Die Balkankriege 1912/13 Erster Weltkrieg: Die 2. und 3. OHL ...
Die Balkankriege 1912/13 Erster Weltkrieg: Die 2. und 3. OHL ...
Die Balkankriege 1912/13 Erster Weltkrieg: Die 2. und 3. OHL ...
- TAGS
- balkankriege
- www.mgfa.de
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Heft 2/2008<br />
�� ��<br />
C 21234 ISSN 0940 - 4163<br />
�����������������<br />
����������� ��� ����������� �������<br />
Militärgeschichte im Bild: Niederschlagung des Prager Frühlings durch Warschauer-Pakt-Truppen am 21. August 1968<br />
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> <strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
<strong>Erster</strong> <strong>Weltkrieg</strong>: <strong>Die</strong> <strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> <strong>OHL</strong><br />
Henning von Tresckow 1941<br />
Das Bauwesen der NVA<br />
������������������������������������<br />
����
Impressum<br />
Militärgeschichte<br />
Zeitschrift für historische Bildung<br />
Herausgegeben<br />
vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt<br />
durch Oberst Dr. Hans Ehlert <strong>und</strong><br />
Oberst i.G. Dr. Hans-Hubertus Mack (V.i.S.d.P.)<br />
Produktionsredakteur<br />
der aktuellen Ausgabe:<br />
OTL Dr. Harald Potempa<br />
Redaktion:<br />
Hauptmann Matthias Nicklaus M.A. (mn)<br />
Hauptmann Magnus Pahl M.A. (mp)<br />
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa (hp)<br />
Hauptmann Klaus Storkmann M.A. (ks)<br />
Mag. phil. Michael Thomae (mt)<br />
Bildredaktion:<br />
Dipl.-Phil. Marina Sandig<br />
Redaktionsassistenz:<br />
Michael Schadow, cand. phil. (ms)<br />
Lektorat:<br />
Dr. Aleksandar-S. Vuletić<br />
Layout/Grafik:<br />
Maurice Woynoski / Medienwerkstatt D. Lang<br />
Karten:<br />
Dipl.-Ing. Bernd Nogli<br />
Anschrift der Redaktion:<br />
Redaktion »Militärgeschichte«<br />
Militärgeschichtliches Forschungsamt<br />
Postfach 60 11 22, 14411 Potsdam<br />
E-Mail: MGFARedaktionMilGeschichte@<br />
b<strong>und</strong>eswehr.org<br />
Telefax: 03 31 / 9 71 45 07<br />
Homepage: www.mgfa.de<br />
Manuskripte für die Militärgeschichte werden<br />
an diese Anschrift erbeten. Für unverlangt eingesandte<br />
Manuskripte wird nicht gehaftet.<br />
Durch Annahme eines Manuskriptes erwirkt<br />
der Herausgeber auch das Recht zur Veröffentlichung,<br />
Übersetzung usw. Honorarabrechnung<br />
erfolgt jeweils nach Veröffentlichung. <strong>Die</strong> Redaktion<br />
behält sich Kürzungen eingereichter<br />
Beiträge vor. Nachdrucke, auch auszugsweise,<br />
fotomechanische Wiedergabe <strong>und</strong> Übersetzung<br />
sind nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung<br />
durch die Redaktion <strong>und</strong> mit Quellenangaben<br />
erlaubt. <strong>Die</strong>s gilt auch für die Aufnahme in<br />
elektronische Datenbanken <strong>und</strong> Vervielfältigungen<br />
auf CD-ROM. <strong>Die</strong> Redaktion hat keinerlei<br />
Einfluss auf die Gestaltung <strong>und</strong> die Inhalte<br />
derjenigen Seiten, auf die in dieser Zeitschrift<br />
durch Angabe eines Link verwiesen wird. Deshalb<br />
übernimmt die Redaktion keine Verantwortung<br />
für die Inhalte aller durch Angabe einer Linkadresse<br />
in dieser Zeitschrift genannten Seiten<br />
<strong>und</strong> deren Unterseiten. <strong>Die</strong>ses gilt für alle ausgewählten<br />
<strong>und</strong> angebotenen Links <strong>und</strong> für alle Seiteninhalte,<br />
zu denen Links oder Banner führen.<br />
© 2008 für alle Beiträge beim<br />
Militärgeschichtlichen Forschungsamt (MGFA)<br />
Sollten nicht in allen Fällen die Rechteinhaber<br />
ermittelt worden sein, bitten wir ggf. um Mitteilung.<br />
Druck:<br />
SKN Druck <strong>und</strong> Verlag GmbH & Co., Norden<br />
ISSN 0940-4163<br />
