Gewalt in Pflegeeinrichtungen - Pflegen-online.de
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Cordula Schnei<strong>de</strong>r<br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> Pflegee<strong>in</strong>richtungen
Cordula Schnei<strong>de</strong>r<br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> Pflegee<strong>in</strong>richtungen<br />
Erfahrungen von <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek<br />
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Deutschen Nationalbibliografie;<br />
<strong>de</strong>taillierte bibliografische Daten s<strong>in</strong>d im Internet über http://dnb.ddb.<strong>de</strong> abrufbar.<br />
ISBN 3-89993-149-1<br />
Autor<strong>in</strong>:<br />
Cordula Schnei<strong>de</strong>r<br />
Auf <strong>de</strong>m Bräunchesste<strong>in</strong> 5<br />
65552 Limburg<br />
Die Ma<strong>in</strong>zer Schriften:<br />
Die Ma<strong>in</strong>zer Schriften verb<strong>in</strong><strong>de</strong>n e<strong>in</strong>e Reihe von Publikationen aus <strong>de</strong>n Arbeitsschwerpunkten <strong>de</strong>s Fachbereichs<br />
Pflege und Gesundheit an <strong>de</strong>r Katholischen Fachhochschule Ma<strong>in</strong>z.<br />
Herausgeber<strong>in</strong>:<br />
Prof. Dr. Renate Stemmer<br />
Kath. Fachhochschule Ma<strong>in</strong>z<br />
Saarstr. 3<br />
55122 Ma<strong>in</strong>z<br />
www.kfh-ma<strong>in</strong>z.<strong>de</strong><br />
© 2005 Schlütersche Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG,<br />
Hans-Böckler-Allee 7, 30173 Hannover<br />
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Je<strong>de</strong> Verwertung außerhalb <strong>de</strong>r<br />
gesetzlich geregelten Fälle muss vom Verlag schriftlich genehmigt wer<strong>de</strong>n. Die im Folgen<strong>de</strong>n verwen<strong>de</strong>ten<br />
Personen- und Berufsbezeichnungen stehen immer gleichwertig für bei<strong>de</strong> Geschlechter,<br />
auch wenn sie nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Form benannt s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Markenzeichen kann warenrechtlich geschützt<br />
se<strong>in</strong>, ohne dass dieses beson<strong>de</strong>rs gekennzeichnet wur<strong>de</strong>.<br />
Satz: PER Medien+Market<strong>in</strong>g GmbH, Braunschweig<br />
Druck und B<strong>in</strong>dung: Druck Thiebes GmbH, Hagen
Inhalt<br />
Danksagung <strong>de</strong>r Herausgeber<strong>in</strong> ..................................................................... 9<br />
Vorwort ............................................................................................................. 11<br />
E<strong>in</strong>leitung ......................................................................................................... 13<br />
Teil I Forschungsstand zum Thema <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> pflegerischen<br />
Beziehungen <strong>de</strong>r stationären Altenhilfe ............................................ 17<br />
1 Def<strong>in</strong>ition <strong>de</strong>r Begriffe »<strong>Gewalt</strong>« und »Aggression« .............................. 18<br />
1.1 Der Begriff <strong>de</strong>r <strong>Gewalt</strong> .................................................................... 19<br />
1.2 Der Begriff <strong>de</strong>r Aggression .............................................................. 21<br />
1.3 Zusammenfassen<strong>de</strong> Betrachtung und Abgrenzung <strong>de</strong>r Konzepte .... 23<br />
2 <strong>Gewalt</strong> im Pflegealltag ............................................................................ 25<br />
2.1 Alte Menschen <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Opferrolle .................................................... 25<br />
