflösung<br />

96 Ebd., S. 427.<br />

97 Schönberg geht nicht so weit, für die Nonenakkorde mit kleiner Terz, verminderter Quint <strong>und</strong> verminderter<br />

Sept einen ausgelassenen Gr<strong>und</strong>ton anzunehmen, obwohl er ansonsten verminderte Septakkorde für Nonenakkorde<br />

ohne Gr<strong>und</strong>ton hält (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 230 f.).<br />

98 Schönberg akzeptiert die Alterierung des Gr<strong>und</strong>tons „nicht gerne“, denn er befürwortet die Annahme eines<br />

neuen Gr<strong>und</strong>tons – entweder ist dieser alterierte Gr<strong>und</strong>ton dann als zusätzlicher Skalenton neuer Gr<strong>und</strong>ton (wie<br />

beim neapolitanischen Sextakkord), oder ein nicht erklingender Ton ist Gr<strong>und</strong>ton (wie etwa beim verminderten<br />

Septakkord) (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 422 f.).<br />

99 Schönberg, Harmonielehre, S. 421. Auch an dieser Stelle führt Schönberg keine Literaturbeispiele an – in der<br />

gesamten Harmonielehre sind kaum Literaturbeispiele zu finden –, gibt aber Anwendungsbeispiele.<br />

100 Schönberg „[deutet] die Alterierungsmöglichkeiten der 7-<strong>Akkorde</strong>“ hier nur an – die Notenzeile mit den alterierten<br />

Septakkorden ist mit einem „etc.“ versehen (vgl. ebd., S. 427).<br />

101 Schönberg, Harmonielehre, S. 424. Schönberg unterstützt diese Ansicht, weil er selbst alles außer der I. Stufe<br />

als „sozusagen durchgehend oder doch mindestens gehend“ ansieht (vgl. ebd.).<br />

In Schönbergs Beispielen zu diesen alterierten <strong>Akkorde</strong>n (Schönberg, Harmonielehre, S. 424-431, Bsp. 285-<br />

290) sind diese aber oft nicht „selbständige <strong>Akkorde</strong>“ (ebd., S. 424), sondern stehen in Folge ihrer unalterierten<br />

Form (wie fast in allen Beispielen der alterierten Dominantseptakkorde) oder werden im Durchgang erreicht.<br />

25


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

eines hochalterierten Tons nach oben <strong>und</strong> die eines tiefalterierten Tons nach unten, schließt aber<br />

andere Weiterführungsmöglichkeiten des alterierten Tons (Liegenbleiben oder Auflösung in die<br />

entgegengesetzte Richtung) nicht aus. 102 Schönberg erlaubt die chromatische Aufwärtsführung<br />

der Non, da auch die Sept nach oben aufgelöst werden kann. 103<br />

Ganztonakkorde<br />

Schönberg sieht die Ganztonleiter als „eigentümliche Beeinflussung der Melodie“ <strong>und</strong> die sich<br />

durch sie ergebenden Zusammenklänge als „Verbindungsmöglichkeit mit anderen <strong>Akkorde</strong>n“.<br />

104 Seine Verwendung der Ganztonleiter ist nicht durch „internationale Seelenverwandtschaft“<br />

105 , sondern in der Kompositionstechnik begründet. Die Ganztonleiter ergibt sich nämlich<br />

auf „harmonisch-melodische“ 106 Weise, wenn man die Akkordtöne des übermäßigen Dreiklangs<br />

mit Durchgangsnoten verbindet (Abb. 37).<br />

Abbildung 37: Entstehung der Ganztonleiter durch den übermäßigen Dreiklang (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 468)<br />

Auf ähnliche Weise leitet Schönberg die Ganztonreihe auch vom Dominantsept(non)akkord mit<br />

hochalterierter Quint her (Abb. 38), der nur eine Erweiterung des übermäßigen Dreiklangs um<br />

eine kleine Sept (<strong>und</strong> große Non) ist.<br />

Abbildung 38: Entstehung der Ganztonleiter durch den alterierten Dominantsept(non)akkord (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 469)<br />

102 Vgl. ebd., S. 427. Diese Auffassung Schönbergs ergibt sich, da er – im Gegensatz zu Riemann <strong>und</strong> Schenker –<br />

stilistisch von der Harmonik Richard Wagners ausgeht.<br />

103 Ebd., S. 431. Schönberg begründet dies folgendermaßen: „Und da beim 7-Akkord sogar sehr gemäßigte Theoretiker<br />

annehmen, daß die Sept steigen kann, […] so wird man wohl zugeben müssen, dass auch beim 9-Akkord<br />

die Non mindestens chromatisch steigen kann“ (ebd.). Schönberg beruft sich hier auf ein Beispiel, „das fast in<br />

jedem Lehrbuch vorkommt“: die Harmoniefolge G-Dur-Dominantseptakkord – D-Dur-Dominantseptakkord, in<br />

dem die Sept von G 7 (f) chromatisch in die Terz von D 7 (fis) geführt wird (g-d 1 -h 1 -f 2 – a-d 1 -c 2 -fis 2 ) (ebd.).<br />

104 Ebd., S. 471.<br />

105 Ebd., S. 468.<br />

106 Ebd., S. 471.<br />

26


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Als Ergebnis des Zusammenklangs der Akkord- <strong>und</strong> Durchgangstöne 107 bzw. durch Disalteration<br />

(d.h. gleichzeitige Hoch- <strong>und</strong> Tiefalteration) der Quint des Dominantseptnonakkords endlich<br />

erhält Schönberg einen sechstönigen Akkord, der alle Töne der Ganztonleiter umfasst (Abb.<br />

39). Er wird bei Schönberg zunächst wie ein gewöhnlicher Dominantseptnonakkord behandelt:<br />

Auflösung in die Tonika; Sept <strong>und</strong> Non werden schrittweise abwärts geführt, die Quinten entsprechend<br />

ihrer Alteration auf- bzw. abwärts aufgelöst.<br />

Abbildung 39: Ganztonakkord – Entstehung <strong>und</strong> Auflösung (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 469-470)<br />

Auch in Schönbergs erster Kammersymphonie op. 9 ist der Ganztonakkord als disalterierte Dominante<br />

gedacht (zu einem F-Dur-Akkord), entsteht jedoch beide Male aus einem Quartenakkord<br />

(Abb. 40). Der hier von Schönberg verwendete Ganztonakkord (c-e-ges/fis-as/gis-b/ais) ist<br />

nicht „vollständig“ – die „Non“ d fehlt in beiden Fällen, dafür ist die Terz e zweifach vorhanden.<br />

Abbildung 40: der Ganztonakkord in Schönbergs Kammersymphonie op. 9 (1906) 108<br />

Wenn man alle Akkordtöne des Ganztonakkords entweder chromatisch weiterführt oder liegen<br />

lässt – „im Sinn einer strengen Dissonanzbehandlung“ 109 –, sind noch eine Menge weiterer Auflösungen<br />

möglich: z.B. übermäßiger Dreiklang, Dominantseptakkord, verminderter Septakkord<br />

107 Vgl. ebd., S. 470.<br />

108 Die Ligaturen wurden in der Abbildung weggelassen <strong>und</strong> die Takte 374 <strong>und</strong> 375 sind eine Oktave tiefer dargestellt<br />

als im Original.<br />

109 Schönberg, Harmonielehre, S. 476. Für Schönberg ist aber auch eine freiere Behandlung der Dissonanzen<br />

möglich (vgl. ebd.).<br />

27


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

oder Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quint (Abb. 41). Denn die „melodische Kraft<br />

[der Chromatik] hilft verbinden, was entfernter verwandt ist“. 110<br />

Abbildung 41: chromatische Weiterführung des Ganztonakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 475)<br />

Als Akkord, der die Oktave in mehrere gleiche Teile teilt, kann der Ganztonakkord – ebenso<br />

wie der verminderte Septakkord <strong>und</strong> der übermäßige Dreiklang – enharmonisch verwechselt<br />

werden. Die fünf möglichen enharmonischen Verwechslungen eines Ganztonakkords ergeben<br />

dann noch zusätzlich fünf Transpositionen aller möglichen Auflösungsakkorde eines Ganztonakkords<br />

(von insgesamt zwei verschiedenen) – in Summe sind bei dieser strengen Dissonanzbehandlung<br />

also mehr als 60 verschiedene Auflösungen eines Ganztonakkords möglich.<br />

Quartenakkorde<br />

Schönberg behandelt in seiner Harmonielehre auch Zusammenklänge, die nicht aus übereinander<br />

geschichteten Terzen zusammengesetzt sind: Quartenakkorde. Mit den Quartenakkorden<br />

spricht Schönberg einen weiteren Aspekt seiner eigenen Kompositionstechnik an: So kommen<br />

etwa in seiner Kammersymphonie op. 9 Quartenakkorde vor (vgl. Abb. 40, T. 3 <strong>und</strong> 374). Für<br />

Schönberg sind Zusammenklänge aus drei bis sechs Quarten möglich (Abb. 42-45). 111 Schönberg<br />

verbindet diese drei- bis sechsstimmigen Quartenakkorde in seiner Harmonielehre mit<br />

„gebräuchlichen <strong>Akkorde</strong>n“; dabei schreiten die Akkordtöne entweder sek<strong>und</strong>weise fort (chromatisch<br />

oder diatonisch) oder bleiben liegen. 112<br />

Abbildung 42: Auflösung dreistimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 483)<br />

110 Ebd., S. 276.<br />

111 Ebd., S. 483. Die mehr als sechsstimmigen Quartenakkorde „[kennt Schönberg nicht] als Quartenakkorde“<br />

(ebd., S. 485).<br />

112 Ebd., S. 483-485 (Beispiele 330-337).<br />

28


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Abbildung 43: Auflösung vierstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 482-483)<br />

Abbildung 44: Auflösung fünfstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 484)<br />

Abbildung 45: Auflösung sechsstimmiger Quartenakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 485)<br />

Quartenakkorde aus vier oder fünf Quarten können – in dominantischer Funktion – auch aus<br />

übereinandergeschichteten Terzen hergeleitet werden, der Vierklang als Alteration des Dominantseptakkordes,<br />

der Fünfklang als Alteration einer Dominante (Abb. 46).<br />

Abbildung 46: Ableitung des vierstimmigen <strong>und</strong> des fünfstimmigen Quartenakkords von der Dominante (vgl.<br />

Schönberg, Harmonielehre, S. 484)<br />

Schönberg schätzt an den Quarten besonders, dass durch das Übereinandersetzen von zwölf<br />

Quarten alle zwölf verschiedenen Töne resultieren (Abb. 47), während dieses Resultat bei übereinandergeschichteten<br />

Terzen nur mithilfe der „Kunstprodukte des Systems“ 113 , dem übermäßigen<br />

Dreiklang <strong>und</strong> dem verminderten Septakkord zustande kommt (Abb. 48, T. 6 <strong>und</strong> 7).<br />

113 Ebd., S. 488.<br />

29


Abbildung 47: zwölftöniger Quartenakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 486)<br />

<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Abbildung 48: Terzen-Schichtungen zur Bildung von Zwölftonakkorden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

487)<br />

Das Übereinanderstellen von Durdreiklängen (C-Dur – G-Dur – D-Dur – A-Dur) bzw. großen<br />

<strong>und</strong> kleinen Terzen (4-3-4-3 114 etc.) ergibt acht verschiedene Töne (Abb. 48, T. 1), jenes von<br />

Molldreiklängen (c-Moll – g-Moll – d-Moll – a-Moll) bzw. kleinen <strong>und</strong> großen Terzen (3-4-3-4<br />

etc.) sieben unterschiedliche Töne (Abb. 48, T. 2). Bei lauter kleinen Terzen (c-es-ges-heses/a-c<br />

bzw. 3-3-3-3, Abb. 48, T. 3) ist der vierte, bei lauter großen Terzen (c-e-gis-his/c bzw. 4-4-4,<br />

Abb. 48, T. 4) der fünfte Ton Wiederholung eines schon dagewesenen Tons. Die Schichtung<br />

von verminderten Dreiklängen mit einer großen Terz dazwischen (c-es-ges – b-des-fes etc. bzw.<br />

3-3-4-3-3-4 etc.) liefert zehn verschiedene Töne (Abb. 48, T. 5). Erst das Übereinandersetzen<br />

von übermäßigen Dreiklängen im Abstand einer kleinen Terz (c-e-gis – h-dis/es-fisis/g etc. bzw.<br />

4-4-3-4-4-3 etc., Abb. 48, T. 6) <strong>und</strong> von verminderten Septakkorden mit dazwischenliegender<br />

großer Terz (c-es-ges-heses/a – cis-e-g-b etc. bzw. 3-3-3-4-3-3-3-4 etc., Abb. 48, T. 7) produziert<br />

alle zwölf verschiedenen Töne. 115<br />

Zusammenfassung<br />

Schönberg erweitert das Tonsystem zum einen durch das Prinzip der Nachbildung: Zuerst<br />

kommt er durch die Übertragung des erhöhten VI. <strong>und</strong> VII. Skalentons bei der Molltonleiter<br />

(melodisches Moll) auf die Kirchentonarten zu leiterfremden <strong>Akkorde</strong>n, dann bildet er diese<br />

<strong>Akkorde</strong> <strong>und</strong> auch die vagierenden <strong>Akkorde</strong> auf anderen Stufen nach. Mithilfe dieser modifizierten<br />

Kirchentonarten – Schönberg transponiert sie nicht, sondern verwendet z.B. den ersten<br />

114 Hier sind zur besseren Veranschaulichung die Intervalle große <strong>und</strong> kleine Terz in Halbtönen angegeben: „4“<br />

steht für eine große, „3“ für eine kleine Terz.<br />

115 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 485 f.<br />

30


<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg<br />

Ton von Dorisch als zweiten Ton von Dur – ergibt sich die gesamte chromatische Skala; somit<br />

kann bei Schönberg innerhalb einer Tonart jeder Akkord auf jeder der zwölf möglichen Töne<br />

stehen. Zusätzlich verwendet Schönberg auch die Tonart der Mollsubdominante, um die <strong>Tonalität</strong><br />

zu erweitern. Damit nicht genug, nimmt Schönberg auch nicht durch Terzenschichtung entstandene<br />

<strong>Akkorde</strong> in sein System auf: den Ganzton- (den Schönberg jedoch auch aus einem –<br />

allerdings doppelt alterierten – Nonenakkord ableitet) <strong>und</strong> den Quartenakkord. Schönberg zeigt<br />

für alle <strong>Akkorde</strong> zunächst die „herkömmliche“ Auflösung, „erlaubt“ aber im Endeffekt alle<br />

Fortschreitungen. In Bezug auf die Nonen-, Ganzton- <strong>und</strong> Quartenakkorde wird besonders deutlich,<br />

dass Schönberg seine Harmonielehre zur Rechtfertigung der eigenen Kompositionstechnik<br />

benutzt, da er in diesen Kapiteln Beispiele aus eigenen Kompositionen bringt.<br />

31


II Vagierende <strong>Akkorde</strong><br />

Verminderter Dreiklang<br />

32<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Der verminderte Dreiklang – h-d-f in C-Dur bzw. a-Moll – steht in Dur auf der VII., in Moll auf<br />

der II. Tonleiterstufe. Außerdem findet er sich leitereigen auf der VII. Stufe in harmonischem<br />

Moll (erhöhte VII. Skalenstufe).<br />

Auf der VII. Stufe hat der verminderte Dreiklang hauptsächlich Dominantfunktion: er ist<br />

Dominantseptakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton. Prim <strong>und</strong> Quint des verminderten Dreiklangs haben als<br />

Terz <strong>und</strong> Sept des Dominantseptakkords Leittonfunktion <strong>und</strong> können deshalb nicht verdoppelt<br />

werden. Jedoch wird die Sept durch den nicht vorhandenen Gr<strong>und</strong>ton nicht als solche wahrgenommen,<br />

daher ist eine freiere Weiterführung der Sept möglich (Abb. 49). 116<br />

Abbildung 49: verminderter Dreiklang der VII. Stufe in Dur <strong>und</strong> Moll 117 (Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 61)<br />

Als II. Stufe in Moll ist der verminderte Dreiklang entweder Zwischendominante zur parallelen<br />

Durtonart oder – mit Terz im Bass – Subdominante mit großer Sext statt Quint 118 (Abb. 50).<br />

Aber auch der verminderte Dreiklang auf der VII. Stufe kann – in passendem harmonischem<br />

Kontext – eine Mollsubdominante mit Sext statt Quint für die parallele Molltonart darstellen. 119<br />

116 Amon, Reinhard: Lexikon der Harmonielehre. Nachschlagewerk zur durmolltonalen Harmonik mit Analysechiffren<br />

für Funktionen, Stufen <strong>und</strong> Jazz-<strong>Akkorde</strong>. Wien-München: Doblinger 2005, S. 55, 61. Bei regulärer<br />

Auflösung der kleinen Sept – schrittweise nach unten – fehlt die Quint der Tonika. Amon lässt im Fall des verminderten<br />

Dreiklangs sogar die Verdopplung der (Dominant-)Sept zu (vgl. ebd., S. 55).<br />

117 Im 15. <strong>und</strong> 16. Jahrh<strong>und</strong>ert war der verminderte Dreiklang ein konsonanter Klang (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 55, 61, 131; de la Motte, Diether: Harmonielehre. Kassel: Bärenreiter 12 2001, S. 56 f.) <strong>und</strong><br />

wurde mit seiner Terz im Bass geschrieben, damit die verminderte Quint nicht auffällt (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 55, 61, 115).<br />

118 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 131.<br />

119 Ebd., S. 61, 80, 207.


33<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Abbildung 50: der verminderte Dreiklang der II. Stufe in Moll als Zwischendominante oder Subdominante<br />

(vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 61)<br />

Sehr häufig kommen die verminderten Dreiklänge in zwischendominantischer Form vor; dazu<br />

wird einfach der Gr<strong>und</strong>ton eines Durdreiklangs hochalteriert. Der hochalterierte Ton ist Leitton<br />

zum Zielakkord (Abb. 51).<br />

Abbildung 51: verminderte Dreiklänge als Zwischendominanten (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 61)<br />

Riemann<br />

Riemann leitet den verminderten Dreiklang h-d-f zunächst von der Subdominante in Moll ab.<br />

Da Riemann den Mollakkord als Gegenstück des Durakkords ansieht, denkt er <strong>Akkorde</strong> in Moll<br />

immer „von oben nach unten“: Im Molldreiklang d-f-a z.B. ist a die Prim (I), f die Unterterz<br />

(III) <strong>und</strong> d die Unterquint (V). 120 Riemann bildet als nächstes den „Septakkord der Mollsubdominante“<br />

(S VII ), fügt also der Subdominante eine „Untersept“ an: a-f-d-h. Um den verminderten<br />

Dreiklang in Moll zu erhalten, lässt Riemann den höchsten Ton des Septakkords, a – für Riemann<br />

die Prim der Mollsubdominante – weg (Abb. 52). 121 In C-Dur erhält Riemann den verminderten<br />

Dreiklang ebenfalls durch Wegkürzen der Prim des Dominantseptakkords g-h-d-f (in<br />

Dur ist die Prim für Riemann der tiefste Ton des Zusammenklangs, Abb. 52).<br />

120 Die Bestandteile des Mollakkords bezeichnet Riemann mit römischen Ziffern, im Gegensatz zu den Akkordtönen<br />

eines Durdreiklangs, die er mit arabischen Ziffern kennzeichnet.<br />

121 In Riemanns harmonischem Dualismus ist die Prim in Moll der höchste Ton des Akkords. Der Septakkord h-df-a<br />

heißt in Moll „Unterseptimenaccord von a“; die erklingende Sept a ist in Riemanns Mollsystem Prim bzw.<br />

Hauptton des Akkords.


34<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Abbildung 52: Ableitung des verminderten Dreiklangs in Moll <strong>und</strong> Dur durch Septakkorde<br />

Beide <strong>Akkorde</strong> nennt Riemann „elliptische Septimenaccorde“ 122 , da ihnen der Hauptton (die<br />

Prim) fehlt. Dieses Weglassen der Prim macht Riemann durch Durchstreichen des Klangbuchstabens<br />

bzw. des Funktionszeichens deutlich. Riemann merkt jedoch an, dass „der Wert des<br />

Gebildes […] in Dur <strong>und</strong> Moll keineswegs ein gleicher [ist], da in Dur derjenige Ton fehlt, welcher<br />

am wenigsten entbehrlich ist (die 1), in Moll dagegen der am ehesten entbehrliche (die<br />

I)“. 123<br />

Riemann bezeichnet den verminderten Dreiklang als „Terzsept(imen)accord“ 124 , da die den<br />

Akkord kennzeichnende verminderte Quint aus Terz <strong>und</strong> Sept des jeweiligen Septakkords besteht.<br />

125 Für die Klangwirkung des verminderten Dreiklangs sind Terz <strong>und</strong> Sept also unerlässlich;<br />

jedoch dürfen beide Töne nicht verdoppelt werden, da die Terz Leitton <strong>und</strong> die Sept Dissonanz<br />

ist. 126 Folglich ist für Riemann nur die Verdopplung der Quint d zulässig (Abb. 53).<br />

Abbildung 53: der verminderte Dreiklang als verkürzte Dominante bzw. Subdominante 127 (Riemann, Handbuch<br />

der Harmonielehre, S. 146)<br />

Aufgr<strong>und</strong> der Ableitung des verminderten Dreiklangs in Moll als „Unterseptakkord“ sieht Riemann<br />

im verminderten Dreiklang h-d-f in a-Moll h als (Unter-)Sept <strong>und</strong> somit als Dissonanz an.<br />

Dissonanzen müssen laut Riemann schrittweise aufgelöst werden 128 – jedoch erfüllt Riemann<br />

122 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 145 (im Original gesperrt).<br />

123 Ebd., S. 145-146 (im Original gesperrt).<br />

124 Ebd., S. 146. In der Überschrift des Kapitels (<strong>und</strong> im Inhaltsverzeichnis) nennt Riemann den verminderten<br />

Septakkord „Terzseptaccord“, im Kapitel selbst fällt der Name „Terzseptimenaccord“.<br />

125 In C-Dur ist h die Terz <strong>und</strong> f die Sept des Dominantseptakkords g-h-d-f, in a-Moll ist f die Terz <strong>und</strong> h die Sept<br />

des Mollsubdominant-Unterseptimenakkords a-f-d-h.<br />

126 Das ist die einzige Stelle innerhalb des Kapitels, an der sich Riemann (indirekt) zur Stimmführung äußert.<br />

127 In diesem Beispiel zum verminderten Dreiklang in Dur <strong>und</strong> Moll ist das Funktionszeichen nicht durchgestrichen.<br />

Das hat vermutlich damit zu tun, dass das Durchstreichen des Klangbuchstabens bzw. des Funktionszeichens<br />

zur Kennzeichnung einer weggelassenen (Unter-)Prim erst nach diesem Notenbeispiel im Text vorgestellt<br />

wird.<br />

128 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 144.


35<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

seine Forderung im eigenen Notenbeispiel nicht: die Untersept h springt ins gis der Dominante<br />

(Abb. 53), wohl um einen vollständigen Dominantakkord zu erhalten.<br />

Der verminderte Dreiklang in der Funktion als verkürzter Dominantseptakkord unterstützt<br />

eine „schlechte, rauhe Klangwirkung“ 129 , deshalb soll er Riemanns Ansicht nach nur in Sequenzen<br />

<strong>und</strong> im dreistimmigen Satz gebraucht werden, oder wenn er durch Sek<strong>und</strong>fortschreitung<br />

erreicht <strong>und</strong> verlassen wird (Abb. 54).<br />

Abbildung 54: Verwendung des verminderten Dreiklangs in Sek<strong>und</strong>fortschreitung, in Sequenzen <strong>und</strong> im dreistimmigen<br />

Satz (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 146)<br />

Riemanns Aufgabenstellungen mit vermindertem Dreiklang zeigen, dass beide verminderten<br />

Dreiklänge – verkürzte Dominante <strong>und</strong> „verkürzte Subdominante“ – in Dur <strong>und</strong> in Moll eingesetzt<br />

werden können – gemäß Riemanns Gr<strong>und</strong>satz, dass die Mollsubdominante in Dur <strong>und</strong> die<br />

Durdominante in Moll erscheinen kann.<br />

Der verminderte Dreiklang der VII. Stufe – dargestellt durch das durchgestrichene Funktionszeichen<br />

des Dominantseptakkords – kommt in Riemanns Beispielen immer als Dominante<br />

zur Anwendung: hauptsächlich führt er zur Tonika; einmal folgt als Trugschluss die parallele<br />

Molltonart 130 , zweimal wird der verminderte Dreiklang von Riemann – der Dominante vorausgehend<br />

– als verkürzte Doppeldominante gebraucht. 131 Der verminderte Dreiklang der II. Stufe<br />

hat bei Riemann immer subdominantische Funktion: er führt meist in die Dominante, nur einmal<br />

folgt ihm die Tonika 132 ; viermal dient er als Vorbereitung des doppeldominantischen verminderten<br />

Septakkords 133 – nie jedoch wird der verminderte Dreiklang auf der II. Stufe bei<br />

Riemann als Zwischendominante eingesetzt.<br />

Im Kapitel über „Modulation durch chromatische Alteration“ zählt Riemann den verminderten<br />

Dreiklang zu den „charakteristischen Dissonanzen“ 134 <strong>und</strong> verwendet ihn zur Modulation:<br />

129 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 146. Riemann kritisiert hier Ernst Friedrich Richters Lehrbuch der<br />

Harmonie (1853), indem der verminderte Dreiklang seiner Meinung nach zu oft als Dominantseptakkord ohne<br />

Gr<strong>und</strong>ton gebraucht wird.<br />

130 Ebd., S. 185 (Bsp. 455).<br />

131 Ebd., S. 180 (Bsp. 133) <strong>und</strong> S. 224 (Bsp. 125).<br />

132 Ebd., S. 181 (Bsp. 428).<br />

133 Ebd., S. 224-227 (Bsp. 150, 166, 174, 181). In a-Moll: h-d-f – a-c-dis-fis.<br />

134 Ebd., S. 218 f. Zu den „charakteristischen Dissonanzen“ zählen bei Riemann hauptsächlich die Sept des Dominantseptakkords<br />

<strong>und</strong> die zum Durakkord hinzugefügte Sext (vgl. ebd., S. 141-151). Riemanns Auffassung des<br />

verminderten Dreiklangs (<strong>und</strong> des verminderten Septakkords) als „charakteristische Dissonanz“ lässt sich mit<br />

Schenkers „Eindeutigkeit“ von <strong>Akkorde</strong>n vergleichen.


36<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Das Hochalterieren des Gr<strong>und</strong>tons beim Durdreiklang <strong>und</strong> das Tiefalterieren der Quint 135 beim<br />

Molldreiklang führt von C-Dur bzw. a-Moll aus zu weiteren sechs verminderten Dreiklängen,<br />

von denen jeder in zwei Tonarten als verkürzte Dominante bzw. als II. Stufe leitereigen sein<br />

kann (Abb. 55). In der Analyse wird der verminderte Dreiklang dann wieder als verkürzter Dominantseptakkord<br />

bzw. als verkürzter Unterseptimenakkord dargestellt.<br />

Abbildung 55: Modulation durch chromatische Alteration – das Alterieren der reinen zur verminderten Quint<br />

in Dur- <strong>und</strong> Molldreiklängen ergibt weitere verminderte Dreiklänge<br />

Riemann führt nur diejenigen Tonarten als Modulationsziel der alterierten Hauptstufen an, die<br />

sich durch einfache Funktionszeichen in der jeweiligen Tonart ausdrücken lassen. 136 Von Riemann<br />

unerwähnt bleibt die mögliche Funktion der verkürzten Dominante als Doppeldominante,<br />

die er im Rahmen der Funktion eines verminderten Septakkords anspricht. 137<br />

Schenker<br />

Schenker hebt die „Eindeutigkeit“ des verminderten Dreiklangs hervor 138 , der in Dur <strong>und</strong> Moll<br />

je nur einmal vorkommt: in Dur auf der VII., in Moll auf der II. Stufe. Das bedeutet, dass z.B.<br />

der verminderte Dreiklang fis-a-c ein Anzeichen für die Tonarten G-Dur (als VII. Stufe) oder e-<br />

Moll (als II. Stufe) ist (Abb. 56).<br />

Abbildung 56: der verminderte Dreiklang ist „eindeutig“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 239)<br />

Später spricht Schenker nur noch über die Funktion des verminderten Dreiklangs als VII. Stufe<br />

(in Dur <strong>und</strong> Moll) <strong>und</strong> stellt klar, dass die drei verschiedenen auf der VII. Stufe stehenden <strong>Akkorde</strong><br />

durch die gemeinsame verminderte Quint (h-f) mit dem Dominantseptakkord „psycholo-<br />

135 Riemann spricht an dieser Stelle natürlich wieder dualistisch von der „Mollprim“, womit er den höchsten Ton<br />

des Mollakkords – die Akkordquint nach heutigem Verständnis – meint (Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 219).<br />

136 Ausnahmen sind hier nur fis-Moll in C-Dur als „Paralleltonart der Dur-Variante der Parallele“ <strong>und</strong> Es-Dur in a-<br />

Moll als „Paralleltonart der Mollvariante der Parallele“ (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219).<br />

137 Vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219 f.<br />

138 Schenker, Harmonielehre S. 238. Im Gegensatz dazu kann z.B. der Durdreiklang – dieser ist gleich wie der<br />

Molldreiklang „dreideutig“ – in jeder Dur- <strong>und</strong> Molltonart auf drei verschiedenen Stufen stehen.


37<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

gisch verwandt“ sind 139 : der verminderte Dreiklang, der diatonische <strong>und</strong> der verminderte Septakkord<br />

(Abb. 57). Laut Schenker werden diese „eindeutigen Erscheinungen“ von den Komponisten<br />

„eine für die andre [ge]setzt, ohne aber dadurch den Sinn der Stufenfolge verändern zu<br />

wollen“. 140<br />

Abbildung 57: Verwandtschaft des Dominantseptakkords mit dem verminderten Dreiklang, dem halbverminderten<br />

Septakkord <strong>und</strong> dem verminderten Septakkord (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250-251)<br />

Der verminderte Dreiklang 141 dient bei Schenker zur „Tonikalisierung bei steigenden Sek<strong>und</strong>en“<br />

142 , indem zwei im Sek<strong>und</strong>abstand aufeinanderfolgende <strong>Akkorde</strong> durch chromatische Veränderungen<br />

des ersten Akkords der Stufenfolge VII – I angeglichen werden, also die Akkordfolge<br />

verminderter Dreiklang – Dur- oder Molldreiklang nachahmen (Abb. 58). Dieser Vorgang<br />

ermöglicht auch im Rahmen einer Modulation eine sehr schnelle Bestätigung der neuen Ton-<br />

art. 143<br />

Abbildung 58: Tonikalisierung bei steigenden Sek<strong>und</strong>schritten – der verminderte Dreiklang als Zwischendominante<br />

Diese veränderten Stufen werden in Schenkers Analysen als z.B. „erhöhte II. Stufe“ bezeichnet.<br />

Obwohl sich Schenker also bewusst ist, dass der verminderte Dreiklang eine V. Stufe ohne<br />

Gr<strong>und</strong>ton ist, geht es ihm nicht wie Riemann um die Darstellung des fallenden Quintschritts,<br />

sondern um die des steigenden Halbtonschritts. Dies hat den Vorteil, dass der tatsächliche Stu-<br />

139 Ebd., S. 250 f. Diese Auffassung Schenkers stimmt mit der Ansicht Riemanns überein, dass die drei verschiedenen<br />

<strong>Akkorde</strong> auf der VII. Stufe Dominantsept(non)akkorde ohne Gr<strong>und</strong>ton sind.<br />

140 Ebd., S. 250.<br />

141 Dasselbe gilt für die ihm verwandten <strong>Akkorde</strong> diatonischer <strong>und</strong> verminderter Septakkord. Die zusätzliche<br />

Verwendung der diatonischen (kleinen) oder verminderten Sept verstärkt die Wirkung der Tonikalisierung<br />

(Schenker, Harmonielehre S. 356).<br />

142 Schenker, Harmonielehre, S. 356. Diese Tonikalisierung ist „mittelbar“, das heißt: „eine nach dem Tonikawert<br />

strebende Stufe nimmt eine oder mehrere vorhergehende Stufen zur Erreichung des genannten Zieles zu Hilfe“<br />

(ebd., S. 343). Ein Akkord wird dann vorübergehend als Tonika empf<strong>und</strong>en, wenn der Akkord davor auf bestimmte<br />

Weise chromatisch verändert wird (von „Alteration“ spricht Schenker nur dann, wenn sich eine verminderte<br />

Terz zwischen Terz <strong>und</strong> Quint eines Akkords befindet, vgl. ebd., S. 374) – also zur Zwischendominante<br />

wird. Voraussetzung dafür ist eine fallende Quint (vgl. ebd., S. 344) oder ein steigender Sek<strong>und</strong>schritt<br />

(ebd., S. 356). Im Gegensatz dazu bedeutet „unmittelbare Tonikalisierung“, dass beim Akkord selbst etwas verändert<br />

wird, damit er als Tonika wahrgenommen wird (vgl. ebd., S. 338).<br />

143 Ebd., S. 427 f.


38<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

fengang erkennbar bleibt: In Abb. 59 folgt der V. Stufe in F-Dur der verminderte Dreiklang h-df<br />

– durch die Darstellung als IV. Stufe (die zur Tonikalisierung des nachfolgenden Dominantseptakkords<br />

chromatisch erhöht wurde) ist der Trugschluss (V-IV) auf den ersten Blick sicht-<br />

bar. 144<br />

Abbildung 59: Johann Sebastian Bach: Italienisches Konzert (BWV 971), Takt 26 bis 30 145 (vgl. Schenker,<br />

Harmonielehre, S. 265)<br />

Zur Stimmführung äußert sich Schenker in der Harmonielehre nicht – diese soll sich „nur mit<br />

der Psychologie der abstrakten Stufen […] befassen“. 146<br />

Schönberg<br />

Der verminderte Dreiklang – in Dur auf der VII. Stufe – benötigt laut Schönberg eine „besondere<br />

Behandlung“ 147 : Die als Dissonanz „empf<strong>und</strong>ene“ 148 verminderte Quint muss vorbereitet <strong>und</strong><br />

aufgelöst werden; außerdem darf sie als Dissonanz <strong>und</strong> „auffallendster“ Ton nicht verdoppelt<br />

werden. 149 Verdoppelt wird laut Schönberg hauptsächlich der Gr<strong>und</strong>ton des verminderten Dreiklangs<br />

(h in C-Dur), auch die Verdopplung der Terz ist möglich. 150 Schönberg führt den verminderten<br />

Dreiklang zunächst in den um eine Quint tiefer liegenden Molldreiklang auf der III.<br />

Stufe (Abb. 60). Der Quintfall des Gr<strong>und</strong>tons – Schönberg spricht jedoch von „Quartensprung<br />

144 Vgl. ebd., S. 265 f.<br />

145 Das Notenbeispiel aus Bachs Italienischem Konzert ist hier abgebildet wie in Schenkers Harmonielehre (S.<br />

265). Die neue Bach-Gesamtausgabe gibt für den Takt 29 jedoch einen anderen Bassverlauf an: f-A-B-c.<br />

146 Schenker, Harmonielehre, S. 226.<br />

147 Schönberg, Harmonielehre, S. 45.<br />

148 Ebd., S. 51.<br />

149 Ebd., S. 57. Dessen ungeachtet lässt Schönberg in den Beispielen auf S. 172 <strong>und</strong> 173 die Verdopplung der<br />

verminderten Quint ohne Weiteres zu.<br />

150 Zwar erkennt Schönberg bald, dass der „Gr<strong>und</strong>ton“ h „steigender Leitton“ ist <strong>und</strong> nach c aufgelöst werden<br />

möchte (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 84, 96); „er wird jedoch diesem melodischem Trieb […] nur dann<br />

folgen müssen, wenn er wirklich an einer melodischen Angelegenheit teilhat, <strong>und</strong> auch das nur, wenn er Terz<br />

der V. Stufe war <strong>und</strong> der darauffolgende Akkord die I. Stufe ist“ (ebd., S. 96). Also zieht Schönberg aus der<br />

Tatsache, dass der Gr<strong>und</strong>ton des verminderten Dreiklangs Leitton ist, nicht die logische Konsequenz, dass nur<br />

die Terz des verminderten Dreiklangs verdoppelt werden kann.


