DAS JUBILÄUMSMAGAZIN - Klanglandschaften
DAS JUBILÄUMSMAGAZIN - Klanglandschaften
DAS JUBILÄUMSMAGAZIN - Klanglandschaften
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
175 – <strong>DAS</strong> <strong>JUBILÄUMSMAGAZIN</strong><br />
menge. Besonders laut wird es, wenn jemand<br />
einen Transport-Trolley durch die<br />
gepflasterte Gasse zieht. Irritierend findet<br />
Anna Niederberger das rhythmische<br />
Quietschen von schlecht geölten Kinderwagenrädern.<br />
Ein Geräusch, das sie bislang<br />
nie bewusst wahrgenommen hat.<br />
Mühe macht den Blinden in der Altstadt<br />
aber vor allem ein anderes Fortbewegungsmittel:<br />
«Die Velos sind ganz<br />
schlimm für uns, denn sie sind schnell<br />
und lautlos.» Kein akustisches, aber physisches<br />
Ärgernis seien die vielen Werbetafeln<br />
und die zum Teil weit in die Gasse<br />
ragende Restaurantbestuhlung. «Was ist<br />
das?» Anna Niederberger bleibt stehen<br />
und horcht. Ein eigenartiges Surren erfüllt<br />
die Luft. In einer Plexiglasbox vor<br />
einem Spielwarenladen verspritzt eine<br />
Plastikblume kleine Wasserfontänen.<br />
Anna Niederbergers Begleiter für<br />
solche Spaziergänge in die Stadt oder<br />
andere Ausflüge sind Bekannte und vor<br />
allem ihr Sohn und ihre Tochter. Ihre<br />
Kinder sind und waren ihr schon immer<br />
eine wichtige Stütze: «Sie führten mich<br />
und meinen Mann schon, als sie noch<br />
Kinder waren». Heute noch unterstützen<br />
sie ihre Mutter auch bei anderen alltäglichen<br />
Aufgaben: Papierkram, Rechnungen<br />
und Steuererklärungen.<br />
Der Spaziergang geht auf der Stadthausstrasse<br />
weiter in Richtung Bahnhofplatz.<br />
Ein Presslufthammer übertönt alles.<br />
Für Sehbehinderte eine gefährliche<br />
Situation: «Wie soll ich so hören, ob sich<br />
ein Bus oder ein Auto nähert, wenn ich<br />
die Strasse überqueren möchte?»<br />
Gar nie ohne fremde Hilfe würde<br />
Anna Niederberger den Bahnhofplatz<br />
überqueren. Hier vermischen sich Fahrzeuglärm<br />
und Stimmengewirr mit dem<br />
Hämmern und Knattern aus der nahen<br />
Archhöfe-Baustelle. Der lärmige Soundtrack<br />
des Stadtzentrums. Für die Blinde<br />
ist das zu viel. Sie hat Lust auf beschaulichere<br />
Gefilde.<br />
Geräusche können trügen<br />
Vor dem Technikum wundert sie sich,<br />
dass hier auf einmal ein weiterer Brunnen<br />
steht. Doch das Geräusch kommt<br />
von sechs Männern und Frauen, die alle<br />
einen Rollkoffer über den Kopfsteinpflaster-Platz<br />
ziehen. Geräusche können trügerisch<br />
sein. Anna Niederberger weiss<br />
das und quittiert das Missverständnis<br />
mit einem Schmunzeln.<br />
Schon bald plätschert neben ihr<br />
wieder echtes Wasser – der Mattenbach.<br />
Der Wind erzeugt in den Bäumen<br />
ein leises Rauschen. Anna Niederberger<br />
wirkt nun deutlich entspannter als<br />
zuvor im lärmigen Stadtzentrum: «Hier<br />
am Mattenbach bin ich gerne.» Sie vermisse<br />
an diesem Nachmittag jedoch das<br />
Zwitschern der Vögel: «Sind die Vögel in<br />
die Ferien gefahren?» Die blinde Seniorin<br />
setzt sich auf eine Bank und geniesst den<br />
ruhigen Moment. � Peter Fritsche<br />
Hören Sie Niederbergers Spaziergang auf<br />
www.landbote.ch/klang<br />
23