2.1.1 Die Gesichter <strong>de</strong>r <strong>Gewalt</strong> ................................................................ 25<br />
2.1.2 Der Aspekt <strong>de</strong>r personellen und strukturellen <strong>Gewalt</strong> .................... 28<br />
2.2 Pflegepersonen als Opfer <strong>de</strong>r <strong>Gewalt</strong> .............................................. 32<br />
2.2.1 Formen <strong>de</strong>r personell-direkten <strong>Gewalt</strong> ............................................ 33<br />
2.2.2 Der Gesichtspunkt <strong>de</strong>r strukturell-<strong>in</strong>direkten <strong>Gewalt</strong> ..................... 34<br />
2.3 Zusammenfassen<strong>de</strong> Betrachtung <strong>de</strong>r Aspekte ................................. 36<br />
3 Entwicklung <strong>de</strong>r Forschungsfrage ........................................................... 39<br />
Teil II Die Durchführung <strong>de</strong>r Forschungsstudie ........................................... 41<br />
1 Empirische Datenerhebung ...................................................................... 42<br />
1.1 Das problemzentrierte Interview als Erhebungsmetho<strong>de</strong> ................. 42<br />
1.2 Die Erhebungssituationen ............................................................... 44<br />
1.2.1 Die Samplestruktur ......................................................................... 44<br />
1.2.2 Die Technik <strong>de</strong>r Gesprächsführung ................................................. 46<br />
5
Inhalt<br />
2 Die Datenauswertung ............................................................................... 49<br />
2.1 Die Regeln <strong>de</strong>r Transkription .......................................................... 49<br />
2.2 Die qualitative Inhaltsanalyse als Auswertungsmetho<strong>de</strong> ................. 49<br />
2.2.1 Allgeme<strong>in</strong>e Charakteristika <strong>de</strong>r qualitativen Inhaltsanalyse ............ 50<br />
2.2.2 Die Systematik <strong>de</strong>r Auswertungstechnik ......................................... 50<br />
3 Gütekriterien <strong>de</strong>r qualitativen Sozialforschung .................................... 53<br />
4 Ethische Aspekte <strong>de</strong>r Forschungsarbeit ................................................. 55<br />
Teil III Darstellung <strong>de</strong>r Forschungsergebnisse ............................................. 57<br />
1 <strong>Gewalt</strong>thematik <strong>in</strong> Theorie und Praxis .................................................. 59<br />
2 <strong>Gewalt</strong> gegen alte Menschen als Teil <strong>de</strong>s pflegerischen Alltags ........ 61<br />
2.1 Def<strong>in</strong>itorische Unklarheiten <strong>de</strong>s <strong>Gewalt</strong>begriffs ............................... 61<br />
2.2 <strong>Gewalt</strong>ausübung durch <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> und weitere<br />
Betreuungspersonen ........................................................................ 62<br />
2.3 Pflege zwischen Fürsorge und Verletzung <strong>de</strong>r Autonomie .............. 66<br />
3 Umgang mit <strong>Gewalt</strong> gegen Bewohner ................................................... 71<br />
3.1 Reaktionen alter Menschen auf Autonomieverletzung .................... 71<br />
3.2 Reaktionen von <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n auf <strong>Gewalt</strong> gegen alte Menschen ........ 72<br />
4 <strong>Gewalt</strong> gegen <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> .......................................................................... 77<br />
4.1 Unterschiedliche Wahrnehmungen <strong>de</strong>r <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n ........................... 77<br />
4.2 Gefühle und Reaktionen bei <strong>Gewalt</strong> gegen die eigene Person ......... 79<br />