39<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

aufwärts“ – ist nach Schönberg eine „Form der Auflösung“ bei Dissonanzen. 151 Die verminderte<br />

Quint f wird bei Schönberg vorläufig durch die Terz der II. oder den Gr<strong>und</strong>ton der IV. Stufe als<br />

Konsonanz eingeführt <strong>und</strong> dann schrittweise nach unten in den Gr<strong>und</strong>ton der III. Stufe aufge-<br />

löst. 152<br />

Abbildung 60: Vorbereitung <strong>und</strong> Auflösung des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe in Dur (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 55 <strong>und</strong> 58)<br />

Der verminderte Dreiklang auf der II. Stufe in Moll wird bei Schönberg durch die IV. oder die<br />

VI. Stufe vorbereitet <strong>und</strong> in die V. Stufe (mit Durterz) weitergeführt (Abb. 61). 153 Auch hier<br />

verdoppelt Schönberg den „Gr<strong>und</strong>ton“ des verminderten Dreiklangs, h.<br />

Abbildung 61: Vorbereitung <strong>und</strong> Auflösung des verminderten Dreiklangs der II. Stufe in Moll (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 116)<br />

Durch Erhöhen der sechsten <strong>und</strong> siebenten Tonleiterstufe (fis <strong>und</strong> gis in a-Moll) erhält Schönberg<br />

zwei weitere verminderte Dreiklänge in Moll, einen auf der VI. (fis-a-c in a-Moll) <strong>und</strong><br />

einen auf der VII. Stufe (gis-h-d) (Abb. 62).<br />

151 Schönberg, Harmonielehre, S. 54. Schönberg spricht von „Quartensprung aufwärts“, weil diese Bezeichnung<br />

seiner Meinung nach eher der „steigenden Intensität“ dieses Harmonieschritts entspricht (vgl. ebd., S. 135<br />

Anm.).<br />

152 Bis zu diesem Zeitpunkt, wo Schönberg den verminderten Dreiklang in seiner Harmonielehre erwähnt, möchte<br />

er für alle Akkordverbindungen ein „harmonisches Band“, das heißt: gemeinsame Töne bleiben liegen (vgl.<br />

Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 25). Würde in der Verbindung des verminderten Dreiklangs auf der<br />

VII. Stufe mit dem nachfolgenden Molldreiklang auf der III. Stufe das harmonische Band (hier h) bestehen<br />

bleiben, ließen sich Stimmkreuzungen <strong>und</strong> zu weite Stimmabstände nur schwer vermeiden (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 55/12b <strong>und</strong> 12d).<br />

153 Schönberg, Harmonielehre, S. 115.


40<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Abbildung 62: weitere verminderte Dreiklänge in Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 114)<br />

Der verminderte Dreiklang auf der VII. Mollstufe wird harmonisch ähnlich wie in Dur eingeführt<br />

(durch den Dreiklang auf der II. oder IV. Stufe). Die Auflösung erfolgt zwar auch durch<br />

Quintfall in die III. Stufe – hier aber um eine übermäßige Quint <strong>und</strong> in den übermäßigen Dreiklang<br />

(Abb. 63). Der Gr<strong>und</strong>ton des verminderten Dreiklangs auf der VII. Stufe in Moll (gis)<br />

bedarf einer anderen Behandlung als jener der VII. Stufe in Dur, da er nur „zu Leittonzwecken“<br />

erhöht wurde 154 : Die „Wendepunktgesetze“ 155 erfordern, dass gis (nach dem Liegenbleiben) ins<br />

a geführt wird – es darf also nicht verdoppelt werden. Insgesamt ist also nur die Verdopplung<br />

der Terz möglich. 156<br />

Abbildung 63: Vorbereitung <strong>und</strong> Auflösung des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe in Moll (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 125)<br />

Später in der Harmonielehre weist Schönberg auf eine „freiere Behandlung“ der VII. Stufe hin:<br />

Der dissonante Ton muss nicht vorbereitet werden, man kann ihn auch schrittweise erreichen;<br />

außerdem muss sich ein dissonanter Akkord nicht durch Quintfall des Gr<strong>und</strong>tons auflösen. 157 So<br />

kann der verminderte Dreiklang etwa stufenweise erreicht <strong>und</strong> verlassen werden (Abb. 64).<br />

154 Vgl. ebd., S. 112 f.<br />

155 Die „Wendepunktgesetze“ hat Schönberg zur Behandlung der „steigenden“ (melodische Molltonleiter – erhöhter<br />

VI. <strong>und</strong> VII. Skalenton) <strong>und</strong> „fallenden“ Mollskala (äolisches Moll) entworfen. Diese befassen sich mit der<br />

Erhöhung (bzw. Nicht-Erhöhung) des VI. <strong>und</strong> VII. Skalentons der Mollskala: In a-Moll muss gis nach a <strong>und</strong> fis<br />

nach gis geführt werden, g muss f <strong>und</strong> f muss e folgen (Schönberg, Harmonielehre, S. 113). Schönbergs „Wendepunktgesetze“<br />

besagen also (unter anderem), dass die beiden erhöhten Töne ( fis <strong>und</strong> gis) schrittweise aufwärts<br />

geführt werden müssen.<br />

156 Schönberg, Harmonielehre, S. 125. Auch die dissonante verminderte Quint darf nicht verdoppelt werden.<br />

157 Ebd., S. 171 f. Schönberg verweist auch darauf, dass auf diese Weise Harmoniefolgen mit verminderten Dreiklängen<br />

„zugänglich werden, die in der Praxis häufiger vorkommen als die von uns zuerst behandelte[n]“ (ebd.,<br />

S. 171).


41<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Abbildung 64: stufenweise Einführung <strong>und</strong> Auflösung des verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 171)<br />

In der Stufenfolge VII – I sieht Schönberg die VII. Stufe zwar als Vertreter der V. Stufe an 158 , er<br />

erwähnt aber nicht, dass die Akkordtöne des verminderten Dreiklangs Bestandteile des Dominantseptakkords<br />

darstellen. 159 Als Folge dieser Feststellung überträgt Schönberg die „gebräuchlichen<br />

Schritte“ der V. Stufe – V-I, V-VI, V-IV <strong>und</strong> V-II – auf die VII. Stufe (Abb. 65). 160<br />

Abbildung 65: Übertragung der „gebräuchlichen Schritte“ der V. Stufe auf die VII. Stufe (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 172)<br />

Die weiteren Notenbeispiele 161 Schönbergs zeigen die „freiere Behandlung“ der verminderten<br />

Dreiklänge der VII. Stufe in Dur <strong>und</strong> der II., VI. <strong>und</strong> VII. Stufe in Moll: Fast immer erscheint<br />

der verminderte Dreiklang in seiner ersten Umkehrung, als Sextakkord. 162 Die Dissonanzbehandlung<br />

der verminderten Quint scheint nicht bindend zu sein: In etwa der Hälfte der Beispiele<br />

verdoppelt Schönberg die verminderte Quint, was er zuvor nicht gestattet hatte, weil die verminderte<br />

Quint als Dissonanz einen „Zwangsweg“ habe. 163 Sehr häufig wird die Terz des verminderten<br />

Dreiklangs verdoppelt, <strong>und</strong> nur zweimal – beim verminderten Dreiklang auf der II.<br />

158 Ebd., S. 172.<br />

159 Zur Akkordfolge VII. Stufe – Dominantseptakkord (in C-Dur) bemerkt Schönberg nur folgendes: „das neu<br />

hinzutretende g im Baß […] macht […] den Eindruck, als ob es vorher bloß ausgelassen worden wäre“ (Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 98). Den verminderten Septakkord versteht Schönberg jedoch eindeutig als Bestandteil<br />

des Dominantseptnonakkords; dies macht sich bemerkbar in Schönbergs Bezeichnungsweise: den verminderten<br />

Septakkord h-d-f-as in C-Dur z.B. kennzeichnet Schönberg mit der Stufe I.<br />

160 Schönberg, Harmonielehre, S. 172.<br />

161 Ebd., S. 172/101 <strong>und</strong> 102.<br />

162 Die erste Umkehrung ist laut Schönberg die normale Erscheinungsweise des verminderten Dreiklangs; Gr<strong>und</strong>stellung<br />

<strong>und</strong> Quartsextakkord sind eher selten (Schönberg, Harmonielehre, S. 172).<br />

163 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 57. Eine der beiden verminderten Quinten wird meistens stufenweise abwärts<br />

aufgelöst, sie kann aber auch liegenbleiben (vgl. ebd., S. 172/102, T. 2 <strong>und</strong> letzter Takt) oder springen<br />

(vgl. ebd., T. 4). Die zweite verminderte Quint steigt entweder stufenweise aufwärts oder springt um eine Terz<br />

nach oben.


42<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Stufe in Moll – auch der Gr<strong>und</strong>ton. 164 Einzige Bedingung des Auflösungsakkords scheint in<br />

diesen Beispielen zu sein, dass der erhöhte VI. <strong>und</strong> VII. Skalenton nach den „Wendepunktgesetzen“<br />

behandelt wird, dass also fis nach gis <strong>und</strong> gis nach a geführt wird. Für die II. Stufe in Moll<br />

gibt es in diesen Beispielen keine bestimmte Behandlungsweise.<br />

Durch seine modifizierten Kirchentonarten erhält Schönberg vier weitere verminderte Dreiklänge<br />

(Abb. 66) – die sogenannten „künstlichen verminderten Dreiklänge“. 165 Zu diesen gelangt<br />

er, indem er den erhöhten VI. <strong>und</strong> VII. Skalenton der melodischen Molltonleiter auf die<br />

Kirchentonarten überträgt: z.B. h <strong>und</strong> cis in Dorisch auf d, fis in Mixolydisch auf g. Schönberg<br />

fasst die Kirchentonarten als Stufen in Dur auf, aber so, dass etwa die II. Stufe in d-Dorisch (eg-b<br />

in der unveränderten dorischen Kirchentonleiter) die III. Stufe in C-Dur ist. 166<br />

Abbildung 66: künstliche verminderte Dreiklänge (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 212)<br />

Diese künstlichen verminderten Dreiklänge „können so behandelt werden wie die VII in Dur<br />

oder, was meist besser ist, wie die II in Moll (fast ausschließlich als 6-<strong>Akkorde</strong>)“. 167 Die Verwendung<br />

als II. Stufe ist ein Quintfall nach dem Muster II-V in Moll. Wird der verminderte<br />

Dreiklang als VII. Stufe (also als Stellvertreter der V. Stufe) gebraucht, dient das Modell VII-I,<br />

VII-VI oder VII-IV als Vorlage (Abb. 67). 168<br />

164 Schönberg schließt die Gr<strong>und</strong>tonverdopplung nur beim (künstlichen) verminderten Dreiklang auf der VII. Stufe<br />

in Moll aus, wegen des „zu Leittonzwecken“ erhöhten Gr<strong>und</strong>tons – dies trifft nicht auf die II. Stufe in Moll <strong>und</strong><br />

die VII. Stufe in Dur zu.<br />

165 Schönberg, Harmonielehre, S. 211 f., 228.<br />

166 Vgl. Kapitel „<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg“.<br />

167 Schönberg, Harmonielehre, S. 228.<br />

168 Der verminderte Dreiklang auf der III. Stufe tanzt hier aus der Reihe: Als vierte Auflösungsmöglichkeit von eg-b<br />

wendet Schönberg das Muster VII-II an, in dem sich der Leitton e nach unten auflöst.


43<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

Abbildung 67: Auflösungsmöglichkeiten künstlicher verminderter Dreiklänge der I., III., IV. <strong>und</strong> V. Stufe<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 226)<br />

Zusammenfassung<br />

Riemann erkennt, dass der verminderte Dreiklang der VII. Stufe ein Dominantseptakkord ohne<br />

Gr<strong>und</strong>ton ist; den verminderten Dreiklang der II. Stufe fasst er – im Gegensatz zu Schenker <strong>und</strong><br />

Schönberg – subdominantisch auf: Er erhält ihn aus der Subdominante in Moll, als verkürzter<br />

Unter-Septimenakkord. Der verminderte Dreiklang der VII. Stufe – er hat immer Dominantfunktion<br />

– kann bei Riemann auch in Moll, der verminderte Dreiklang der II. Stufe – er vertritt<br />

immer die Subdominante – auch in Dur eingesetzt werden. Riemanns Interpretation des verminderten<br />

Dreiklangs in Dur <strong>und</strong> Moll unterscheidet sich in Bezug auf seine Verwendung also nicht<br />

von der heutigen Auffassung. Jedoch deutet Riemann aufgr<strong>und</strong> seines dualistischen Systems die<br />

Akkordtöne der beiden verminderten Dreiklänge unterschiedlich: Im verminderten Dreiklang<br />

der VII. Stufe ist h Terz <strong>und</strong> f Sept, im verminderten Dreiklang der II. Stufe ist umgekehrt f<br />

(Unter-)Terz <strong>und</strong> h (Unter-)Sept. Steht ein verminderter Dreiklang auf einer anderen Stufe als<br />

der II. oder VII., ist er Zwischendominante oder Modulationsakkord; in der neuen Tonart kann<br />

er die Funktion als VII. oder als II. Stufe einnehmen.<br />

Für Schenker ist der verminderte Dreiklang offensichtlich mit dem Dominantseptakkord<br />

verwandt; aus diesem Gr<strong>und</strong> ist bei ihm der verminderte Dreiklang der VII. Stufe meist Vertreter<br />

der V. Stufe <strong>und</strong> führt in die I. Stufe. Verminderte Dreiklänge, die durch chromatische Veränderungen<br />

entstanden sind haben dieselbe Funktion – sie „tonikalisieren“, sind also Zwischendominante<br />

zum folgenden Akkord. Die subdominantische Funktion des verminderten Drei-


44<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Dreiklang<br />

klangs erwähnt Schenker nicht – die Anerkennung einer anderen Funktion des verminderten<br />

Dreiklangs als zur Tonikalisierung würde gegen seine Auffassung des verminderten Dreiklangs<br />

als „eindeutiger“ Akkord sprechen.<br />

Schönberg löst den verminderten Dreiklang gr<strong>und</strong>sätzlich durch Quintfall auf (VII-III bzw.<br />

II-V). Erst durch eine freiere Behandlung der VII. Stufe in Form von stufenweiser Einführung<br />

durch sowie Auflösung zurück in die I. Stufe erkennt Schönberg eine Vertretungswirkung des<br />

verminderten Dreiklangs der VII. Stufe für den Dominantseptakkord – dennoch sieht Schönberg<br />

den verminderten Dreiklang nicht als unvollständigen Dominantseptakkord, obwohl er den<br />

verminderten Septakkord als verkürzten Dominantseptnonakkord betrachtet. Schönberg spricht<br />

ähnlich wie Schenker nur über die dominantische Funktion des verminderten Dreiklangs. Im<br />

Gegensatz zu Riemann <strong>und</strong> Schenker, die zwischendominantische verminderte Dreiklänge<br />

durch Alterationen erhalten, leitet Schönberg – der Gr<strong>und</strong>tonalterierung nicht akzeptiert – diese<br />

von den Kirchentonarten her.<br />

Halbverminderter Septakkord<br />

Der halbverminderte Septakkord ist der leitereigene Septakkord auf der VII. Stufe in Dur <strong>und</strong><br />

der II. Stufe in Moll (h-d-f-a in C-Dur bzw. a-Moll). Noch in der Klassik verstand man ihn als<br />

Septakkord, seit der Romantik fasst man ihn als verkürzten Nonenakkord auf. 169 Weil der halbverminderte<br />

Septakkord Töne der Dominante <strong>und</strong> der Subdominante enthält, kann er wie der<br />

verminderte Dreiklang sowohl als (Zwischen-)Dominante (verkürzter Dominantseptnonakkord)<br />

als auch als Subdominante (Mollsubdominante mit hinzugefügter Sext) verwendet werden. 170<br />

Ausschlaggebend für die Interpretation des halbverminderten Septakkords ist seine Stimmfüh-<br />

rung. 171<br />

Als VII. Stufe wird der halbverminderte Septakkord fast immer als verkürzter Dominantseptnonakkord<br />

eingesetzt; seine Akkordtöne stellen also Terz, Quint, Sept <strong>und</strong> Non eines Dominantseptnonakkords<br />

dar. Die Terz (h) muss als Leitton einen Halbton höher aufgelöst werden,<br />

die Non (a) wird abwärtsgeführt (Abb. 68). 172 Die Sept (f) wird jedoch meist nicht so streng<br />

behandelt, da man sie in der Regel nicht als Sept wahrnimmt. 173 Am häufigsten erfolgt die Auflösung<br />

des dominantisch verwendeten halbverminderten Septakkords in die Tonika oder (als<br />

Doppeldominante) in die Dominante. 174<br />

169 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 146.<br />

170 Ebd., S. 145.<br />

171 Ebd., S. 146.<br />

172 Ebd., S. 75. Um parallele Quinten zu vermeiden, muss die Quint bei darüberstehender Non nach oben weitergeführt<br />

werden (ebd.).<br />

173 Ebd., S. 146.<br />

174 Ebd.


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 68: halbverminderter Septakkord der VII. Stufe – Dominantfunktion (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 145)<br />

Als II. Stufe einer Tonart ist der halbverminderte Septakkord entweder Zwischendominante zur<br />

parallelen Durtonart oder (in erster Umkehrung) Mollsubdominante mit hinzugefügter Sext<br />

(„sixte ajoutée“) (Abb. 69). 175<br />

Abbildung 69: der halbverminderte Septakkord der II. Stufe als Zwischendominante oder Subdominante (vgl.<br />

Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 145)<br />

Auch der halbverminderte Septakkord der VII. Stufe kann unter Umständen als Mollsubdominante<br />

mit hinzugefügter Sext verstanden werden – innerhalb einer Zwischenkadenz zur Mollparallele<br />

(Abb. 70).<br />

Abbildung 70: halbverminderter Septakkord der VII. Stufe in (Zwischen-)Subdominantfunktion (vgl. Amon,<br />

Lexikon der Harmonielehre, S. 146)<br />

Riemann<br />

Riemann bespricht zunächst nur die subdominantische Funktion des halbverminderten Septakkords:<br />

Der halbverminderte Septakkord ist bei Riemann der „natürliche Septimenaccord“ in<br />

Moll. 176 Er setzt sich aus Mollsubdominante <strong>und</strong> hinzugefügter kleiner Unterseptime zusammen<br />

175 Diese doppelte Verwendung des Septakkords auf der II. Stufe (in Moll wie auch in Dur) bezeichnete Rameau<br />

als „double emploi“.<br />

176 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 141. Dieser Akkord entspricht der Mollsubdominante mit hinzugefügter<br />

Sext; die hinzugefügte Unterseptime (a-f-d-h) bzw. (Ober-)Sext (d-f-a-h) ist eine der „charakteristischen<br />

Dissonanzen“ (vgl. ebd., S. 191, 217 f.). Riemann nennt den halbverminderten Septakkord auch „Septimenaccord<br />

der Mollsubdominante“ (ebd., S. 229) <strong>und</strong> „Moll-Septimenaccord“ (ebd., S. 161, 164, 232). Diese Bezeichnungen<br />

sind für eine nicht-dualistische Auffassung irreführend, denn der Begriff „Mollseptakkord“ steht<br />

heute für einen Molldreiklang mit hinzugefügter kleiner (Ober-)Septime (d-f-a-c in a-Moll).<br />

45


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

<strong>und</strong> ist symmetrisch zum Dominantseptakkord (Abb. 71). Gr<strong>und</strong>ton des halbverminderten Septakkords<br />

ist laut Riemann seine Unterquint, also der Subdominant-Gr<strong>und</strong>ton (d im Beispiel). 177<br />

Abbildung 71: der halbverminderte Septakkord als Gegenstück zum Dominantseptakkord<br />

Nach Riemann folgt dem halbverminderten Septakkord normalerweise die Tonika, Moll oder<br />

Dur (Abb. 72). Analog zum Dominantseptakkord enthält der halbverminderte Septakkord neben<br />

der Unterterz (f) – sie führt abwärts in die Tonikaquint e – einen zusätzlichen Leittonschritt 178 :<br />

die für Riemann dissonante Unterseptime (h) löst sich aufwärts in die Tonikaterz (c bzw. cis)<br />

auf. 179 Hier unterscheidet sich Riemanns Sichtweise gr<strong>und</strong>legend von der heutigen Auffassung,<br />

in der das h als Konsonanz <strong>und</strong> das a (weil Sept bzw. dissonante Untersek<strong>und</strong>) als – schrittweise<br />

abwärts ins gis aufzulösende – Dissonanz betrachtet wird.<br />

Abbildung 72: Auflösung des halbverminderten Septakkords in die Tonika (vgl. Riemann, Handbuch der<br />

Harmonielehre, S. 142)<br />

Später relativiert Riemann die Auflösungsrichtung der Sept <strong>und</strong> legt die „Sek<strong>und</strong>fortschreitung<br />

[dissonanter Töne]“ 180 fest. Liegt jedoch die dissonante Untersept des Moll-Unterseptimenakkords<br />

(h, der eigentliche Gr<strong>und</strong>ton des halbverminderten Septakkords) im Bass, darf diese in<br />

den Gr<strong>und</strong>ton der Dominante springen (Abb. 73).<br />

177 Ebd., S. 142 f.<br />

178 Als „Leittonschritt“ bezeichnet Riemann jeden Schritt um eine kleine Sek<strong>und</strong>e (vgl. Riemann, Handbuch der<br />

Harmonielehre, S. 26).<br />

179 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 142. Die Auflösung des halbverminderten Septakkords bei Riemann<br />

ergibt sich als spiegelverkehrte Auflösung des Dominantseptakkords: Die Terz des Dominantseptakkords<br />

löst sich schrittweise nach oben in den Gr<strong>und</strong>ton der Tonika auf, die Sept wird abwärts in die Terz der Tonika<br />

geführt (ebd.). Als Gr<strong>und</strong> für die schrittweise nach unten (Dominantseptakkord) bzw. oben (Moll-Unterseptimenakkord)<br />

aufzulösende Sept nennt Riemann das „Auseinanderstreben der Sek<strong>und</strong>dissonanz“ zwischen<br />

Prim <strong>und</strong> Sept (ebd., S. 143).<br />

180 Ebd., S. 144 (im Original gesperrt).<br />

46


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 73: „irreguläre“ Auflösung des halbverminderten Septakkords in die Dominante (vgl. Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 144)<br />

Riemann begründet den Quintfall der Untersept (h-e im Beispiel) damit, dass die Untersept der<br />

Mollsubdominante gleichzeitig Akkordton der Dominante ist. Außerdem löst sich bei der Weiterführung<br />

der Dominante in die Tonika das h im Nachhinein schrittweise in den Tonikagr<strong>und</strong>ton<br />

auf 181 : Wenn also dem halbvermindertem Septakkord Dominante <strong>und</strong> Tonika folgen, wird<br />

die Untersept (h) – nach einem Quintfall – abwärts aufgelöst. 182<br />

In Riemanns zahlreichen Aufgaben 183 kommt der halbverminderte Septakkord sehr häufig<br />

vor. Diese Beispiele zeigen seine überwiegende Weiterführung in die Dominante. Nur gelegentlich<br />

folgt dem Akkord die von Riemann als „gewöhnlichste Art“ bezeichnete Weiterführung 184<br />

– jene in die (Moll-)Tonika. Vereinzelt wird der halbverminderte Septakkord auch als „Zwischensubdominante“<br />

angewandt. 185<br />

Der halbverminderte Septakkord kommt in diesen Beispielen mehrfach auch in einer bisher<br />

von Riemann noch nicht angesprochenen Funktion zum Einsatz: als VII. Stufe. Entweder einen<br />

Halbton unter (nach dem Modell VII-I) oder eine große Terz über dem anschließenden Akkord<br />

(VII-V). 186 Riemann deklariert den Akkord in den Beispielen eindeutig als subdominantisch 187 –<br />

181 Ebd., S. 144/145.<br />

182 Riemann betrachtet in der Harmoniefolge S VII – D + – o T das a zwar nicht als Sept, behandelt es aber so: a wird<br />

schrittweise abwärts ins gis geführt.<br />

183 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, vor allem S. 152-160, S. 177-186 <strong>und</strong> S. 205-212.<br />

184 Ebd., S. 142.<br />

185 Riemann bezieht mithilfe seiner Zwischendominanten <strong>Akkorde</strong> in eine Tonart ein, die er sonst nicht erklären<br />

kann. Als Zwischendominanten kann bei ihm neben der Dominante auch die Subdominante eingesetzt werden.<br />

Riemann erklärt z.B. die Harmoniefolge a-halbvermindert – G-Dominantseptakkord in C-Dur mithilfe einer<br />

„Zwischensubdominante“, als (S VII )D 7 .<br />

Eine Funktion als „Zwischensubdominante“ hat der halbverminderte Septakkord in folgenden Beispielen: S.<br />

155/392 (c VII -c 7 ), S. 157/407 (a VII -a 7 ) <strong>und</strong> S. 160/425 (c VII -c 7 ). c VII bedeutet „Unterseptimenaccord von c“ (d-fas-c),<br />

c 7 heißt „CDur-Septimenaccord“, also c-e-g-b (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 229).<br />

186 In folgenden Aufgaben von Riemanns Handbuch der Harmonielehre steht der halbverminderte Septakkord auf<br />

einer um einen Halbton tieferen Stufe als der nächste Akkord (VII-I): S. 155/392 (f VII -as 7 ), S. 157/404 (c VII -<br />

es + ), S. 157/407 (d VII -f 7 ), S. 158/411 (cis VII -e + ), S. 160/423 (dis VII -fis + ) <strong>und</strong> S. 160/425 (f VII -as 7 ). Die Folge c VII -<br />

es + etwa steht für d-f-as-c – es-g-b. f <strong>und</strong> as wirken hier wie Terz <strong>und</strong> Sept eines Dominantseptakkords, der<br />

halbverminderte Septakkord ist hier also Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton.<br />

Folgende Beispiele im Handbuch der Harmonielehre Riemanns enthalten einen halbverminderten Septakkord,<br />

dem ein Dominantseptakkord eine große Terz tiefer folgt (VII-V): S. 157/405 (c VII -b 7 ), S. 158/412 (cis VII -h 7 )<br />

<strong>und</strong> S. 160/426 (c VII -b 7 ). Beispielsweise bedeutet c VII -b 7 : d-f-as-c – b-d-f-as. Hier findet kein Funktionswechsel<br />

statt, das c (die „Prim“ der Mollsubdominante) wirkt wie ein Vorhalt zum Dominantgr<strong>und</strong>ton b, also wie die<br />

große Non eines Dominantseptnonakkords.<br />

47


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

obwohl eine Interpretation als verkürzter Zwischen-Dominantseptnonakkord hier angebracht<br />

wäre. 188<br />

Den halbverminderten Septakkord auf der VII. Stufe in Dur bezeichnet Riemann der heutigen<br />

Auffassung entsprechend als „grossen Durnonenaccord“ g-h-d-f-a ohne Gr<strong>und</strong>ton (Abb.<br />

74). 189<br />

Abbildung 74: Auflösung des „grossen Durnonenaccordes“ (ohne Gr<strong>und</strong>ton) 190 (vgl. Riemann, Handbuch der<br />

Harmonielehre, S. 164)<br />

Riemann merkt zwar an, dass der große Durnonenakkord aus dem Dominantseptakkord g-h-d-f<br />

<strong>und</strong> dem „Mollseptimenaccord“ h-d-f-a zusammengesetzt ist 191 , ignoriert aber, dass der verkürzte<br />

Dominantseptnonakkord (halbverminderter Septakkord auf der VII. Stufe in Dur) klangidentisch<br />

mit dem Mollsubdominant-Unterseptimenakkord (halbverminderter Septakkord der II.<br />

Stufe in Moll) ist – bei ungleicher Fortführung: h-d-f-a als VII. Stufe führt in die Tonika von C-<br />

Dur, h-d-f-a als II. Stufe folgt normalerweise die Dominante oder die Tonika von a-Moll.<br />

Schenker<br />

Der halbverminderte Septakkord – Schenker nennt ihn „Septakkord der siebenten Stufe in Dur,<br />

beziehungsweise der zweiten Stufe in Moll“ 192 – ist für Schenker ebenso wie der verminderte<br />

Dreiklang „eindeutig“, da er in Dur <strong>und</strong> in Moll leitereigen je nur einmal auftritt (Abb. 75).<br />

187 Riemanns Interpretation des Akkords als Subdominante lässt sich daran feststellen, dass da er ihn mit römischen<br />

Ziffern versieht. Die römischen Ziffern bedeuten „Unterklang“ <strong>und</strong> verweisen hier auf Riemanns Verwendung<br />

des halbverminderten Septakkords als S VII . Es ist aber ohne Weiteres möglich, dass Riemann den<br />

halbverminderten Septakkord an den oben genannten Stellen ebenfalls als dominantisch interpretiert, ihn aber<br />

als Unterseptimenakkord anschreibt, weil der verkürzte Dominantseptnonakkord an dieser Stelle noch nicht behandelt<br />

wurde (er ihn aber trotzdem in seinen Beispielen schon verwenden möchte).<br />

188 Die Funktion des halbverminderten Septakkords als Dominante kommt erst in einem späteren Abschnitt von<br />

Riemanns Harmonielehre zur Sprache (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164 f.). Nach Abhandlung<br />

des verkürzten Dominantseptnonakkords tritt kein Mollsubdominant-Unterseptimenakkord mehr in der Funktion<br />

als verkürzte Dominante auf.<br />

189 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164. Laut Riemann ist die Gr<strong>und</strong>tonauslassung zur Reduktion<br />

dieses fünfstimmigen Akkords auf einen vierstimmigen beim großen Durnonenakkord „am häufigsten“ (Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 164). Jedoch kommt der verkürzte Dominantseptnonakkord (mit großer<br />

Non) nur dreimal in den zahlreichen Aufgaben von Riemanns Handbuch der Harmonielehre zur Anwendung:<br />

S. 206/474, S. 211/496 <strong>und</strong> S. 212/501.<br />

190 Die Notenköpfe in Klammer sollen anzeigen, dass die Quinte d entweder in den Gr<strong>und</strong>ton c oder in die Terz e<br />

der Tonika geführt werden kann.<br />

191 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 164.<br />

192 Schenker, Harmonielehre, S. 247.<br />

48


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 75: der halbverminderte Septakkord ist „eindeutig“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 247)<br />

Diese Eindeutigkeit, die der halbverminderte Septakkord (auf der VII. Stufe) mit dem Dominantseptakkord,<br />

dem verminderten Dreiklang <strong>und</strong> dem verminderten Septakkord gemeinsam<br />

hat, ist für Schenker der Beweis einer „psychologischen Verwandtschaft“ 193 dieser <strong>Akkorde</strong>, die<br />

sich darin ausdrückt, dass sie „einander mit derselben Wirkung der Eindeutigkeit [vertreten]“ 194<br />

können. Schenker meint damit, dass man beim Auftreten des halbverminderten Septakkords auf<br />

der VII. Stufe (<strong>und</strong> des verminderten Dreiklangs <strong>und</strong> Septakkords) – im Sinn von verkürzten<br />

Dominantsept(non)akkorden – auf die V. Stufe rückschließen kann.<br />

Schenker erwähnt im weiteren Verlauf seiner Harmonielehre den halbverminderten Septakkord<br />

nicht mehr als mögliche II. Stufe (in Moll), sondern immer gemeinsam mit den anderen<br />

eindeutigen <strong>Akkorde</strong>n als Vertreter der V. Stufe (in Dur <strong>und</strong> Moll). Der bei Schenker typische<br />

zwischendominantische Gebrauch des verminderten Dreiklangs (Tonikalisierung eines steigenden<br />

Sek<strong>und</strong>schrittes) lässt sich auch auf den halbverminderten Septakkord anwenden (Abb. 76);<br />

die zusätzliche Sept zum verminderten Dreiklang dient zur noch stärkeren Tonikalisierung des<br />

nachfolgenden Akkords. 195<br />

Abbildung 76: Tonikalisierung bei steigenden Sek<strong>und</strong>schritten – der halbverminderte Septakkord als Zwischendominante<br />

Schönberg<br />

Der halbverminderte Septakkord auf der VII. Stufe in Dur wird bei Schönberg – der Behandlung<br />

des verminderten Dreiklangs auf der VII. Stufe entsprechend – zunächst durch den Moll-<br />

193 Ebd., S. 250.<br />

194 Ebd., S. 251.<br />

195 Ebd., S. 356 f. Wie auch der verminderten Dreiklang wird der zur Tonikalisierung eingesetzte halbverminderte<br />

Septakkord in der Analyse Schenkers als z.B. chromatisch veränderte III. Stufe mit Sept dargestellt, da es<br />

Schenker nicht um die Verdeutlichung der fallenden Quint, sondern um die der steigenden kleinen Sek<strong>und</strong> geht.<br />

49


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

dreiklang auf der II. oder IV. Stufe ein- <strong>und</strong> in die III. Stufe weitergeführt (Abb. 77), da „Quint<br />

<strong>und</strong> Sept des halbverminderten Septakkords vorbereitet <strong>und</strong> aufgelöst werden [müssen]“. 196<br />

Abbildung 77: Einführung <strong>und</strong> Auflösung des halbverminderten Septakkords (VII. Stufe in Dur) (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 95 <strong>und</strong> 98)<br />

In Moll gibt es bei Schönberg durch das zusätzliche Einbeziehen der erhöhten VI. <strong>und</strong> VII. Stufe<br />

der melodischen Mollskala insgesamt drei verschiedene halbverminderte Septakkorde, einen<br />

auf der II., einen weiteren auf der erhöhten VI. <strong>und</strong> einen dritten auf der erhöhten VII. Tonleiterstufe<br />

(Abb. 78). Vorbereitung <strong>und</strong> Weiterführung entsprechen derjenigen der VII. Stufe in<br />

