DAS JUBILÄUMSMAGAZIN - Klanglandschaften
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175 – <strong>DAS</strong> <strong>JUBILÄUMSMAGAZIN</strong><br />
veränderte sich, und die Geräusche des Alltags änderten<br />
sich mit. Eine italienische Kolbenmaschine faucht<br />
am Tresen des Altstadtcafés, wo Widmer an diesem<br />
Mittwochmorgen einen Kaffee trinkt. «Meine Enkeltochter<br />
kommt gerne hierher», sagt der 83-Jährige. Ob<br />
sie noch weiss, wie die Handmühle knirschte, mit der<br />
er früher selber Kaffee mahlte?<br />
Viele Geräusche aus Widmers Kindheit dürften<br />
seiner Enkelin fremd sein. Das Schnauben und Klappern<br />
der prächtigen Haldengut-Kaltblüter auf dem<br />
Asphalt etwa, die vom Goldenberg Eisstangen und<br />
Bierfässer in die Quartiere lieferten. Solcher Lärm ist<br />
für den Nostalgiker Musik. Wie auch das Stampfen<br />
der Dampfloks, von Bülach kommend, die Kuhglocken<br />
des Nachbarhofs, als es in Töss noch Bauern gab,<br />
oder die Stimme von Herrn Giovanelli, der auf dem<br />
Wochenmarkt Bananen und Pfirsiche anpries.<br />
Doch Winterthur war auch unüberhörbar eine Industriestadt,<br />
eine Arbeiterstadt. Fabriksirenen dröhnten<br />
zu Arbeitsbeginn, verkündeten die Mittagspause<br />
und deren Ende und entliessen die müden Arbeiter<br />
in den Feierabend. Aus der «Verbotenen Stadt» des<br />
Sulzerareals Stadtmitte brummten Dieselmotoren<br />
mit Zehntausenden Pferdestärken vom Prüfstand.<br />
Wenn Geräusche verschwinden, liegt das meist<br />
am technischen Fortschritt. Ein Computer ersetzte<br />
die klackende Schreibmaschine<br />
in Widmers Büro bereits 1979.<br />
Eisenbahner klopfen nicht mehr<br />
gegen die Achsen, um am Klang<br />
die Temperatur zu erkennen –<br />
sie haben Messgeräte. Andere<br />
Klänge wurden verdrängt oder<br />
verboten. Auf dem Markt gibt es keine Marktschreier<br />
mehr, Kuhglocken mussten samt Kühen dem Siedlungsbau<br />
weichen. Verkehrslärm übertönt Vogelgezwitscher.<br />
Kirchenglocken stehen in einer säkularisierten<br />
Gesellschaft als Ruhestörer in der Kritik.<br />
Quietschend, schnarrend, piepsend ins Netz<br />
Damit bedrohte Klänge nicht spurlos verschwinden,<br />
gründete NPS, ein öffentlich-rechtlicher Sender<br />
in Holland, im Jahr 2000 die «Bibliothek der Verschwundenen<br />
Geräusche». Handwebstuhl, Sense und<br />
Bronzekanone sind neben Pferdetram und Kinoorgel<br />
der neugierigen Nachwelt im Internet zugänglich.<br />
In der Schweiz blieben historisch interessierte Geräuschsammler<br />
bisher im Hintergrund, sagt Klangforscher<br />
Winkler. «Hertzflimmern», eine den Alltagsgeräuschen<br />
gewidmete Ausstellung, die 2005 im Gewerbemuseum<br />
gastierte, erforschte nicht Vergange-<br />
nes, sondern den modernen Status Quo. Doch auch<br />
der könnte bald Geschichtswert haben. Selbst die Generation<br />
der Digital Natives hat nämlich Verstummtes<br />
zu beklagen. Wer erinnert sich nicht an das Einwahlgeräusch<br />
der 56-Kilobit-Modems? Diese charakteristische<br />
Folge von Quietsch-, Schnarr- und Piepslauten<br />
konnte einst jedes Kind nachmachen, wie die<br />
Swisscom 2001 in einem Werbespot bewies.<br />
Immerhin lärmen lokal Angebote gegen das Vergessen.<br />
In der Nagelfabrik in der Grüze dröhnen 116-<br />
jährige Maschinen. Dampfloks<br />
stampfen alle zwei Wochen zwischen<br />
Bauma und Hinwil. Und<br />
vielleicht findet sich auf dem<br />
einen oder anderen Estrich ein<br />
Waschbrett oder eine Schreibmaschine.<br />
«Meine Kinder, Jahrgang<br />
1996 und 1999, haben neulich mit Staunen eine<br />
solche in Betrieb genommen», erzählt Winkler.<br />
Manche Geräusche waren einmalig und prägten<br />
doch eine ganze Generation. Alt Stadtpräsident<br />
Widmer erzählt: «Als an einem Morgen im Jahr 1939<br />
alle Kirchglocken Sturm läuteten, war ich verängstigt.<br />
Mit meinem Bruder krochen wir ins Bett der<br />
Mutter und fragten: ‹Mami, was ist los?› » Widmers<br />
Vater war schon tot, als Krieg über Europa kam. Andere<br />
Geräusche sind sehr persönlich. Was Widmer<br />
aus seiner Zeit als Stadtpräsident am besten im Ohr<br />
blieb, war die Kakophonie der probenden Musiker<br />
des Stadtorchesters in den Hallen und Fluren. «Konzertmeister<br />
Abraham Comfort übte abseits der anderen<br />
Violine, direkt vor meiner Tür. In Arbeitspausen<br />
freundeten wir uns an.» � Michael Graf<br />
«Als an einem Morgen<br />
1939 die Kirchenglocken<br />
Sturm läuteten,<br />
war ich verängstigt»<br />
— Urs Widmer<br />
Hören Sie die Bibliothek der verschwundenen Geräusche auf<br />
www.landbote.ch/klang<br />
Rattern und<br />
Quietschen:<br />
1898 bis 1951<br />
fuhren Trams<br />
vom Bahnhofplatz<br />
in die Aussenquartiere.<br />
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