4.3 Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>m Verhalten alter Menschen .................. 81<br />
5 Rahmenbed<strong>in</strong>gungen <strong>de</strong>r Pflegebeziehungen.......................................... 83<br />
5.1 Strukturen <strong>de</strong>r Pflege........................................................................ 83<br />
5.2 Personelle E<strong>in</strong>flussfaktoren ............................................................. 87<br />
6 Potenzielle Unterstützungsmöglichkeiten für <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> ....................... 91<br />
6
Inhalt<br />
Teil IV Interpretation und Ausblick ............................................................ 93<br />
1 Interpretation <strong>de</strong>r Forschungsergebnisse ............................................... 94<br />
2 Potenzielle Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Forschungsergebnisse ................................. 99<br />
Literatur ............................................................................................................. 102<br />
Def<strong>in</strong>ition und Abkürzungen .......................................................................... 105<br />
Gesprächsleitfa<strong>de</strong>n .......................................................................................... 106<br />
Register .............................................................................................................. 108<br />
7
Danksagung<br />
Diese Arbeit wur<strong>de</strong> im W<strong>in</strong>tersemester 2004/2005 vom Fachbereich Gesundheit und<br />
Pflege <strong>de</strong>r Katholischen Fachhochschule Ma<strong>in</strong>z als Diplomarbeit angenommen.<br />
An dieser Stelle danke ich me<strong>in</strong>em Mann und me<strong>in</strong>en K<strong>in</strong><strong>de</strong>rn, die mich während<br />
<strong>de</strong>s Studiums stets tatkräftig unterstützt haben.<br />
Im Weiteren danke ich allen, die mich bei <strong>de</strong>r Anfertigung <strong>de</strong>r Arbeit begleitet und<br />
damit wesentlich zur Umsetzung beigetragen haben, vor allem <strong>de</strong>n Pflegepersonen,<br />
die bereit waren, an <strong>de</strong>n Interviews teilzunehmen, um mich so an ihren zahlreichen<br />
Erfahrungen teilhaben zu lassen.<br />
E<strong>in</strong> beson<strong>de</strong>rer Dank gilt me<strong>in</strong>er Kommiliton<strong>in</strong> Sonja Hopperdietzel. Unsere Zusammenarbeit<br />
im Forschungsprozess war gekennzeichnet durch kritische Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzungen<br />
und Rückmeldungen, stetige Motivation, e<strong>in</strong>fühlsame Unterstützung<br />
und gegenseitige Überprüfung <strong>de</strong>r erhobenen Daten, <strong>in</strong>sgesamt ganz wesentliche<br />
Aspekte, die die Fertigstellung dieser Arbeit erst ermöglichten.<br />
Auch me<strong>in</strong>er Freund<strong>in</strong> Reg<strong>in</strong>a e<strong>in</strong> Dank für die zahlreichen Stun<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Zuhörens<br />
und Mutmachens.<br />
E<strong>in</strong> »Danke« geht schließlich an Frau Prof. Dr. Renate Stemmer. Sie hat für mich<br />
während <strong>de</strong>s gesamten Studiums e<strong>in</strong>e Vorbildfunktion e<strong>in</strong>genommen und mich<br />
immer wie<strong>de</strong>r motivierend bei <strong>de</strong>r Erstellung <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit begleitet.<br />
Des Weiteren ermutigte sie mich zur Veröffentlichung <strong>de</strong>r Forschungsergebnisse und<br />
unterstützte mich bei <strong>de</strong>r Umsetzung <strong>de</strong>s Vorhabens.<br />
Limburg, im September 2005 Cordula Schnei<strong>de</strong>r<br />
9
Dank<br />
Um ehrlich zu se<strong>in</strong><br />
E<strong>in</strong>e<br />