Dur: verminderte Quint <strong>und</strong> kleine Sept werden schon früher eingeführt <strong>und</strong> schrittweise abwärts<br />

aufgelöst, der Gr<strong>und</strong>ton steigt um eine Quart bzw. fällt um eine Quint (Abb. 79). 197<br />

Abbildung 78: halbverminderte Septakkorde in Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 125)<br />

196 Schönberg, Harmonielehre, S. 96; vgl. ebd., S. 106. Schönberg bringt hier verschiedenste Beispiele (vgl. ebd.,<br />

S. 95-107). Aus ihnen ist ersichtlich, dass der halbverminderte Septakkord <strong>und</strong> seine beiden Vorbereitungsakkorde<br />

(die II. oder die IV. Stufe) in fast allen Umkehrungen erscheinen können. Wichtig ist Schönberg hier nur,<br />

dass verminderte Quint <strong>und</strong> Sept des halbverminderten Septakkords vorbereitet sind.<br />

Auflösungsakkord des halbverminderten Septakkords auf der VII. Stufe in Dur ist hier immer die III. Stufe –<br />

verminderte Quint f <strong>und</strong> kleine Sept a werden in allen Beispielen schrittweise abwärts weitergeführt (in Gr<strong>und</strong>ton<br />

e <strong>und</strong> Terz g der III. Stufe); Prim <strong>und</strong> Terz des halbverminderten Septakkords springen entweder beide (h-e<br />

<strong>und</strong> d-h wie im Beispiel) oder die Prim h bleibt liegen <strong>und</strong> d verdoppelt Gr<strong>und</strong>ton (d-e) oder Terz (d-g) der III.<br />

Stufe.<br />

197 Für die Auflösung des halbverminderten Septakkords auf der erhöhten VII. Stufe in Moll ergibt sich – wie beim<br />

verminderten Dreiklang – die „reguläre“ Auflösung in den übermäßigen Dreiklang auf der III. Stufe, erreicht<br />

durch einen übermäßigen Quint- bzw. verminderten Quartschritt.<br />

50


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 79: Einführung <strong>und</strong> Auflösung des halbverminderten Septakkords (II. Stufe in Moll) (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 125)<br />

Genaue Richtlinien für die Verwendung der halbverminderten Septakkorde gibt Schönberg<br />

nicht; den Beispielen kann man jedoch entnehmen, dass verschiedene Weiterführungen möglich<br />

sind. Generell kann man sagen, dass Schönberg für den Auflösungsakkord des halbverminderten<br />

Septakkords die verminderte Quint <strong>und</strong> die Sept schrittweise nach unten führt oder liegen<br />

lässt (Abb. 80).<br />

Abbildung 80: Auflösungsmöglichkeiten beim verminderten Septakkord auf der VII. Stufe <strong>und</strong> bei den künstlich<br />

verminderten Septakkorden auf der III. <strong>und</strong> IV. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 226)<br />

Im Kapitel über „vagierende <strong>Akkorde</strong>“ kommt Schönberg noch einmal ausführlicher auf den<br />

halbverminderten Septakkord zu sprechen, da er „in Wagners Harmonik eine große Rolle<br />

spielt“. 198 Schönberg bringt hier den halbverminderten Septakkord der II. Stufe in Zusammenhang<br />

mit der erniedrigten II. Stufe (Abb. 81). 199<br />

198 Schönberg, Harmonielehre, S. 310 f. Der halbverminderte Septakkord f-as-ces-es ist die enharmonische Verwechslung<br />

des Tristanakkords f-gis-h-dis.<br />

199 „Die einzige Verbindung, deren Erklärung Schwierigkeiten machen könnte, ist die mit dem Des- (oder des-)Akkord.<br />

Denn die müßten wir als II mit II bezeichnen. Hier geschähe also kein F<strong>und</strong>amentschritt“ (Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 309).<br />

51


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 81: halbverminderter Septakkord der II. Stufe in Verbindung mit der erniedrigten II. Stufe<br />

(Schönberg, Harmonielehre, S. 308)<br />

Um diese Harmoniefolge erklären zu können, leitet Schönberg den halbverminderten Septakkord<br />

zuerst von einer Umkehrung des übermäßigen Quintsextakkordes 200 ab <strong>und</strong> vermutet<br />

schließlich die Entstehung aus dem Dominantseptakkord über der VI. Stufe, der enharmonischen<br />

Verwechslung dieses übermäßigen Quintsextakkords (Abb. 82).<br />

Abbildung 82: Ableitung des halbverminderten Septakkords vom übermäßigen Quintsextakkord bzw. Dominantseptakkord<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308)<br />

Dagegen sprechen für Schönberg aber die gängigen Weiterführungen des halbverminderten<br />

Septakkords der II. Stufe in die V., III. oder I. Stufe (Abb. 83), denn in diesem Fall würde der<br />

Gr<strong>und</strong>ton d – als enharmonisch verwechselte Schreibweise von eses, der verminderten Quint<br />

von as – ein leiterfremder Ton sein. 201<br />

Abbildung 83: „gebräuchlichste Auflösungen“ des halbverminderten Septakkords der II. Stufe (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 308)<br />

Für Schönberg ist die Abstammung des halbverminderten Septakkords (<strong>und</strong> auch anderer <strong>vagierender</strong><br />

<strong>Akkorde</strong>) aber im Prinzip nebensächlich, weil es so viele mögliche Verbindungen mit<br />

ihnen gibt. Als Beispiel dafür führt Schönberg unterschiedliche Arten der Weiterführung des<br />

halbverminderten Septakkords bei Wagner an (Abb. 84). 202<br />

200 Vgl. Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“.<br />

201 Schönberg, Harmonielehre, S. 309.<br />

202 Diese vagierenden <strong>Akkorde</strong> werden häufig durch Chromatik miteinander verb<strong>und</strong>en – aus diesem Gr<strong>und</strong> sind<br />

Schönbergs Meinung nach solche komplizierten Ableitungen nicht erforderlich, um diese Bildungen zu erklären<br />

(vgl. ebd., S. 312).<br />

52


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Halbverminderter Septakkord<br />

Abbildung 84: Auflösungen des halbverminderten Septakkords bei Wagner (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 308 <strong>und</strong> 311)<br />

Zusammenfassung<br />

Wie der verminderte Dreiklang hat auch der halbverminderte Septakkord bei Riemann zwei<br />

unterschiedliche Funktionen: Einerseits ist er Vertreter der Subdominante (als Mollunterseptimenakkord),<br />

andererseits hat er Dominantfunktion (als verkürzter Dominantseptnonakkord). In<br />

Bezug auf den halbverminderten Septakkord auf der II. Stufe (als Subdominantvertreter) muss<br />

Riemann aufgr<strong>und</strong> des Systemzwangs zwei Einschränkungen hinnehmen: Er gibt die Verbindung<br />

zur Tonika (S VII – (o) T) wegen ihrer Symmetrie zur Harmoniefolge D 7 –T als herkömmliche<br />

an (obwohl dem halbverminderten Septakkord hauptsächlich die Dominante folgt) <strong>und</strong> er betrachtet<br />

den Gr<strong>und</strong>ton als Sept <strong>und</strong> damit als Dissonanz – das muss Riemann, denn in seinem<br />

System ist der Gr<strong>und</strong>ton des halbverminderten Septakkords auf der II. Stufe in Moll Untersept.<br />

Der halbverminderte Septakkord wird bei Schenker – ebenso wie der verminderte Dreiklang<br />

– nur als VII. Stufe <strong>und</strong> in seiner Funktion als Vertreter der Dominante angesprochen, er sieht<br />

ihn jedoch nicht als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton an. Dieser diatonische Septakkord<br />

auf der VII. Stufe wird bei ihm zur Verdeutlichung der Tonikalisierung bei einem Harmonieschritt<br />

nach dem Modell VII-I herangezogen. Diese Auffassung Schenkers stimmt nicht mit der<br />

Praxis überein, denn der halbverminderte Septakkord wird hauptsächlich als II. Stufe <strong>und</strong> in<br />

subdominantischer Funktion verwendet.<br />

Bei Schönberg wird der halbverminderte Septakkord zunächst ähnlich behandelt wie der<br />

verminderte Dreiklang: mit Auflösung durch Quintfall des F<strong>und</strong>aments, also VII-III oder II-V.<br />

Schönberg spricht aber nicht über eine dominantische oder subdominantische Funktion des<br />

halbverminderten Septakkords, denn er betrachtet ihn – nach dem Vorbild Wagners – als Akkord,<br />

der überall hinführen kann.<br />

Verminderter Septakkord<br />

Der verminderte Septakkord h-d-f-as – in harmonischem (c-)Moll auf der VII. Stufe leitereigen<br />

– wurde im Barock als Vorhaltsbildung erklärt 203 , inzwischen wird er jedoch in der Regel als<br />

Dominantseptnonakkord (mit kleiner Non) ohne Gr<strong>und</strong>ton angesehen. 204<br />

203 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 317 (Anm.).<br />

53


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Drei Akkordtöne des verminderten Septakkords haben Leittonfunktion: der Gr<strong>und</strong>ton des<br />

verminderten Septakkords (die Terz der Dominante) strebt in den Gr<strong>und</strong>ton der Tonika, die<br />

verminderte Quint (bzw. kleine Sept) in die Terz <strong>und</strong> die verminderte Sept (bzw. kleine None)<br />

möchte in die Quint der Tonika aufgelöst werden. Die Weiterführung der Terz (bzw. Quint) ist<br />

frei, meist löst sie sich jedoch ebenfalls in die Terz der Tonika auf (Abb. 85).<br />

Abbildung 85: Leittonfunktion der Akkordtöne eines verminderten Septakkords (Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 317)<br />

Der verminderte Septakkord wird hauptsächlich als Zwischendominante verwendet 205 , dazu<br />

werden Akkordtöne leitereigener Klänge hoch- oder tiefalteriert 206 (Abb. 86).<br />

Abbildung 86: der verminderte Septakkord als Zwischendominante durch Hoch- oder Tiefalteration leitereigener<br />

Akkordtöne (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 319)<br />

Bei der doppeldominantischen Verwendung des verminderten Septakkords können Schwierigkeiten<br />

in der Stimmführung auftreten: Wenn die verminderte Sept des verminderten Septakkords<br />

(bzw. die kleine None des verkürzten Dominantseptnonakkords) in der Melodie steht,<br />

sind in einer Stimme Sprünge unerlässlich, um die Aufeinanderfolge von verminderter (a-es)<br />

<strong>und</strong> reiner Quint (g-d) zu vermeiden (Abb. 87, T. 1 <strong>und</strong> 2). 207 Aus diesem Gr<strong>und</strong> löst sich der<br />

doppeldominantische verminderte Septakkord häufig in den kadenzierenden Quartsextakkord<br />

der Dominante auf <strong>und</strong> wird dann über den Dominantseptakkord in die Tonika geführt (Abb.<br />

87, T. 3 <strong>und</strong> 4). 208<br />

204 Ebd., S. 35, 146; de la Motte: S. 282 ff.<br />

205 Ebd., S. 319.<br />

206 Ebd., S. 35.<br />

207 Ebd., S. 318. Die Terz des Auflösungsakkords (der Dominante) darf hier nicht verdoppelt werden, da es sich<br />

um den Leitton handelt. An anderer Stelle schreibt Amon, dass die Folge von verminderter <strong>und</strong> reiner Quint<br />

„akzeptierbar“ ist (ebd., S. 75).<br />

208 Ebd., S. 319.<br />

54


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 87: Auflösung des als Doppeldominante verwendeten verminderten Septakkords (Amon, Lexikon<br />

der Harmonielehre, S. 318 <strong>und</strong> 319)<br />

Kehrt man den verminderten Septakkord um, kommt es wieder zu einem verminderten Septakkord,<br />

da der Akkord aus drei kleinen Terzen besteht <strong>und</strong> der oktavierte Gr<strong>und</strong>ton eine weitere<br />

kleine Terz über dem Akkord liegt. 209 Durch enharmonische Umdeutung einzelner Akkordtöne<br />

entstehen aus dem verminderten Septakkord h-d-f-as verminderte Septakkorde in sechs weiteren<br />

Tonarten: in Es-Dur bzw. es-Moll, Ges/Fis-Dur bzw. -Moll <strong>und</strong> A-Dur bzw. a-Moll (Abb. 88).<br />

Ein einziger verminderter Septakkord – von denen es insgesamt nur drei klangverschiedene<br />

gibt 210 – ist also durch enharmonische Umdeutung „leitereigen“ 211 in acht verschiedenen Tonarten.<br />

Abbildung 88: ein verminderter Septakkord ist durch enharmonische Verwechslung leitereigen in acht verschiedenen<br />

Tonarten (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 184)<br />

Bei regulärer Weiterführung des verminderten Septakkords ist keiner seiner Töne im Auflösungsakkord<br />

enthalten (Abb. 89, T. 1). Es gibt aber noch andere Weiterführungsmöglichkeiten<br />

des verminderten Septakkords: die verminderte Sept kann etwa liegen bleiben <strong>und</strong> zum Gr<strong>und</strong>ton<br />

eines Durdreiklangs werden 212 (Abb. 89, T. 2-4).<br />

Abbildung 89: weitere Auflösungsmöglichkeiten des verminderten Septakkords (Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 320)<br />

209 Die in den Umkehrungen von h-d-f-as entstehende übermäßige Sek<strong>und</strong>e as-h entspricht einer kleinen Terz (asces<br />

oder gis-h).<br />

210 Diese drei klangverschiedenen verminderten Septakkorde – z.B. h-d-f-as, c-es-ges-heses <strong>und</strong> cis-e-g-b – bilden<br />

übrigens die (alterierten) Septakkorde der VII. Stufe von Tonika, Dominante (c-es-ges-heses als fis-a-c-es) <strong>und</strong><br />

Subdominante (cis-e-g-b als e-g-b-des) einer Tonart (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 320).<br />

211 „Leitereigen“ ist der verminderte Septakkord – wie oben angemerkt – selbstverständlich nur in harmonischem<br />

Moll, <strong>und</strong> zwar als VII. Stufe (bzw. als verkürzter Dominantseptakkord). Als Doppel- oder Zwischendominante<br />

gehört der verminderte Septakkord unzähligen weiteren Tonarten an.<br />

212 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 320.<br />

55


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Der verminderte Septakkord ist schon wegen seiner Zugehörigkeit zu vier Tonarten als „universales<br />

Modulationsmittel“ bekannt 213 ; eine weitere Modulationsmöglichkeit bietet sich mit der<br />

Tiefalteration eines Akkordtons (Abb. 90) oder mit der Hochalteration von drei Akkordtönen<br />

(Abb. 91): der verminderte Septakkord wird so zu einem (Zwischen-)Dominantseptakkord. 214<br />

Abbildung 90: Tiefalteration eines Tons des verminderten Septakkords – ein Dominantseptakkord entsteht<br />

(Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 181)<br />

Abbildung 91: Hochalteration dreier Töne des verminderten Septakkords – ein Dominantseptakkord entsteht<br />

(Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 182)<br />

Riemann<br />

Der „kleine Terznonen-Accord“ – Riemanns Bezeichnung für den verminderten Septakkord –<br />

ist ein „kleiner Nonenaccord“ ohne „Hauptton“. 215 Dieser „kleine Nonenaccord“ ist für Riemann<br />

eine Zusammensetzung „des Gegenklangs mit dem schlichten Quintklange“ 216 : In Dur<br />

entsteht er aus einer Verbindung der Dominante <strong>und</strong> der Mollsubdominante (ohne Quint); in<br />

Moll setzt Riemann dafür die Mollsubdominante mit der Durdominante (ohne Prim) zusammen<br />

(Abb. 92). 217<br />

Abbildung 92: Entstehung des kleinen Nonenakkords in Dur <strong>und</strong> Moll<br />

213 Ebd., S. 317. Der verminderte Septakkord ist durch enharmonische Umdeutung seiner Akkordtöne leitereigen<br />

in vier verschiedenen – eine kleine Terz voneinander entfernten – harmonischen Molltonarten.<br />

214 Ebd., S. 54, 181.<br />

215 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 166 (im Original gesperrt). Der Hauptton in Dur entspricht dem<br />

Gr<strong>und</strong>ton, der Hauptton in Moll ist bei Riemann der höchste Ton des Akkords. Der verminderte Dreiklang ist<br />

ein Dur- bzw. Mollseptakkord ohne Hauptton.<br />

216 Ebd.<br />

217 Riemann begründet den leiterfremden Ton im verminderten Septakkord also mit „Molldur“ <strong>und</strong> „Durmoll“.<br />

56


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Riemann bezeichnet den kleinen Nonenakkord als Vorhaltsakkord, da die kleine None (as in gh-d-f-as<br />

bzw. h in h-d-f-as-c) den „Ober-Leitton zur Oktave“ 218 bildet. Gleichzeitig ist dies für<br />

ihn die Begründung, wieso der kleine Nonenakkord meist ohne Hauptton vorkommt – als h-d-fas<br />

in C-Dur bzw. gis-h-d-f in a-Moll (Abb. 93). Ebenso wie der verminderte Dreiklang (<strong>und</strong> der<br />

halbverminderte Septakkord der VII. Stufe) wird der verminderte Septakkord bei Riemann mit<br />

durchgestrichenem Klangbuchstaben bzw. Funktionszeichen dargestellt.<br />

Abbildung 93: der verminderte Septakkord als kleiner Nonenakkord ohne Hauptton<br />

Riemann erkennt, dass man den „kleinen Terznonen-Accord“ in Moll genauso wie jenen in Dur<br />

als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton verstehen kann, er schließt aber die Auslegung des<br />

Akkords als Mollsubdominante nicht aus. 219 Für Riemann ist eine Deutung des verminderten<br />

Septakkords als Subdominante dann erforderlich, wenn der Gr<strong>und</strong>ton der Mollsubdominante (d)<br />

in den Gr<strong>und</strong>ton der Tonika geführt wird (Abb. 94).<br />

Abbildung 94: der verminderte Septakkord in Subdominantfunktion (Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 167)<br />

Der verminderte Septakkord kann für Riemann aber auch alterierte Subdominante in Dur sein,<br />

wenn es die Stimmführung verlangt (Abb. 95).<br />

218 Ebd. (im Original teilweise gesperrt).<br />

219 Ebd. An der entsprechenden Textstelle über den verminderten Dreiklang (ebd., S. 146) erwähnt Riemann nicht<br />

die mögliche Deutung der „verkürzten Unterseptimenakkords“ als Dominantseptakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton – jedoch<br />

holt er dies im Kapitel über Modulation nach. Der Gr<strong>und</strong> ist der, dass bei Riemann der verminderte Dreiklang<br />

in Moll eine von der in Dur abweichende Auflösung zeigt (der verminderte Dreiklang in Moll löst sich –<br />

als II. Stufe – in die Dominante auf, jener in Dur führt – als VII. Stufe – in die Tonika); der verminderte Septakkord<br />

in Moll wird bei Riemann jedoch gleich aufgelöst wie jener in Dur, da er sich sowohl in Dur als auch in<br />

Moll auf der VII. Stufe befindet.<br />

57


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 95: der verminderte Septakkord als alterierte Dursubdominante (Riemann, Handbuch der Harmonielehre,<br />

S. 167)<br />

Auch bemerkt Riemann, dass der verminderte Septakkord durch die enharmonische Verwechslung<br />

seiner Bestandteile sehr gut in der Modulation eingesetzt werden kann, da bei diesem Akkord<br />

„kein Klang vollständig vertreten <strong>und</strong> immer der Hauptton ausgelassen ist“. 220 Jedoch ist<br />

Riemann derselben Meinung wie Schönberg: der verminderte Septakkord ist „nur bei seltener<br />

Anwendung von guter Wirkung“. 221 Durch Hoch- bzw. Tiefalterieren des höchsten <strong>und</strong>/oder des<br />

tiefsten Akkordtons bei den Septakkorden der Hauptklänge erhält Riemann weitere verminderte<br />

Septakkorde (Abb. 96). 222 Jeder verminderte Septakkord kann dann Dominante oder Doppeldominante<br />

in einer neuen Tonart sein.<br />

Abbildung 96: weitere verminderte Septakkorde durch Hoch- <strong>und</strong>/oder Tiefalterieren von Akkordtönen<br />

Riemann erkennt, dass der verminderte Septakkord durch enharmonische Verwechslung seiner<br />

Bestandteile (Abb. 97) in alle Tonarten führen kann <strong>und</strong> zählt ihn daher nicht zu den „charakteristischen<br />

Dissonanzen“ einer Tonart. 223<br />

220 Ebd., S. 167.<br />

221 Ebd., vgl. auch ebd., S. 220; Schönberg, Harmonielehre, S. 234 f., 287 f.<br />

222 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 219 f.<br />

223 Ebd., S. 220. Am Beginn des Kapitels zählte Riemann den verminderten Septakkord ebenso wie den verminderten<br />

Dreiklang zu diesen eine bestimmte Tonart herbeiführenden <strong>Akkorde</strong>n (ebd., S. 218/219). Der Ausschluss<br />

des verminderten Septakkords aus dieser „distinguierten Gesellschaft“ (ebd., S. 220) der charakteristischen<br />

Dissonanzen zeigt Riemanns andersartige Auslegung der enharmonischen Verwechslungsmöglichkeit<br />

des verminderten Septakkords gegenüber Schenker, für den der verminderte Septakkord auch als enharmonische<br />

Verwechslung eine „eindeutige Erscheinung“ ist (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 251 <strong>und</strong> S. 444).<br />

58


Abbildung 97: enharmonische Verwechslung der verminderten Septakkorde<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Schenker<br />

Der verminderte Septakkord ist die „eindeutigste Erscheinung“ in Schenkers System: Er entsteht<br />

durch die Mischung von Dur <strong>und</strong> Moll <strong>und</strong> kann aus diesem Gr<strong>und</strong> nur auf der VII. Stufe<br />

vorkommen. 224 Der verminderte Septakkord g-b-des-fes etwa kann nur auf der VII. Stufe von<br />

As-Dur-Moll stehen (Abb. 98).<br />

Abbildung 98: der verminderte Septakkord als „eindeutigste Erscheinung“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S.<br />

247)<br />

Auch der verminderte Septakkord wird bei Schenker zur Tonikalisierung – also als eine Art<br />

Zwischendominante – verwendet: dazu werden Akkordtöne leitereigener <strong>Akkorde</strong> so chromatisch<br />

verändert <strong>und</strong> mit verminderter Sept ausgestattet, dass sie einen verminderten Septakkord<br />

einen Halbton unter dem nächsthöheren leitereigenen Akkord ergeben (Abb. 99). 225<br />

224 Schenker, Harmonielehre, S. 251. Der verminderte Septakkord ergibt sich bei einer Skala mit großer Sept (h in<br />

C-Dur/c-Moll) <strong>und</strong> kleiner Sext (as in C-Dur/c-Moll). Diese Kombination findet sich in der zweiten <strong>und</strong> vierten<br />

Mischungsreihe Schenkers: Die zweite Mischungsreihe ist Dur mit erniedrigter sechster Stufe, sie entspricht<br />

Riemanns „Molldur“; die vierte Mischungsreihe ist Moll mit erhöhter siebenter Stufe, also harmonisches Moll<br />

bzw. Riemanns „Durmoll“ (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 110).<br />

Die anderen „eindeutigen Erscheinungen“ – Dominantseptakkord, verminderter Dreiklang <strong>und</strong> halbverminderter<br />

Septakkord – sind hingegen leitereigen auf je einer Stufe in Dur <strong>und</strong> Moll möglich: der Dominantseptakkord<br />

steht leitereigen auf der V. Stufe in Dur <strong>und</strong> auf der VII. in Moll, der verminderte Dreiklang <strong>und</strong> der halbverminderte<br />

Septakkord befinden sich auf der VII. Stufe in Dur <strong>und</strong> der II. Stufe in Moll.<br />

225 Schenker, Harmonielehre, S. 357.<br />

59


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 99: Tonikalisierung bei steigenden Sek<strong>und</strong>schritten – der verminderte Septakkord als Zwischendominante<br />

Schenker spricht die Modulationsfähigkeit des verminderten Septakkords nur sehr knapp an,<br />

indem er die vier möglichen enharmonischen Verwechslungen des verminderten Septakkords<br />

zeigt (Abb. 100). Die „Lehrbücher“ befürworten die Verwendung des verminderten Septakkords<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner „Eindeutigkeit als rasch <strong>und</strong> sicher funktionierendes Modulationsmittel“. 226<br />

Abbildung 100: die enharmonischen Verwechslungen des verminderten Septakkords (Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 444)<br />

Schönberg<br />

Dem verminderten Septakkord – leitereigen auf der erhöhten VII. Stufe in Moll vorhanden –<br />

folgt bei Schönberg zuerst wie dem halbverminderten Septakkord nur der übermäßige Dreiklang<br />

auf der III. Stufe 227 (Abb. 101, T. 1). Diese Verbindung ist motiviert durch die Dissonanzbehandlung<br />

durch Quintfall des F<strong>und</strong>aments 228 – in Moll ist dieser F<strong>und</strong>amentschritt „leitereigen“<br />

übermäßig. Weiters sind noch Verbindungen des verminderten Septakkords mit der I., IV., V. 229<br />

<strong>und</strong> VI. Stufe möglich (Abb. 101, T. 2-5). Wichtig ist für Schönberg, dass die erhöhte VII. Skalenton<br />

(gis im Beispiel) entweder ins a geführt wird oder auf demselben Ton bleibt. Auch verminderte<br />

Quint <strong>und</strong> verminderte Sept lösen sich entweder schrittweise nach unten auf oder bleiben<br />

liegen.<br />

226 Ebd., S. 444.<br />

227 Schönberg, Harmonielehre, S. 173 f.<br />

228 Vgl. ebd., S. 54 f.<br />

229 Bei der Verbindung des verminderten Septakkords auf der VII. Stufe mit dem Dominantseptakkord entgeht<br />

Schönberg, dass die verminderte Sept f nur Vorhalt des Dominantgr<strong>und</strong>tons e ist.<br />

60


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 101: Auflösung des verminderten Septakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 174)<br />

Als nächstes bildet Schönberg den verminderten Septakkord auf jenen Tönen der Dur- <strong>und</strong><br />

Mollskala, die einen Halbton unter dem nächsten leitereigenen Ton liegen: in Dur auf der III.<br />

<strong>und</strong> VII. Stufe, in Moll zusätzlich zur erhöhten VII. auf der II. <strong>und</strong> V. Stufe (Abb. 102).<br />

Abbildung 102: weitere verminderte Septakkorde<br />

Dann errichtet Schönberg verminderte Septakkorde auf den Terzen der Nebendominanten, da<br />

diese „tatsächlich siebente Töne sind“ 230 ; in C-Dur also auf fis, gis, cis <strong>und</strong> dis (Abb. 103).<br />

Abbildung 103: verminderte Septakkorde auf den Terzen der Nebendominanten<br />

Schönberg ist gegen die Vorstellung, auf alterierten Tönen einer Skala verminderte Dreiklänge<br />

oder Septakkorde aufzubauen <strong>und</strong> findet endlich die „Auffassung eines fehlenden Gr<strong>und</strong>tons<br />

[…] zweckmäßiger <strong>und</strong> folgenreicher“ 231 , weil sie dem „Vorbild“ – dem Durdreiklang – näher<br />

ist. Schönberg lässt offen, ob er derselben Meinung ist. Denn zunächst teilt er selbst diese Ansicht<br />

nicht, da für ihn „die wichtigste <strong>und</strong> einfachste Funktion des verminderten 7-Akkords […]<br />

die trugschlußartige [Auflösung ist]: F<strong>und</strong>ament eine Stufe aufwärts (VII. in die I.)“, nicht die<br />

Annahme der „Theorie“, die „die Auflösung auch dieses Akkords auf den Quartenschritt aufwärts<br />

des F<strong>und</strong>aments [zurückführt]“ <strong>und</strong> den verminderten Septakkord als „9-Akkord mit ausgelassenem<br />

Gr<strong>und</strong>ton“ bezeichnet. 232 Hier widerspricht sich Schönberg, denn in den nachfolgenden<br />

Beispielen übernimmt er die Annahme der „Theorie“ <strong>und</strong> bezeichnet die verminderten<br />

Septakkorde als verkürzte Nonakkorde, mit der Stufe ihres nicht vorhandenen Gr<strong>und</strong>tons: z.B.<br />

230 Schönberg, Harmonielehre, S. 230.<br />

231 Ebd., S. 230.<br />

232 Ebd., S. 230 f.<br />

61


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

gibt Schönberg für den verminderten Septakkord h-d-f-as in C-Dur nicht die VII. sondern die V.<br />

Stufe an. 233 Damit unterscheiden sich Schönbergs Sichtweisen von vermindertem Dreiklang <strong>und</strong><br />

vermindertem Septakkord, denn h-d-f in C-Dur bezeichnet Schönberg als VII. Stufe.<br />

Schönberg bildet auf jeder Dur- bzw. Mollstufe Nonenakkorde ohne Gr<strong>und</strong>ton (Abb. 104);<br />

er möchte aber zwei <strong>Akkorde</strong> davon zunächst nicht verwenden, weil sie zu leiterfremden Tönen<br />

führen: den verminderten Septakkord über der IV. (weggelassenen) Dur- bzw. VI. Mollstufe,<br />

der nach b führt, <strong>und</strong> jenen auf der IV. Mollstufe, weil das fis ins gis geführt werden müsste. 234<br />

Abbildung 104: Nonenakkorde ohne Gr<strong>und</strong>ton auf allen Dur- bzw. Mollstufen (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 231)<br />

Der verminderte Septakkord braucht laut Schönberg aufgr<strong>und</strong> seiner Zusammensetzung – er ist<br />

der erste der beiden „eigentlich vagierenden“ 235 <strong>Akkorde</strong> – keine Vorbereitung; eine „stufenweise“<br />

oder „chromatische“ Einführung wäre jedoch förderlich. 236<br />

Durch enharmonische Verwechslung einzelner Akkordtöne ist ein verminderter Septakkord<br />

leitereigene VII. Stufe in vier verschiedenen Molltonarten 237 (Abb. 105); insgesamt kann ein<br />

verminderter Septakkord laut Schönberg auf mindestens 44 verschiedene Arten aufgefasst werden<br />

(Abb. 106). 238<br />

233 Vgl. ebd. S. 235-230, Notenbeispiele 140 <strong>und</strong> 141/a <strong>und</strong> 141/b.<br />

234 Nach dem „zweiten Wendepunkt“ von Schönbergs „Wendepunktgesetzen“ darf der erhöhte sechste Skalenton<br />

(fis in a-Moll) nur in den erhöhten siebenten Skalenton (gis) geführt werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 113).<br />

235 Schönberg, Harmonielehre, S. 234. „Eigentlich vagierend“ bedeutet, dass der Akkord ohne Alterierungen, also<br />

schon „seiner Natur nach“ vagierend ist (ebd.). Der zweite „eigentlich vagierende“ Akkord ist der übermäßige<br />

Dreiklang (vgl. ebd., S. 291 f.).<br />

236 Ebd., S. 231.<br />

237 Schönberg bemerkt auch, dass die vier unterschiedlichen ausgelassenen Gr<strong>und</strong>töne dieser Nonenakkorde – g, b,<br />

des/cis <strong>und</strong> e im Beispiel – den zweiten von insgesamt drei möglichen verschiedenen verminderten Septakkorden<br />

ergeben (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 442). Die Begründung für einen möglichen Zusammenklang<br />

mit dem dritten verminderten Septakkord – dis, fis, a <strong>und</strong> c, nebenbei bemerkt die mit dem ersten verminderten<br />

Septakkord erreichten Tonarten –, wodurch sich insgesamt alle zwölf Töne ergeben, ist meiner Meinung nach<br />

nicht einleuchtend (vgl. ebd.).<br />

238 Zwölf weitere Bedeutungen hat Schönberg ausgeklammert bzw. nicht in seine Tabelle aufgenommen: Bei den<br />

44 Möglichkeiten nicht aufgezählt sind die Funktion des verminderten Septakkords als Nonenakkord ohne<br />

Gr<strong>und</strong>ton über der VI. Mollstufe in d-, f-, as- <strong>und</strong> h-Moll bzw. über der IV. Stufe in D-, F-, As- <strong>und</strong> H-Dur <strong>und</strong><br />

d-, f-, as- <strong>und</strong> h-Moll (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 233).<br />

62


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 105: enharmonische Verwechslungen eines verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 231)<br />

Abbildung 106: die 44 plus 12 möglichen Bedeutungen eines verminderten Dreiklangs (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 233)<br />

h-d-f-as kann auf folgenden Stufen Nonenakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton sein: 239<br />

Dur<br />

I II III IV V VI VII<br />

C ● ● C<br />

Cis (Des) ● ● Cis (Des)<br />

D ● ○ ● D<br />

Es ● ● Es<br />

E ● ● E<br />

F ● ○ ● F<br />

Fis (Ges) ● ● Fis (Ges)<br />

G ● ● G<br />

As ● ○ ● As<br />

A ● ● A<br />

B ● ● B<br />

H ● ○ ● H<br />

Moll<br />

I II III IV V VI VII<br />

c ● ● c<br />

cis (des) ● ● cis (des)<br />

d ● ○ (●) d<br />

es ● ● es<br />

e ● ● e<br />

f ● ○ (●) f<br />

fis (ges) ● ● fis (ges)<br />

g ● ● g<br />

as ● ○ (●) as<br />

a ● ● a<br />

b ● ● b<br />

h ● ○ (●) h<br />

239 Lesart der Tabelle: h-d-f-as kann in C-Dur als Nonenakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton auf der III. oder V. Stufe stehen;<br />

auf der III. Stufe als (e-)gis-h-d-f, auf der V. Stufe als (g-)h-d-f-as. Die nicht ausgefüllten Kreise (nur in der<br />

Spalte der IV. Stufe) sind jene Funktionen des verminderten Septakkords, die Schönberg in seiner Tabelle nicht<br />

erwähnt, die eingeklammerten ausgefüllten Kreise (nur für das Vorkommen auf der VI. Mollstufe) stehen auch<br />

bei Schönberg in Klammern.<br />

63


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Für Schönberg ist die Verbindung des verminderten Septakkords mit allen Stufen möglich 240 ,<br />

jedoch will er den verminderten Septakkord „nur dort [anwenden], wo diese Stufe […] auch<br />

sonst […] gesetzt werden kann“ 241 <strong>und</strong> „seine leiterfremden Töne sich ihrer Leittonrichtung<br />

entsprechend bewegen können“ 242 : Schönberg spricht vom Quintfall des F<strong>und</strong>aments <strong>und</strong> den<br />

beiden „gebräuchlichsten Trugschlüssen“ 243 , Anstieg <strong>und</strong> Abfall des (nicht vorhandenen) F<strong>und</strong>aments<br />

um eine Sek<strong>und</strong>e (Abb. 107). 244<br />

Abbildung 107: die hauptsächlichen Harmonieschritte des verminderten Septakkords (Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 239)<br />

Schönberg zeigt noch mehrere Weiterführungsmöglichkeiten des verminderten Septakkords,<br />