Editorial<br />
Das vorliegende Heft widmet sich in drei Großbeiträgen<br />
dem sogenannten Zeitalter der <strong>Weltkrieg</strong>e.<br />
<strong>Die</strong>se »Katastrophenzeit« in der ersten<br />
Hälfte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts ist gekennzeichnet<br />
durch »die Extensivierung im Einsatz von Gewaltmitteln<br />
<strong>und</strong> -methoden, die Ausbreitung<br />
[des Krieges] in den europäischen Großraum<br />
<strong>und</strong> [dessen] Ausweitung in den innergesellschaftlichen<br />
Binnenraum« (Bruno Thoß).<br />
Ein Schlüsselbegriff im Zeitalter der <strong>Weltkrieg</strong>e ist »Vernichtung«. Burkhard<br />
Köster arbeitet am Beispiel der <strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> Obersten Heeresleitung (<strong>OHL</strong>) das<br />
Verständnis von »Vernichtungs- <strong>und</strong> Ermattungsstrategie« im Ersten <strong>Weltkrieg</strong><br />
heraus, die beide, bei allen Unterschieden, eines zum Ziel hatten: den<br />
Feind niederzuwerfen. <strong>Die</strong> Vernichtung ganzer Bevölkerungen war weder in<br />
der einen noch in der anderen dieser Strategien vorgesehen. Michael Schwartz<br />
führt am Beispiel der <strong>Balkankriege</strong> von <strong>1912</strong> <strong>und</strong> 19<strong>13</strong> aus, dass die Niederwerfung<br />
des Gegners jedoch schon damals auch die Vernichtung der Zivilbevölkerung<br />
oder die Vertreibung ganzer Volksgruppen bedeuten konnte. Thomas<br />
Reuthers Beitrag über Generalmajor Henning von Tresckow (1901 bis<br />
1944), einen der führenden Köpfe des militärischen Widerstands gegen Hitler,<br />
zeigt unter anderem den Wandel des Verständnisses von Vernichtung bei<br />
den obersten Strategen. Das NS-Regime wollte seine Gegner nicht nur militärisch<br />
niederwerfen, sondern aus rasseideologischen Gründen sowie zur<br />
Gewinnung von »Lebensraum« im Osten Kombattanten <strong>und</strong> Zivilisten gleichermaßen<br />
physisch vernichten. Tresckow war an der Ostfront im Hauptquartier<br />
der Heeresgruppe Mitte eingesetzt <strong>und</strong> hatte Kenntnis von den Vorgängen<br />
an der Front <strong>und</strong> im rückwärtigen Bereich. Seine Entscheidung zum<br />
Widerstand <strong>und</strong> damit letztlich zur Mitwirkung am 20. Juli wurde durch die<br />
erlebte Praxis der unterschiedslosen Vernichtung maßgeblich beeinflusst.<br />
Innerhalb eines Zeitraumes von wenig mehr als 30 Jahren verlor Deutschland<br />
zwei Kriege. <strong>Die</strong> beiden Kriegsenden konnten unterschiedlicher nicht sein.<br />
Burkhard Köster verweist darauf, dass die <strong>OHL</strong> im Herbst 1918 den Krieg für<br />
verloren hielt. Sie drängte die Reichsregierung zu einem raschen Waffenstillstand,<br />
der am 11. Nov. 1918 unterzeichnet wurde. 1944/45 zeichnete sich die<br />
deutsche Niederlage im Zweiten <strong>Weltkrieg</strong> ab. Thomas Reuther führt am Beispiel<br />
Tresckows die Problematik des militärischen Widerstandes aus: Militärische<br />
Widerstandshandlungen gegen das NS-Regime hatten nur angesichts<br />
einer Niederlage Aussicht auf Erfolg. <strong>Die</strong> Soldaten des Widerstandes mussten<br />
also die Erfolglosigkeit auf dem Schlachtfeld in ihr Kalkül mit einbeziehen.<br />
Ein Mittel, das verbrecherische NS-Regime <strong>und</strong> den verlorenen Krieg schnell<br />
zu beenden, war das (gescheiterte) Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944.<br />
Im vierten Großbeitrag beschreibt Klaus Udo Beßer schließlich das Bauwesen<br />
der Nationalen Volksarmee <strong>und</strong> stellt sie als Wirtschaftsreserve der<br />
DDR vor.<br />
Ein Schlusswort in eigener Sache: <strong>Die</strong> Redaktion begrüßt Herrn Hauptmann<br />