jammert leise vor sich h<strong>in</strong>.<br />
»Mama«, sagt sie.<br />
E<strong>in</strong>e<br />
betet ununterbrochen.<br />
»Heilige Maria«, wie<strong>de</strong>rholt sie.<br />
E<strong>in</strong>e<br />
schaut mich mit großen Augen an,<br />
packt mich am Arm, zerrt an mir.<br />
»Kommst Du mit mir?« fragt sie.<br />
E<strong>in</strong>er<br />
sucht verzweifelt se<strong>in</strong>e Frau.<br />
Er wird aggressiv,<br />
hebt drohend se<strong>in</strong>e Fäuste.<br />
»Sieh’ zu, dass Du Dich rechtzeitig duckst«, sage ich mir.<br />
Ich sehe Menschen,<br />
die von e<strong>in</strong>em leeren Teller essen mit unsichtbaren Gabeln,<br />
<strong>de</strong>nen ihre Ausscheidungen aus <strong>de</strong>n Hosen laufen,<br />
die vor E<strong>in</strong>samkeit laut schluchzen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>ren Zeit,<br />
an e<strong>in</strong>em an<strong>de</strong>ren Ort leben, die auf me<strong>in</strong>e Fragen<br />
mit Gedanken aus ihrer Welt antworten.<br />
Um ehrlich zu se<strong>in</strong>:<br />
Von Zeit zu Zeit<br />
haben sie gewankt,<br />
me<strong>in</strong>e I<strong>de</strong>ale. 1<br />
1 Schnei<strong>de</strong>r 1997, 48<br />
10
Vorwort <strong>de</strong>r Herausgeber<strong>in</strong><br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen <strong>de</strong>r Altenpflege ist ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>malige Entgleisung, son<strong>de</strong>rn<br />
vielen Pflegesituationen <strong>in</strong>härent. Das ist vielleicht die wichtigste Botschaft dieser<br />
Publikation.<br />
Die Autor<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressiert sich beson<strong>de</strong>rs für Wahrnehmungen und E<strong>in</strong>schätzungen <strong>de</strong>s<br />
Phänomens aus <strong>de</strong>r Sicht von Pflegepersonen. Auf <strong>de</strong>r Grundlage e<strong>in</strong>er qualitativen<br />
Untersuchung wird <strong>de</strong>utlich, dass <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> sowohl Täter als auch Opfer von<br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> Pflegeheimen s<strong>in</strong>d. Mit erstaunlicher Offenheit berichten die Proban<strong>de</strong>n<br />
von ihren Beobachtungen und Erfahrungen. »<strong>Gewalt</strong>« stellt sich dar als e<strong>in</strong> vielschichtiges<br />
Phänomen, <strong>de</strong>m die <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n nicht zu entr<strong>in</strong>nen vermögen. Zugleich<br />
fühlen sie sich auf <strong>de</strong>n Umgang mit dieser Thematik nicht ausreichend vorbereitet.<br />
Auch sche<strong>in</strong>en Unterstützungsmöglichkeiten zu fehlen.<br />
Der Autor<strong>in</strong>, die ihr persönliches Interesse an <strong>de</strong>r Thematik nicht verbirgt, gel<strong>in</strong>gt es,<br />
mit gebotener Sachlichkeit <strong>de</strong>n Facettenreichtum dieses Phänomens darzustellen und<br />
so <strong>de</strong>n schmalen Grat, auf <strong>de</strong>m <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> sich tagtäglich bewegen, sichtbar zu<br />
machen. Durch die umfangreichen Zitate nimmt die Autor<strong>in</strong> <strong>de</strong>n Leser und die Leser<strong>in</strong><br />
mit auf e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> <strong>de</strong>n Alltag von Pflegeheimen, <strong>in</strong> <strong>de</strong>nen <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> um die<br />
Umsetzung ihrer I<strong>de</strong>ale kämpfen und gleichwohl persönlichen Grenzen und strukturellen<br />
Mängeln ausgesetzt s<strong>in</strong>d.<br />
Abschließend wer<strong>de</strong>n erste Ansätze zum Umgang mit <strong>de</strong>r Thematik skizziert.<br />
Mit dieser Themenstellung ist die Arbeit beson<strong>de</strong>rs für Pflegepersonen im Bereich<br />
<strong>de</strong>r stationären Altenpflege wichtig. Sie sollte Mut machen, über eigene Erfahrungen<br />
