Gesamtausgabe 2011-1 - Pastoraltheologische Informationen
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Hildegard Wustmans<br />
lich, und dies vor allem in den Empfehlungen. 28 Konsequentes Ringen um<br />
Balancen sieht anders aus, weil es den Ortswechsel und das Risiko nicht<br />
scheut und sich immer neu auf Entwicklungen bezieht. Im Folgenden soll exemplarisch<br />
an vier Balanceproblemen dieser Gedanke konkretisiert werden:<br />
Das Balanceproblem<br />
� von zu wenig und zu viel an Arbeit,<br />
� zwischen Erwerbsarbeit und Ehrenamt,<br />
� zwischen Erwerbsarbeit und Familienarbeit,<br />
� zwischen Arbeitswoche und Sonntagsruhe.<br />
4.1 Das Balanceproblem von zu wenig und zu viel an Arbeit 29<br />
Die Erwerbsarbeit prägt und gestaltet die Lebenszeit von Menschen. Diese<br />
Tatsache wird gerade in der Erfahrung des Arbeitsplatzverlustes deutlich:<br />
„Wenn Sie ausscheiden aus der Firma, sind jahrelang drin gewesen, haben einen netten<br />
Kollegenkreis um sich gehabt, und es heißt dann: Also schön, du bist ausgeschieden,<br />
aber wir vergessen dich so leicht nicht, wir besuchen dich noch. Das sind Worte,<br />
nach meiner Erfahrung, zum Trost. Es hat nicht einer, nachdem ich arbeitslos war,<br />
den Weg zu mir gefunden. […] Aber in dem Moment, wo das Tor sich schließt, muß<br />
man wissen, man ist ausgeschaltet. Und damit muß man auch erst fertig werden. […]<br />
Sind plötzlich abgeschnitten, Sie hören von dem, wo Sie dringestanden haben, gar<br />
nichts mehr, obgleich Sie dieses Leben, das Arbeitsleben, intensiver gemacht haben<br />
wie Ihr Privatleben […].“ 30<br />
In dieser Aussage können wir entdecken, welche Bedeutung Erwerbsarbeit<br />
im Leben von Menschen haben kann. Wenn sie verloren geht, dann ist man<br />
„wie abgeschnitten“. Balancen geraten ins Wanken.<br />
Daneben gibt es aber auch jene, die zu viel arbeiten. Hierzu zählen Berufsgruppen<br />
wie Ärzte, Pflegepersonal, Manager. Wer regelmäßig 60 Stunden<br />
pro Woche und mehr arbeitet, arbeitet zu viel. Wer so viel arbeitet, geht<br />
im Grunde unverantwortlich mit sich selbst und seinen sozialen Beziehungen<br />
um. Was zu diesem Pensum verführt, ist oftmals der persönliche Erfolg, das<br />
Gehalt, die Karriere. Diese Aspekte werden u. a. auch dadurch befördert,<br />
dass Viel-Arbeiten landläufig auch mit Leistungsfähigkeit gleichgesetzt wird.<br />
28<br />
Vgl. Kirche und Arbeiterschaft (s. Anm. 4) 349–364.<br />
29<br />
Vgl. Ulrike Wagener – Dorothee Markert – Antje Schrupp – Andrea Günter, Liebe zur<br />
Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik,<br />
Rüsselsheim 1999, 42.<br />
30<br />
Christine Morgenroth, Sprachloser Widerstand. Zur Sozialpathologie der Lebenswelt von<br />
Arbeitslosen, Frankfurt/M. 1990, 124.<br />
urn:nbn:de:hbz:6-93449631154 PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-1, S. 95–108<br />
Kirche und Arbeiterschaft<br />
Aber Erfahrungen und Studien belegen sehr deutlich, dass auch ein Zuviel an<br />
Arbeit Balancen stört. 31 Wer zu wenig oder zu viel an Arbeit hat, wird (oftmals)<br />