Magnus Pahl M.A. in ihren Reihen <strong>und</strong> dankt Herrn Oberleutnant<br />
Julian Finke M.A., der aus dem Team der »Militärgeschichte« ausscheidet,<br />
für sein gezeigtes Engagement. Der Redaktionsassistent hat ebenfalls gewechselt.<br />
Wir danken Herrn cand.phil. Stefan Stahlberg für seine Arbeit <strong>und</strong><br />
heißen Herrn Michael Schadow willkommen.<br />
Oberstleutnant Dr. Harald Potempa
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> <strong>1912</strong>/<strong>13</strong>:<br />
Kriege <strong>und</strong> Vertreibungen in<br />
Südosteuropa<br />
Prof. Dr. Michael Schwartz, geboren 1963<br />
in Recklinghausen, Wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />
am Institut für Zeitgeschichte<br />
(Abteilung Berlin) <strong>und</strong> Professor für Neuere<br />
<strong>und</strong> Neueste Geschichte an der Westfälischen<br />
Wilhelms-Universität Münster<br />
Ermattungs- oder Vernichtungsstrategie?<br />
<strong>Die</strong> Kriegführung<br />
der <strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> Obersten Heeresleitung<br />
(<strong>OHL</strong>)<br />
Dr. Burkhard Köster, geboren 1961 in<br />
Rheine/Westf., Oberstleutnant <strong>und</strong> Referent im<br />
Führungsstab der Streitkräfte I 4<br />
Auf dem Weg zum 20. Juli 1944.<br />
Henning von Tresckow<br />
im Jahre 1941<br />
Thomas Reuther, geboren 1973 in Mannheim,<br />
Hauptmann d.R. <strong>und</strong> Historiker, Potsdam<br />
Nationale Volksarmee:<br />
Arbeitskraftreserve der DDR?<br />
Das Bauwesen der NVA<br />
Dipl.-Bauingenieur Klaus Udo Beßer,<br />
geboren 1950 in Aue/Sachsen, Oberstleutnant<br />
<strong>und</strong> Wissenschaftlicher Mitarbeiter im MGFA<br />
4<br />
10<br />
14<br />
18<br />
Inhalt<br />
Service<br />
Das historische Stichwort:<br />
Der Entsatz von Wien<br />
im September 1683<br />
Medien online/digital<br />
Lesetipp<br />
Ausstellungen<br />
Geschichte kompakt<br />
Militärgeschichte<br />
im Bild<br />
22<br />
24<br />
26<br />
28<br />
30<br />
ČSSR 1968: Militärische<br />
Reaktionen des Westens 31<br />
Niederschlagung des Prager Frühlings<br />
durch Warschauer-Pakt-Truppen am<br />
21. August 1968.<br />
Foto: Süddeutsche Zeitung Photo<br />
Weitere Mitarbeiter dieser Ausgabe:<br />
Major Heiner Bröckermann M.A.,<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter, MGFA;<br />
Dr. Rüdiger Wenzke, Wissenschaftlicher<br />
Oberrat, MGFA.
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> <strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong><br />
<strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
Kriege <strong>und</strong> Vertreibungen<br />
in Südosteuropa<br />
Serben <strong>und</strong> Albaner betrachten das<br />
seit Februar 2008 unabhängige<br />
Kosovo als Mittelpunkt der eigenen<br />
Geschichte <strong>und</strong> als Herz des Balkans<br />
gleichermaßen. Wem das Kosovo<br />
»eigentlich« gehört, ist zwischen beiden<br />
Völkern bis heute heftig umstritten.<br />
Der jugoslawische Präsident Slobodan<br />
Milošević suchte die Streitfrage<br />
durch die großangelegte Vertreibung<br />
von Albanern zu lösen – was 1999 zur<br />
internationalen Besetzung des Kosovo<br />
<strong>und</strong> 2008 zur Unabhängigkeitserklärung<br />
eines albanisch dominierten<br />
Staates führte.<br />
<strong>Die</strong> Geschichte Jugoslawiens im 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong> die Kriege <strong>und</strong> Konflikte<br />
auf dem Balkan im ausgehenden<br />
20. <strong>und</strong> frühen 21. Jahrh<strong>und</strong>ert prägen<br />
unsere Wahrnehmung der Region. Dabei<br />
beherrschte vor knapp h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
der Vorgängerstaat der heute weitgehend<br />
auf Kleinasien beschränkten<br />
Türkischen Republik, das nach seiner<br />