„melodische Führung[en] der Harmonie“, denen „meist nur pseudo-harmonische Bedeutung<br />

zukommt“ – „ohne Bewußtsein der F<strong>und</strong>amentschritte“ 245 (Abb. 108-110). Das Verändern nur<br />

eines Tons des verminderten Septakkords ergibt vier verschiedene Dominantseptakkorde oder<br />

halbverminderte Septakkorde (Abb. 108); bleiben zwei Töne des verminderten Septakkords<br />

gleich, resultieren zwei unterschiedliche Dominantseptakkorde mit tiefalterierter Quint oder vier<br />

Mollseptakkorde (Abb. 109); ändern sich drei von vier Akkordtönen des verminderten Septakkords,<br />

ergeben sich vier weitere Dominantseptakkorde, noch vier halbverminderte Septakkorde<br />

<strong>und</strong> vier unterschiedliche Durakkorde 246 (Abb. 110).<br />

240 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 235-236 <strong>und</strong> S. 313-316, Notenbeispiele 140/A <strong>und</strong> 191-196.<br />

241 Ebd., S. 235.<br />

242 Ebd., S. 240.<br />

243 Ebd., S. 287.<br />

244 Der F<strong>und</strong>amentschritt der II. Stufe zur I. entspricht hier jenem zum kadenzierenden Quartsextakkord der Dominante.<br />

245 Schönberg, Harmonielehre, S. 322. Aus diesem Gr<strong>und</strong> versucht Schönberg nicht, die Akkordverbindungen mit<br />

einer passenden Stufenbezeichnung zu versehen.<br />

246 Schönberg nennt auch die Möglichkeit der entsprechenden Mollakkorde (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

321); der Übersichtlichkeit halber wurden diese hier nicht dargestellt.<br />

64


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Abbildung 108: Veränderung eines Tons – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkord oder<br />

zum halbverminderten Septakkord 247 (Schönberg, Harmonielehre, S. 321)<br />

Abbildung 109: Veränderung zweier Töne – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkorde mit<br />

verminderter Quint bzw. zum Mollseptakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 321)<br />

Abbildung 110: Veränderung dreier Töne – verminderter Septakkord wird zum Dominantseptakkord, zum<br />

halbverminderten Septakkord oder zum Durdreiklang (Schönberg, Harmonielehre, S. 231)<br />

Das „Universalmittel“ 248 verminderter Septakkord hat nach Schönbergs Ansicht ausgedient;<br />

<strong>Akkorde</strong> wie der übermäßige Dreiklang, „gewisse alterierte <strong>Akkorde</strong>“ <strong>und</strong> verselbständigte<br />

Durchgangs- bzw. Vorhaltsbildungen „sind an seine Stelle getreten“. 249<br />

247 An manchen Stellen dieser Notenbeispiele wurden Töne enharmonisch verwechselt, eventuell auch in eine<br />

andere Lage gebracht, um gleichbleibende bzw. sich verändernde Akkordtöne besser sichtbar zu machen <strong>und</strong><br />

auch die Stimmführung logischer darzustellen.<br />

248 Schönberg, Harmonielehre, S. 289.<br />

249 Ebd., S. 288; vgl. ebd., S. 234 f.<br />

65


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Verminderter Septakkord<br />

Zusammenfassung<br />

Riemann leitet auch den verminderten Septakkord von der Durdominante <strong>und</strong> von der Subdominante<br />

in Moll ab, in Dur als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton, in Moll als Unternonenakkord<br />

der Subdominante. Riemann akzeptiert die hauptsächliche Auffassung auch des verminderten<br />

Septakkords in Moll als verkürzter Dominantseptnonakkord, weil der verminderte Septakkord<br />

in Dur <strong>und</strong> in Moll auf derselben Stufe stehen (der VII.); Riemann schließt aber auch<br />

die subdominantische Verwendung des verminderten Septakkords nicht aus. Zu zwischendominantischen<br />

verminderten Septakkorden gelangt Riemann, indem leitereigene Septakkorde alteriert<br />

werden.<br />

Schenker betrachtet den verminderten Septakkord auf der VII. Stufe nicht als verkürzten<br />

Dominantseptnonakkord, sieht ihn aber – wie auch den verminderten Dreiklang <strong>und</strong> den halbverminderten<br />

Septakkord – als Vertreter der V. Stufe. Der verminderte Septakkord hat bei<br />

Schenker immer dominantische Funktion. Auch er wird wie der diatonische halbverminderte<br />

Septakkord zur Bekräftigung der Tonikalisierung bei einem Harmonieschritt nach dem Schema<br />

VII-I eingesetzt, indem leitereigene <strong>Akkorde</strong> chromatisch zu verminderten Septakkorden verändert<br />

werden.<br />

Schönberg sieht den verminderten Septakkord – im Gegensatz zu vermindertem Dreiklang<br />

<strong>und</strong> halbvermindertem Septakkord – als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton an. Jedoch<br />

widerspricht sich Schönberg mehrmals in Bezug auf seine Interpretation des verminderten Septakkords<br />

als verkürzten Dominantseptnonakkord, denn er bezeichnet im gleichen Zusammenhang<br />

den Harmonieschritt VII-I als „trugschlüssige Auflösung“ (obwohl diesem ja seiner Ansicht<br />

nach der Quintfall V-I zugr<strong>und</strong>eliegt) <strong>und</strong> VII-III als „Quintfall des F<strong>und</strong>aments“. Ähnlich<br />

wie Schenker behandelt auch Schönberg nur die dominantische Funktion des verminderten Septakkords.<br />

Schönberg betont die Modulationsfähigkeit des verminderten Septakkords wegen<br />

seiner unzähligen Fortführungsmöglichkeiten: Er zeigt, dass ein verminderter Septakkord aufgr<strong>und</strong><br />

der Nebendominanten in mindestens 44 Tonarten leitereigen sein kann. Zusätzlich zeigt<br />

Schönberg auch nicht-funktionale, „pseudo-harmonische“ Weiterführungsmöglichkeiten des<br />

verminderten Septakkords.<br />

Übermäßiger Dreiklang<br />

Der übermäßige Dreiklang findet sich leitereigen nur auf der III. Stufe in harmonischem (<strong>und</strong><br />

melodischem) Moll (erhöhte VII. (bzw. VI <strong>und</strong> VII.) Skalenstufe). Er steht meist für eine Dominante<br />

mit hochalterierter Quint – diese hat die Funktion eines zusätzlichen Leittons (Abb.<br />

66


67<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

111, T. 1). 250 In Moll kann sich die übermäßige Quint der Dominante nicht regulär auflösen 251 ;<br />

die enharmonische Umdeutung von dis zu es ergibt einen leitereigenen Sextvorhalt (Abb. 111,<br />

T. 2). 252<br />

Abbildung 111: der übermäßige Dreiklang in Dur <strong>und</strong> Moll (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 34)<br />

Um einen übermäßigen Dreiklang als (Zwischen-)Dominante zu erhalten, werden Akkordtöne<br />

eines Dur- oder Molldreiklangs hoch- (auch tief-)alteriert (Abb. 112) – dieses Verfahren wurde<br />

bereits in der Barockzeit angewandt. 253<br />

Abbildung 112: der übermäßige Dreiklang als Dominante <strong>und</strong> Zwischendominante (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 34)<br />

Der übermäßige Dreiklang ist vielseitig einsetzbar, da einzelne oder alle Akkordtöne als Leittöne<br />

gebraucht werden können. 254 Die leittönige Verwendung eines einzigen Akkordtons führt zu<br />

sechs verschiedenen (Zwischen-)Tonarten, indem sich jeweils ein Akkordton einen Halbton<br />

höher oder tiefer auflöst (Abb. 113). 255 Werden zwei Töne des übermäßigen Dreiklangs als<br />

Strebetöne eingesetzt, resultieren drei unterschiedliche Tonarten (Abb. 114) – diese Art der<br />

Auflösung des übermäßigen Dreiklangs kommt am öftesten vor. 256 Verdoppelt werden kann nur<br />

jener Ton des übermäßigen Dreiklangs, der keine Leittonfunktion hat. 257<br />

Abbildung 113: leittönige Verwendung eines Akkordtons (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 130)<br />

250 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 33. Wird der übermäßige Dreiklang leitereigen – als III. Stufe – verwendet,<br />

ist er Dominante (mit hochalterierter Quint) zur VI. Stufe in Moll (vgl. ebd., S. 81, 206).<br />

251 In c-Moll lautet der übermäßige Dreiklang auf der Dominante g-h-dis; dis müsste nach e geführt werden, welches<br />

in c-Moll jedoch nicht existiert.<br />

252 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 34.<br />

253 Ebd., S. 33, 329.<br />

254 Ebd., S. 130.<br />

255 Umkehrungen des übermäßigen Dreiklangs werden auch durch enharmonische Umdeutungen ausgedrückt.<br />

256 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 131.<br />

257 Ebd., S. 60.


68<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Abbildung 114: leittönige Verwendung zweier Akkordtöne (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 130)<br />

Riemann<br />

Riemann begründet den übermäßigen Dreiklang nicht mit der harmonischen Molltonleiter – er<br />

erhält ihn durch Hinzuziehen der Durdominante in Moll <strong>und</strong> der Mollsubdominante in Dur. 258<br />

So entsteht der übermäßige Dreiklang bei Riemann in Moll aus Bestandteilen der Molltonika<br />

mit der Durdominante, in Dur resultiert er durch das Zusammenwirken der Mollsubdominante<br />

<strong>und</strong> der Durtonika (Abb. 115). 259<br />

Abbildung 115: Entstehung des übermäßigen Dreiklangs in Dur <strong>und</strong> Moll<br />

Da „die musikalische Logik zweiklängige Accorde nicht kennt“ <strong>und</strong> deshalb immer „einen<br />

Klang zum Ausgang nimmt <strong>und</strong> die Bestandteile des anderen als […] dissonante Töne versteht“<br />

260 , können die übermäßigen Dreiklänge verschieden interpretiert werden: entweder als<br />

„kleine Sextaccorde“ oder als „übermässige Quintaccorde“.<br />

Als „kleine Sextaccorde“ betrachtet Riemann die übermäßigen Dreiklänge dann, wenn as-c-e<br />

entweder C-Durdreiklang mit kleiner Sext (c-e-g-as – T 6> , Abb. 116, T. 1) oder c-Unterklang (cas-f)<br />

mit kleiner „Untersext“ (c-as-f-e – S VI< , Abb. 116, T. 2) ist, <strong>und</strong> wenn c-e-gis oder E-<br />

Durdreiklang (e-gis-h) mit kleiner Sext c (D 6> , Abb. 116, T. 3) oder e-Unterklang (e-c-a) mit<br />

kleiner Untersext gis ist (T VI< , Abb. 116, T. 4). Diese kleinen Sextakkorde sind also ursprünglich<br />

Septakkorde (as-c-e-g etc.); Riemann erklärt sich das Wegfallen der Quint (ausgefüllter<br />

258 Wird die Durdominante in Moll verwendet, nennt Riemann die resultierende Skala „Durmoll“ (sie entspricht<br />

der harmonischen Mollskala), das Auftreten der Mollsubdominante in Dur bezeichnet Riemann als „Molldur“<br />

(vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169; Riemanns „Molldur“ entspricht Schenkers zweiter Mischungsreihe,<br />

vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 112).<br />

259 Bei der Herleitung des übermäßigen Dreiklangs für C-Dur <strong>und</strong> a-Moll resultiert ein identischer Klang (enharmonische<br />

Umdeutung gis zu as).<br />

260 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 169/170 (im Original teilweise gesperrt). Riemann nennt die übermäßigen<br />

Dreiklänge „zweiklängig“, da die beiden großen Terzen, aus denen sie zusammengesetzt sind, von<br />

zwei verschiedenen Dur- oder Molldreiklängen stammen können.


69<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Notenkopf im Beispiel) durch die starke Dissonanz zwischen kleiner Sext <strong>und</strong> Quint. 261 Riemann<br />

zählt die kleinen Sextakkorde zu den Vorhaltsakkorden. 262<br />

Abbildung 116: kleine Sextakkorde<br />

Riemanns zweite Möglichkeit zum Verständnis des übermäßigen Dreiklangs ist dessen Auffassung<br />

als „übermässiger Quintaccord“, wenn also die reine Quint des Dur- oder Molldreiklangs<br />

zur übermäßigen alteriert wird (Abb. 117). 263 Im Gegensatz zur oben genannten Auffassung des<br />

übermäßigen Dreiklangs als kleiner Sextakkord „[liegt] der Schwerpunkt des Accordes […]<br />

nicht im mittleren Tone sondern entweder im tiefsten oder höchsten (jenachdem der Accord im<br />

Dur- oder Mollsinne gefasst ist)“. 264<br />

Abbildung 117: Hochalterieren der Quint bei Durdreiklängen <strong>und</strong> Tiefalterieren der Unterquint bei Molldreiklängen<br />

führt zu übermäßigen Dreiklängen<br />

Riemann äußert sich nicht über die Funktion eines zum übermäßigen Dreiklang alterierten Duroder<br />

Mollakkords. Er sagt nur, dass nach einem übermäßigen Dreiklang ein Harmoniewechsel<br />

möglich ist, zumindest muss der alterierte Ton um einen weiteren Halbton in dieselbe Richtung<br />

geführt werden 265 (Abb. 118).<br />

261 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 170. In Riemanns Bezeichnungssystem steht eine am Klangbuchstaben<br />

oder am Funktionszeichen hochgestellte Sechs normalerweise für „hinzugefügte Sext“, nicht wie heute<br />

üblich „Sext statt Quint“.<br />

262 Tatsächlich ist die kleine (Dur-)Sext in den Beispielen Riemanns nur Vorhalt eines akkordeigenen Tons, meist<br />

in Verbindung mit der vorgehaltenen Quart – als kadenzierender Quartsextakkord (z.B. D 6> – D 5 ); einem Akkord<br />

mit hochalterierter Quint hingegen folgt immer ein anderer Akkord (z.B. D 5< – T).<br />

263 Für Riemann gilt ein Akkord dann als alteriert, wenn seine Prim, seine Terz oder seine Quint „chromatisch<br />

verändert“ wird (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 171).<br />

264 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 171. Für Riemann sind die Mollakkorde mit übermäßiger Unterquint<br />

(entspricht einem tiefalterierten Gr<strong>und</strong>ton) den Durakkorden mit übermäßiger (Ober-)Quint gleichgestellt<br />

– obwohl Riemann selbst diese als ungebräuchlich bezeichnet (vgl. ebd., S. 171).<br />

265 Ebd., S. 171. Wenn sich nur der alterierte Ton auflöst, ergibt sich der Parallelklang des jeweiligen Akkords<br />

(vgl. ebd.).


70<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Abbildung 118: Auflösung des übermäßigen Dreiklangs durch Weiterführung der übermäßigen Quint (Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 172)<br />

Durch Betrachtung der Beispiele Riemanns kann man erkennen, dass er den übermäßigen Dreiklang<br />

sehr vielseitig verwendet. Fast immer bringt Riemann zuerst den nichtalterierten Duroder<br />

Mollakkord, bevor er die akkordeigene Quint zur übermäßigen alteriert. 266 Etwa jeder dritte<br />

übermäßige Dreiklang in den Beispielen Riemanns hat die Funktion einer in die Tonika führenden<br />

Dominante (Abb. 119, T. 1). Fast einem Viertel der übermäßigen Dreiklänge folgt seine<br />

Parallele (Abb. 119, T. 2). Sehr häufig in den Aufgaben hat der übermäßige Dreiklang auch<br />

subdominantische Funktion (Abb. 119, T. 3) oder stammt von einem Vertreter der Tonika ab<br />

(Abb. 119, T. 4 267 ).<br />

Abbildung 119: Funktion des übermäßigen Dreiklangs<br />

Schenker<br />

Schenker leitet den übermäßigen Dreiklang aus der Dur-Moll-Mischung her – zwei verschiedene<br />

übermäßige Dreiklänge sind in C-Dur-Moll denkbar 268 : einer auf der erniedrigten III., ein<br />

zweiter auf der erniedrigten VI. Stufe (Abb. 120).<br />

266 Nur in zwei Beispielen wird die übermäßige Quint durch einen Akkordton des vorhergehenden Akkords vorbereitet:<br />

S. 181/429: G 7


71<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Abbildung 120: zwei übermäßige Dreiklänge aus der C-Dur-Moll-Mischung 269 (vgl. Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 238)<br />

Der übermäßige Dreiklang ist dementsprechend zweideutig: z.B. lässt das Erscheinen von b-dfis<br />

entweder auf die Tonart G-Dur-Moll (als III. Stufe) oder auf D-Dur-Moll (als VI. Stufe)<br />

schließen (Abb. 121).<br />

Abbildung 121: der übermäßige Dreiklang ist zweideutig (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 239)<br />

Auf die Verwendung des übermäßigen Dreiklangs (Stimmführung, Verdopplung, Weiterführung<br />

etc.) geht Schenker nicht ein.<br />

Schönberg<br />

Durch die Einbeziehung der erhöhten VII. Stufe in die Mollskala 270 ergibt sich bei Schönberg<br />

ein leitereigener übermäßiger Dreiklang in Moll: er steht auf der dritten Stufe <strong>und</strong> lautet in a-<br />

Moll c-e-gis (Abb. 122).<br />

Abbildung 122: leitereigener übermäßiger Dreiklang auf der III. Stufe in Moll<br />

Die Auflösung der dissonierenden übermäßigen Quint muss aufwärts erfolgen – Schönberg<br />

begründet dies mit den „Wendepunktgesetzen“. 271 Als „wichtigste tonale Auflösungen“ nennt<br />

269 Die Stufenbezeichnung der beiden übermäßigen Dreiklänge im Notenbeispiel 180] D) (Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 238) ist falsch – statt einem zweimaligen ÌIII / ÌVI muss die korrekte Stufenbezeichnung wie darüber im<br />

Text lauten: ÌIII / íVII für es-g-h <strong>und</strong> ÌVI / íIII für as-c-e.<br />

270 Schönberg nimmt auch die erhöhte VI. Stufe in die Molltonleiter auf; für die Bildung des übermäßigen Dreiklangs<br />

ist jedoch nur die erhöhte siebente Skalenstufe notwendig.<br />

271 Schönbergs „Wendepunktgesetze“ besagen, dass die Verwendung der erhöhten VI. <strong>und</strong> VII. Stufe in Moll nur<br />

in aufwärtsgehender Richtung zulässig ist; abwärtsgerichtet dürfen nur die unerhöhten Skalentöne (äolisches<br />

oder natürliches Moll) verwendet werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 113). Das heißt in diesem Fall:<br />

die übermäßige Quint des übermäßigen Dreiklangs ist der erhöhte VII. Skalenton; dieser muss in die I. Stufe<br />

(hier a) geführt werden.


72<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Schönberg die I. oder VI. Stufe 272 (Abb. 123); einzige Bedingung bei der Auflösung des übermäßigen<br />

Dreiklangs ist aber im Prinzip nur, dass der übermäßigen Quint (hier gis) ein um einen<br />

Halbton höherer Ton (hier a) folgt. 273<br />

Abbildung 123: Auflösungen des übermäßigen Dreiklangs (Schönberg, Harmonielehre, S. 292)<br />

Eingeführt wird der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe bei Schönberg zunächst nur durch<br />

die V. <strong>und</strong> die VII. Stufe – aufgr<strong>und</strong> des gemeinsamen erhöhten VII. Skalentons. Jedoch erlaubt<br />

Schönberg schon bald, dass jeder Akkord den übermäßigen Dreiklang vorbereiten <strong>und</strong> ihm folgen<br />

kann 274 , denn Ziel eines übermäßigen Dreiklangs ist es, „durch den künstlichen Leitton<br />

einer Verbindung Richtung zu geben“. 275 Als III. Stufe folgt dem übermäßigen Dreiklang laut<br />

Schönberg hauptsächlich die VI., die I., die IV. <strong>und</strong> die II. Stufe, in jeder möglichen Form eines<br />

Dreiklangs oder Septakkords.<br />

Mithilfe der Kirchentonarten gewinnt Schönberg weitere übermäßige Dreiklänge 276 , insgesamt<br />

gibt es bei Schönberg also drei verschiedene übermäßige Dreiklänge (Abb. 124): auf der I.<br />

(Äolisch), der IV. (Dorisch) <strong>und</strong> der V. Stufe (Phrygisch) in Dur. Diese „künstlichen übermäßigen<br />

Dreiklänge“ werden bei Schönberg behandelt wie der leitereigene übermäßige Dreiklang<br />

auf der III. Stufe: mit Quintfall, Terzfall <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>schritt des F<strong>und</strong>aments nach dem Muster<br />

III-VI, III-I, III-IV <strong>und</strong> III-II (Abb. 125).<br />

Abbildung 124: übermäßige Dreiklänge aus den Kirchentonarten (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 212)<br />

272 Schönberg, Harmonielehre, S. 291; vgl. ebd., S. 123.<br />

273 Ebd., S. 124. Es gibt auch die Möglichkeit, dass das gis liegenbleibt, wenn es im nächsten Akkord enthalten ist.<br />

274 Vgl. ebd., S. 124, S. 227, S. 294. Dies ist wohl der Gr<strong>und</strong> für Schönbergs Aussage, dass der übermäßige Dreiklang<br />

„auf die Entwicklung der modernen Harmonik einen sehr großen Einfluß gehabt“ hat (ebd., S. 123).<br />

275 Ebd., S. 227 (im Original gesperrt).<br />

276 Schönberg, Harmonielehre, S. 211 f. vgl. Kapitel „<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Arnold Schönberg“.


73<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Abbildung 125: der künstliche übermäßige Dreiklang auf der I., IV. <strong>und</strong> V. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 225)<br />

Schönberg wendet den übermäßigen Dreiklang auch als Dominante an – basierend auf dem<br />

Harmonieschritt III-VI. Dazu alteriert er die leitereigene Quint der V. Stufe (Abb. 126). Die<br />

anderen diatonischen Dur- <strong>und</strong> Mollstufen werden als übermäßige Dreiklänge zu Nebendomi-<br />

nanten. 277<br />

Abbildung 126: der übermäßige Dreiklang als Dominante (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292)<br />

Schönberg zählt den übermäßigen Dreiklang wie auch den verminderten Septakkord zu den<br />

„eigentlichen“ vagierenden <strong>Akkorde</strong>n, da er ähnliche Eigenschaften besitzt wie dieser 278 : lediglich<br />

durch enharmonische Umdeutung einzelner Akkordtöne ist ein übermäßiger Dreiklang leitereigen<br />

in drei verschiedenen Molltonarten (Abb. 127).<br />

Abbildung 127: enharmonische Verwechslungen eines übermäßigen Dreiklangs (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

291)<br />

277 Dazu muss teilweise auch die Terz hochalteriert werden (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292).<br />

278 Ebd., S. 234, 287, 291. Schönberg bemerkt, dass es nur vier klangverschiedene übermäßige Dreiklänge gibt<br />

(dass die fünfte Transposition die erste Umkehrung des ersten übermäßigen Dreiklangs ist), so wie nur drei<br />

klangverschiedene verminderte Septakkorde existieren.


74<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Zusätzlich ist der übermäßige Dreiklang für Schönberg auch „harmonisch belangloser“ Vorhaltsakkord<br />

279 : entweder wird die übermäßige Quint wie ein kleiner Sextvorhalt weitergeführt,<br />

oder große Terz <strong>und</strong> übermäßige Quint werden als Quartsextvorhalt (mit verminderter Quart<br />

<strong>und</strong> kleiner Sext) aufgefasst (Abb. 128). 280 Resultat sind drei verschiedene Dur- bzw. Molldreiklänge.<br />

Abbildung 128: die übermäßige Quint als kleiner Sextvorhalt (<strong>und</strong> die große Terz als verminderte Quart)<br />

(Schönberg, Harmonielehre, S. 295)<br />

Die übermäßige Quint des übermäßigen Dreiklangs kann durch Chromatik, durch einen Sek<strong>und</strong>schritt<br />

<strong>und</strong> auch durch Sprung eingeführt werden. 281 Beispielsweise kann der übermäßige<br />

Dreiklang c-e-gis in C-Dur von allen Stufen aus erreicht werden (Abb. 129). Auch kann ein<br />

Dreiklang in alle vier klanglich verschiedenen übermäßigen Dreiklänge führen (Abb. 130).<br />

Abbildung 129: Einführung des übermäßigen Dreiklangs c-e-gis durch die leitereigenen Dreiklänge von C-Dur<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 292-293)<br />

Abbildung 130: Einführung der vier verschiedenen übermäßigen Dreiklänge durch einen C-Durdreiklang<br />

(Schönberg, Harmonielehre, S. 293)<br />

Schönberg äußert sich nicht dazu, welcher Ton des übermäßigen Dreiklangs verdoppelt werden<br />

kann; in den Beispielen 282 wird hauptsächlich der Gr<strong>und</strong>ton, oft auch die Terz verdoppelt, nie<br />

279 Schönberg, Harmonielehre, S. 295.<br />

280 Schönberg schreibt gelegentlich melodisch „falsch“, um komplexe Notierungen zu umgehen. So schreibt er in<br />

diesem Beispiel as-c-e – as-c-es statt as-c-fes – as-c-es <strong>und</strong> as-c-fes – as-ces-es statt as-deses-fes – as-ces-es<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 295/180).<br />

281 Bei Riemann erfolgt die Einführung der übermäßigen Quint immer chromatisch (z.B. c-e-g – c-e-gis)<br />

282 Schönberg, Harmonielehre, S. 292-295. Jedoch ist beim übermäßigen Dreiklang schwer festzustellen, welcher<br />

Ton Prim, Terz oder übermäßige Quint ist, da diese Zuteilung nur aufgr<strong>und</strong> der Notierung geschehen kann. Bei<br />

enharmonischer Verwechslung ändern sich die Verhältnisse.


75<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

jedoch die übermäßige Quint. 283 Die Terz wird bei Schönberg sogar in Akkordverbindungen<br />

verdoppelt, die der Folge V-I entsprechen, wo diese also Leitton ist. 284<br />

Für Schönberg ist im Gr<strong>und</strong>e jede Verbindung des übermäßigen Dreiklangs mit einem anderen<br />

Akkord möglich, denn er kombiniert unter anderem übermäßige Dreiklänge untereinander,<br />

er verbindet den übermäßigen Dreiklang mit dem neapolitanischen Sextakkord <strong>und</strong> auch mit<br />

dem übermäßigen Quintsextakkord (Abb. 131). 285 Fast alle Akkordverbindungen vom übermäßigen<br />

Dreiklang aus enthalten zumindest einen kleinen Sek<strong>und</strong>schritt; wo dies nicht der Fall ist,<br />

gibt es gemeinsame Töne. 286<br />

Abbildung 131: der übermäßige Dreiklang in Verbindung mit anderen vagierenden <strong>Akkorde</strong>n (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 317-318)<br />

283 Bei der Untersuchung der Verdopplung wurde von einer enharmonisch richtigen Notierung Schönbergs ausgegangen,<br />

da ja bekanntlich jeder Ton eines übermäßigen Dreiklangs die übermäßige Quint sein kann.<br />

284 Ebd., S. 294 (Beispiel 179a, 3. auf 4. Takt <strong>und</strong> 179d, 3. Takt). Bei einer Leittonverdopplung springt der zweite<br />

Leitton ab.<br />

285 Die hier gezeigten Beispiele stellen nur einen Teil von Schönbergs Kombinationsmöglichkeiten mit dem übermäßigen<br />

Dreiklang dar. In der Harmonielehre finden sich auch noch Verbindungen mit dem verminderten Septakkord,<br />

dem übermäßigen Quintsextakkord, dem halbverminderten Septakkord <strong>und</strong> dem übermäßigen Terzquartakkord<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 314/192; S. 317 <strong>und</strong> S. 318, Bsp. 197-200).<br />

286 Von dieser unausgesprochenen Regel gibt es vier Ausnahmen; drei davon finden sich in den angeführten Beispielen:<br />

In Takt 2 der Verbindung übermäßiger Dreiklänge untereinander, in Takt 1 der Verbindung mit dem<br />

neapolitanischen Sextakkord <strong>und</strong> in Takt 4 der Verbindung mit dem übermäßigen Quintsextakkord finden sich<br />

entweder chromatische Fortschreitungen oder nur große Sek<strong>und</strong>schritte.


76<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Übermäßiger Dreiklang<br />

Zusammenfassung<br />

Riemann zählt anfangs nur je einen übermäßigen Dreiklang in Dur <strong>und</strong> Moll auf: in Moll auf<br />

der III., in Dur auf der erniedrigten VI. Stufe. Riemann fasst diese übermäßigen Dreiklänge auf<br />

zwei Arten auf: Entweder als Vorhaltsakkord mit kleiner Sext statt Quint („kleiner Sextakkord“)<br />

oder als Dur- oder Molldreiklang, dessen Quint zur übermäßigen alteriert wurde („übermäßiger<br />

Quintakkord“). Übermäßige Dreiklänge können bei Riemann aber nicht nur auf der III. Stufe in<br />

Moll <strong>und</strong> auf der erniedrigten VI. Stufe in Dur stehen, sondern sind durch Alterationen auch auf<br />

anderen Stufen möglich. Riemann teilt den übermäßigen Dreiklängen also keine bestimmte<br />

Funktion zu – der hoch- oder tiefalterierte Ton ist einfach Leitton, der in den nächstgelegenen<br />

höheren bzw. tieferen Halbton weiterzuführen ist.<br />

Schenker nennt dieselben zwei leitereigenen übermäßigen Dreiklänge wie Riemann (auf der<br />

III. <strong>und</strong> VI. Mollstufe), nur können bei ihm beide aufgr<strong>und</strong> ihrer Entstehung durch die Mischung<br />

von Dur <strong>und</strong> Moll in Dur <strong>und</strong> Moll vorkommen. Auf die Verwendung dieser übermäßigen<br />

Dreiklänge geht Schenker jedoch überhaupt nicht ein.<br />

Für Schönberg ist nur der übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe in Moll leitereigen.<br />

Schönberg ist der Einzige der hier behandelten Autoren, der über die enharmonischen Verwechslungen<br />

des übermäßigen Dreiklangs <strong>und</strong> damit über seine Modulationsfähigkeit spricht.<br />

Für Schönberg ist der übermäßige Dreiklang ein Leittonklang, dessen Weiterführung offen ist –<br />

er kann in jeden Akkord aufgelöst werden.<br />

Tristanakkord<br />

Als „Tristanakkord“ wird der erste Akkord im Vorspiel zu Richard Wagners Oper Tristan <strong>und</strong><br />

Isolde 287 bezeichnet, er lautet f-h-dis 1 -gis 1 (Abb. 132). Amon bezeichnet ihn als „doppelt übermäßigen<br />

Sek<strong>und</strong>akkord“ 288 (Abb. 133); er ist enharmonisch dem halbverminderten Septakkord<br />

f-as-ces-es gleich.<br />

287 Richard Wagner: Tristan <strong>und</strong> Isolde, komponiert 1857-59, Uraufführung: 10. Juni 1865.<br />

288 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40.


77<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Tristanakkord<br />

Abbildung 132: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan <strong>und</strong> Isolde“ (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 40)<br />

Abbildung 133: doppelt übermäßiger Sek<strong>und</strong>akkord (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40)<br />

Man kann den Tristanakkord auf verschiedene Arten herleiten: von einem Doppeldominantseptakkord<br />

mit Quint im Bass, dessen Quint tiefalteriert <strong>und</strong> dessen Sept von einer großen Sext<br />

vorgehalten wird (Abb. 134, T. 1); aus der Subdominante mit hinzugefügter Sext, deren Gr<strong>und</strong>ton<br />

hochalteriert <strong>und</strong> deren Quint von einer erhöhten Quart vorgehalten wird (Abb. 134, T. 2);<br />

vom verminderten Septakkord der VII. Stufe (verkürzter Dominantseptnonakkord), dessen verminderte<br />

Quint zu reinen hochalteriert wird (Abb. 134, T. 3). 289 In der Ableitung von der Doppeldominante<br />

ist f der alterierte Ton <strong>und</strong> a Akkordton, in der Ableitung von der Subdominante<br />

ist dis der alterierte Ton <strong>und</strong> ebenfalls a Akkordton, <strong>und</strong> in der Ableitung vom verminderten<br />

Septakkord gis Akkordton <strong>und</strong> dis der alterierte Ton.<br />

Abbildung 134: mögliche Herleitungen des Tristanakkords (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 41)<br />

Alle drei Ableitungen haben gemeinsam, dass der Leitton dis („natürlich“ bzw. hochalteriert)<br />

nicht regulär aufgelöst wird. Dies resultiert einerseits aus der Auflösung in einen Dominantseptakkord,<br />

andererseits aus einem Stimmtausch (Abb. 135).<br />

289 Vgl. ebd., S. 41; vgl. Danuser, Hermann: Tristanakkord. In: MGG 2 , Sachteil Band 9. Metzler/Bärenreiter:<br />

Kassel u.a. 1998, Sp. 832-844.