nachzu<strong>de</strong>nken und es zu wagen, gewaltförmige Geschehnisse zu kommunizieren.<br />
Dies kann e<strong>in</strong> erster Schritt se<strong>in</strong> <strong>in</strong> Richtung auf ihre konstruktive Bearbeitung. Auch<br />
Lehren<strong>de</strong>n an Pflegeschulen und leiten<strong>de</strong>n Personen im Bereich <strong>de</strong>r Altenpflege kann<br />
diese Publikation wärmstens empfohlen wer<strong>de</strong>n, gehört doch zu ihren Aufgaben die<br />
Vorbereitung auf o<strong>de</strong>r die Unterstützung im Umgang mit diesem Phänomen. Studieren<strong>de</strong>n<br />
<strong>in</strong> pflegebezogenen Studiengängen bietet diese Arbeit reichhaltiges Material<br />
für die Ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>rsetzung mit Aspekten von <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Pflege.<br />
Dieser Band eröffnet die Reihe <strong>de</strong>r Ma<strong>in</strong>zer Schriften, die Projekt- und Diplomarbeiten<br />
aus <strong>de</strong>m Fachbereich Pflege und Gesundheit <strong>de</strong>r Katholischen Fachhochschule<br />
Ma<strong>in</strong>z <strong>de</strong>m <strong>in</strong>teressierten Publikum zugänglich macht. E<strong>in</strong> beson<strong>de</strong>rer Dank<br />
gilt <strong>de</strong>r Lektor<strong>in</strong> <strong>de</strong>s Schlütersche Verlages, Claudia Flöer, die dieses Vorhaben engagiert<br />
unterstützt.<br />
Ma<strong>in</strong>z, im Juli 2005 Renate Stemmer<br />
11
E<strong>in</strong>leitung<br />
Alltags- o<strong>de</strong>r Ausnahmesituationen?<br />
Auf e<strong>in</strong>em Wohnbereich <strong>de</strong>r stationären Altenhilfe mit <strong>in</strong>sgesamt 36 pflegebedürftigen<br />
Menschen unterschiedlicher Pflegestufen 2 s<strong>in</strong>d zwei Altenpfleger<strong>in</strong>nen, e<strong>in</strong>e<br />
Auszubil<strong>de</strong>n<strong>de</strong> zur Altenpfleger<strong>in</strong> und e<strong>in</strong>e Pflegeassistent<strong>in</strong> im Frühdienst tätig.<br />
Gegen 10.00 Uhr kl<strong>in</strong>gelt e<strong>in</strong>e Bewohner<strong>in</strong> und äußert <strong>de</strong>n Wunsch, auf die Toilette<br />
geführt zu wer<strong>de</strong>n. Die herbeigerufene Altenpfleger<strong>in</strong> antwortet, erstens habe sie<br />
jetzt Pause, die Störung sei unangemessen. Zweitens sei doch erst vor e<strong>in</strong>er halben<br />
Stun<strong>de</strong> e<strong>in</strong> Toilettengang durchgeführt wor<strong>de</strong>n, drittens könne ja auch noch die<br />
W<strong>in</strong><strong>de</strong>l benutzt wer<strong>de</strong>n, die habe ausreichend Aufsaugvermögen. Die Bewohner<strong>in</strong><br />
wird von <strong>de</strong>r betroffenen Pflegeperson nicht zur Toilette geführt.<br />
Bei e<strong>in</strong>er an<strong>de</strong>ren Bewohner<strong>in</strong> wird im Anschluss an die Ganzkörperpflege im Bett<br />
e<strong>in</strong>e Wundversorgung <strong>de</strong>s Ulcus cruris 3 durchgeführt. Beim anschließen<strong>de</strong>n Anlegen<br />
<strong>de</strong>s Kompressionsverbands schlägt die Bewohner<strong>in</strong> unerwartet auf die Pflegeperson<br />
e<strong>in</strong>. Die Pflegeperson versucht, sich vor <strong>de</strong>n Schlägen zu schützen, wobei ihr von <strong>de</strong>r<br />
Bewohner<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e lange, bluten<strong>de</strong> Kratzwun<strong>de</strong> am Unterarm zugefügt wird, die sich<br />
nach e<strong>in</strong>em Tag stark entzün<strong>de</strong>t.<br />
Diese Erlebnisse und die damit verbun<strong>de</strong>nen Gefühle <strong>de</strong>r Fassungslosigkeit und <strong>de</strong>r<br />
tiefen Betroffenheit sowie weitere ähnlich gelagerte Beobachtungen, aber auch die<br />
eigene Ohnmacht im Umgang mit diesen Pflegesituationen waren persönliche Motive,<br />