an Leib und Seele krank.<br />
Was tut hier not? Unbestritten eine Neubewertung von Arbeit. Dies könnte<br />
auch unter der Perspektive der Arbeitsbeziehungen geschehen. „Die Beziehungen<br />
zwischen Menschen in den Blick zu nehmen und zu verändern heißt<br />
deshalb, die Ökonomie zu verändern.“ 32 Insofern sind auch arbeitsmarktpolitische<br />
Maßnahmen geboten. Ein spezifisch christlicher Beitrag könnte in diesem<br />
Zusammenhang auch der Hinweis auf die Grammatik der Unterbrechung<br />
und der damit einhergehenden Relativierungen sein. Besonders deutlich wird<br />
dies in dem Grundsatz „Ora et labora – bete und arbeite“. Dieses Prinzip beschreibt<br />
die Balance zwischen Gebet und Arbeit als eine Konstante in den<br />
Gemeinschaften, wo alle einander dienen und helfen sollen. So wird die Lebensgrundlage<br />
gesichert und der Spiritualität Raum gegeben. Neben dem<br />
Gebet war und ist die Arbeit auch eine Möglichkeit der geistlichen Formung.<br />
Der Hl. Benedikt wollte eine Balance von Gebet und Arbeit, und dafür finden<br />
sich entsprechende Belege in der Ordensregel. 33 Im Kapitel 48,8 (Die Ordnung<br />
für Handarbeit und Lesung) heißt es: „Sie sind dann wirklich Mönche,<br />
wenn sie wie unsere Väter und die Apostel von ihrer Hände Arbeit leben.“ Die<br />
Kirche und ihre Ordensgemeinschaften haben die Potenz, der Gesellschaft<br />
und Einzelpersonen in den Fragen von zu viel und zu wenig Arbeit Hinweise<br />
zu geben. Gerade die Klöster können sich in diese Zusammenhänge als Anders-Orte<br />
einbringen. Sie zeigen befremdende Lösungen im Kontext der Bedeutung<br />
von Arbeit auf, weil sie Arbeit relativieren. 34<br />
31<br />
Vgl. http://www.business-wissen.de/personalmanagement/frust-manager-arbeiten-zuvielzum-schaden-der-work-life-balance/<br />
(28. Juli 2010).<br />
32<br />
Wagener u. a., Liebe (s. Anm. 29) 14.<br />
33<br />
Vgl. www.benediktiner.de, Link: Ordensregel (28. Juli 2010).<br />
34<br />
Dass diese Welt auch Manager fasziniert, belegen Berichte über ihre Erfahrungen mit<br />
dem Angebot „Kloster auf Zeit“. http://www.manager-im-kloster.de/downloads/SZ_Bericht_Kloster.pdf<br />
(28. Juli 2010); http://www.wiwo.de/karriere/manager-auszeit-ich-bindann-mal-weg-270147<br />
(28. Juli 2010). Vgl. auch Wilhelm Schmid-Bode, Maß und Zeit,<br />
Frankfurt/M. 2008; Bernhard A. Eckerstorfer, Das Kloster als pastoraler Ort. Die Bedeutung<br />
des benediktinischen Lebenszeugnisses, in: Geist und Leben 82 (2009) 5, 321–355.<br />
Entgegen dem Autor halte ich (benediktinische) Klöster durchaus im Sinn von Foucault<br />
für einen Heterotopos, denn in ihnen zeigt sich nicht nur eine andere Ordnung der Dinge,<br />
an diesen Orten werden Aspekte zum Thema, die sonst vielfach ausgeschlossen und tabuisiert<br />
werden: eine zölibatäre Lebensform, die stabilitas loci, der Gehorsam, die freiwillige<br />
Armut, um nur einige zu nennen.<br />
PThI, 31. Jahrgang, <strong>2011</strong>-1, S. 95–108 urn:nbn:de:hbz:6-93449631154<br />
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