Abbildung 135: Erklärung der Stimmführung beim Tristanakkord<br />

78<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Tristanakkord<br />

Keine der Ableitungen ist vollständig zufriedenstellend. Häufig wird der Tristanakkord als<br />

Doppeldominante mit tiefalterierter Quint im Bass <strong>und</strong> großer Sext statt kleiner Sept interpretiert.<br />

290 Nicht nur wegen der auf den Tristanakkord folgenden Dominante 291 ist die Interpretation<br />

als alterierte Doppeldominante sicher sinnvoll.<br />

Riemann<br />

Riemann hielt nicht viel von Wagners Musik 292 , vermutlich erwähnte er aus diesem Gr<strong>und</strong> den<br />

Tristanakkord in keinem seiner Harmonielehrebücher. Jedoch gab er später in seinem Musiklexikon<br />

die von Max Arend stammende Auffassung des Tristanakkords bekannt (Abb. 136).<br />

Abbildung 136: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan <strong>und</strong> Isolde“ (Vogel, Tristan-Akkord, S. 30)<br />

Riemann sieht wie Schenker das a als Akkordton an; den Akkord f-h-dis-a interpretiert er als<br />

Unterseptimenakkord mit hochalterierter Unterquinte. 293 Man könnte diese Deutung als „Subdominantquintsextakkord<br />

mit hochalteriertem Gr<strong>und</strong>ton“ oder als „halbverminderter Septakkord<br />

der II. Stufe mit hochalterierter Terz“ übersetzen. Riemann bezeichnet diesen Akkord als übermäßigen<br />

Terzquartakkord in Moll; dieser unterscheidet sich vom übermäßigen Terzquartakkord<br />

290 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 40. Ein (Doppel-)Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint (im Bass)<br />

entspricht dem übermäßigen Terzquartakkord.<br />

291 Als Auflösung des Tristanakkords folgt der Dominantseptakkord in a-Moll, mit hochalterierter Quart als Vorhalt<br />

vor der Quint. Mit der enharmonischen Verwechslung der hochalterierten Quart zu tiefalterierten Quint ergibt<br />

sich ein weiterer übermäßiger Terzquartakkord (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 41).<br />

292 Vogel, Martin: Der Tristan-Akkord <strong>und</strong> die Krise der modernen Harmonielehre. Orpheus-Schriftenreihe zu<br />

Gr<strong>und</strong>fragen der Musik, Band 2. Düsseldorf: Verlag der Gesellschaft zur Förderung der systematischen Musikwissenschaft<br />

1962., S. 11-12.<br />

293 Ebd., S. 30.


79<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Tristanakkord<br />

in Dur: in der subdominantischen Auffassung sieht Riemann dis als (hoch-)alterierten Ton an,<br />

würde er den Akkord als doppeldominantisch deuten, wäre für ihn f der (tief-)alterierte Akkordton.<br />

Schenker<br />

Auch Schenker erwähnt den Tristanakkord nicht in seiner Harmonielehre – jedoch kommt der<br />

Beginn des Tristanvorspiels als Analysebeispiel zu den alterierten <strong>Akkorde</strong>n vor. 294 Schenker<br />

bezieht im Text keine Stellung zum Notenbeispiel, jedoch wird durch Schenkers Analyse deutlich,<br />

dass er gis 1 im Akkord f-h-dis 1 -gis 1 als Vorhalt zu a 1 auffasst 295 <strong>und</strong> den Akkord f-h-dis 1 -a 1<br />

als übermäßigen Terzquartakkord, in der Funktion einer II. Stufe (Abb. 137).<br />

Abbildung 137: Takt 1 bis 3 des Vorspiels zu Wagners „Tristan <strong>und</strong> Isolde“ 296 (Schenker, Harmonielehre, S.<br />

374)<br />

Der Tristanakkord ist also für Schenker ein Doppeldominantseptakkord mit tiefalterierter Quint<br />

<strong>und</strong> Vorhalt vor der Sept <strong>und</strong> stimmt somit mit der heute gängigen Auffassung überein. Auf die<br />

besondere Auflösung des alterierten Akkords mit chromatischer Abwärtsführung der hochalterierten<br />

Terz dis <strong>und</strong> Aufwärtsführung der Sept a in der Oberstimme geht auch Schenker nicht<br />

ein. 297<br />

294 Schenker, Harmonielehre, S. 374 (Bsp. 326).<br />

295 An einer späteren Stelle seiner Harmonielehre deklariert Schenker gis 1 noch einmal deutlich als Vorhalt zu a 1 ,<br />

obwohl die Dauer des Vorhaltes (gis) länger ist als die der Auflösungsnote (Schenker, Harmonielehre, S. 408).<br />

296 II. Stufe mit aufgelöster Quint steht für die II. Stufe in a-Moll: h-f, V. Stufe mit erhöhter Terz bedeutet h-dis als<br />

V. Stufe von E-Dur.<br />

297 Schenker behandelt die Stimmführung nicht in der Harmonielehre (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 226).<br />

Schönberg vertritt diesbezüglich eine ähnliche Meinung: „Stimmführungsangelegenheiten [gehören] nur soweit<br />

in die Harmonielehre, als sie zur Darstellung harmonischer Vorgänge nötig sind“ (Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 399).


80<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Tristanakkord<br />

Schönberg<br />

Schönberg sieht den Tristanakkord f-h-dis-gis als enharmonische Verwechslung des halbverminderten<br />

Septakkords f-ces-es-as an (Abb. 138), als leitereigene II. Stufe in es-Moll 298 – entsprechend<br />

seiner Verwendung in Takt 83 des Tristanvorspiels. Schönbergs harmonische Weiterführung<br />

des halbverminderten Septakkords nach Fes- bzw. E-Dur (Abb. 139) entspricht jener<br />

bei Wagner; im Tristanvorspiel ist E-Dur jedoch Dominante, bei Schönberg ist E-Dur die erniedrigte<br />

II. Stufe. 299<br />

Abbildung 138: der Tristanakkord als enharmonische Verwechslung des halbverminderten Septakkords<br />

Abbildung 139: Weiterführung des halbverminderten Septakkords in es- (bzw. dis-)Moll 300 (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 308)<br />

Schönberg lässt seine eigene Interpretation dieser vieldiskutierten Stelle offen, zeigt aber weitere<br />

Deutungsmöglichkeiten 301 : Wenn man a als Akkordton betrachtet (<strong>und</strong> gis als aufwärts gehenden<br />

Vorhalt), lautet der Akkord f-h-dis-a (Abb. 140). Diesen Akkord betrachtet Schönberg<br />

als Septakkord der II. Stufe mit hochalterierter Terz (dis); die verminderte Quint (f) ist leitereigen<br />

(in Moll) oder tiefalteriert (in Dur). 302<br />

Abbildung 140: a als Akkordton<br />

298 Schönberg, Harmonielehre, S. 310. Schönberg nennt den Akkord jedoch nicht „halbvermindert“, sondern bezeichnet<br />

ihn als II. Stufe in Moll bzw. VII. Stufe in Dur (vgl. ebd., S. 309).<br />

299 Schade, dass Schönberg diese Beispiele nicht mit Stufen bezeichnet hat. Es wäre sehr interessant zu erfahren,<br />

wie Schönberg die Harmoniefolge leitereigene – erniedrigte II. Stufe benennen würde.<br />

300 Eigenartig ist, dass Schönberg im dis-Moll-Beispiel den Tristanakkord „falsch“ notiert: der halbverminderte<br />

Septakkord in dis-Moll lautet eis-gis-h-dis, nicht f-gis-h-dis.<br />

301 Schönberg, Harmonielehre, S. 310.<br />

302 Ebd., S. 309. Dieser Akkord – h-dis-f-a in A-Dur/a-Moll – ist der bei Schönbergs Auflistung der übermäßigen<br />

Sextakkorde fehlende (Doppel-)Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint (= übermäßiger Terzquartakkord<br />

der heutigen Auffassung). Schönbergs Herleitung als „Verbindung der Oberdominant-(Nebendominant-)Möglichkeiten<br />

mit den Mollunterdominantbeziehungen“ entspricht nebenbei bemerkt Schenkers Bezeichnung der<br />

alterierten <strong>Akkorde</strong> als Verbindung der II. <strong>und</strong> V. Stufe.


81<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Tristanakkord<br />

Die „schlimmste Annahme“ für Schönberg ist, dass der Akkord tatsächlich zu es-Moll gehört<br />

<strong>und</strong> enharmonisch verwechselt wird, damit er mit a-Moll in Zusammenhang gebracht werden<br />

kann. 303 Leider gibt Schönberg dazu kein Notenbeispiel <strong>und</strong> führt diesen Gedanken auch nicht<br />

weiter aus. 304<br />

303 Ebd., S. 310. Diese Aussage ist nicht ganz verständlich, denn Schönberg selbst interpretiert den Tristanakkord<br />

als enharmonische Verwechslung der II. Stufe in es-Moll.<br />

304 Schönberg nennt nur zwei weitere <strong>Akkorde</strong>, die auf a-Moll <strong>und</strong> es-Moll bezogen werden können, „denn a-moll<br />

<strong>und</strong> es-moll haben ja nicht nur den [Akkord f-as-ces-es, E. E.] gemeinsam“ (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

310) – leider „verrät“ Schönberg nicht, wie „der“ – die II. Stufe von es-Moll – auf a-Moll bezogen werden<br />

kann. In beiden Tonarten deutbar sind die VI. Stufe von es-Moll (Ces-Dur); sie entspricht der Doppeldominante<br />

von a-Moll (H-Dur); die Dominante in a-Moll (E-Dur) stimmt mit der „neapolitanischen Sext“ von e-Moll –<br />

Fes-Dur – überein (<strong>und</strong> umgekehrt: die „neapolitanische Sext“ von a-Moll (B-Dur) ist gleichzeitig Dominante<br />

von es-Moll).


Neapolitanischer Sextakkord<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Der neapolitanische Sextakkord ist nicht die Umkehrung eines Durakkords auf der erniedrigten<br />

zweiten Stufe, sondern Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint. 305 Bis zur zweiten Hälfte<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts kam der neapolitanische Sextakkord nur in Moll zur Anwendung, mit<br />

Quartsextvorhalt vor der Dominante (Abb. 141). 306<br />

Abbildung 141: der neapolitanische Sextakkord in Moll mit Quartsextvorhalt vor der Dominante (vgl. Amon,<br />

Lexikon der Harmonielehre, S. 200-201)<br />

Der Gr<strong>und</strong>ton der Subdominante muss in der Bassstimme sein 307 <strong>und</strong> wird auch verdoppelt. Der<br />

bei der Auflösung des neapolitanischen Sextakkords in die Dominante entstehende Querstand<br />

(des-d in c-Moll) kennzeichnet diese harmonische Wendung (Abb. 142). 308<br />

Abbildung 142: der neapolitanische Sextakkord mit direkter Auflösung in die Dominante (vgl. Amon, Lexikon<br />

der Harmonielehre, S. 200-201)<br />

Dem neapolitanischen Sextakkord folgt oft auch der verkürzte Doppeldominantseptnonakkord<br />

(Abb. 143). 309<br />

305 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 200, 207.<br />

306 Ebd., S. 201.<br />

307 Ebd.<br />

308 Ebd., S. 201, 251.<br />

309 Ebd., S. 201.<br />

82


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Abbildung 143: der neapolitanische Sextakkord in einer Wendung mit verkürzter Doppeldominante (vgl.<br />

Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 201)<br />

Befindet sich der neapolitanische Sextakkord in „Gr<strong>und</strong>stellung“, spricht man vom „verselbstständigten<br />

Neapolitaner“. Dieser ist der Durdreiklang auf der tiefalterieren II. Stufe (in Dur <strong>und</strong><br />

Moll), also der Durgegenklang der Mollsubdominante. 310<br />

Riemann<br />

Der neapolitanische Sextakkord ist bei Riemann der „Leittonwechselklang der Mollsubdominante“.<br />

311 Die Verbindung des neapolitanischen Sextakkords mit der Durdominante bezeichnet<br />

Riemann als „schlichten Tritonusschritt“ 312 , da die beiden <strong>Akkorde</strong> in Gr<strong>und</strong>stellung einen Tritonus<br />

voneinander entfernt sind (Abb. 144). Bei dieser Verbindung entstehen jedoch „unmelodische<br />

Stimmschritte“. 313<br />

Abbildung 144: „schlichter Tritonusschritt“ (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114)<br />

Der „Leittonwechselklang der Mollsubdominante“ kann die Mollsubdominante ersetzen <strong>und</strong><br />

tritt deshalb vor allem mit dem Gr<strong>und</strong>ton (<strong>und</strong> der üblichen Stimmführung) der Mollsubdominante<br />

im Bass auf. 314 Laut Riemanns Notenbeispiel sind aber offensichtlich auch der Gr<strong>und</strong>ton<br />

als Basston <strong>und</strong> Verdopplungen der kleinen Sext b üblich (Abb. 145) – der durch die Verdopplung<br />

des b nötige chromatische Schritt b-h stört Riemann offenbar nicht. 315 Die übrigen Stimmschritte<br />

bleiben aber auch bei den Umkehrungen gleich: d-e (Subdominant- zu Dominantgr<strong>und</strong>-<br />

310 Ebd., S. 34.<br />

311 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114.<br />

312 Ebd.; vgl. auch ebd., S. 133.<br />

313 Ebd., S. 114.<br />

314 Ebd.<br />

315 Auch im Elementarschulbuch der Harmonielehre stellt Riemann mehrere „gute Führungen“ des neapolitanischen<br />

Sextakkords vor, die eine andere Melodie <strong>und</strong> anderen Bass (bzw. abweichende Stimmführung) aufweisen<br />

(vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 138 f.).<br />

83


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

ton), f-e (Leitton der Mollsubdominante zu Dominantgr<strong>und</strong>ton) <strong>und</strong> die verminderte Terz b-gis<br />

(„Umspringen vom Oberleitton zum Unterleitton“ 316 ).<br />

Abbildung 145: Weiterführung des neapolitanischen Sextakkords (Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S.<br />

114)<br />

Aus den Beispielen Riemanns in Funktionsschrift geht nicht unmittelbar hervor, welcher Ton<br />

Basston sein soll, denn obwohl Riemann die passende Schrift dazu entwickelt hat (3 im Bass<br />

etc.), wendet er sie in den Beispielen kaum an. 317 Deshalb ist nicht ganz klar, ob Riemann den<br />

neapolitanischen Sextakkord als Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint auffasst. In diesen<br />

Beispielen folgt dem neapolitanischen Sextakkord zwar am häufigsten die Dominante (auch<br />

mit Quartsext-Vorhalt), jedoch kommen ebenfalls sehr oft andere Verbindungen vor. 318<br />

In der Vereinfachten Harmonielehre ist der neapolitanische Sextakkord für Riemann eindeutig<br />

Mollsubdominante mit kleiner Sext – der „phrygischen Sek<strong>und</strong>e“ – statt Quint; auch ist die<br />

Funktionsbezeichnung eine andere. 319 Hier hat der neapolitanische Sextakkord in Verbindung<br />

mit der Tonika auch Schlussfunktion. Riemanns Notenbeispiele untermauern die Auffassung<br />

des Akkords als Mollsubdominante, denn Basston ist der Gr<strong>und</strong>ton der Mollsubdominante, welcher<br />

auch verdoppelt wird (Abb. 146).<br />

316 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 114 (im Original gesperrt).<br />

317 Vgl. z.B. ebd.: Der neapolitanische Sextakkord in Bsp. 75 ist laut Funktionsschrift in Gr<strong>und</strong>stellung, wird aber<br />

mit Terz im Bass angewendet. In nur drei der zahlreichen Beispiele mit dem neapolitanischen Sextakkord in<br />

Funktionsschrift auf S. 118-124 wird die Terz im Bass angeschrieben – aber immer erst nach der Gr<strong>und</strong>stellung<br />

(vgl. ebd., Bsp. 76, 83 <strong>und</strong> 89).<br />

318 So folgt dem neapolitanischen Sextakkord etwa die verkürzte Doppeldominante (Riemann, Handbuch der<br />

Harmonielehre, S. 224/152, auch als verkürzter Septnonakkord (ebd., z.B. S. 180/133)), die Dursubdominante<br />

(ebd., S. 226/173), Subdominantparallele (ebd., z.B. S. 119/80), oder der Leittonwechselklang der Dominante<br />

(ebd., z.B. S. 119/82).<br />

319 Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 100 f. Riemanns Notierung des neapolitanischen Sextakkords ist<br />

selbst für seine Verhältnisse komplex, denn er vermischt dafür die Schreibweise der Ober- <strong>und</strong> Untertöne: Der<br />

Akkord ist ausgedrückt als „Mollsubdominante mit kleiner Obersek<strong>und</strong>e“; „Obersek<strong>und</strong>e“ bezieht sich in Moll<br />

aber auf den höchsten Ton des Akkords, sie ist sozusagen „Wechselnote der Mollsubdominantprim“ (ebd., S.<br />

101).<br />

84


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Abbildung 146: Auflösung des neapolitanischen Sextakkords (Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 102<br />

<strong>und</strong> 104-105)<br />

Schenker<br />

Den Akkord des-f-as in c-Moll – dieser ist nicht in Schenkers Mischung enthalten – bezeichnet<br />

Schenker als „phrygischen Zug“. 320 Für Schenker ist dieser Durakkord auf der erniedrigten II.<br />

Stufe Ersatz für den verminderten Dreiklang d-f-as auf der leitereigenen II. Stufe in Moll <strong>und</strong><br />

lässt sich auf das „Bedürfnis“ des Motivs zurückführen, nicht als verminderter Dreiklang zu<br />

erscheinen. 321<br />

Die Verwendung der phrygischen II. Stufe bzw. des neapolitanischen Sextakkords 322 begründet<br />

Schenker mithilfe der Tonikalisierung: Er geht zunächst von einer Kadenz in d-Moll<br />

aus, dem „invertiven Quintenzug“ VI – II – V – I (Abb. 147). 323 Der verminderte Dreiklang der<br />

zweiten Stufe wird dann zu einem Durdreiklang, um die nachfolgende V. Stufe (A-Dur) zur<br />

Tonika zu „erheben“; entfernt man des Weiteren die d-Moll-Tonika, ergibt sich die uns bekannte<br />

Wendung mit dem neapolitanischen Sextakkord (Abb. 148). In der Analyse bezeichnet<br />

Schenker die erniedrigte II. Stufe bzw. den neapolitanischen Sextakkord meist als „II (phrygisch)“.<br />

Abbildung 147: Herleitung des neapolitanischen Sextakkords als leitereigene VI. Stufe in d-Moll (Schenker,<br />

Harmonielehre, S. 364)<br />

320 Schenker, Harmonielehre, S. 143.<br />

321 Ebd., S. 143 f.<br />

322 Schenker nennt die Bezeichnung „neapolitanischer Sextakkord“ nicht.<br />

323 Schenker, Harmonielehre, S. 364. Schenker betont in einer Anmerkung, dass trotz der in Noten gefassten Stufen<br />

keine Stimmführung angenommen werden darf. Er ist der Meinung, dass die Harmonielehre „sich doch nur<br />

mit der Psychologie der abstrakten Stufen zu befassen hat“ (ebd., S. 226).<br />

85


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Abbildung 148: Tonikalisierung der Dominante von d-Moll <strong>und</strong> Weglassen der d-Moll-Tonika ergibt eine<br />

Kadenz in A-Dur mit phrygischer II. Stufe (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 364-365)<br />

Jedoch ist Schenker der Meinung, dass diese Kadenz in A-Dur halbschlüssig ist, der A-<br />

Durakkord also dominantisch ist <strong>und</strong> nach ihm die d-Moll-Tonika erwartet wird. Dies ist für ihn<br />

auch die Begründung, warum der zweiten phrygischen Stufe b-d-f nach der Dominante vorwiegend<br />

A-Dur folgt, nicht a-Moll 324 : weil A-Dur eigentlich Dominante ist. Der neapolitanische<br />

Sextakkord ist für Schenker also nicht leiterfremde erniedrigte zweite Stufe, sondern leitereigene<br />

sechste Stufe der Unterquint-Tonart d-Moll (welche aber nicht folgt). 325<br />

Schönberg<br />

Schönberg sieht den neapolitanischen Sextakkord – f-as-des in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll – als „Stellvertreter<br />

der II.“ Stufe, aber nicht als deren „chromatische Umgestaltung“. 326 Schönberg schließt<br />

offensichtlich die Funktion des neapolitanischen Sextakkords als Vertreter der IV. Stufe aus,<br />

denn er geht – trotz des charakteristischen Vorkommens des neapolitanischen Sextakkords mit<br />

Subdominantgr<strong>und</strong>ton im Bass <strong>und</strong> Verdopplung dieses Tons (Abb. 149) – von der Gr<strong>und</strong>stellung<br />

des-f-as aus: Der Des-Dur-Dreiklang ist leitereigene VI. Stufe in f-Moll (der Tonart der<br />

Mollsubdominante), somit für Schönberg in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll eine aus f-Moll entlehnte II.<br />

Stufe. 327<br />

Der neapolitanische Sextakkord löst sich laut Schönberg in die I. <strong>und</strong> V. oder gleich in die V.<br />

Stufe auf 328 (Abb. 149); Schönberg zeigt auch die Weiterführung über vagierende <strong>Akkorde</strong><br />

(Abb. 150).<br />

324 Als Schenker das erste Mal in der Harmonielehre den „phrygischen Zug“ erwähnt, bezeichnet er diesen als<br />

„Eigentum […] des heutigen Moll[systems]“ (ebd., S. 143, Kursivsetzung nicht original); hier, wenn er von der<br />

uns bekannten Kadenz mit dem neapolitanischen Sextakkord spricht, ist plötzlich die Durtonika als Schlussakkord<br />

üblich.<br />

325 Diese Auffassung entspricht im Prinzip Riemanns anfänglicher Meinung vom neapolitanischen Sextakkord als<br />

Leittonwechselklang der Mollsubdominante (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 113 f.).<br />

326 Schönberg, Harmonielehre, S. 282. Schönberg ist gegen die Hypothese mit erniedrigtem Gr<strong>und</strong>ton, sondern<br />

glaubt an die Existenz von zwei verschiedenen Gr<strong>und</strong>tönen auf der II. Stufe: d <strong>und</strong> des. Nur wenn der neapolitanische<br />

Sextakkord durch den verminderten Dreiklang der II. Stufe in Moll oder den Molldreiklang auf der II.<br />

Stufe in Dur erreicht wird, könnte man von „Gr<strong>und</strong>tonerniedrigung“ sprechen (vgl. ebd., S. 283/167 f <strong>und</strong> g).<br />

327 Vgl. ebd., S. 267 f.<br />

328 Der „Quartsextakkord der I. Stufe“, in den der neapolitanische Sextakkord häufig geführt wird, ist natürlich der<br />

kadenzierende Quartsextakkord der Dominante. Zum Quartsextakkord der Tonika in der Kadenz vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 168 f.<br />

Folgt auf den neapolitanischen Sextakkord gleich die Dominante, bezeichnet dies Schönberg als „Kürzung einer<br />

Wendung durch Weglassung des Wegs“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 423).<br />

86


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Abbildung 149: Herkömmliche Auflösung des neapolitanischen Sextakkords (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

282)<br />

Abbildung 150: Auflösung des neapolitanischen Sextakkords über vagierende <strong>Akkorde</strong> 329 (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 318-319)<br />

Schönberg bringt auch verschiedenste Beispiele für die Vorbereitung des neapolitanischen Sextakkords<br />

(Abb. 151 <strong>und</strong> 152).<br />

Abbildung 151: mögliche Einführungsakkorde für den neapolitanischen Sextakkord 330 (Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 283 <strong>und</strong> 315)<br />

329 Der erste Akkord dieses Beispiels ist ein Dominantseptakkord, der enharmonisch verwechselt den dritten Akkord<br />

des Beispiels, einen übermäßigen Quintsextakkord ergibt.<br />

330 Schönberg bezeichnet in seinem Notenbeispiel nicht die Zugehörigkeit zu Stufen, außer im Beispiel des letzten<br />

Taktes (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 283/167 a-e <strong>und</strong> S. 315/194 a).<br />

Im letzten Takt des Beispiels bezeichnet Schönberg den verminderten Septakkord als VI. Stufe (in C-Dur bzw.<br />

c-Moll), obwohl der Gr<strong>und</strong>ton von fis-a-c-es d, also die II. Stufe ist. Dass zwei <strong>Akkorde</strong> derselben Stufe aufeinander<br />

folgen ist für Schönberg nicht einleuchtend, weil kein „F<strong>und</strong>amentschritt“ erfolgt (vgl. Schönberg,<br />

Harmonielehre, S. 309), wohl deshalb ist fis-as-c-es für ihn die enharmonische Verwechslung von c-es-gesheses,<br />

mit Gr<strong>und</strong>ton as (also VI. Stufe; Schönberg notiert jedoch as-c-es-ges-a) (vgl. ebd., S. 315). Schönberg<br />

nimmt es mit der korrekten Schreibweise gr<strong>und</strong>sätzlich nicht so genau, denn er bevorzugt es, „an Stelle eines<br />

komplizierten Notenbildes, das oft durch diese pedantische Genauigkeit entsteht, jenes Zeichen zu setzen, das<br />

auf einen bekannten Akkord zurückführt“ (ebd., S. 424), weil „die üblichen Vorschriften [der Orthographie]“<br />

das rasche Lesen beeinträchtigen (ebd., S. 456) (vgl. auch ebd., S. 307, 319).<br />

87


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – Neapolitanischer Sextakkord<br />

Abbildung 152: der übermäßige Dreiklang als Einführungsakkord für den neapolitanischen Sextakkord (vgl.<br />

Schönberg, Harmonielehre, S. 317)<br />

Laut Schönberg kommt der neapolitanische Sextakkord auch mit anderen Basstönen vor 331 – in<br />

den gezeigten Beispielen unterstreicht die Umkehrung eine bestimmte Bassfortschreitung (Abb.<br />

153).<br />

Abbildung 153: Der neapolitanische Sextakkord mit anderen Basstönen (Schönberg, Harmonielehre, S. 283)<br />

Zusammenfassung<br />

Riemanns Sicht des neapolitanischen Sextakkords schwankt zwischen der Interpretation als<br />

Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint. <strong>und</strong> als erniedrigte II. Stufe (Leittonwechselklang<br />

der Mollsubdominante). Als Mollsubdominante ist immer die IV. Stufe Basston, als erniedrigte<br />

II. Stufe sind für Riemann verschiedene Lagen des Akkords möglich.<br />

Für Schenker ist der neapolitanische Sextakkord innerhalb einer Tonart die erniedrigte II.<br />

Stufe. Auch er leitet den neapolitanischen Sextakkord von der Tonart der Mollsubdominante ab<br />

– im Gegensatz zu Riemann <strong>und</strong> Schönberg versteht er den neapolitanischen Sextakkord jedoch<br />

als Teil einer unvollständigen Kadenz in der Mollsubdominanttonart.<br />

Schönberg sieht den neapolitanischen Sextakkord als Vertreter der II. Stufe an <strong>und</strong> leitet ihn<br />

in C-Dur als VI. Stufe von f-Moll ab – diese Herleitung entspricht in etwa Riemanns „Leittonwechselklang<br />

der Mollsubdominante“. Der neapolitanische Sextakkord kommt jedoch bei<br />

Schönberg fast immer auf seine charakteristische Weise zur Anwendung: mit Subdominantgr<strong>und</strong>ton<br />

im Bass <strong>und</strong> erniedrigter II. Stufe in der Melodie.<br />

331 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 283.<br />

88


Übermäßige Sextakkorde<br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Unter dem Überbegriff „übermäßige Sextakkorde“ versteht man den übermäßigen Sextakkord,<br />

den übermäßigen Terzquartakkord <strong>und</strong> den übermäßigen Quintsextakkord. Sie alle enthalten als<br />

Rahmenintervall die übermäßige Sext – des-h für dominantische, as-fis für doppeldominantische<br />

<strong>Akkorde</strong> in C-Dur bzw. c-Moll.<br />

Übermäßiger Sextakkord<br />

Der übermäßige Sextakkord ist verkürzter Dominantseptakkord mit tiefalterierte Quint im Bass,<br />

in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll als Dominante des-f-h, als Doppeldominante as-c-fis (Abb. 154). 332 Die<br />

beiden Leittöne des <strong>und</strong> h bzw. as <strong>und</strong> fis – die übermäßige Sext – wollen in die Oktave c-c<br />

bzw. g-g aufgelöst werden. 333<br />

Abbildung 154: der (doppel-)dominantische übermäßige Sextakkord<br />

Der übermäßige Sextakkord wird meist als Doppeldominante verwendet (as-c-fis in C-Dur oder<br />

c-Moll) – dann auch „Italienische Sext“ genannt 334 – <strong>und</strong> löst sich entweder gleich in die Dominante<br />

oder in ihren Vorhaltsquartsextakkord auf (Abb. 155). Verdoppeln kann man nur die<br />

Quint des übermäßigen Sextakkords (c im Beispiel), da sie als einziger Ton dieses Akkords<br />

nicht Leitton ist.<br />

Abbildung 155: Auflösung des doppeldominantischen übermäßigen Sextakkords (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 31-33)<br />

Übermäßiger Terzquartakkord<br />

Der übermäßige Terzquartakkord ist ein Dominantseptakkord mit tiefalterierter Quint im Bass<br />

(des-f-g-h als Dominante, as-c-d-fis als Doppeldominante in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll), bringt also den<br />

332 Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31.<br />

333 Im Gegensatz dazu strebt der identische Klang, die kleine Sept des-ces, nach ges-b bzw. ges-heses.<br />

334 Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31. Die Namen „Italian Sixth“, „French Sixth“ <strong>und</strong> „German Sixth“<br />

prägte John Wall Callcott (A Musical Grammar, 1806) (vgl. Harrison (1995), S. 181).<br />

89


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

fehlenden Gr<strong>und</strong>ton (g bzw. d) des übermäßigen Sextakkords (Abb. 156). Er ist bei Auftreten<br />

als Doppeldominante auch als „Französische Sext“ bekannt. 335<br />

Abbildung 156: Ableitung <strong>und</strong> Auflösung des übermäßigen Terzquartakkords (Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 37)<br />

Übermäßiger Quintsextakkord<br />

Der übermäßige Quintsextakkord ist ein verminderter Septakkord, dessen tiefalterierte Quint im<br />

Bass steht: dominantisch in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll als des-f-as-h, doppeldominantisch (in welcher<br />

Form der Akkord vorwiegend gebraucht wird, so auch als „Deutsche Sext“ bekannt“) als as-ces-fis.<br />

336 Dieser Akkord besteht aus vier Leittönen; bei richtiger Auflösung der Leittöne ergeben<br />

sich jedoch (erlaubte) parallele Quinten – die sogenannten „Mozartquinten“ (Abb. 157). Man<br />

kann diese umgehen, indem man dem übermäßigen Quintsextakkord den kadenzierenden Quartsextakkord<br />

der Dominante folgen lässt.<br />

Abbildung 157: Ableitung <strong>und</strong> Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre,<br />

S. 39)<br />

Der übermäßige Quintsextakkord ergibt enharmonisch verwechselt den Dominantseptakkord<br />

der einen Tritonus bzw. einen Halbton entfernten Tonart: as-c-es-fis (übermäßiger Quintsextakkord<br />

in G- bzw. C-Dur <strong>und</strong> -Moll) klingt gleich wie as-c-es-ges bzw. gis-his-dis-fis (Dominantseptakkord<br />

in Ges- bzw. Fis-Dur <strong>und</strong> -Moll) (Abb. 158). 337<br />

335 Ebd., S. 37. Weitere Bezeichnungen des übermäßigen Terzquartakkordes lauten: „Wechseldominantterzquartakkord<br />

mit tiefalteriertem Bass“ <strong>und</strong> „hart verminderter Terzquartakkord“ – diese Bezeichnung stammt von der<br />

Entstehungsweise des übermäßigen Terzquartakkordes: einem „hartverminderten“ Dreiklang (g-h-des) wird eine<br />

kleine Sept (f) hinzufügt (vgl. ebd.).<br />

336 Amon nennt auch den „doppelt übermäßigen Terzquartakkord“ as-c-dis-fis als enharmonische Verwechslung<br />

des übermäßigen Quintsextakkords as-c-es-fis. (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 37 f.). Er kommt<br />

durch die chromatische Erhöhung des Gr<strong>und</strong>tones (d zu dis) beim übermäßigen Terzquartakkord as-c-d-fis zustande.<br />

Für diesen Akkord ist auch die Bezeichnung „Swiss Sixth“ geläufig – diese stammt aus Walter Pistons<br />

Harmony, vgl. http://www.tufts.edu/~mdevoto/Piston.pdf, S. 9). Die ordnungsgemäße Fortsetzung des doppelt<br />

übermäßigen Terzquartakkordes ist der Vorhaltsquartsextakkord der Dominante in Dur (g-c-e), da die doppelt<br />

übermäßige Quart (dis in as-c-dis-fis) nach e aufgelöst werden muss. Amon bezeichnet auch übermäßige Quintsextakkorde,<br />

die sich in den kadenzierenden Dur-Quartsextakkord auflösen, als doppelt übermäßigen Terzquartakkord<br />

(vgl. ebd., S. 38).<br />

337 Vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 31, 54, 67, 184.<br />

90


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 158: enharmonische Verwechslung des übermäßigen Quintsextakkords zum Dominantseptakkord<br />

Die doppeldominantischen übermäßigen Sextakkorde können auch aus der „ungarischen Mollskala“<br />

(mit hochalterierter vierter <strong>und</strong> siebenter Tonleiterstufe) gebildet werden (Abb. 159). 338<br />

Abbildung 159: übermäßige Sextakkorde aus dem ungarischem Moll (Amon, Lexikon der Harmonielehre, S.<br />

40)<br />

Riemann<br />

Riemann unterscheidet „verminderte Quintaccorde“, „Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“<br />

<strong>und</strong> „übermässige Sextaccorde“, nennt jedoch auch die im Generalbass üblichen Bezeichnungen<br />

dieser alterierten <strong>Akkorde</strong>. 339<br />

„Verminderte Quintaccorde“ – übermäßiger Sextakkord <strong>und</strong> Terzquartakkord<br />

„Verminderte Quintaccorde“ sind <strong>Akkorde</strong>, deren reine Quint zur verminderten alteriert wird.<br />

Diese kommen laut Riemann vorwiegend auf der Durdominante <strong>und</strong> der Mollsubdominante vor.<br />

Riemann geht zunächst von der Dominante in C-Dur aus <strong>und</strong> vermindert dessen Quint: g-h-d<br />

wird zu g-h-des (Abb. 160). Riemann stellt g-h-des als g 5> bzw. in C-Dur <strong>und</strong> c-Moll als D 5><br />

338 Ebd., S. 40, S. 308.<br />

339 Riemann bezeichnet diese <strong>Akkorde</strong> gemäß seiner Auffassung von der Identität eines <strong>Akkorde</strong>s mit seiner Umkehrung<br />

nach ihrer Gr<strong>und</strong>stellung (im Gegensatz zur Generalbassterminologie, die die <strong>Akkorde</strong> nach ihrer Umkehrung<br />

benennt: wenn die tiefalterierte Quint im Bass steht, bildet sie mit der Terz des <strong>Akkorde</strong>s eine übermäßige<br />

Sext).<br />

Riemann führt im Handbuch der Harmonielehre die Generalbassbezeichnungen für die übermäßigen Sextakkorde<br />

an, geht jedoch nicht genau darauf ein, wie er diese <strong>Akkorde</strong> benennen würde. Nur zu Beginn erwähnt er:<br />

„In unserer neuen Bezifferung müssen dieselben v e r m i n d e r t e Q u i n t a c c o r d e heißen“ (Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 172, Sperrung im Original). Jedoch bleibt die analoge Bezeichnung für <strong>Akkorde</strong><br />

mit übermäßiger Quint („übermässige Quintaccorde“) aus.<br />

Im Elementar-Schulbuch der Harmonielehre fasst Riemann alle <strong>Akkorde</strong>, die eine übermäßige Sext enthalten –<br />

Riemann zählt hier 16 verschiedene Funktionsbezeichnungen auf –, unter dem Begriff „übermäßige Sextakkorde“<br />

zusammen. Dabei bezeichnet er auch Zusammenklänge mit unterschiedlicher Intervallstruktur mit demselben<br />

Begriff, z.B. sind die <strong>Akkorde</strong> des-f-a-h <strong>und</strong> des-f-as-h „übermäßige Quintsextakkorde“ <strong>und</strong> die Bildungen<br />

des-f-g-h, des-fes-g-h <strong>und</strong> des-f-gis-h „übermäßige Terzquartakkorde“ (vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch<br />

der Harmonielehre, S. 166 f.; die Beispiele sind der Übersichtlichkeit halber teilweise transponiert). Riemann<br />

selbst sind diese Bezeichnungen „weder erschöpfend noch genügend unterscheidend“, deshalb braucht man sie<br />

sich auch nicht zu merken (ebd., S. 168).<br />

In der Vereinfachten Harmonielehre erwähnt Riemann die übermäßigen Sextakkorde überhaupt nicht, sie<br />

kommen aber vereinzelt in Beispielen mit Funktionssymbolen vor, bis auf einem Ausnahme (als Zwischendominante<br />

zur Doppeldominante) immer als Doppeldominante, meist in der Form eines übermäßigen Quintsextakkords<br />

(vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 147-15).<br />

91


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

dar. Die zweite Umkehrung des Akkords (mit der tiefalterierten Quint im Bass), des-g-h, ergibt<br />

den „übermässigen Quartsextaccord“. 340<br />

Abbildung 160: der übermäßige Quartsextakkord<br />

Riemann addiert nun zum ursprünglichen Akkord g-h-des – mit <strong>und</strong> ohne Gr<strong>und</strong>ton – die kleine<br />

Sept; so erhält er die <strong>Akkorde</strong> g-h-des-f bzw. h-des-f. Er verwendet wieder die Umkehrung mit<br />

verminderter Quint im Bass: des-f-g-h ergibt den „übermässigen Terzquartsextaccord“ –<br />

welchen Riemann als g 7 5> bzw. D 7 5> bezeichnet –, des-f-h den „übermässigen Sextaccord“<br />

(Abb. 161). 341<br />

Abbildung 161: übermäßiger Terzquartakkord <strong>und</strong> Sextakkord – abgeleitet von der Dominante<br />

In a-Moll geht Riemann vom Akkord o a bzw. von der Mollsubdominante aus: die Unterquint<br />

von d-f-a wird zu dis-f-a erhöht, bei Riemann ausgedrückt durch a V< bzw. durch das Funktions-<br />

340 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 172. Schenker <strong>und</strong> Schönberg nennen in ihren Abhandlungen<br />

keinen übermäßigen Quartsextakkord. Laut Amon ist der übermäßige Quartsextakkord selten <strong>und</strong> hat hauptsächlich<br />

doppeldominantische Funktion (vgl. Amon, Lexikon der Harmonielehre, S. 35). Riemann erwähnt den<br />

übermäßigen Quartsextakkord vermutlich einzig aus dem Gr<strong>und</strong>, weil er später nur durch die entsprechende<br />

Anwendung in Moll (Erhöhung der Unterquint) zum übermäßigen Sextakkord in Moll gelangt.<br />

341 Die entsprechende Bezeichnung für den „übermässigen Sextaccord“ mit durchgestrichenem „Klangbuchstaben“<br />

bzw. Funktionszeichen bleibt Riemann hier schuldig.<br />

Riemann bezeichnet den übermäßigen Terzquartakkord als „Terzquartsextaccord“, obwohl sich die Generalbassterminologie<br />

für gewöhnlich mit der Bezeichnung „Terzquartakkord“ zufrieden gibt – wohl um „übermäßige<br />

Sext“ zu betonen. Dasselbe gilt für Riemanns Bezeichnungen „Sek<strong>und</strong>quartsextaccord“ <strong>und</strong> „Terzquintsextaccord“:<br />

die herkömmlichen Bezeichnungen lauten „Sek<strong>und</strong>akkord“ <strong>und</strong> „Quintsextakkord“.<br />

Es stellt sich die Frage, ob für Riemann die Umkehrung mit (tiefalterierter) Quint im Bass Voraussetzung ist,<br />

oder ob die übermäßigen Sextakkorde nicht auch in anderen Umkehrungen auftreten können – aus seinen Bezeichnungen<br />

der <strong>Akkorde</strong> lässt sich dies nicht eindeutig bestimmen, denn er notiert die verminderte Quint nicht<br />

unterhalb des „Klangbuchstabens“ bzw. des Funktionszeichens. Nur den „übermässigen Sek<strong>und</strong>quartsextaccord“<br />

in Dur notiert Riemann in der Umkehrung (7 unterhalb des Funktionszeichens). Aus den Ausführungen<br />

Riemanns geht nicht hervor, ob er – ähnlich wie Schenker – alle Umkehrungen dieser Akkordbildungen zulässt<br />

<strong>und</strong> nur deshalb die Umkehrung mit Quint im Bass nennt, um die Generalbassbezeichnung nachzuempfinden.<br />

92


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

zeichen S V< . 342 Den „übermässigen Sextaccord“ in Moll erhält Riemann durch die erste Umkehrung<br />

von dis-f-a: f-a-dis (Abb. 162). 343<br />

Abbildung 162: der übermäßige Sextakkord – abgeleitet von der Mollsubdominante<br />

Auch in Moll gibt es für Riemann einen „übermässigen Terzquartsextaccord“: Dieser Akkord<br />

wird durch Hinzufügen der „Unterseptime“ h zur Mollsubdominante mit verminderter (erhöhter)<br />

Quint gebildet <strong>und</strong> in dieselbe Lage wie der übermäßige Sextakkord gebracht: f-a-h-dis,<br />

auch a VII V< oder S VII V< (Abb. 163). 344<br />

Abbildung 163: der übermäßige Terzquartakkord – abgeleitet von der Mollsubdominante<br />

Für den Dualisten Riemann bilden in Dur <strong>und</strong> Moll also unterschiedliche Transpositionen derselben<br />

Akkordstruktur den übermäßigen Sextakkord <strong>und</strong> den übermäßigen Terzquartakkord. 345<br />

Die beiden von der Mollsubdominante abgeleiteten Klänge können mit dem nach heutigem<br />

Verständnis doppeldominantischen übermäßigen Sext- bzw. Terzquartakkord verglichen werden<br />

– der Unterschied ist aber, dass Riemann den Gr<strong>und</strong>ton der Subdominante als hochalteriert versteht<br />

(d zu dis in a-Moll bzw. f zu fis in c-Moll, Abb. 162), bei der Doppeldominante ist die<br />

Quint (fis zu f in a- bzw. a zu as in c-Moll) der tiefalterierte Ton.<br />

342 In Dur bedeutet „verminderte Quinte“, dass diese erniedrigt wird; in Moll führt eine Erhöhung der Quint (nach<br />

Riemanns Auffassung d im d-Mollakkord d-f-a) zu ihrer Verminderung.<br />

Riemanns Herleitung des übermäßigen Sextakkordes in Moll entspricht also nicht derjenigen in Dur: Der übermäßige<br />

Sextakkord in Dur ist ein Septakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton, der übermäßige Sextakkord in Moll ist ein Dreiklang<br />

mit erhöhter Unterquint.<br />

343 Hier macht sich die Problematik des Dualismus auch noch auf eine weitere Weise bemerkbar: Der Akkord disf-a<br />

ist für Riemann in a-Moll Subdominante mit erhöhter Unterquint (eigentlich Gr<strong>und</strong>ton), das heißt dis ist der<br />

alterierte Ton. Derselbe Akkord stellt in E-Dur einen Dominantseptakkord mit erniedrigter Quint ohne Gr<strong>und</strong>ton<br />

dar; in diesem Fall ist aber f der alterierte Ton. Da Riemann die Terz der Mollsubdominante ohnehin als<br />

Leitton (nach unten) ansieht, ergeben sich jedoch die Weiterführung der alterierten Töne betreffend keine Diskrepanzen.<br />

344 Auch den Akkord h-dis-f-a bezeichnet Riemann also als von der Subdominante d-f-a hergeleitet, obwohl dieser,<br />

wenn man nach der Terzenschichtung geht, einen neuen Gr<strong>und</strong>ton besitzt (h) – dies würde sich allerdings nicht<br />

in das dualistische System Riemanns einfügen. Übertragen in die heutige Terminologie lautet Riemanns Herleitung<br />

des übermäßigen Terzquartakkordes in Moll folgendermaßen: Mollsubdominante mit hinzugefügter hochalterierter<br />

Sext <strong>und</strong> hochalteriertem Gr<strong>und</strong>ton.<br />

345 In Dur stehen übermäßiger Sextakkord <strong>und</strong> Terzquartakkord auf der erniedrigten II. Stufe, des in C-Dur (als<br />

Umkehrung der VII., h, bzw. V. Stufe, g), in Moll auf der VI. Stufe, as in c-Moll (der Ausgangsakkord befindet<br />

sich auf der erhöhten IV. Stufe, fis, bzw. auf der II. Stufe, d).<br />

93


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

„Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“<br />

Nun greift Riemann das Erhöhen der Quint beim Mollakkord auf <strong>und</strong> wendet es in Dur auf den<br />

Dominantseptakkord an: er erhält so den Akkord g-h-dis-f. Die vierte Umkehrung dieses Vierklangs<br />

ergibt f-g-h-dis, den „übermässigen Sek<strong>und</strong>quartsextaccord“, g 7 5< bzw. D 7 5< (Abb.<br />

164). 346<br />

Abbildung 164: übermäßiger Sek<strong>und</strong>akkord<br />

Die erste Umkehrung des „Mollseptimenaccordes mit übermässiger Quinte“ (Unterquint im<br />

Bass) ergibt des-f-a-h, den „übermässigen Terzquintsextaccord“ (Abb. 165) – dieser entspricht<br />

jedoch nicht dem heute als „übermäßigen Quintsextakkord“ bekannten Zusammenklang<br />

(des-f-as-h). Riemann drückt ihn durch a VII V> bzw. S VII V> aus. 347<br />

Abbildung 165: übermäßiger Quintsextakkord<br />

„Übermässige Sextaccorde“<br />

Die nach Riemanns Terminologie „übermässigen Sextaccorde“ sind Dur- bzw. Mollakkorde<br />

mit hinzugefügter übermäßiger Sext, Riemann nennt die Dursubdominante <strong>und</strong> die Molldominante:<br />

f-a-c-dis in C-Dur, abgekürzt f 6< bzw. S 6< , <strong>und</strong> des-e-g-h in a-Moll, h VI> bzw. D VI> (Abb.<br />

166). 348<br />

346 Hier notiert Riemann die Umkehrung auch beim „Klangbuchstaben“ bzw. beim Funktionszeichen, was er zuvor<br />

bei den übermäßigen Sext- <strong>und</strong> Terzquartakkorden in Dur <strong>und</strong> Moll nicht gemacht hatte. Dies legt den Schluss<br />

nahe, dass Riemann nur den übermäßigen Sek<strong>und</strong>akkord immer als Umkehrung verstanden wissen will.<br />

347 Auch hier verzichtet Riemann auf die Darstellung der Umkehrung bei „Klangbuchstabe“ <strong>und</strong> Funktionszeichen.<br />

348 Es ist logisch, dass Riemann die Bezeichnung „übermäßige Sextakkorde“ nicht für die <strong>Akkorde</strong> mit alterierter<br />

Quint übernehmen kann, da er die Dur- <strong>und</strong> Mollakkorde mit hinzugefügter Sext als „Sextakkorde“ bezeichnet.<br />

Die einleuchtende Folgerung daraus ist, dass als „übermäßige Sextakkorde“ Dur- <strong>und</strong> Mollakkorde mit hinzugefügter<br />

übermäßiger Sext bezeichnet werden müssen.<br />

Der Akkord f-a-c-dis hat die gleiche Intervallstruktur wie der übermäßige Quintsextakkord, steht aber auf einer<br />

anderen Stufe. Er ist heute als „Subdominantquintsextakkord mit übermäßiger Sext“ bekannt <strong>und</strong> löst sich entweder<br />

in die Tonika oder in den kadenzierenden Quartsextakkord der Dominante auf (vgl. Amon, Lexikon der<br />

Harmonielehre, S. 39).<br />

94


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 166: Dur- <strong>und</strong> Mollakkord mit hinzugefügter übermäßiger (Unter-)Sext<br />

Wie schon aus der Kapitelüberschrift („Alterierte Accorde <strong>und</strong> übermässige Sextaccorde“) hervorgeht,<br />

zählt Riemann diese beiden Akkordbildungen nicht zu den alterierten <strong>Akkorde</strong>n, weil<br />

der Dur- bzw. Mollakkord unverändert bleiben, wohingegen bei den „verminderten“ <strong>und</strong><br />

„übermäßigen Quintakkorden“ der Dur- bzw. Mollakkord alteriert wird. Schenker hingegen<br />

rechnet <strong>Akkorde</strong> mit übermäßiger Quint nicht zu den alterierten <strong>Akkorde</strong>n – für ihn sind sie<br />

„Durchgangserscheinungen“, da sich in ihnen die verminderte Terz nicht zwischen Terz <strong>und</strong><br />

Quint des Akkords befindet. 349<br />

Übermäßiger Quintsextakkord<br />

Bei seiner Aufzählung der „verminderten Quintaccorde“ im Handbuch der Harmonielehre vergisst<br />

Riemann eine bestimmte Akkordbildung, die er aber innerhalb der Aufgaben mehrfach<br />

angibt 350 : den Dominantseptakkord mit kleiner None, verminderter Quint <strong>und</strong> ausgelassenem<br />

Gr<strong>und</strong>ton (Abb. 167) – heute als übermäßiger Quintsextakkord bekannt.<br />

349 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 374-378.<br />

Laut Riemann unterscheidet die Generalbassterminologie trotz unterschiedlicher Intervallstruktur nicht zwischen<br />

f-a-c-dis <strong>und</strong> des-f-a-h („Mollseptimenaccord mit übermässiger Quinte“) – beide <strong>Akkorde</strong> werden<br />

„übermässiger Quintsextaccord“ genannt; ebenso sei die Generalbassbezeichnung für die verschiedenen <strong>Akkorde</strong><br />

des-e-g-h <strong>und</strong> f-g-h-dis (Dominantseptakkord mit übermäßiger Quint) dieselbe: „übermässiger Sek<strong>und</strong>quartsextaccord“.<br />

Riemann unterscheidet jedoch die „Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“ (g-h-dis-f <strong>und</strong><br />

h-des-f-a) von seinen „übermässigen Sextaccorden“ f-a-c-dis <strong>und</strong> des-e-g-h, da diese eine übermäßige Sek<strong>und</strong>e<br />

enthalten, die „Septimenaccorde mit übermässiger Quinte“ dagegen nicht.<br />

Nicht klar ist, wieso Riemann hier nicht die beiden übermäßigen Sek<strong>und</strong>en aus seinen Beispielen (c-dis <strong>und</strong><br />

des-e) nennt, sondern die nach seinem Verständnis übermäßigen Sextakkorde auf die C-Dur- bzw. die a-Moll-<br />

Tonika transponiert (c-e-g-ais <strong>und</strong> ges-a-c-e) <strong>und</strong> die resultierenden übermäßigen Sek<strong>und</strong>en g-ais <strong>und</strong> ges-a in<br />

seinem Text erwähnt (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 173).<br />

350 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 182/439, S. 185/458, S. 206/474, S. 207/475 <strong>und</strong> S. 211/496 – der<br />

übermäßige Quintsextakkord hat hier zumeist doppeldominantische Funktion. In der Bezeichnung Riemanns<br />

fehlt die „7“ (z.B. h 9> 5> mit durchgestrichenem Klangbuchstaben), jedoch wird diese „als selbstverständlich inbegriffen<br />

angenommen […], wenn die 9 verlangt ist“ (vgl. ebd., S. 16).<br />

Im Elementar-Schulbuch der Harmonielehre zählt Riemann den übermäßigen Quintsextakkord u.a. als verkürzten<br />

Dominantseptnonakkord mit verminderter Quint auf (des-f-as-h in C-Dur); die Beispiele zeigen wie im<br />

Handbuch der Harmonielehre eine überwiegend doppeldominantische Verwendung dieses Akkords. Der Begriff<br />

„übermäßiger Terzquintsextakkord“ steht bei Riemann aber auch für den „großen Durterznonenakkord mit<br />

verminderter Quinte“, des-f-a-h in C-Dur, <strong>und</strong> den „Mollseptimenakkord mit übermäßiger Quinte“, des-f-a-h in<br />

a-Moll bzw. d-fis-as-c in c-Moll (vgl. Riemann, Elementar-Schulbuch der Harmonielehre, S. 167 f.).<br />

In der Vereinfachten Harmonielehre erwähnt Riemann die übermäßigen Sextakkorde überhaupt nicht; in den<br />

Beispielen kommen diese aber manchmal vor – fast immer doppeldominantisch <strong>und</strong> meist als übermäßiger<br />

Quintsextakkord (vgl. Vereinfachte Harmonielehre, S. 147-153).<br />

95


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 167: der übermäßige Quintsextakkord als Dominantseptnonakkord mit verminderter Quint <strong>und</strong><br />

ohne Gr<strong>und</strong>ton 351<br />

Verwendung der übermäßigen Sextakkorde<br />

Es fällt auf, dass Riemann im Zuge der Beschreibung der übermäßigen Sextakkorde kein einziges<br />

Notenbeispiel bringt. Außerdem erwähnt er nichts über Weiterführung <strong>und</strong> Verwendung der<br />

übermäßigen Sextakkorde. Die Aufgaben am Ende des Kapitels geben jedoch Aufschluss darüber,<br />

dass Riemann gemäß seiner Theorie von den Funktionen der <strong>Akkorde</strong> die von der Subdominante<br />

abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde immer in die Dominante führt, <strong>und</strong> dass er jene<br />

von der Dominante abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde in dominantischem Sinn verwendet<br />

– auch als Zwischen- oder Doppeldominante. 352 Über die Stimmführung verliert Riemann ebenfalls<br />

kein Wort, doch zeigen zwei „Musterbeispiele“ Riemanns die Auflösung übermäßiger Sextakkorde<br />

(Abb. 168 <strong>und</strong> 169). 353<br />

Abbildung 168: doppeldominantische Verwendung des übermäßigen Terzquartakkords aus Moll (vgl. Riemann,<br />

Handbuch der Harmonielehre, S. 177)<br />

Abbildung 169: doppeldominantische Verwendung des übermäßigen Quintsextakkords 354 (vgl. Riemann,<br />

Vereinfachte Harmonielehre, S. 149)<br />

351 Hier hat der übermäßige Quintsextakkord die Funktion als Zwischendominante. Bei Riemann ist der Klangbuchstabe<br />

gis (erster Akkord) natürlich durchgestrichen.<br />

352 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 179-186. Riemanns von der Mollsubdominante abgeleitete übermäßige<br />

Sextakkorde decken sich also mit der doppeldominantischen Verwendung der übermäßigen Sextakkorde.<br />

Im Handbuch der Harmonielehre werden die von der Dominante abgeleiteten übermäßigen Sextakkorde<br />

hauptsächlich als Dominante eingesetzt, oft auch als Zwischendominante (meist als Zwischendominante zur<br />

Subdominante), aber auch als Doppeldominante.<br />

353 Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 177/128 bzw. Vereinfachte Harmonielehre, S. 149/156.<br />

354 Das Funktionszeichen der Doppeldominante (erster Akkord) ist bei Riemann natürlich durchgestrichen. Hier<br />

nimmt Riemann sogar aus melodischen Gründen die Umdeutung von der kleinen Non zur übermäßigen Oktav<br />

vor (ges zu fis) – ohne sie in seiner Funktionsschrift zu berücksichtigen. Vgl. dazu Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 297 f.<br />

96


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Schenker<br />

Herleitung der alterierten <strong>Akkorde</strong><br />

Schenker fasst die übermäßigen Sextakkorde unter dem Begriff „alterierte <strong>Akkorde</strong>“ zusammen.<br />

Für ihre Herleitung geht er zunächst vom Vierklang auf der V. Stufe in C-Dur, g-h-d-f, aus. Er<br />

lässt die Quint d weg, weil der Dominantseptakkord auch so weiterhin „eindeutig“ ist. 355<br />

Gleichzeitig baut Schenker auf g einen halbverminderten Septakkord auf: g-b-des-f, welcher in<br />

(f-)Moll leitereigen auf der II. Stufe steht. Auch bei diesem Vierklang entfernt Schenker aus<br />

ähnlichen Gründen wie beim Dominantseptakkord einen Ton – hier die Terz b – <strong>und</strong> erhält so gdes-f.<br />

Schenker verbindet die beiden „Akkordreste“ zum Klang g-h-des-f, mit h als Dominantterz<br />

von C-Dur <strong>und</strong> des als tiefalterierte Quint der II. Stufe in f-Moll (Abb. 170). 356 Schenker<br />

beschreibt den Effekt dieses Akkords als den „zweier verschiedener Stufen in zwei verschiedenen<br />

Tonarten“. 357<br />

Abbildung 170: die Verbindung der V. Stufe in C-Dur <strong>und</strong> der II. Stufe in f-Moll ergibt den alterierten Akkord<br />

g-h-des-f (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 367-368)<br />

Durch den zusammengesetzten Akkord g-h-des-f erhält Schenker zwei neue Intervalle: die verminderte<br />

Terz h-des <strong>und</strong> ihre Umkehrung, die übermäßige Sext des-h. Diese beiden Intervalle<br />

sind laut Schenker „stets das Kennzeichen eines alterierten Zustandes“. 358<br />

Übermäßiger Terzquartakkord, Übermäßiger Sextakkord <strong>und</strong> übermäßiger Quintsextakkord<br />

Schenker erwähnt nun die von ihm festgestellte „psychologische Verwandtschaft“ 359 des Dominantseptakkords<br />

g-h-d-f mit dem Dreiklang (VII 3 : h-d-f) <strong>und</strong> den beiden Septakkorden auf der<br />

VII. Stufe in C-Dur (VII í7 : h-d-f-a) bzw. C-„Dur/Moll“ (VII Ì7 : h-d-f-as) <strong>und</strong> alteriert die Quint<br />

(bzw. Terz) d dieser „eindeutigen Erscheinungen“ zu des. Schenker begründet die Übertragung<br />

355 Schenker, Harmonielehre, S. 367. Der verbleibende Zusammenklang g-h-f hat nämlich noch immer als einziger<br />

diatonischer Akkord die Intervallstruktur mit kleiner Sept (g-f) <strong>und</strong> verminderter Quint zwischen Terz <strong>und</strong> Sept<br />

(h-f) (vgl. ebd.).<br />

356 Schenker vergleicht dieses Vorgehen mit seiner „Mischung“, nur dass hier zwei unterschiedliche Tonarten –<br />

hier C-Dur <strong>und</strong> f-Moll – miteinander verb<strong>und</strong>en werden (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 369).<br />

357 Schenker, Harmonielehre, S. 368 f.<br />

358 Schenker, Harmonielehre, S. 369 (im Original gesperrt). Schenker zieht auch den Umkehrschluss: Er verweist<br />

an anderer Stelle darauf, dass nur <strong>Akkorde</strong>, die dieses Intervall zwischen Terz <strong>und</strong> Quint enthalten, zu den alterierten<br />

<strong>Akkorde</strong>n gehören/zu zählen sind (vgl. ebd. S. 374 f.).<br />

Die beiden Intervalle verminderte Terz <strong>und</strong> übermäßige Sext komplettieren außerdem Schenkers Liste der<br />

durch Diatonie <strong>und</strong> Mischung möglichen Intervalle (vgl. ebd., S. 157 f.).<br />

359 Vgl. ebd., S. 250 f.<br />

97


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

des Intervalls h-des auf den Dominantseptakkord <strong>und</strong> die ihm verwandten <strong>Akkorde</strong> damit, „daß<br />

ja der V 3 -Akkord eine der Voraussetzungen des Alterationsprozesses bildet“. 360 Schenker verzichtet<br />

kommentarlos auf die Alterierung des Septakkords auf der VII. Stufe in Dur (h-d-f-a) 361 ;<br />

er erhält also drei alterierte <strong>Akkorde</strong> (<strong>und</strong> ihre Umkehrungen), die alle die verminderte Terz (hdes)<br />

bzw. die übermäßige Sext (des-h) enthalten (Abb. 171).<br />

Abbildung 171: Alterierung der eindeutigen Erscheinungen V 7 , VII <strong>und</strong> VII Ì7 (vgl. Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 370-371)<br />

Der übermäßige Terzquartakkord ist für Schenker Dominantseptakkord mit tiefalterierter<br />

Quint, der übermäßige Sextakkord hat für Schenker die Bedeutung eines Dominantseptakkords<br />

ohne Gr<strong>und</strong>ton mit tiefalterierter Quint <strong>und</strong> der übermäßige Quintsextakkord ist Dominantseptakkord<br />

ohne Gr<strong>und</strong>ton mit kleiner None <strong>und</strong> tiefalterierter Quint. 362 Schenker findet für<br />

alle drei <strong>Akkorde</strong> <strong>und</strong> deren Umkehrungen eine Bezeichnung: „II + V oder ganz präzise: II in<br />

F-moll + V in C-dur“, da eine einzelne Stufenzahl der „vereinigten Wirkung zweier Stufen“<br />

nicht gerecht werden würde. 363 Schenker kritisiert, dass die „Verfasser der bisherigen Lehrbücher“<br />

nur diejenige Umkehrung der drei <strong>Akkorde</strong> anführen, in der die tiefalterierte Quint in der<br />

Bassstimme steht (Abb. 172). 364<br />

360 Ebd., S. 370. Schenker könnte die verminderte Terz h-des innerhalb von C-Dur <strong>und</strong> c-Moll ja ebenfalls auf die<br />

Septakkorde der dritten Stufe (e-g-h-d <strong>und</strong> es-g-b-d) anwenden.<br />

361 Vermutlich führt er den zusammengesetzten Akkord h-des-f-a nicht an, weil sich sonst zwei verschiedene<br />

Quintsextakkorde ergeben würden. Nebenbei bemerkt ist h-des-f-a jener Akkord, den Riemann in der Umkehrung<br />

des-f-a-h als „übermässigen Terzquintsextaccord des Generalbasses“ bzw. als „Mollseptimenaccord mit<br />

übermässiger Quinte“ bezeichnet (vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 173).<br />

362 Den Gr<strong>und</strong>ton (g) des übermäßigen Sextakkordes <strong>und</strong> des übermäßigen Quintsextakkordes muss man „in Gedanken<br />

ergänzen“ (Schenker, Harmonielehre, S. 374 f.). Schenker bezeichnet Alterierungen an den Stufen als<br />

V 7 Ì5, VII í5 Ì3 <strong>und</strong> VII Ì7 Ì3 (vgl. ebd., S. 370).<br />

363 Schenker, Harmonielehre, S. 370.<br />

364 Ebd., S. 371. Daraus lässt sich schließen, dass Schenker alle Umkehrungen dieser übermäßigen Sextakkorde<br />

anerkennt (vgl. Keller, Wilhelm: Heinrich Schenkers Harmonielehre. In: Beiträge zur Musiktheorie des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Studien zur Musikgeschichte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Band 4, hrsg. von Martin Vogel. Regensburg:<br />

Gustav Bosse 1966, S. 203-232, hier S. 228).<br />

98


Abbildung 172: die "gebräuchlichen" Umkehrungen der alterierten <strong>Akkorde</strong><br />

Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Anwendung der übermäßigen Sextakkorde<br />

Schenker schließt aus der festgestellten Zusammensetzung von g-h-des-f, h-des-f <strong>und</strong> h-des-f-as<br />

aus zwei verschiedenen Stufen, dass diese alterierten <strong>Akkorde</strong> auch auf zwei verschiedene Arten<br />

verwendet werden können: als II. Stufe in f-Moll oder als V. Stufe in C-Dur. Das bedeutet<br />

für die Anwendung dieser alterierten <strong>Akkorde</strong>, dass ihnen entweder eine V. <strong>und</strong> eine I. (wenn<br />

der alterierte Akkord als II. Stufe gedacht ist) oder nur eine I. Stufe (wenn der alterierte Akkord<br />

eine V. Stufe darstellen soll) folgen kann: II+V – V – I (in f-Moll) oder II+V – I (in C-Dur)<br />

(Abb. 173). 365 Der alterierte Akkord hat also die Funktion als Doppeldominante oder als Dominante.<br />

Für Schenker stehen beide Varianten der Weiterführung der alterierten <strong>Akkorde</strong> gleichberechtigt<br />

nebeneinander.<br />

Abbildung 173: Verwendung der alterierten <strong>Akkorde</strong> als II. oder als V. Stufe<br />

Die Existenzberechtigung dieser alterierten <strong>Akkorde</strong> begründet Schenker mithilfe der „Tonikalisierung“<br />

366 : Er erklärt die „kombinierte Wirkung zweier Stufen <strong>und</strong> zweier Tonarten“ der alterierten<br />

<strong>Akkorde</strong> als dritten denkbaren Weg der „Tonikalisierung“ – als Verbindung der II. <strong>und</strong><br />

der V. Stufe. 367 Dabei wird „der allzu eindeutige Charakter des V 7 -Akkords durch das g l e i c h -<br />

zeitig hinzutretende Element einer zweiten Stufe in Moll gemildert“. 368<br />

Schenker bringt drei Ausschnitte aus Musikwerken 369 ; die Analyse Schenkers zeigt eindeutig,<br />

dass Schenker den übermäßigen Sextakkord <strong>und</strong> Quintsextakkord als Vertreter des übermä-<br />

365 Schenker spricht hier von der Gr<strong>und</strong>stellung der I. Stufe – nicht wie Schönberg, der ebenfalls von einer I. Stufe<br />

spricht (in zweiter Umkehrung), aber in Wirklichkeit den Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe meint (vgl.<br />

Schönberg, Harmonielehre, S. 296, 298).<br />

366 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 343 ff.<br />

367 Die erste Möglichkeit war das Voranstellen eines Dominantseptakkordes; die zweite, eine zusätzliche II. Stufe<br />

vor dem Dominantseptakkord zu bringen. Die Verwendung der übermäßigen Sextakkorde zur Tonikalisierung<br />

lässt sich mit ihrer Anwendung als Zwischendominante vergleichen.<br />

368 Schenker, Harmonielehre, S. 372 (Sperrung im Original).<br />

369 Vgl. ebd., S. 373 f.: Schenker nimmt jedoch zu seiner Analyse im Text keine Stellung.<br />

99


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

ßigen Terzquartakkords ansieht (Abb. 174) – so wie er den verminderten Septakkord als Vertreter<br />

des Dominantseptakkords auffasst. 370<br />

Abbildung 174: die alterierten <strong>Akkorde</strong> können einander vertreten<br />

Schenker betont, dass das Vorhandensein einer verminderten Terz allein nicht auf einen alterierten<br />

Akkord schließen lässt, sondern dass auch die Lage dieser verminderten Terz innerhalb des<br />

Akkords eine Bedeutung hat. So gelten laut Schenker nur jene <strong>Akkorde</strong> als alteriert, in denen<br />

sich die verminderte Terz zwischen Terz <strong>und</strong> Quint befindet. 371 Das bedeutet im Fall des übermäßigen<br />

Sextakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Quintsextakkords, dass Schenker sie als <strong>Akkorde</strong><br />

mit weggelassenem Gr<strong>und</strong>ton betrachten muss, da sie andernfalls für ihn nicht als alterierte <strong>Akkorde</strong><br />

gelten würden.<br />

Schönberg<br />

Übermäßiger Quintsextakkord<br />

Schönberg geht für die Herleitung des übermäßigen Quintsextakkords – anders als Riemann <strong>und</strong><br />

Schenker vor ihm – von einem Akkord auf der II. Stufe aus. Zunächst zeigt er die „gewöhnliche<br />

Ableitung“: In C-Dur wird der Septakkord auf der II. Stufe in seiner ersten Umkehrung gebracht<br />

(f-a-c-d), dann sein Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> seine Terz erhöht <strong>und</strong> seine Quint erniedrigt, sodass sich der<br />

Akkord fis-as-c-dis ergibt. In c-Moll entsteht der übermäßige Quintsextakkord durch Hochalteration<br />

des Gr<strong>und</strong>tones beim Septakkord auf der IV. Stufe (f-as-c-es wird zu fis-as-c-es) (Abb.<br />

175). Diese beiden <strong>Akkorde</strong> (fis-as-c-dis als II. Stufe in Dur <strong>und</strong> fis-as-c-es als IV. Stufe in<br />

Moll) sind „im Klang gleich <strong>und</strong> in der Funktion ziemlich ähnlich“. 372<br />

370 Vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 250 f. In einem Beispiel findet sich der arpeggierte Akkord b 2 -gis 2 -f 2 -d 2 <strong>und</strong><br />

im Zuge einer Sequenz seine transponierte Fassung g 2 -es 2 -cis 2 -b 1 ; beide bezeichnet Schenker als II Ì5 + V ì3 . Diese<br />

Intervallzusammensetzung hatte Schenker zuvor als Septakkord der VII. Stufe in „Dur/Moll“ (also als übermäßigen<br />

Quintsextakkord) charakterisiert. Diesem Notenbeispiel fügt Schenker in einem zusätzlichen Basssystem<br />

Gr<strong>und</strong>töne hinzu – er ergänzt die beiden übermäßigen Quintsextakkorde um e bzw. a. Dies bestätigt, dass<br />

Schenker den übermäßigen Quintsextakkord als „Vertreter“ des (Doppel-)Dominantseptakkordes mit verminderter<br />

Quint (bzw. des übermäßigen Terzquartakkordes, hier e-gis-b-d bzw. a-cis-es-g) ansieht. (Analog dazu<br />

sieht Schenker den verminderten Septakkord als Stellvertreter des Dominantseptakkordes an.)<br />

Riemann bringt im Handbuch der Harmonielehre zwei Beispiele, die den übermäßigen Terzquartakkord <strong>und</strong><br />

den übermäßigen Quintsextakkord zum vollständigen Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter Quint vereinigen<br />

(vgl. Riemann, Handbuch der Harmonielehre, S. 181/431 <strong>und</strong> S. 209/488).<br />

371 Die <strong>Akkorde</strong> f-a-es-cis <strong>und</strong> e-gis-b-cis z.B. enthalten zwar auch eine verminderte Terz bzw. übermäßige Sext<br />

(cis-es bzw. gis-b); diese kommen aber zwischen einer übermäßigen Quint <strong>und</strong> einer kleinen Sept bzw. zwischen<br />

einer zur reinen erhöhten Quint <strong>und</strong> einer verminderten Sept vor. Beide erhöhten Quinten (Schenker meidet<br />

den Begriff „hochalteriert“) sieht Schenker als „durchgehende Erscheinung“ an (Vgl. Schenker, Harmonielehre,<br />

S. 376 f.).<br />

372 Schönberg, Harmonielehre, S. 296.<br />

100


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 175: der übermäßige Quintsextakkord in Dur <strong>und</strong> Moll (Schönberg, Harmonielehre, S. 296)<br />

Bald stellt Schönberg jedoch die zuvor vorgestellte Herleitung des übermäßigen Quintsextakkords<br />

(von der II. Stufe in Dur bzw. der IV. Stufe in Moll) in Frage, da er einerseits die Erhöhung<br />

des Gr<strong>und</strong>tones, andererseits das Abstammen des Akkords von zwei verschiedenen Stufen<br />

problematisch findet. Daher nennt Schönberg nun seine Auffassung des übermäßigen Quintsextakkords:<br />

Er bildet auf der II. Stufe – gleichermaßen in C-Dur <strong>und</strong> in c-Moll – den „Nebendominant-Sept-Non-Akkord“<br />

d-fis-a-c-es; dann lässt er den Gr<strong>und</strong>ton (d) weg <strong>und</strong> erniedrigt die<br />

Quint a zu as (Abb. 176).<br />

Abbildung 176: Ableitung des übermäßigen Quintsextakkords aus dem Nebendominantseptakkord der II.<br />

Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S. 297)<br />

Nur in der Stellung fis-as-c-es nennt Schönberg den Zusammenklang „übermäßigen Quintsextakkord“<br />

373 – die weiteren Umkehrungen dieses Akkords haben bei Schönberg eine eigene Bezeichnung.<br />

