Gesamtausgabe 2011-1 - Pastoraltheologische Informationen
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236<br />
Peter Kohlgraf<br />
Auch wenn die Instruktion etwa die im Katechismus vertretene Linie beinhaltet,<br />
kritisiert sie ausdrücklich das „starre“ Verständnis der Tradition, 32 das nur<br />
in der Wiederholung fester Lehrsätze besteht und nicht die Dynamik und das<br />
Prozesshafte der Tradition gleichermaßen ernst nimmt. Überlieferung ist der<br />
Instruktion zufolge „ein vielfältiger und von Leben sprühender Organismus“,<br />
der neben den Inhalten des Glaubens auch die Verbindung zum Leben der<br />
Menschen herstellt. Verschiedenheit und Einheit sowie Kontinuität und Fortschritt<br />
bilden zwei Seiten einer Medaille. 33 Diese Linie in kirchenamtlichen<br />
Dokumenten berechtigt hier dazu, im Rahmen einer praktischen Theologie<br />
einen anderen Weg des Traditionsverständnisses weiterzugehen als den im<br />
Katechismus beschriebenen, auch wenn die konkreten Schritte und die Aussagen<br />
über den Zusammenhang zwischen Leben und Lehre in den genannten<br />
Dokumenten insgesamt noch recht vage bleiben.<br />
Obwohl die Praktische Theologie stärker als andere Disziplinen den Gegenwartsbezug<br />
des Glaubens beschreiben möchte, kommt sie nicht ohne<br />
den Bezug zur Tradition der Kirche aus. Ottmar Fuchs etwa beschreibt in seiner<br />
„Praktischen Hermeneutik der Heiligen Schrift“ die Kirche als eine Gemeinschaft,<br />
die nicht nur synchron-gegenwärtig, sondern auch diachronvergangenheitsbezogen<br />
verstanden werden muss, wenn man sinnvoll über<br />
den Glauben der Kirche heute sprechen möchte. 34 Ihm geht es nicht um das<br />
Beharren auf bestimmten Glaubenssätzen oder dogmatischen Formulierungen,<br />
auch wenn diese in das theologische Nachdenken einfließen müssen.<br />
Fuchs geht von individuellen Glaubenserfahrungen und Biographien aus,<br />
denn die Tradition versteht er als „Handlungs- und Glaubenswirklichkeit konkreter<br />
Personen“ 35 . Wenn die Tradition lebendig und aussagekräftig bleiben<br />
will, kann das nur gelingen, wenn sich „Subjekte“ des Glaubens begegnen,<br />
deren Glaubensgeschichte und -erfahrung miteinander kommunizieren. 36<br />
Wahrheitsfindung und Erkenntnisfortschritt ereignen sich als Suche nach einer<br />
„Konsenstheorie, an der auch die Verstorbenen beteiligt sind“ 37 .<br />
Praktische Theologen machen auf die Gefahr einer Funktionalisierung von<br />
Tradition aufmerksam. Tradition als alleiniges Wahrheitskriterium kann für die<br />
Glaubensgemeinschaft so bestimmend werden, dass keine Wirklichkeitsver-<br />
32<br />
Vgl. Kongregation für das katholische Bildungswesen, Instruktion über das Studium der<br />
Kirchenväter in der Priesterausbildung (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 96),<br />
hg. vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1989, 10 u. 22.<br />
33<br />
Vgl. Instruktion über Studium der Kirchenväter (s. Anm. 32) 23.<br />
34<br />
Vgl. Ottmar Fuchs, Praktische Hermeneutik der Heiligen Schrift (Praktische Theologie<br />
heute 57), Stuttgart 2004, 171.<br />
35<br />
Fuchs, Hermeneutik (s. Anm. 34) 175.<br />
36<br />
Vgl. Fuchs, Hermeneutik (s. Anm. 34) 171.<br />
37<br />
Fuchs, Hermeneutik (s. Anm. 34) 172.<br />
urn:nbn:de:hbz:6-93449614607 PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-1, S. 225–239<br />
Kontinuität oder Bruch?<br />
arbeitung heute stattfinden kann. Betrachtet man die Gegenwart ausschließlich<br />
durch die Brille der Tradition, kann sich ein Wirklichkeitsverlust einstellen,<br />
der weder der Kirche noch den Gläubigen nutzen kann. 38 Die Hoffnung, die<br />
gesellschaftliche und kirchliche Wirklichkeit werde sich einem übergeschichtlichen<br />
Wahrheitsideal unterordnen, wird kaum von Erfolg gekrönt sein. Genauso<br />
problematisch ist es, die aktuelle Praxis allein mit dem Hinweis auf die<br />
Tradition zu legitimieren, denn so einfach ist es nicht, zwischen „der“ Tradition<br />
und „den“ Traditionen, also zwischen Unaufgebbarem und Zeitbedingtem<br />
zu unterscheiden.<br />
Eine solche instruktionstheoretische Engführung kann man auch im Hinblick<br />
auf das Wahrheitsverständnis hinterfragen. Ist Wahrheit nur der Glaubensinhalt,<br />
der unversehrt übergeben wird, oder besteht Wahrheit im inkarnationstheologischen<br />
Sinne nicht genauso im jeweiligen Tun und in der die<br />
Wahrheit verwirklichenden Glaubenspraxis, wie es das Johannesevangelium<br />
etwa beschreibt: „Wer die Wahrheit tut, kommt zum Licht“ (Joh 3,21)? Damit<br />
wird die notwendige Verknüpfung zwischen der geschichtlichen Wirklichkeit<br />
und der christlichen Wahrheit formuliert. Ein kirchliches Aggiornamento kann<br />
folglich nicht allein darin bestehen, die Wirklichkeit dem christlichen Wahrheitsanspruch<br />
anzupassen, sondern das Evangelium und die christliche<br />
Wahrheit selbst geschichtlich werden zu lassen. Selbstverständlich gehören<br />
in ein lebendiges Gespräch der Gegenwart mit der Tradition und ihren Vertretern<br />
auch die Glaubensinhalte dazu.<br />
3.4 Glaubenssicherheit und Identität kann es nicht ohne Weltbezug und<br />
Dialog geben<br />
Die wichtige Frage steht im Raum, was dem Glauben des Einzelnen helfen<br />
kann oder welche theologischen Positionen ihn verunsichern. Die Erfahrung<br />
zeigt, dass es nicht genügt, Lehrformeln zu überliefern und darin schon Glaubenssicherheit<br />
zu erfahren. Tatsächlich zeigt der Blick gerade auch in die<br />
Frühzeit der Kirche, mit welcher Neugier, welchem Selbstbewusstsein und<br />
gleichzeitiger Dialogbereitschaft manche namhafte Theologen auf die „Welt“<br />
zugegangen sind. Dabei haben sie gerade nicht nur Glaubensinhalte weitergegeben,<br />
sondern das Christentum als Lebensstil praktiziert, ohne es in einer<br />
Sonderwelt zu isolieren. Die christliche Identität bestand nicht in einer radikalen<br />
Abgrenzung, sondern im Dialog und in der sauerteigartigen Umformung<br />
der Gesellschaft, wobei in der Annahme eines „Logos Spermatikos“, der<br />
38 Vgl. Leo Karrer, Erfahrung als Prinzip der Praktischen Theologie, in: Herbert Haslinger<br />
(Hg.), Handbuch Praktische Theologie. Bd. 1: Grundlagen, Mainz 1999, 199–219, hier<br />
219.<br />
PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-1, S. 225–239 urn:nbn:de:hbz:6-93449614607<br />
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