Sultansfamilie benannte »Osmanische<br />
Reich«, noch weite Teile Südosteuro-<br />
4 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
5 <strong>Erster</strong> Balkankrieg <strong>1912</strong>/<strong>13</strong>: Aus Kleinasien vertriebene Griechen in Saloniki.<br />
pas: Mazedonien, Albanien <strong>und</strong> Teile<br />
Griechenlands, Serbiens <strong>und</strong> Bulgariens.<br />
Auf dem Höhepunkt seiner Macht,<br />
im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, hatte sich dieses<br />
Vielvölkerreich von Budapest bis Bagdad,<br />
von der Krim bis Kairo <strong>und</strong> Tunis<br />
erstreckt. Osmanische Armeen standen<br />
1529 <strong>und</strong> nochmals 1683 vor der Kaiserstadt<br />
Wien, nach deren Eroberung<br />
womöglich weitere Teile des Heiligen<br />
Römischen Reiches Deutscher Nation<br />
den Angreifern in die Hände gefallen<br />
<strong>und</strong> muslimisch geworden wären. Bekanntlich<br />
kam es anders. Das Osmanische<br />
Reich verlor seitdem immer<br />
mehr Grenzprovinzen an mächtiger<br />
werdende Nachbarn; Österreich-Ungarn<br />
<strong>und</strong> das Russische Zarenreich<br />
profitierten am meisten. Hinzu kam<br />
seit dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert die Sprengkraft<br />
des modernen Nationalismus,<br />
der die Zukunft der Völker nicht in<br />
multinationalen »Völkerkerkern« erblickte,<br />
sondern in einheitlichen, möglichst<br />
»sauber« getrennten »Nationalstaaten«.<br />
In nur wenig mehr als h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
– von 1804 bis 1923 – zerstörte der<br />
Nationalismus die Stabilität der alten<br />
Vielvölkerreiche, darunter auch die des<br />
Osmanischen Reiches, von dem sich<br />
immer mehr »Nationalstaaten« abspalteten:<br />
zuerst die Serben <strong>und</strong> Griechen,<br />
dann die Rumänen, Montenegriner,<br />
Bulgaren, schließlich die Albaner. Das<br />
letzte Jahrzehnt dieser Entwicklung<br />
verlief besonders gewalttätig – beginnend<br />
mit dem »Ersten Balkankrieg«<br />
(<strong>1912</strong>/<strong>13</strong>), fortgesetzt im »Zweiten Balkankrieg«<br />
(19<strong>13</strong>) sowie unmittelbar danach<br />
im Ersten <strong>Weltkrieg</strong>, endend mit<br />
ethnischen »Säuberungen« <strong>und</strong> weiteren<br />
Kriegen bis 192<strong>3.</strong> <strong>Die</strong> Entstehung<br />
eines türkischen Nationalstaates auf<br />
den Trümmern des Osmanischen Reiches<br />
war der vorläufige Schlusspunkt<br />
dieser Entwicklung.<br />
Je nachdem, wer gerade die Oberhand<br />
in diesen militärischen Konflikten<br />
besaß: Es kam stets zu Gewalttaten<br />
auch an der Zivilbevölkerung des<br />
»Feindes«. Türkische Gräueltaten wie<br />
ullstein bild
die Ermordung oder Versklavung der<br />
orthodoxen Bevölkerung von Chios<br />
während des griechischen Aufstands<br />
1822, die türkischen »Bulgarengräuel«<br />
während des Aufstands von 1876 oder<br />
die türkischen Armeniermassaker von<br />
1896 <strong>und</strong> 1915/16 prägten nachhaltig<br />
die Wahrnehmung der »zivilisierten«<br />
christlichen Welt. Letztere übersah dabei<br />
oft, dass muslimische Bevölkerungsgruppen<br />
unter den Gewalttaten<br />
seitens der christlichen Balkanvölker<br />
ebenso litten <strong>und</strong> – da das Osmanische<br />
Reich diese Kriege zumeist verlor –<br />
letztlich auch die Hauptleidtragenden<br />
von Flucht <strong>und</strong> Vertreibung waren.<br />
Ethnische »Säuberungen« im<br />
langen 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
<strong>Die</strong> ethnische »Säuberung« des Balkans<br />
von den meisten Muslimen wurde<br />
nach den jahrelangen Aufständen der<br />
Serben (1804-1817) <strong>und</strong> der Griechen<br />