Für Schönberg ist es ohne Weiteres möglich, dass statt es dis im Akkord auftritt; er<br />

begründet dies mit der schon beim verminderten Septakkord verwendeten enharmonischen Umdeutung<br />

von es zu dis. 374<br />

Schönberg sieht den übermäßigen Quintsextakkord als Vertreter hauptsächlich der II., aber<br />

auch der IV. Stufe an. Ihm kann sowohl der kadenzierende Quartsextakkord folgen – Schönberg<br />

sieht diesen jedoch als dritte Umkehrung der I. Stufe an – als auch der Dreiklang der V. Stufe<br />

(Abb. 177). Schönberg erwähnt, dass sich beim Auflösen des übermäßigen Quintsextakkords in<br />

373 Somit wird Schönbergs übermäßiger Quintsextakkord zwar durch dieselben Töne gebildet wie der heute bekannte,<br />

jedoch in einer anderen Umkehrung: die heutige Theorie sieht den Quintsextakkord as-c-es-fis als<br />

übermäßigen Quintsextakkord an, Schönberg den verkürzten Nonenakkord mit Terz im Bass, fis-as-c-es.<br />

Schönberg übernahm wohl nur deshalb den Begriff „Quintsextakkord“, weil er damit ausdrücken will, dass es<br />

sich um eine (erste) Umkehrung handelt.<br />

374 Schönberg, Harmonielehre, S. 237 f. Schönberg ist bei enharmonischer Verwechslung, die der leichteren Lesbarkeit<br />

bzw. dem besseren Verständnis dient, prinzipiell nicht so streng (vgl. ebd., S. 307, 319, 424, 456).<br />

Aber sogar Riemann nimmt aus melodischen Gründen diese Umdeutung von der kleinen Non zur übermäßigen<br />

Oktav vor – ohne sie in seiner Funktionsschrift zu berücksichtigen: In einem von ihm ausgesetzten Beispiel (einem<br />

sogenannten „Musterbeispiel“) folgt einem doppeldominantischen übermäßigen Quintsextakkord der kadenzierende<br />

Dur-Quartsextakkord der Dominante in Es-Dur, ces-es-a-fis – b-es-b-g statt ces-es-a-ges – b-es-bg<br />

(vgl. Riemann, Vereinfachte Harmonielehre, S. 149/156).<br />

101


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

den Dreiklang der V. Stufe parallele Quinten ergeben (die sogenannten „Mozart-Quinten“),<br />

welche für Schönberg zulässig sind, „weil sie Mozart geschrieben hat“ 375 (Abb. 177, T. 3).<br />

Abbildung 177: Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die V. Stufe (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 297)<br />

Aus der Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die V. („authentischer Schritt“) <strong>und</strong> in<br />

die I. Stufe („trugschlussartiger Schritt“) folgert Schönberg, dass auch die Fortsetzung des<br />

übermäßigen Quintsextakkords in die III. Stufe (zweiter Trugschlussschritt) möglich ist (Abb.<br />

178). 376<br />

Abbildung 178: Auflösung des übermäßigen Quintsextakkords in die III. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

297)<br />

Der übermäßige Quintsextakkord wird „in Dur eingeführt, wie die <strong>Akkorde</strong> der Mollunterdominantbeziehungen;<br />

in Moll ähnlich wie eine Nebendominante oder ein verminderter 7-<br />

Akkord“ 377 , tritt demnach in Dur als Doppeldominante auf <strong>und</strong> in Moll als Zwischendominante.<br />

Umkehrungen des übermäßigen Quintsextakkords<br />

Schönberg geht nicht mit der gängigen Meinung konform, dass der übermäßige Terzquartakkord<br />

einen anderen Akkord darstellt als der übermäßige Quintsextakkord. 378 Schönbergs Auffassung<br />

ist, dass der übermäßige Terzquartakkord <strong>und</strong> der übermäßige Sek<strong>und</strong>akkord „Umkehrungen<br />

desselben Stammakkords“ sind. 379 Der übermäßige Terzquartakkord ist bei Schönberg<br />

demnach zweite Umkehrung des „Stammakkords“ (d)-fis-as-c-es (bzw. erste Umkehrung<br />

375 Schönberg, Harmonielehre, S. 296.<br />

376 Ebd., S. 298.<br />

377 Ebd.<br />

378 Ebd., S. 296 (Anm.).<br />

379 Ebd., S. 299.<br />

102


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

des übermäßigen Quintsextakkords fis-as-c-es) <strong>und</strong> lautet as-c-es-fis 380 (Abb. 179, T. 2). Der<br />

übermäßige Sek<strong>und</strong>akkord lautet c-es-fis-as <strong>und</strong> ist zweite Umkehrung des übermäßigen<br />

Quintsextakkords (bzw. dritte Umkehrung des Stammakkords, Abb. 179, T. 3). Mit Schönbergs<br />

Auffassung des übermäßigen Terzquartakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Sek<strong>und</strong>akkords als Umkehrungen<br />

des übermäßigen Quintsextakkords erübrigt sich, über deren Verwendung zu sprechen:<br />

„Sie stehen dort, wo der übermäßige 5 6 -Akkord stehen kann, <strong>und</strong> die melodische Linie<br />

einen anderen Baßton verlangt.“ 381<br />

Abbildung 179: übermäßiger Terzquartakkord <strong>und</strong> übermäßiger Sek<strong>und</strong>akkord als Umkehrungen des übermäßigen<br />

Quintsextakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)<br />

Schönberg nennt weiters noch eine vierte Umkehrung des Nonenakkords d-fis-as-c-es: es-fis-asc<br />

oder dis-fis-as-c (Abb. 180). 382<br />

Abbildung 180: vierte Umkehrung des Nonenakkords (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)<br />

Übermäßiger Sextakkord<br />

Den übermäßigen Sextakkord erhält Schönberg ebenfalls aus dem übermäßigen Quintsextakkord<br />

fis-as-c-es: Dieser ergibt sich, wenn man die None des „Stammakkords“ d-fis-as-c-es bzw.<br />

die Sept des übermäßigen Quintsextakkords (es) weglässt. Möglich sind laut Schönberg alle<br />

Umkehrungen: fis-as-c, as-c-fis (der eigentliche übermäßige Sextakkord) <strong>und</strong> c-fis-as (Abb.<br />

181). 383 Der übermäßige Sextakkord wird an denselben Stellen eingesetzt wie der übermäßige<br />

380 Diese Umkehrung – as-c-es-fis – nennt die heutige Theorie „übermäßigen Quintsextakkord“.<br />

381 Schönberg, Harmonielehre, S. 299.<br />

382 Ebd., S. 300. Schönberg, ist der Meinung, dass diese mögliche vierte Umkehrung seine Herleitung des übermäßigen<br />

Quintsextakkords als richtig bestätigt. Denn bei der Entstehungsweise des übermäßigen Quintsextakkords<br />

aus dem Septakkord der II. Stufe in Dur bzw. der IV. Stufe in Moll ist eine vierte Umkehrung des Akkords<br />

nicht zielführend, da sie wieder den Ausgangsakkord ergeben würde. Eine vierte Umkehrung des übermäßigen<br />

Quintsextakkords gibt es aber nur deshalb, weil Schönberg den übermäßigen Quintsextakkord schon als erste<br />

Umkehrung ansieht (eine „Gr<strong>und</strong>stellung“ existiert jedoch nicht, weil der Gr<strong>und</strong>ton weggelassen ist). Inwiefern<br />

jedoch die Möglichkeit einer vierten Umkehrung Schönbergs Ableitung des übermäßigen Quintsextakkords<br />

vom Nonenakkord bekräftigen soll, ist jedoch nicht klar. Vermutlich versucht Schönberg lediglich, seine Theorie<br />

der Umkehrung von Nonenakkorden (vgl. ebd., S. 416-419) zu untermauern.<br />

383 Was die Benennung der übermäßigen Sextakkorde betrifft, ist in Schönbergs Theorie eine gewisse Unlogik<br />

spürbar: Fast jede Umkehrung des alterierten Nonenakkords erhält bei Schönberg einen eigenen Namen (nicht<br />

die vierte Umkehrung), jedoch trifft dies nicht auf die Umkehrungen des übermäßigen Sextakkordes zu.<br />

103


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Quintsextakkord <strong>und</strong> seine Umkehrungen, Schönbergs Ansicht nach „dann, wenn man sich<br />

nicht traut, Quinten zu schreiben“. 384<br />

Abbildung 181: übermäßiger Sextakkord (Schönberg, Harmonielehre, S. 299)<br />

Schönbergs Aussage, dass der übermäßige Sextakkord dem übermäßigen Quintsextakkord gegenübersteht<br />

wie der verminderte Dreiklang der VII. Stufe dem Septakkord der V., ist falsch;<br />

richtig hingegen ist die auch geäußerte Ähnlichkeit mit dem Verhältnis des verminderten Dreiklangs<br />

zum verminderten Septakkord (Abb. 182). 385 Jedoch zeigt diese Anmerkung Schönbergs,<br />

dass er ähnlich wie Schenker eine Verwandtschaft zwischen all diesen <strong>Akkorde</strong>n erkennen<br />

kann.<br />

Abbildung 182: Verhältnis übermäßiger Sextakkord / Quintsextakkord bzw. verminderter Dreiklang / Septakkord<br />

Übermäßiger Terzquartakkord<br />

Den heute als übermäßigen Terzquartakkord bekannten alterierten Akkord 386 erhält Schönberg<br />

ebenfalls aus der II. Stufe, mittels Alterierung der Terz zur großen <strong>und</strong> der Quint zur verminderten<br />

(Abb. 183) – jedoch erwähnt er nicht die offensichtliche Verwandtschaft mit dem übermäßigen<br />

Quintsextakkord. Für Schönberg stellt der Akkord eine „Verbindung der Oberdominant-<br />

(Nebendominant-)Möglichkeiten mit den Mollunterdominantbeziehungen“ dar. 387<br />

Abbildung 183: Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords aus der II. Stufe (Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

308)<br />

384 Schönberg, Harmonielehre, S. 300.<br />

385 Ebd.<br />

386 Schönberg bezeichnet diesen Akkord nur als „noch einen vagierenden“ (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S.<br />

307).<br />

387 Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Diese Betrachtungsweise des übermäßigen Terzquartakkords stimmt mit<br />

der Auffassung Schenkers überein, der die alterierten <strong>Akkorde</strong> als Verbindung der II. <strong>und</strong> V. Stufe deutet (vgl.<br />

Schenker, Harmonielehre, S. 367 f.).<br />

104


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Um die Verbindung des übermäßigen Terzquartakkords mit der erniedrigten II. Stufe, also die<br />

Harmoniefolge II-II (Abb. 184, T. 1) darzustellen, hilft sich Schönberg mit einer Herleitung des<br />

Akkords vom übermäßigen Quintsextakkord (die kleine Non wird zur verminderten, Abb. 184,<br />

T. 2) bzw. vom enharmonisch verwechselten Dominantseptakkord (mit verminderter Quint)<br />

(Abb. 184, T. 3 <strong>und</strong> 4). 388 In beiden Fällen wird der Gr<strong>und</strong>ton d des übermäßigen Terzquartakkords<br />

zu eses umgedeutet.<br />

Abbildung 184: Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords vom übermäßigen Quintsextakkord bzw. vom<br />

enharmonisch verwechselten Dominantseptakkord (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 308)<br />

Die den Harmonieschritt d-des erklärende Umdeutung zu as-des ist bei den herkömmlichen<br />

Harmoniefolgen der II. Stufe (II-V, II-III <strong>und</strong> II-I 389 , Abb. 185) nicht sinnvoll, denn das hieße,<br />

dass der Gr<strong>und</strong>ton des übermäßigen Terzquartakkords eigentlich nur eine enharmonische Verwechslung<br />

der tiefalterierten Quint ist. 390<br />

Abbildung 185: "gebräuchliche" Auflösungen des übermäßigen Terzquartakkords<br />

Schönberg gibt den übermäßigen Terzquartakkord auch als mögliche Deutung des Tristanakkords<br />

an – wenn gis als Vorhalt zu a betrachtet wird. 391<br />

Anwendung der übermäßigen Sextakkorde<br />

In den Notenbeispielen 392 – wie fast überall in Schönbergs Harmonielehre in Form von unrhythmisierten<br />

„Beispielsätzchen“ – zeigt Schönberg die Einführung <strong>und</strong> Auflösung des übermäßigen<br />

Quintsextakkords (Abb. 186) bzw. seiner Umkehrungen. Nach Schönberg erfordern<br />

388 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Diese enharmonische Umdeutung des übermäßigen Terzquartakkords<br />

d-fis-as-c ergibt also einen weiteren übermäßigen Terzquartakkord, as-c-eses-ges. Schönberg erkennt dies offenbar<br />

nicht. Auch nimmt er keinen Bezug darauf, in welchem Verhältnis dieser übermäßige Terzquartakkord<br />

zum übermäßigen Quintsextakkord steht (der übermäßige Terzquartakkord besitzt statt der Non des übermäßigen<br />

Quintsextakkords den Gr<strong>und</strong>ton).<br />

389 Der hier als „II-I“ angegebene F<strong>und</strong>amentschritt ist keiner, denn die I. Stufe (hier e-g-g-c) ist in Wirklichkeit V.<br />

mit Quartsextvorhalt.<br />

390 Schönberg, Harmonielehre, S. 309. Ähnliches lässt sich für den halbverminderten Septakkord der II. Stufe<br />

sagen (vgl. ebd.).<br />

391 Vgl. ebd., S. 310 bzw. Kapitel „Tristanakkord“.<br />

392 Schönberg, Harmonielehre, S. 300-304 (Nr. 185).<br />

105


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

die übermäßigen Sextakkorde im Gegensatz zu den „anderen Septakkorden“ keine Vorberei-<br />

tung. 393<br />

Abbildung 186: Einführungsmöglichkeiten des übermäßigen Quintsextakkords (vgl. Schönberg, Harmonielehre,<br />

S. 300-304)<br />

In Dur werden beide Schreibweisen des übermäßigen Quintsextakkords (fis-as-c-es oder fis-asc-dis)<br />

bzw. seiner Umkehrungen gebraucht. 394 In den Moll-Beispielen wird ausschließlich die<br />

Notierung mit es angewandt. Die Schreibweise mit dis führt in Schönbergs Beispieltonsätzen<br />

immer in den Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe (welchen er jedoch als zweite Umkehrung<br />

der I. Stufe bezeichnet) mit meist anschließendem Dominantseptakkord, in der Schreibweise mit<br />

es folgt dem übermäßigen Quintsextakkord entweder der kadenzierende Quartsextakkord oder<br />

der Dreiklang (oder Septakkord) der V. Stufe (vgl. Abb. 177).<br />

Analog zur „künstlichen Herstellung“ der Dominante, des verminderten Dreiklangs <strong>und</strong> des<br />

verminderten Septakkords („Nebendominanten“ 395 ) überträgt Schönberg nun auch den übermäßigen<br />

Quintsextakkord auf alle Stufen. 396 Diese werden wie Zwischendominanten eingesetzt<br />

<strong>und</strong> lösen sich meist in ihre „Nebentonika“ 397 auf (Abb. 187, T. 2) oder werden trugschlüssig<br />

weitergeführt (Abb. 187, T. 1 <strong>und</strong> 3) – um einen Sek<strong>und</strong>schritt des F<strong>und</strong>aments, also des nicht<br />

vorhandenen Gr<strong>und</strong>tons abwärts.<br />

393 Ebd., S. 300. Schönbergs Begründung dafür lautet folgendermaßen: Die eigentliche Sept, c in d-fis-as-c-es, ist<br />

im Akkord fis-as-c-es <strong>und</strong> seinen Umkehrungen verminderte Quint, <strong>und</strong> die None, es in d-fis-as-c-es, ist in fisas-c-es<br />

verminderte Sept. Beide Intervalle konnten in Schönbergs Harmonielehre schon vorher unvorbereitet<br />

eingeführt werden (vgl. ebd., S. 171 f.).<br />

Schönberg führt die übermäßigen Sextakkorde in den Beispielen durch <strong>Akkorde</strong> auf allen Stufen ein – dabei<br />

bevorzugt er das schrittweise <strong>und</strong> chromatische Erreichen der Akkordtöne.<br />

394 Schönberg bringt in den Dur-Beispielen beide Schreibweisen des übermäßigen Quintsextakkordes <strong>und</strong> des<br />

übermäßigen Sek<strong>und</strong>akkordes, der übermäßige Terzquartakkord jedoch erscheint in Dur nur mit dis. Auf das<br />

mögliche Erscheinen des übermäßigen Terzquartakkords <strong>und</strong> Sek<strong>und</strong>akkords mit dis statt es hatte Schönberg<br />

jedoch zuvor nicht explizit hingewiesen.<br />

395 Schönberg, Harmonielehre, S. 207 f.<br />

396 Schönberg nimmt gedanklich auch die Übertragung auf die Umkehrungen des übermäßigen Quintsextakkords<br />

<strong>und</strong> den übermäßigen Sextakkord vor (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 304).<br />

397 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 462.<br />

106


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 187: Weiterführungsmöglichkeiten des nebendominantischen übermäßigen Quintsextakkords (vgl.<br />

Schönberg, Harmonielehre, S. 305)<br />

Auch bei den übermäßigen Sextakkorden kommt Schönbergs „Nachlässigkeit“ bei harmonisch<br />

richtiger Notierung zu tragen, denn er verwechselt des Öfteren Akkordtöne enharmonisch, um<br />

melodisch richtig zu notieren 398 : „Es ist überflüssig zu sagen, daß es nicht viel zum Zweck hat,<br />

sich den Kopf zu zerbrechen, ob man wegen der harmonischen Bedeutung cis oder des, gis oder<br />

as schreiben soll. Man schreibt das Einfachste.“ 399<br />

Schönberg weist auch darauf hin, dass der übermäßige Quintsextakkord durch enharmonische<br />

Verwechslung einen Dominantseptakkord darstellt <strong>und</strong> zeigt, wie man mit diesem Wissen<br />

die Tonart „bereichern“ kann: Indem man die Terz des Nonenakkords (bzw. den Gr<strong>und</strong>ton des<br />

übermäßigen Quintsextakkords) enharmonisch verwechselt, wird diese zur Sept eines Dominantseptakkords.<br />

Der übermäßige Quintsextakkord ermöglicht so, weit entfernte Tonarten in die<br />

Komposition einzubeziehen: Auf den übermäßigen Quintsextakkord in C-Dur (fis-as-c-es) folgt<br />

normalerweise der Dreiklang oder der Vorhaltsquartsextakkord der V. Stufe (g-h-d oder g-c-e).<br />

Durch die Umdeutung des fis zu ges wird der übermäßige Quintsextakkord zum Dominantseptakkord<br />

in Des-Dur (as-c-es-ges) (Abb. 188). 400 Auf diese Weise gelangt man zu einer um einen<br />

Tritonus entfernten Tonart, also folgt statt der erwarteten V. die erniedrigte II. Stufe.<br />

Abbildung 188: enharmonische Verwechslung des übermäßigen Quintsextakkords zum Dominantseptakkord<br />

(vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 299)<br />

Schönberg verbindet die übermäßigen Sextakkorde auch mit dem verminderten Septakkord,<br />

dem übermäßigen Dreiklang <strong>und</strong> dem neapolitanischen Sextakkord (Abb. 189).<br />

398 So notiert Schönberg etwa den künstlichen übermäßigen Quintsextakkord auf der I. Stufe in C-Dur als e-ges-bcis<br />

statt e-ges-b-des (vgl. Abb. 187, T. 1), oder jenen auf der III. Stufe in Moll statt (es-)g-heses-des-fes als g-acis-e<br />

(Schönberg, Harmonielehre, S. 304/186).<br />

399 Schönberg, Harmonielehre, S. 307.<br />

400 Diese Umdeutung ist natürlich auch in die andere Richtung möglich: ein Dominantseptakkord wird durch die<br />

enharmonische Umdeutung seiner Sept zum übermäßigen Quintsextakkord.<br />

107


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

Abbildung 189: die übermäßigen Sextakkorde in Verbindung mit anderen vagierenden <strong>Akkorde</strong>n<br />

Zusammenfassung<br />

Riemann leitet die übermäßigen Sextakkorde – wie auch alle anderen vagierenden <strong>Akkorde</strong> –<br />

von der Durdominante <strong>und</strong> von der Mollsubdominante ab. Auf diese Weise ergeben sich im Fall<br />

des übermäßigen Sextakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Terzquartakkords die heute bekannten <strong>Akkorde</strong>.<br />

Die dominantische Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords <strong>und</strong> des übermäßigen<br />

Sextakkords als „verminderte Quintakkorde“ stimmt mit der heutigen Theorie überein. Die Ableitung<br />

des übermäßigen Terzquartakkords <strong>und</strong> des übermäßigen Sextakkords von der Mollsubdominante<br />

enthält zwar dieselben Töne wie der (verkürzte) Doppeldominantseptakkord mit<br />

tiefalterierter Quint; Riemann versteht jedoch im Akkord h-dis-f(-a) das dis als (hoch-)alterierten<br />

Ton, während in der Doppeldominante f der (tief-)alterierte Ton ist. Den übermäßigen<br />

Quintsextakkord der heutigen Theorie als verkürzten Dominantseptnonakkord mit tiefalterierter<br />

Quint erwähnt Riemann nicht.<br />

Ähnlich wie Riemann baut Schenker die übermäßigen Sextakkorde auf der V. Stufe in Dur<br />

auf. Seine Herleitung der übermäßigen Sextakkorde als alterierte Dominantsept(non)akkorde<br />

(mit bzw. ohne Gr<strong>und</strong>ton) stimmt vollständig mit der heutigen Auffassung dieser <strong>Akkorde</strong><br />

überein. Schenker unterscheidet den übermäßigen Terzquartakkord, den übermäßigen Sextak-<br />

108


Vagierende <strong>Akkorde</strong> – übermäßige Sextakkorde<br />

kord <strong>und</strong> den übermäßigen Quintsextakkord nicht voneinander, für ihn stellen sie dieselbe Stufe<br />

dar (II+V) – ähnlich wie Dominantseptakkord, verminderter Dreiklang <strong>und</strong> verminderter Septakkord,<br />

die Schenker jedoch in der Analyse unterschiedlich bezeichnet (V 7 , VII <strong>und</strong> VII 7 ). Die<br />

doppeldominantische Funktion der übermäßigen Sextakkorde erklärt Schenker mithilfe seiner<br />

Ableitung der alterierten <strong>Akkorde</strong>: Die übermäßigen Sextakkorde können sowohl als II. als auch<br />

als V. Stufe angewendet werden, da sie für ihn eine Zusammensetzung der leitereigenen Septakkorde<br />

auf der II. Stufe in Moll <strong>und</strong> der V. Stufe in Dur sind. Auch die übermäßigen Sextakkorde<br />

können bei Schenker zur Tonikalisierung einer nachfolgenden Stufe – also als Zwischendominante<br />

eingesetzt werden.<br />

Schönberg ist der Einzige der drei hier untersuchten Autoren, der den übermäßigen Sextakkorden<br />

nur doppeldominantische Funktion zugesteht, da er sie von der II. Stufe ableitet. Im<br />

Gr<strong>und</strong>e können die übermäßigen Sextakkorde bei Schönberg jedoch infolge des Nachbildungsprinzips<br />

auf jeder Stufe stehen. Schönberg erkennt, dass der übermäßige Quintsextakkord <strong>und</strong><br />

der übermäßige Sextakkord <strong>Akkorde</strong> ohne Gr<strong>und</strong>ton sind, übersieht aber deren Verwandtschaft<br />

mit dem übermäßigen Terzquartakkord. Den übermäßigen Terzquartakkord bildet Schönberg –<br />

Schenkers Ableitung in etwa entsprechend – aus einer Verbindung der II. Mollstufe mit der<br />

Nebendominante der II. Stufe. Ähnlich wie Schenker bezeichnet Schönberg alle übermäßigen<br />

Sextakkorde gleich (als II. Stufe), macht dies aber nicht bei Dominantseptakkord, vermindertem<br />

Dreiklang <strong>und</strong> vermindertem Septakkord (V, VII <strong>und</strong> V). Nur Schönberg spricht auch über die<br />

Modulationsfähigkeit des übermäßigen Quintsextakkords wegen seiner Klanggleichheit mit<br />

dem Dominantseptakkord.<br />

109


III Anwendung der <strong>Theorien</strong><br />

110<br />

Anwendung der <strong>Theorien</strong><br />

In diesem Kapitel wird die Anwendbarkeit der <strong>Theorien</strong> Hugo Riemanns, Heinrich Schenkers<br />

<strong>und</strong> Arnold Schönbergs erprobt, denn Vor- <strong>und</strong> Nachteile einer Theorie offenbaren sich oft erst<br />

mit der konkreten Anwendung. Anhand einer harmonischen Analyse werden die <strong>Theorien</strong> einander<br />

gegenübergestellt <strong>und</strong> miteinander verglichen. Gr<strong>und</strong>lage der Analyse ist Johannes<br />

Brahms’ Intermezzo in b-Moll, op. 117/2. Form, Motivik oder Stimmführung des Intermezzo<br />

sollen an dieser Stelle nicht Gegenstand der Untersuchung sein; es wird alleine die Harmonik<br />

ausgewählter Abschnitte von op. 117/2 berücksichtigt <strong>und</strong> ihre mögliche Deutung durch Riemann,<br />

Schenker <strong>und</strong> Schönberg behandelt. Im Anschluss daran wird auch ein kurzer Ausschnitt<br />

aus einer frühen Komposition Arnold Schönbergs (Streichsextett Verklärte Nacht, op. 4) diskutiert.<br />

In der vorliegenden harmonischen Analyse des Intermezzo op. 117/2 steht die Behandlung<br />

<strong>vagierender</strong> <strong>Akkorde</strong> wie verminderter Dreiklänge oder übermäßiger Sextakkorde im Vordergr<strong>und</strong>;<br />

auch Sequenzen sind Gegenstand der Betrachtung. 401 Die Interpretationen der ausgewählten<br />

Abschnitte durch Riemann, Schenker <strong>und</strong> Schönberg werden einander in Tabellenform<br />

gegenübergestellt. Die unterschiedliche Breite der Kästchen soll das ungefähre zeitliche Verhältnis<br />

der Harmonien zueinander sichtbar machen. 402 Der Übersichtlichkeit halber wurde in<br />

den meisten Fällen angenommen, dass Riemann, Schenker <strong>und</strong> Schönberg der gleichen Meinung<br />

gewesen wären, was die herrschende Tonart betrifft. Die Darstellung von Riemanns Interpretationen<br />

erfolgt durch die von ihm entworfene Funktionsschrift. Schenkers <strong>und</strong> Schönbergs<br />

Stufenbezeichnungen unterscheiden sich dahingehend, dass nur Schenker den Unterschied zwischen<br />

leitereigenen <strong>und</strong> chromatisch veränderten <strong>Akkorde</strong>n mithilfe von Akzidentien <strong>und</strong> Ziffern<br />

erkennbar macht. 403 Um eine einigermaßen überschaubare Darstellung der unterschiedlichen<br />

Auffassungen zu erhalten, werden Dreiklänge <strong>und</strong> Septakkorde nicht als Umkehrungen<br />

dargestellt.<br />

401 Um Red<strong>und</strong>anzen bei den Notenausschnitten <strong>und</strong> Tabellen zu vermeiden, überschneiden sich die Kapitel teilweise.<br />

402 Aufgr<strong>und</strong> des Zusammenwirkens längerer Abschnitte <strong>und</strong> komplizierter Darstellungen (v.a. Riemanns) war es<br />

jedoch manchmal nicht möglich, das zeitliche Verhältnis 2:1 darzustellen (vgl. z.B. Tabelle T. 65 f.). Außerdem<br />

wurde versucht, alle behandelten Abschnitte ohne Umbruch darzustellen – bis auf die Abbildung der Sequenz<br />

Takt 62-73 war dies immer möglich.<br />

403 Schönberg kennzeichnet <strong>Akkorde</strong> in der Harmonielehre nur mit der Stufenzahl, gelegentlich sind die Stufenzahlen<br />

aber auch durch Ziffern ergänzt: zur Darstellung einer Umkehrung ( 6 , 4 6 ) bzw. zur Kennzeichnung eines<br />

Septakkords ( 7 , 5 6 , 3 4 , 2 ). In einem einzigen Beispiel in der Harmonielehre finden sich auch Akzidentien in Zusammenhang<br />

mit Stufenzahlen oder Akkordtönen (vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 119/49).


Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2 (ca. 1892)<br />

111<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

In Abb. 190 ist der harmonische Extrakt des gesamten Intermezzo b-Moll op. 117/2 von Johannes<br />

Brahms zu sehen. Hier wurde der tatsächliche Melodie- <strong>und</strong> Bassverlauf berücksichtigt,<br />

soweit dies auf nur einem Notensystem möglich ist.<br />

Abbildung 190: Johannes Brahms, Intermezzo op. 117/2 – harmonischer Extrakt<br />

Verminderter Dreiklang<br />

Verminderte Dreiklänge sind im Intermezzo op. 117/2 von Johannes Brahms relativ selten: Nur<br />

am Beginn des ersten Themas (Auftakt zu T. 1, 2, 10, 11 <strong>und</strong> 61) <strong>und</strong> in Takt 20 (erstes <strong>und</strong><br />

drittes Achtel) werden von Brahms verminderte Dreiklänge eingesetzt. In zwei Fällen (T. 10.3<br />

<strong>und</strong> 20.3) haben die verminderten Dreiklänge in diesem Intermezzo die Funktion als VII. Stufe<br />

bzw. als Dominantseptakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton, ansonsten stellt der verminderte Dreiklang in<br />

diesem Intermezzo immer die II. Stufe dar (bzw. die Mollsubdominante mit kleiner Sext statt<br />

Quint).


Abbildung 191: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 7 bis 12 404<br />

Takt 10 11<br />

Riemann b-Moll X VII o T (C 7 ) D VII><br />

Schenker b-Moll II I<br />

Schönberg b-Moll<br />

II<br />

VII<br />

I<br />

VI<br />

II<br />

II<br />

VII<br />

VII<br />

III 7<br />

I<br />

III<br />

I<br />

112<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Der verminderte Dreiklang es-ges-c als Auftakt zu Takt 10 405 (Abb. 191) kann auf verschiedene<br />

Arten aufgefasst werden: er kann in b-Moll II. Stufe sein, IV. Stufe mit Sext statt Quint oder<br />

auch Vertreter der V. Stufe – als Quint, Sept <strong>und</strong> Non eines Dominantseptnonakkords. Diese<br />

Auffassung des verminderten Dreiklangs c-es-ges als Dominantseptakkord über f ohne Gr<strong>und</strong>ton<br />

<strong>und</strong> Terz wird begünstigt durch das Auftreten des verkürzten Dominantseptnonakkords ohne<br />

Quint (a-es-ges) in Takt 9 <strong>und</strong> Takt 60. Riemann würde diesen ersten verminderten Dreiklang<br />

als verkürzten Unterseptimenakkord darstellen, da ihm die Tonika folgt. Damit interpretiert er<br />

den verminderten Dreiklang als IV. Stufe mit Sext statt Quint. Schenker <strong>und</strong> Schönberg fassen<br />

ihn als II. Stufe auf. Es bleibt offen, wie Schenker diesen verminderten Dreiklang interpretieren<br />

würde, da er den verminderten Dreiklang auf der II. Stufe in seiner Harmonielehre nicht bespricht.<br />

406 Schönberg sieht in der Stufenfolge II-I möglicherweise eine Nachbildung der Stufen-<br />

404 Alle folgenden Notenausschnitte sind entnommen aus: Brahms, Johannes: Klavierstücke. Nach Eigenschriften,<br />

Abschriften <strong>und</strong> den Handexemplaren des Komponisten, hrsg. von Monica Steegmann, Fingersatz von Walter<br />

Georgii. München: Henle 1976.<br />

405 Der Auftakt zu Takt 10 entspricht dem Beginn des Intermezzos <strong>und</strong> dem Auftakt zu Takt 61.<br />

406 Schenker erwähnt in seiner Harmonielehre zwar den verminderten Dreiklang als leitereigene II. Stufe der Molltonart,<br />

bespricht aber ausschließlich die Aufgabe des verminderten Dreiklangs der VII. Stufe (als Vertreter der<br />

V. Stufe bzw. zur Tonikalisierung).


113<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

folge VII-VI (in Des-Dur), die er als Stellvertretung der Trugschlussfortschreitung V-VI auf-<br />

fasst. 407<br />

Derselbe verminderte Dreiklang (es-ges-c) hat einen Takt später Dominantfunktion zum folgenden<br />

Des-Dur-Septakkord (Auftakt zu Takt 11). Schenker interpretiert ihn – ähnlich wie<br />

Riemann – im Prinzip als verkürzte Zwischendominante, da die Stufenfolge II-III in Moll dem<br />

„Tonikalisierungsmodell VII-I“ entspricht. Schönbergs Auslegung des verminderten Dreiklangs<br />

ist auch hier fraglich, er könnte aber die Folge II-III ebenfalls als Nachahmung der Folge VII-I<br />

<strong>und</strong> damit als Vertreter der Folge V-I deuten.<br />

Halbverminderter Septakkord<br />

Auch der halbverminderte Septakkord wird im Intermezzo op. 117/2 nicht allzu oft gebraucht<br />

(T. 5, 24.3, 47.3, 51.2/3 <strong>und</strong> 56). Ähnlich wie mit dem verminderten Dreiklang verhält es sich<br />

mit dem halbverminderten Septakkord: Er steht immer für die II. Stufe (oder für die Mollsubdominante<br />

mit hinzugefügter Sext) – zweimal als Bestandteil einer Sequenz (T. 5 bzw. 56).<br />

Abbildung 192: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 49 bis 54<br />

Takt 49-51 51.2/3 52<br />

Riemann es-Moll V7 9> S VII D 7<br />

407 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 172. Diese Interpretation ist aber fraglich, da Schönberg die Behandlung<br />

des verminderten Dreiklangs im Sinn der VII. Stufe (Harmonieschritte VII-I, VII-VI <strong>und</strong> VII-IV) nur für die<br />

„künstlich verminderten Dreiklänge“ auf der I., III., IV. <strong>und</strong> V. Stufe erwähnt (vgl. ebd., S. 228). Die reguläre<br />

Fortschreitung des verminderten Dreiklangs der II. Stufe bei Schönberg ist die V. Stufe.<br />

Schenker spricht in seiner Harmonielehre zwar auch über „Trugschlusschromatisierung“, aber nur in Zusammenhang<br />

mit dem steigenden Sek<strong>und</strong>schritt (vgl. Schenker, Harmonielehre, S. 360 f. bzw. Kapitel „<strong>Theorien</strong><br />

<strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker“).