sich <strong>in</strong>tensiver damit ause<strong>in</strong>an<strong>de</strong>r zu setzen. Die oben geschil<strong>de</strong>rten Erlebnisse<br />
waren so prägend, dass ich vor <strong>de</strong>r Thematik die Augen nicht mehr verschließen<br />
konnte.<br />
Seit 1987 durchlief ich verschie<strong>de</strong>ne Bereiche <strong>in</strong>nerhalb <strong>de</strong>r Altenhilfe. Nach e<strong>in</strong>er<br />
Tätigkeit als Pflegeassistent<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Altenheim schloss sich die Umschulung zur<br />
Altenpfleger<strong>in</strong> an, dann die Tätigkeit als Pflegefachperson im Nachtdienst. Weiteren<br />
sieben Jahren als Dozent<strong>in</strong> für Pflege <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Altenpflegeschule folgte das Studium<br />
<strong>de</strong>r Pflegepädagogik an <strong>de</strong>r Katholischen Fachhochschule Ma<strong>in</strong>z. Im Rahmen <strong>de</strong>s<br />
Hauptstudiums übernahm ich die Aufgaben e<strong>in</strong>er verantwortlichen Pflegefachkraft<br />
e<strong>in</strong>er großen E<strong>in</strong>richtung <strong>de</strong>r stationären Altenhilfe.<br />
2 Es wer<strong>de</strong>n drei Stufen <strong>de</strong>r Pflegebedürftigkeit nach § 15 Pflegeversicherungsgesetz unterschie<strong>de</strong>n: Pflegestufe<br />
I: m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 90 M<strong>in</strong>uten Zeitaufwand/24 Stun<strong>de</strong>n, Pflegestufe II: m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 180 M<strong>in</strong>./Tag und<br />
Pflegestufe III: m<strong>in</strong><strong>de</strong>stens 300 M<strong>in</strong>./Tag (vgl. König 2001, 20)<br />
3 Unterschenkelgeschwür mit Substanz<strong>de</strong>fekt <strong>de</strong>r Haut meist <strong>in</strong> Folge von chronisch-venöser Insuffizienz<br />
(vgl. Pschyrembel 2004, 1871)<br />
13
E<strong>in</strong>leitung<br />
Immer wie<strong>de</strong>r wur<strong>de</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>n verschie<strong>de</strong>nen E<strong>in</strong>satzgebieten <strong>de</strong>utlich, <strong>in</strong> welche Verantwortung<br />
<strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> 4 genommen wer<strong>de</strong>n und unter welchen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
Pflege geleistet wer<strong>de</strong>n muss: die Anfor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>s Mediz<strong>in</strong>ischen Dienstes <strong>de</strong>r<br />
Krankenversicherung (MDK), die Vorgaben <strong>de</strong>r Heimaufsichtsbehör<strong>de</strong>, die leisen<br />
Wünsche und lauten For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r Bewohner<strong>in</strong>nen und Bewohner 5 und ihrer<br />
Angehörigen, das Streben <strong>de</strong>r <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n selbst, e<strong>in</strong>e umfassen<strong>de</strong> Pflege zu leisten.<br />
Die Summe dieser Faktoren, so me<strong>in</strong>e Beobachtungen, üben auf die Pflegepersonen<br />
e<strong>in</strong>en immensen Druck aus.<br />
In <strong>de</strong>n Medien lassen sich zunehmend Berichte f<strong>in</strong><strong>de</strong>n, die über Missstän<strong>de</strong>, die als<br />
<strong>Gewalt</strong> und Aggression bezeichnet wer<strong>de</strong>n, <strong>in</strong>formieren. »Dennoch sche<strong>in</strong>t die Gesellschaft<br />
nur das Skandalöse daran zu <strong>in</strong>teressieren und weniger die Notwendigkeit,<br />
Mißstän<strong>de</strong> zu verr<strong>in</strong>gern« 6 . Neben diesem Aspekt e<strong>in</strong>er sensationsorientierten Beschäftigung<br />
sche<strong>in</strong>t sich jedoch auch das Gegenteil <strong>in</strong> Gestalt e<strong>in</strong>er Bagatellisierung<br />
ausmachen zu lassen.<br />