Schenker es-Moll<br />

Schönberg es-Moll II<br />

ìIV Ì7<br />

VII<br />

II 7<br />

114<br />

V 7<br />

I<br />

II V<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Der halbverminderte Septakkord f-as-ces-es beim Auftakt zu Takt 52 (Abb. 192) steht für eine<br />

II. Stufe oder Subdominante mit hinzugefügter Sext in es-Moll. 408 Diesen Bezug zur Subdominante<br />

stellt Riemann mit seiner Interpretation des halbverminderten Septakkords auf der II. Stufe<br />

in Moll als Ableitung von der Subdominante her. Der Gr<strong>und</strong>ton des halbverminderten Septakkords<br />

f-as-ces-es (T. 51.2/3) ist derselbe wie der weggelassene Gr<strong>und</strong>ton (f) des ihm vorausgehenden<br />

verminderten Septakkords a-c-es-ges (T. 49-51). Offensichtlich wird dies nur in<br />

Schönbergs Darstellung, da hier für ihn beide <strong>Akkorde</strong> dieselbe Stufe repräsentieren – obwohl<br />

beide <strong>Akkorde</strong> nur einen einzigen Ton gemeinsam haben. Riemann <strong>und</strong> Schenker würden den<br />

halbverminderten Septakkord hier vermutlich als Durchgangsakkord zwischen dem verkürzten<br />

Doppeldominantseptnonakkord bzw. der zur Tonikalisierung erhöhten IV. Stufe (T. 49-51) <strong>und</strong><br />

dem Dominantseptakkord (T. 52) ansehen.<br />

Neapolitanischer Sextakkord<br />

Auch ein neapolitanischer Sextakkord ist Bestandteil des Intermezzo op. 117/2 von Brahms (T.<br />

21-22, Abb. 193).<br />

Abbildung 193: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 17 bis 22<br />

408 Bei Takt 52 beginnt das erste Thema das einzige Mal nicht in b-Moll, sondern in es-Moll, der Mollsubdominanttonart.<br />

Das Thema wird zwar wieder durch die II. Stufe eingeleitet, diesmal folgt statt der Tonika aber der<br />

Dominantseptakkord.


115<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Takt 18-19 20 21-22 22.3 23<br />

Riemann Des-Dur (F 7 D 7 X VII )<br />

7 IÌ7<br />

Schenker Des-Dur V<br />

Schönberg Des-Dur V I<br />

ges-Moll: V<br />

-<br />

II<br />

o S<br />

IV Ì3<br />

I<br />

(C 7 )<br />

← →<br />

III Ì5<br />

VII<br />

o S 2> D 7<br />

ÌÌII oder II (phryg.)<br />

VI<br />

V IV III II V<br />

Der neapolitanische Sextakkord ist für Riemann eindeutig Stellvertreter der Subdominante bzw.<br />

IV. Stufe. Die Deutung als Mollsubdominante mit kleiner Obersek<strong>und</strong>e ( o S 2> ) <strong>und</strong> die Auffassung<br />

der beiden verminderten Dreiklänge in Takt 20 als Zwischendominanten 409 der Mollsubdominante<br />

lassen vermuten, dass Riemann die Takte 20 bis 22 als nur zu einer Harmonie gehörig<br />

interpretiert. Schenker <strong>und</strong> Schönberg sehen den neapolitanischen Sextakkord als Vertreter<br />

der II. Stufe an 410 , daher können sie – im Gegensatz zu Riemann 411 – den Übergang von Takt 20<br />

auf Takt 21 als Trugschluss in ges-Moll auffassen: Der verminderte Dreiklang f-as-ces (T. 20.3)<br />

bildet gemeinsam mit dem Eses-Dur-Dreiklang einen Trugschluss. 412<br />

Der verminderte Dreiklang as-ces-eses (T. 20.1) wird von Riemann als verkürzte „Zwischensubdominante“<br />

interpretiert. Schenker kann diesen verminderten Dreiklang in Des-Dur<br />

nicht durch eine Stufe darstellen, da für ihn ein verminderter Dreiklang auf der V. Stufe nicht<br />

möglich ist – auch nicht durch die Mischung von Des-Dur <strong>und</strong> des-Moll. 413 Nur die Annahme<br />

einer „Scheintonart“ ges-Moll – entsprechend Riemanns Zwischenkadenz zur Mollsubdominante,<br />

aber nur mithilfe einer zweiten Ebene darstellbar – würde für Schenker den verminderten<br />

Dreiklang as-ces-eses in Des-Dur rechtfertigen, als II. Stufe in ges-Moll. Vermutlich würde<br />

Schenker diesen verminderten Dreiklang (T. 20.1) aber als Vorhalt vor der IV. Stufe bezeichnen<br />

– bekräftigt durch seine betonte Stellung auf der Takteins –, wodurch auch die Tonikalisierung<br />

der IV. Stufe ges-heses-des durch ihre Dominante des-f-as-ces (Modell V-I, T. 18-20) klarer<br />

409 Für Riemann, der das Prinzip der „Zwischendominanten“ erf<strong>und</strong>en hat, kann jede „Dominante“ – also auch der<br />

verkürzte Unterseptimenakkord der Subdominante – auf den nachfolgenden Akkord bezogen werden (vgl. Kapitel<br />

„<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Hugo Riemann“).<br />

410 Schenker versteht den neapolitanischen Sextakkord einerseits als tiefalterierte II. Stufe (der leitereigene verminderte<br />

Dreiklang will als Durdreiklang erscheinen), andererseits als entlehnt aus der Tonart der Mollsubdominante.<br />

(Die Tonikalisierung der vermollten IV. Stufe in Des-Dur (ges-Moll) nach dem Modell V-I (T. 18-19)<br />

würde die Herleitung Schenkers der neapolitanischen Kadenz als unvollständige Kadenz in der Tonart der<br />

Mollsubdominante bestätigen.) Schönberg lehnt die Auffassung des neapolitanischen Sextakkords als chromatische<br />

Umgestaltung ab (vgl. Kapitel „Neapolitanischer Sextakkord“).<br />

411 Wenn Riemann den neapolitanischen Sextakkord als Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint ansieht,<br />

findet kein Trugschluss statt, denn der verkürzte Dominantseptakkord f-as-ces (T. 20.3) ist theoretisch auch die<br />

Dominante der Mollsubdominante mit kleiner Sext statt Quint (ges-heses-eses). Bei der Auffassung Riemanns<br />

des neapolitanischen Sextakkords als „Leittonwechselklang der Mollsubdominante“ (S>) wie im Handbuch der<br />

Harmonielehre würde Riemann die Stelle ebenfalls als Trugschluss deuten können.<br />

412 Die Harmoniefolge (des-)f-as-c – eses-ges-heses ist ein Trugschluss nach dem Modell V-VI in ges-Moll.<br />

413 In „Dur-Moll“ ergeben sich verminderte Dreiklänge auf der II., III., VI. <strong>und</strong> VII. Stufe (in Des-Dur-Moll: esges-heses,<br />

f-as-ces, b-des-fes <strong>und</strong> c-es-ges; vgl. Kapitel „<strong>Theorien</strong> <strong>erweiterter</strong> <strong>Tonalität</strong> – Heinrich Schenker“).<br />

V 7<br />

II<br />

T +<br />

I<br />

V<br />

I


116<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

zum Vorschein kommen würde. 414 Schönberg interpretiert den verminderten Dreiklang auf der<br />

V. Stufe als Errungenschaft aus dem Mollsubdominantbereich: as-ces-eses ist leitereigene II.<br />

Stufe der Mollsubdominante von Des-Dur.<br />

Übermäßige Sextakkorde<br />

Übermäßige Sextakkorde kommen im Intermezzo op. 117/2 mehrfach vor; meist als übermäßiger<br />

Sextakkord (T. 29.3, 65.3, 66.3 <strong>und</strong> 77.3), aber auch als übermäßiger Terzquartakkord (T.<br />

79/3) oder als übermäßiger Quintsextakkord 415 (T. 14 <strong>und</strong> T. 43-44).<br />

Abbildung 194: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 28 bis 31<br />

Riemann F-Dur<br />

b-Moll<br />

Schenker F-Dur<br />

b-Moll<br />

Schönberg F-Dur<br />

b-Moll<br />

Takt 29 30<br />

o 7<br />

S><br />

T VII><br />

ÌII 7<br />

VI 7<br />

II<br />

VI<br />

C 7 5><br />

S V< / V 7 5><br />

II+V V<br />

II+V II<br />

V<br />

II<br />

T<br />

D<br />

I<br />

V<br />

I<br />

V<br />

Brahms’ Verwendung des übermäßigen Sextakkords in Takt 29 (Abb. 194) macht keine<br />

Schwierigkeiten: Riemann <strong>und</strong> Schenker können ihn problemlos auf zwei verschiedene Arten<br />

414 Der Auffassung von eses-as-ces (T. 20.1) als Vorhalt zum ges-Moll-Dreiklang ähnlich ist die Interpretation als<br />

Terz, Quint <strong>und</strong> Sept eines Dominantseptnonakkords, analog zum Auftakt zu Takt 1 (bzw. T. 2, 10 <strong>und</strong> 61). Die<br />

Deutung als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton <strong>und</strong> Terz wird ähnlich wie in Takt 9 <strong>und</strong> Takt 60 dadurch<br />

untermauert, dass dem verminderten Dreiklang as-ces-eses (Takt 20.1) der vollständige Dominantseptakkord<br />

(des-f-as-ces, T. 18 <strong>und</strong> 19) vorausgeht. (Im Vergleich dazu steht vor dem verminderten Dreiklang c-es-ges (T.<br />

9.3 <strong>und</strong> T. 60.3) ein verkürzter Dominantseptnonakkord ohne Quint (a-..-es-ges, T. 9 <strong>und</strong> 60).)<br />

415 Beide übermäßige Quintsextakkorde entstehen durch enharmonische Umdeutung der Dominantsept ces zur<br />

Terz h des übermäßigen Quintsextakkords: In Takt 14 ist lediglich der übermäßige Quintsextakkord des-f-as-h<br />

notiert; in Takt 43 <strong>und</strong> 44 dagegen notiert Brahms nur den Dominantseptakkord des-f-as-ces, obwohl durch den<br />

verminderten Septakkord h-d-f-as <strong>und</strong> die Transformation von d zu des in Takt 42 der übermäßige Quintsextakkord<br />

schon angedeutet ist.


117<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

auffassen, in F-Dur oder in b-Moll. 416 Schönberg nennt in seiner Harmonielehre zunächst nur<br />

die Verwendung des übermäßigen Sextakkords als II. Stufe – was eine Deutung des übermäßigen<br />

Sextakkords z.B. in Takt 29 nur in b-Moll zulassen würde; mithilfe der „Nachbildungsmethode“<br />

– wonach bei Schönberg im Prinzip jede Akkordbildung auf jeder Stufe zu stehen kommen<br />

kann – ist es Schönberg aber möglich, den übermäßigen Sextakkord auch in anderen Tonarten<br />

(hier F-Dur) zu deuten. 417<br />

Abbildung 195: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 43 bis 48<br />

Riemann Ges-Dur<br />

F-Dur<br />

Schenker Ges-Dur<br />

F-Dur-Moll<br />

Takt 43-44 45 46<br />

D 7<br />

(D 7 )[S>]<br />

V 7<br />

ÌVI Ì7<br />

C 7<br />

íVII<br />

Schönberg F-Dur VI = II VII V<br />

416 Riemann <strong>und</strong> Schenker nennen in ihren Harmonielehren mehrere Interpretationsmöglichkeiten des übermäßigen<br />

Sextakkords: als Dominante bzw. V. Stufe, als Subdominante bzw. II. Stufe <strong>und</strong> als Zwischendominante<br />

(auch Doppeldominante) bzw. zur „Tonikalisierung“ des folgenden Akkords.<br />

Riemanns Auffassung des übermäßigen Sextakkords als Subdominante <strong>und</strong> Schenkers Anwendung als II. Stufe<br />

(bzw. Riemanns alterierte Doppeldominante) unterscheiden sich voneinander: Riemanns alterierte Mollsubdominante<br />

(S v< ) ist in c-Moll fis-as-c statt f-as-c, Schenkers alterierter Akkord in Verwendung als II. Stufe (bzw.<br />

Riemanns alterierte Doppeldominante) lautet in c-Moll fis-as-c statt fis-a-c – die Alteration betrifft also unterschiedliche<br />

Akkordtöne. Was die Stimmführung betrifft, kommt die unterschiedliche Deutung aber auf dasselbe<br />

hinaus: Riemann fasst die Terz der Mollsubdominante (as) auch als Leitton auf (der Terz der Dominante (fis)<br />

entsprechend).<br />

417 Dasselbe trifft auch auf die dominantische Verwendung des übermäßigen Terzquartakkords (T. 79/3) zu:<br />

Schönberg würde die Stelle aufgr<strong>und</strong> seiner Ableitung des übermäßigen Terzquartakkords von der II. Stufe zunächst<br />

in es-Moll deuten; mithilfe seines Prinzips der Nachahmung kann Schönberg diese Stelle aber auch in B-<br />

Dur bzw. b-Moll interpretieren.<br />

D 7<br />

V 7


118<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Der übermäßige Quintsextakkord in Takt 43 <strong>und</strong> 44 (Abb. 195) kommt durch enharmonische<br />

Umdeutung eines Dominantseptakkords zustande: des-f-as-ces wird – gedanklich, da von<br />

Brahms nicht notiert – zu des-f-as-h <strong>und</strong> damit zur II. Stufe in f-Moll. Schönberg ist der Einzige<br />

der drei hier untersuchten Theoretiker, der diese Modulationsmöglichkeit beim übermäßigen<br />

Quintsextakkord in seiner Harmonielehre erwähnt 418 ; außerdem spricht er mehrmals über seinen<br />

freien Umgang mit enharmonischer Verwechslung. 419 Schönberg würde Takt 43 <strong>und</strong> 44 also<br />

problemlos als Umdeutung eines Dominantseptakkords in einen übermäßigen Quintsextakkord<br />

erklären können (in F-Dur: Umdeutung einer VI. zur II. Stufe). Riemann <strong>und</strong> Schenker würden<br />

den Übergang von Takt 44 auf Takt 45 als Trugschluss interpretieren, da der nach dem Dominantseptakkord<br />

des-f-as-ces erwartete Akkord (Ges-Dur oder ges-Moll) nicht folgt.<br />

Sequenzen<br />

In Brahms’ Intermezzo op. 117/2 treten mehrfach Sequenzen auf; es handelt sich in allen Fällen<br />

um Quintfallsequenzen.<br />

Abbildung 196: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 1 bis 9<br />

418 Vgl. Kapitel „Übermäßige Sextakkorde“.<br />

419 Vgl. Schönberg, Harmonielehre, S. 307, 319, 424, 456.


Riemann b-Moll T VI S VI<br />

Schenker b-Moll I 7<br />

Schönberg b-Moll I<br />

119<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Takt 3 / 54 4 / 55 5 / 56 6-7 / 57-58 8 / 59 9 / 60<br />

IV 7<br />

IV<br />

X IX D VII><br />

VII 7 III 7<br />

VII<br />

III<br />

T VII> S VII<br />

VI 7<br />

VI<br />

II 7<br />

D 7<br />

T> III><br />

( o S) o Tp<br />

C 7 9><br />

V 7 í3 VI Ì3 VII Ì7<br />

II V VI V<br />

Die Quintfallsequenz ist von Takt 3 bis 7 (Abb. 196, bzw. T. 54-58) leitereigen in b-Moll. 420<br />

Schwierigkeiten machen sich bei Riemann <strong>und</strong> Schenker in Takt 8 bemerkbar: Der Zusammenklang<br />

ges-a-des (T. 8 bzw. T. 59) ist in dieser Notierung nicht tonal deutbar. Schönberg dagegen<br />

würde diesen Klang als vereinfachte Schreibweise des ges-Moll-Dreiklangs ges-heses-des auffassen.<br />

421 Nur mithilfe der für Schönberg unproblematischen enharmonischen Umdeutung von a<br />

zu heses lässt sich der Übergang von Takt 7 auf Takt 8 (bzw. T. 58/59) als „vermollter Molltrugschluss“<br />

in b-Moll erkennen. 422<br />

Abbildung 197: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 10 bis 19<br />

420 Die Sequenz bei Takt 53 gleicht ab Takt 54 (bis inklusive des Wiedereinsatzes des ersten Themas, T. 61) jener<br />

bei Takt 3. Die Sequenz bei Takt 53 beginnt in es-Moll, startet also statt mit einem b-Moll-Septakkord (T. 2.3)<br />

mit einem B-Dur-Dominantseptakkord (T. 53).<br />

421 „Vereinfachung“ bezieht sich hier auf die leichtere Lesbarkeit des a wegen des nachfolgenden unvollständigen<br />

Dominantseptakkords a-es-ges.<br />

422 Der herkömmliche Trugschluss in b-Moll lautet F-Dur – Ges-Dur; der aus B-Dur entlehnte Trugschluss ist F-<br />

Dur – g-Moll.


Riemann Des-Dur<br />

f-Moll<br />

Schenker f-Moll V7<br />

120<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Takt 12 13 14 15 16 17<br />

(D 7 )[Dp]<br />

D 7<br />

(F7<br />

I 7 í3<br />

D 7 ) F7<br />

X IX<br />

IV<br />

V<br />

7 í3 VII<br />

I V<br />

7<br />

I V<br />

D 7<br />

(D 7 )[ o Sp]<br />

III Ì7<br />

I V<br />

T 6<<br />

V 9> 5><br />

II+V<br />

? II<br />

Schönberg f-Moll V I IV VII III VI = II I 4 6<br />

D4 6><br />

6<br />

V4 V<br />

D3 5<br />

V 3 5<br />

V I<br />

Die Quintfallsequenz von Takt 12 bis 17 (Abb. 197) besteht fast nur aus Dominantseptakkorden,<br />

enthält aber auch einen übermäßigen Quintsextakkord (T. 14). Schenker erklärt jeden Harmonieschritt<br />

mit der „Tonikalisierung“ nach dem Modell V 7 -I. Dementsprechend deutet Riemann<br />

alle <strong>Akkorde</strong> als Zwischendominanten. 423 Für Schönberg ist eine Dominantseptakkordkette<br />

wie hier scheinbar gleichbedeutend mit einer leitereigenen Quintfallsequenz.<br />

Der übermäßige Quintsextakkord in Takt 14 wird hier auch von Riemann <strong>und</strong> Schenker als<br />

solcher gedeutet, da Brahms ihn nicht als Dominantseptakkord des-f-as-ces, sondern als übermäßigen<br />

Quintsextakkord des-f-as-h notiert. 424 Nur Schenker kann nicht erkennen, dass von<br />

Takt 13 auf Takt 14 ebenfalls ein Quintfall stattfindet; denn Riemann interpretiert den übermäßigen<br />

Quintsextakkord einfach als Durdreiklang mit hinzugefügter übermäßiger Sext (hier T 6< ).<br />

Schönbergs Auffassung der beiden übermäßigen Quintsextakkorde (T. 14 <strong>und</strong> T. 43-44) unterscheidet<br />

sich nicht voneinander.<br />

423 Für die Sichtbarmachung des Quintschrittes von Takt 11 auf Takt 12 (C 7 – F 7 ) müsste Riemann eine weitere<br />

Tonart hinzuziehen, denn sowohl die Deutung in f-Moll (D 7 – (F 7 )X IX ) als auch die Des-Dur-Interpretation<br />

((D 7 )[Dp] – (F 7 )F 7 ) machen ein Erkennen des Quintfalls unmöglich.<br />

424 Der zweite übermäßige Quintsextakkord in Intermezzo op. 117/2 (T. 43-44) wird von Brahms nicht als solcher<br />

notiert, sondern nur als Dominantseptakkord des-f-as-ces.<br />

o T II-III<br />

I 4-3


Abbildung 198: Johannes Brahms: Intermezzo b-Moll op. 117/2, Takt 61 bis 72<br />

Riemann b-Moll (D 7 )<br />

Schenker b-Moll VIÌ7<br />

121<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Takt 62 63 64 65<br />

V<br />

o S> (C 9> )<br />

ÌII<br />

I<br />

I Ì7 Ì3<br />

VII I<br />

o S> (D 7 )<br />

ÌII<br />

VII 7<br />

V<br />

o Tp<br />

o D><br />

III<br />

I<br />

o Tp III><br />

o D> III> (F7<br />

(D 7 )[ o Dp]<br />

Schönberg b-Moll VI II VI II VII III III IV<br />

65.3 66 67-68 69-72 73-74<br />

C 7 5>)[ o Tp]<br />

(S V< oder V 7 5><br />

ÌII Ì3<br />

II+V<br />

(D 7 )[ o Sp/T>]<br />

D 7 ) [ o Sp/T>]<br />

III Ì7<br />

V<br />

VII III<br />

(C 7 5>)[?]<br />

(S V< oder V 7 5><br />

-<br />

II+V<br />

VI II<br />

(D 7 )[?]<br />

D 7 )[?] S> D 7<br />

-<br />

V ÌII<br />

V 7<br />

V<br />

III Ì3<br />

T +<br />

I í3<br />

I<br />

IV 7 í3


122<br />

Johannes Brahms: Intermezzo op. 117/2<br />

Die vierte Quintfallsequenz im Intermezzo op. 117/2 beginnt bei Takt 65 (Abb. 198) <strong>und</strong> besteht<br />

aus Dominantseptakkorden <strong>und</strong> verkürzten Dominantseptakkorden mit verminderter Quint<br />

(bzw. übermäßigen Sextakkorden). Sie wird in Takt 62 bis 64 durch eine Terzfall-Quintfall-<br />

Sequenz (b-Ges 7 -Ces, Ces-As 7 -Des) eingeleitet. Die übermäßigen Sextakkorde innerhalb dieser<br />

Sequenz (T. 65.3 <strong>und</strong> T. 66.3) werden von Riemann, Schenker <strong>und</strong> Schönberg ähnlich interpretiert,<br />

allerdings ist hier wieder Riemanns Problem beim Darstellen von Sequenzen innerhalb<br />

einer Tonart auffällig. 425 Für Schenker dienen die beiden übermäßigen Sextakkorde (T. 65.3 <strong>und</strong><br />

T. 66.3) zur „Tonikalisierung“ des folgenden Akkords nach dem Muster „II+V – V“.<br />

Schönberg ist der Einzige der drei, der über den Vorzeichenwechsel in Takt 66 hinwegsehen<br />

kann, denn dieser dient hier nur zur einfacheren Lesbarkeit der <strong>Akkorde</strong>. 426 Riemann <strong>und</strong><br />

Schenker können diese zur Vereinfachung gedachte enharmonische Umdeutung (T. 66.3, c-eais<br />

statt deses-fes-b <strong>und</strong> T. 67-68, h-dis-fis-a statt ces-es-ges-heses) in derselben Tonart nicht<br />

darstellen.<br />

425 Die Darstellung Riemanns der Sequenz ab Takt 65 ist äußert komplex, erlaubt aber teilweise Rückschluss auf<br />

fallende Quinten – etwa dann, wenn man sich in Takt 65 <strong>und</strong> 66 die nach den Zwischendominanten erwarteten<br />

Funktionen (in den eckigen Klammern) ansieht: Die Folge o Dp – o Tp – o Sp lässt Quintfall erkennen. Diese<br />

eckigen Klammern Riemanns sind hier irreführend, da sie auf Trugschlüsse schließen lassen, die in Wirklichkeit<br />

nicht stattfinden: z.B. wird in Takt 65 nach dem übermäßigen Sextakkord eses-g-c Des-Dur erwartet ( o Tp<br />

in b-Moll); diese Annahme wird auch nicht enttäuscht, denn es folgt der Dominantseptakkord auf des.<br />

Riemanns Interpretation des übermäßigen Sextakkords als Alteration der Mollsubdominante ist hier gut<br />

brauchbar, da mithilfe dieser „Zwischenkadenzen“ zwei fallende Quinten dargestellt werden können.<br />

426 Statt c-e-ais müsste eigentlich deses-fes-b, statt h-dis-fis-a sollte ces-es-ges-heses notiert sein.<br />

Allerdings kann in Schönbergs zusatzloser Stufenbezeichnung nicht erkannt werden, dass die Kadenz in Takt<br />

67 bis 73 in engem Zusammenhang mit der „neapolitanischen Kadenz“ in Takt 21 bis 23 steht: Ces-Dur (bzw.<br />

die enharmonische Verwechslung H-Dur) ist erniedrigte II. Stufe in b-Moll, dadurch ergibt sich ähnlich wie in<br />

Takt 21 eine Kadenz mit erniedrigter II. Stufe, Dominantseptakkord <strong>und</strong> Durtonika als Einleitung für das zweite<br />

Thema. (Auch der Wiederholung des zweiten Themas (T. 31 f.) geht eine Kadenz mit erniedrigter II. Stufe<br />

voraus (T. 29 <strong>und</strong> 30).)


Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4 (1899)<br />

123<br />

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4<br />

Ein kleiner Ausschnitt aus Arnold Schönbergs Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 (T. 41-49,<br />

Abb. 199) – nur wenige Jahre nach Brahms’ Intermezzo op. 117/2 entstanden – macht sehr<br />

schnell deutlich, dass die harmonischen Systeme von Riemann <strong>und</strong> Schenker nicht sehr flexibel<br />

bezüglich Erweiterungen der tonalen Harmonik sind.<br />

Abbildung 199: Arnold Schönberg, Streichsextett Verklärte Nacht op. 4, T. 41-49<br />

Riemann<br />

Schenker<br />

Schönberg<br />

Takt 41 42 43 44 45 46-48 49<br />

d-Moll<br />

g-Moll<br />

d-Moll<br />

g-Moll<br />

d-Moll<br />

g-Moll<br />

D4 6><br />

V4 6<br />

I4 6<br />

D 7<br />

V 7 í3<br />

V<br />

(D 9 )[?]<br />

-<br />

V?<br />

(C 9 )<br />

C: VII I<br />

VI<br />

S IX I><br />

VII<br />

?<br />

I?<br />

(S VII<br />

c: VII<br />

(IV =) II<br />

C 9> )[ o Dp]<br />

V 9><br />

(V 9> )<br />

ìIV Ì7<br />

VII<br />

I<br />

D 4 6><br />

F 4 6><br />

V4 6<br />

I4 6<br />

D 7<br />

F 7<br />

(C 9> )[ o S]<br />

C 9><br />

V 7 í3 ìIII Ì7<br />

II 7 í3<br />

V<br />

II<br />

VII Ì7<br />

I<br />

V/VII<br />

g: VII<br />

II 7<br />

b: VII<br />

Takt 41 42 43 44 45 46-48 49<br />

Die Takte 42 <strong>und</strong> 43 des Streichsextetts (Abb. 199) lassen sich funktional nicht erfassen, da die<br />

<strong>Akkorde</strong> durch Stimmführung entstehen. Deutlich wird dies schon am Beginn (T. 42.1): as-ces-g-b<br />

ist erstens nicht der erwartete Akkord nach dem Dominantseptakkord a-cis-e-g (T. 41.4)<br />

<strong>und</strong> zweitens ein Nonenakkord mit Non im Bass. Riemann kann den Akkord as-c-es-ges-b zwar<br />

als großen Dominantseptnonakkord deuten, kann ihn aber nicht auf d-Moll beziehen. Auch<br />

Schenker kann den Nonenakkord als zusammengesetzte V. <strong>und</strong> VII. Stufe interpretieren, dazu<br />

müsste aber Des-Dur oder des-Moll folgen. Für Schönberg ist dieser Nonenakkord das Resultat<br />

von Stimmführung – as-c-es-g-b verbindet alle Akkordtöne des Dominantseptakkords a-cis-e-g<br />

S VI<<br />

T 6><br />

T VI<<br />

D 6><br />

VI ì5<br />

III ì5<br />

Iì5<br />

III


124<br />

Arnold Schönberg: Verklärte Nacht op. 4<br />

(T. 41.4) chromatisch mit dem halbverminderten Septakkord h-d-f-a (T. 42.4). Unklar ist jedoch,<br />

mit welcher Stufe Schönberg diesen Akkord bezeichnen würde.<br />

Eher unwahrscheinlich ist es, dass Riemann den Vorhalt c (T. 44.1) als Akkordton eines<br />

halbverminderten Septakkord d-f-as-c ansieht; damit wäre eine Interpretation mit dem nachfolgenden<br />

verminderten Septakkord h-d-f-as (T. 44.2) als trugschlüssige Zwischenkadenz möglich.<br />

Für Schönberg stellen enharmonische Umdeutungen kein Problem dar, deshalb deutet er einfach<br />

das as des verminderten Septakkords h-d-f-as (T. 44.2) zum gis des verminderten Septakkords<br />

gis-h-d-f (T. 44.3) um. Der ganze Takt 44 ist also als verkürzter Doppeldominantseptnonakkord<br />

in d-Moll aufzufassen, nicht nur die zweite Hälfte des Taktes.<br />

Riemann kann in der Harmoniefolge a-cis-e-g – fis-a-c-es (T. 45.3-46) einen Quintfall von<br />

der Doppeldominante zur verkürzten Dominante in g-Moll erkennen; auch für Schenker ist das<br />

möglich, weil er die VII. Stufe als Vertreter der V. Stufe ansieht. Schönberg hingegen könnte<br />

fis-a-c-es (T. 46) aufgr<strong>und</strong> des Nachbildungsprinzips sogar als I. Stufe ohne Gr<strong>und</strong>ton in d-<br />

Moll/D-Dur interpretieren.<br />

Den Übergang vom verminderten Septakkord fis-a-c-es zum übermäßigen Dreiklang b-d-fis<br />

(T. 48/49) deutet Riemann eventuell als authentischen V-I Schluss – jedoch sollte für diese Interpretation<br />

der g-Moll-Dreiklang folgen, da Riemann im übermäßigen Dreiklang b-d-fis die<br />

übermäßige Quint fis als Vorhalt zu g ansieht (welches nicht folgt). Schenker könnte die Harmoniefolge<br />

von Takt 48 auf 49 als leitereigenen Quintfall in d-Moll oder g-Moll betrachten.<br />

Oder, wenn Schenker g (T. 48.2) als Akkordton <strong>und</strong> fis (T. 48.4) als Antizipation ansieht, würde<br />

er den halbverminderten Septakkord a-c-es-g mithilfe der Tonikalisierung deuten, also als verkürzte<br />

Zwischendominante des übermäßigen Dreiklangs b-d-fis interpretieren. Schönberg deutet<br />

die Harmoniefolge fis-a-c-es – b-d-fis (T. 48/49) als VII-III in g-Moll. Für Schönberg ist der<br />

übermäßige Dreiklang auf der III. Stufe die logische Auflösung des verminderten Septakkords<br />

auf der VII. Stufe (Quintfall des F<strong>und</strong>aments). Für diese Interpretation muss Schönberg allerdings<br />

seine Auffassung des verminderten Septakkords als Dominantseptnonakkord ohne Gr<strong>und</strong>ton<br />

wieder verwerfen.<br />

Zusammenfassung<br />

Der Vergleich der <strong>Theorien</strong> Hugo Riemanns, Heinrich Schenkers <strong>und</strong> Arnold Schönbergs an<br />

einem praktischen Beispiel harmonischer Analyse zeigt deutlich: Jede der drei <strong>Theorien</strong> hat ihre<br />

Vorzüge, aber auch Schwachstellen.<br />

In Bezug auf die Darstellung des Harmonieverlaufs bietet Schönbergs Stufenbezeichnung<br />

die größte Übersichtlichkeit. Allerdings ist Schönberg in der Bezeichnung der Stufen nicht einheitlich:<br />

So ist z.B. h-d-f in C-Dur für Schönberg VII. Stufe, h-d-f-as jedoch V. Stufe ohne<br />

Gr<strong>und</strong>ton. Wegen nicht vorhandener Zusätze zu den Stufenzahlen hebt Schönbergs harmonische


Analyse auch nicht die Besonderheiten hervor, so kann etwa die Ziffer II in der Stufenfolge II-<br />

V-I unter anderem für einen neapolitanischen Sextakkord, einen übermäßigen Quintsextakkord<br />

oder einen Mollakkord stehen. Durch diese ungenaue Darstellungsweise ist die Rekonstruktion<br />

eines harmonischen Ablaufs ausgeschlossen – von Schönberg aber auch nicht intendiert. Die<br />

detaillierte Darstellung harmonischer Verläufe durch Riemanns Funktionsanalyse – die auch<br />

wichtige Aufschlüsse über harmonische Zusammenhänge gibt – würde eine solche Wiederherstellung<br />

ermöglichen, stößt aber schnell an Grenzen der Übersichtlichkeit. Oft ist nicht gleich<br />

klar, welche Harmonien hinter einer Folge von Funktionen stecken; besonders deutlich wird<br />

dies bei Sequenzen. Schenkers Darstellung vereint positive Seiten der <strong>Theorien</strong> Riemanns <strong>und</strong><br />

Schönbergs: Er kombiniert die übersichtlichere Stufenanalyse Schönbergs mit der genaueren<br />

Definition eines Zusammenklangs bei Riemann; Schenker kann aber deutlich weniger Harmonien<br />

innerhalb einer Tonart erklären als Riemann oder gar Schönberg.<br />

In den Interpretationen der Harmonieverläufe im Sinn von Riemann, Schenker <strong>und</strong> Schönberg<br />

gibt es oft Abweichungen. Das Beispiel eines verminderten Dreiklangs auf der V. Stufe im<br />

Intermezzo op. 117/2 (T. 20) lässt Unterschiede in den drei <strong>Theorien</strong> besonders gut erkennen:<br />

Riemann interpretiert in als „verkürzte Zwischensubdominante“, Schenker als Vorhalt <strong>und</strong><br />

Schönberg als Erweiterung aus dem Mollsubdominantbereich. Auch die verschiedenen Auffassungen<br />

des neapolitanischen Sextakkords (T. 21) als Vertreter der IV. (Riemann) oder der II.<br />

Stufe (Schenker, Schönberg) bewirken unterschiedliche Interpretationen eines Trugschlusses.<br />

Die Grenzen der harmonischen Systeme Riemanns <strong>und</strong> Schenkers zeigen sich anhand der Analyse<br />

des Intermezzos vor allem am Beispiel des übermäßigen Quintsextakkords, da sie im Gegensatz<br />

zu Schönberg in ihren Harmonielehren die Klanggleichheit des übermäßigen Quintsextakkords<br />

mit dem Dominantseptakkord nicht berücksichtigen.<br />

Die praktische Anwendung der hier untersuchten <strong>Theorien</strong> Hugo Riemanns, Heinrich<br />

Schenkers <strong>und</strong> Arnold Schönbergs macht offensichtlich, dass keine der drei <strong>Theorien</strong> allein zur<br />

harmonischen Analyse geeignet ist – erst eine ausgewogene Berücksichtigung aller Sichtweisen<br />

bzw. die Ergänzung durch andere <strong>Theorien</strong> (etwa in Bezug auf die Stimmführung spätere Ansätze<br />

Schenkers) liefert eine schlüssige Interpretation der musikalischen Zusammenhänge. Dies<br />

trifft jedoch nicht auf die Analyse von Musik an den (äußersten) Grenzen der <strong>Tonalität</strong> zu, wie<br />

die Diskussion von Schönbergs Verklärter Nacht zeigte: Hier wird deutlich, dass die harmonischen<br />

Systeme Riemanns <strong>und</strong> Schenkers sehr rasch an ihre Grenzen stoßen <strong>und</strong> viele Zusammenklänge<br />

für sie nicht mehr deutbar sind. Schönberg kann zwar alle Klänge erklären, aber<br />

auch ihm fehlt ein geeignetes Darstellungssystem für eine Harmonik, die in erster Linie durch<br />

Stimmführungsprozesse zustande kommt.<br />

125


Literatur<br />

126<br />

Literatur<br />

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1985.

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