Wissenschaftliches Arbeiten trägt <strong>de</strong>r Thematik Rechnung, <strong>in</strong><strong>de</strong>m differenzierte<br />
Erkenntnisse zum Thema angestrebt wer<strong>de</strong>n 7 .<br />
Vor diesem H<strong>in</strong>tergrund tauchen vielfältige Fragen auf:<br />
• S<strong>in</strong>d die geschil<strong>de</strong>rten, persönlichen Erlebnisse als <strong>Gewalt</strong> zu <strong>de</strong>f<strong>in</strong>ieren?<br />
• S<strong>in</strong>d es die hohen Anfor<strong>de</strong>rungen an <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>, die zu <strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> Pflegebeziehungen<br />
führen?<br />
• Greifen die Medien nur e<strong>in</strong>zelne Szenen auf o<strong>de</strong>r ist <strong>Gewalt</strong> an <strong>de</strong>r Tagesordnung?<br />
• Inwiefern nehmen <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> überhaupt solche Sachverhalte wahr?<br />
• Wie empf<strong>in</strong><strong>de</strong>n Pflegepersonen selbst ihre Rolle im Alltagsgeschehen? Erleben<br />
<strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> sich selbst als Opfer o<strong>de</strong>r als Täter?<br />
• Existiert e<strong>in</strong>e Tabuisierung <strong>de</strong>s Themas?<br />
Es ist me<strong>in</strong> Wunsch, diesen Fragen nachzugehen. Bei <strong>de</strong>r Beschäftigung mit <strong>de</strong>r Thematik<br />
wählte ich e<strong>in</strong> qualitatives Forschungs<strong>de</strong>sign aus. Die Arbeit und die durch<br />
die Studie erlangten Untersuchungsergebnisse verfolgen die Absicht, <strong>de</strong>n subjektiven<br />
Erfahrungen von Pflegepersonen Gehör zu verschaffen, um herauszuf<strong>in</strong><strong>de</strong>n, <strong>in</strong>wieweit<br />
<strong>Gewalt</strong> <strong>in</strong> <strong>de</strong>r Pflege e<strong>in</strong> vorhan<strong>de</strong>nes und zugleich reflektiertes Thema darstellt.<br />
Es wird ausschließlich die Perspektive <strong>de</strong>r <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n untersucht. Die Erfahrungen<br />
<strong>de</strong>r pflegebedürftigen Menschen <strong>in</strong> Bezug auf <strong>Gewalt</strong> wer<strong>de</strong>n nicht zum Forschungsgegenstand<br />
gemacht, da dies <strong>de</strong>n Rahmen <strong>de</strong>r Arbeit überschreiten wür<strong>de</strong>.<br />
4 Der Begriff ›<strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>‹, im Weiteren auch teilweise als Pflegeperson, Pflegekraft, Pflegefachkraft o<strong>de</strong>r<br />
Pflegepersonal bezeichnet, umfasst Personen wie Altenpfleger<strong>in</strong>nen und Altenpfleger, Krankenschwestern<br />
und Krankenpfleger und Pflegeassistent<strong>in</strong>nen und Pflegeassistenten, die beruflich für die Betreuung<br />
und Pflege von pflegebedürftigen Menschen zuständig s<strong>in</strong>d. Betreffen die Aufführungen nur<br />
exam<strong>in</strong>ierte Fachkräfte, wird dies explizit aufgeführt.<br />
5 Der Term umschreibt Personen, die aufgrund ihrer Pflegebedürftigkeit auf professionelle Unterstützung<br />
angewiesen s<strong>in</strong>d. Die Begriffe Bewohner<strong>in</strong>, Bewohner, Pflegebedürftige, Betreuungsbedürftige, Gepflegte<br />
und zu <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n synonym e<strong>in</strong>gesetzt.<br />
6 Hirsch 2000, 16<br />
7 Vgl. Kranich 2000, 45<br />
14
E<strong>in</strong>leitung<br />
Die Studie konzentriert sich auf die Situation <strong>in</strong> <strong>de</strong>n stationären E<strong>in</strong>richtungen <strong>de</strong>r<br />
Altenhilfe. Aus Grün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Übersichtlichkeit bleiben die Bereiche <strong>de</strong>r ambulanten<br />
Pflege 8 und <strong>de</strong>r Pflege <strong>in</strong> Krankenhäusern und Kl<strong>in</strong>iken 9 unberücksichtigt, obwohl<br />
auch hier <strong>Gewalt</strong>akte, die sich vornehmlich gegen alte Menschen richten, dokumentiert<br />
wer<strong>de</strong>n.<br />
Im ersten Teil <strong>de</strong>r Arbeit erfolgt die Darstellung <strong>de</strong>s Forschungsstands e<strong>in</strong>schließlich<br />
wichtiger Term<strong>in</strong>i.<br />
Es bestehen unterschiedliche Auffassungen bzgl. <strong>de</strong>r Exploration <strong>de</strong>r Literatur im<br />
Kontext qualitativer Forschung. Morse/Field empfehlen, »die vorhan<strong>de</strong>ne Literatur<br />
kritisch zu analysieren und sie selektiv zu verwen<strong>de</strong>n« 10 . Es ersche<strong>in</strong>t mir unumgänglich,<br />
zunächst e<strong>in</strong>en Überblick über die komplexe Thematik zu gew<strong>in</strong>nen, um<br />
zur Forschungsfrage zu gelangen. Zu<strong>de</strong>m können Vor<strong>in</strong>formationen das Verständnis<br />
für die Interview<strong>in</strong>halte erweitern.<br />
Der Literaturrecherche schließen sich die Entwicklung und die Def<strong>in</strong>ition <strong>de</strong>r Forschungsfrage<br />
an.<br />
Der zweite Teil widmet sich <strong>de</strong>n Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Datenerhebung und <strong>de</strong>r Auswertung<br />
<strong>de</strong>r erhobenen Inhalte. Das methodische Vorgehen orientiert sich an <strong>de</strong>r oben beschriebenen<br />
Zielsetzung. Die Entscheidung fällt somit zugunsten e<strong>in</strong>er qualitativen<br />
Forschungsmetho<strong>de</strong>.<br />
Dieses Kapitel be<strong>in</strong>haltet sowohl die Explikation <strong>de</strong>r Herangehensweise, die Veranschaulichung<br />
<strong>de</strong>r konkreten Situationen <strong>de</strong>r Studie als auch die Darstellung <strong>de</strong>r<br />
Gütekriterien <strong>de</strong>r qualitativen Forschung.<br />
Im Anschluss an die Diskussion <strong>de</strong>r Metho<strong>de</strong>n folgt <strong>de</strong>r Hauptteil <strong>de</strong>r Arbeit. In<br />
diesem dritten Teil kommen ausschließlich die <strong>Pflegen</strong><strong>de</strong>n mit ihren Ausführungen<br />
und subjektiven Erfahrungen zu Wort. Die dargestellten Daten wer<strong>de</strong>n ausführlich<br />
mit Orig<strong>in</strong>alzitaten <strong>de</strong>r Proban<strong>de</strong>n belegt.<br />
Nachfolgend wer<strong>de</strong>n im vierten Teil die Untersuchungsergebnisse unter Bezug zur<br />
Forschungsfrage und zur Literatur <strong>in</strong>terpretiert. Dem schließt sich e<strong>in</strong> Ausblick an,<br />
<strong>de</strong>r die Be<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Erkenntnisse für die stationäre Altenhilfe skizziert und Empfehlungen<br />
für potenzielle Vorgehensweisen formuliert.<br />
8 Schnei<strong>de</strong>r berichtet von e<strong>in</strong>er Untersuchung von Ste<strong>in</strong>metz, <strong>in</strong> <strong>de</strong>r 77 pflegen<strong>de</strong> Angehörige befragt<br />
wur<strong>de</strong>n. Zehn Prozent gaben <strong>Gewalt</strong> gegen die Eltern an, 18 Prozent wiesen auf <strong>Gewalt</strong> durch die<br />
Eltern h<strong>in</strong> (vgl. Schnei<strong>de</strong>r 1998, 55).<br />
9 Richter und Sauter beschreiben <strong>in</strong> ihren Ausführungen, dass die <strong>Gewalt</strong>ausübung, bis h<strong>in</strong> zur Tötung,<br />
überwiegend gegenüber wehrlosen Menschen stattf<strong>in</strong><strong>de</strong>t. Die Autoren beziehen sich auf die Ergebnisse<br />
e<strong>in</strong>er forensischen Untersuchung von Maisch (1996): Die Opfer waren überwiegend hochbetagt (über<br />
70 Jahre), litten unter Multimorbidität und befan<strong>de</strong>n sich teilweise im präf<strong>in</strong>alen o<strong>de</strong>r f<strong>in</strong>alen Stadium<br />
<strong>de</strong>s Sterbeprozesses (vgl. Richter/Sauter 1997, 20 f.).<br />
10 Morse/Field 1998, 44<br />
15