(1821-1830) nicht rückgängig gemacht,<br />
sondern auch im Frieden fortgesetzt<br />
<strong>und</strong> systematisiert. 1830 wurde den<br />
muslimischen Einwohnern Serbiens<br />
befohlen, »sich aus den ländlichen Gegenden<br />
Serbiens in Garnisonsstädte<br />
zurückzuziehen«, <strong>und</strong> dreißig Jahre<br />
später wurden auch diese Städte – allen<br />
voran Belgrad – von dort lebenden<br />
Türken zwangsweise geräumt. Als sich<br />
Serbien zwischen 1876 <strong>und</strong> 1878 mit<br />
russischer Hilfe die Unabhängigkeit<br />
vom Osmanischen Reich erkämpfte<br />
<strong>und</strong> sein Gebiet auf türkische Kosten<br />
vergrößerte, bewegte sich ein neuer<br />
muslimischer Flüchtlingsstrom über<br />
die Grenze.<br />
Eine ähnliche Vertreibungswirkung<br />
erzielte ab 1821 der griechische Unabhängigkeitskrieg.<br />
Hier war nicht nur<br />
die Zahl der Vertriebenen größer, hier<br />
erfolgte die Vertreibung – wiederum<br />
begleitet von Massakern – auch rascher.<br />
Wie der österreichische Historiker<br />
Carl von Sax bemerkte, waren binnen<br />
eines Monats auf dem Peloponnes<br />
»dreitausend türkische Häuser zerstört<br />
<strong>und</strong> fast zehntausend Mohammedaner<br />
getötet« worden, wofür sich die Türken<br />
an den Griechen andernorts mit<br />
Plünderung, Mord, Brandlegung <strong>und</strong><br />
Versklavung christlicher Frauen <strong>und</strong><br />
Kinder rächten. <strong>Die</strong> bedrohten Muslime<br />
des Peloponnes flüchteten aus den<br />
Dörfern in die Provinzhauptstadt Tri-<br />
Chronologie der Kriege in Südosteuropa<br />
1804–1817 Serbischer Aufstand <strong>und</strong> Befreiungskrieg gegen die Osmanen; Serbien<br />
wird autonom.<br />
1821–1830 Griechischer Aufstand <strong>und</strong> Befreiungskrieg gegen die Osmanen.<br />
1830 Griechenland wird unabhängig.<br />
1877/78 Russisch-Osmanischer Krieg um die Vorherrschaft auf dem Balkan.<br />
1878 Berliner Kongress. <strong>Die</strong> Großmächte regeln die Verhältnisse auf dem<br />
Balkan: Serbien, Montenegro <strong>und</strong> Rumänien werden unabhängig,<br />
Bulgarien bleibt tributpflichtig, Bosnien-Herzegowina fällt unter österreichisch-ungarische<br />
Verwaltung.<br />
1894–1896 Im Osmanischen Reich Unruhen zwischen Muslimen <strong>und</strong> Armeniern,<br />
Massaker an den Armeniern.<br />
1908 Bulgarien wird unabhängig, Bosnien-Herzegowina von Österreich-<br />
Ungarn annektiert.<br />
1911/12 Aufstände der Albaner gegen die osmanische Herrschaft.<br />
<strong>1912</strong>/<strong>13</strong> <strong>Erster</strong> Balkankrieg: Das Osmanische Reich verliert seine europäischen<br />
Besitzungen an Serbien, Bulgarien, Griechenland <strong>und</strong> Montenegro;<br />
Albanien wird unabhängig.<br />
19<strong>13</strong> Zweiter Balkankrieg: Bulgarien kämpft erfolglos gegen Serbien, Griechenland<br />
<strong>und</strong> Montenegro <strong>und</strong> wird auch von Rumänien <strong>und</strong> dem<br />
Osmanischen Reich angegriffen; die Osmanen erobern Edirne zurück.<br />
1914–1918 <strong>Erster</strong> <strong>Weltkrieg</strong>.<br />
1918–1922 Zerfall des Osmanischen Reiches, das zu den Verlierern des Ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong>es gehört.<br />
1920–1922 Griechisch-Türkischer Krieg endet mit der Vertreibung der Griechen<br />
aus Kleinasien.<br />
1923 Vertrag von Lausanne, »Bevölkerungsaustausch« zwischen Griechenland<br />
<strong>und</strong> der Türkei; Mustafa Kemal (Atatürk) gründet die Türkische<br />
Republik.<br />
1939–1945 Zweiter <strong>Weltkrieg</strong>.<br />
1991–1999 Kriege auf dem Staatsgebiet des früheren Jugoslawiens<br />
(1991: Slowenien; 1991–1995: Kroatien; 1992–1995: Bosnien;<br />
1999: Kosovo).<br />
politsa (die später von Griechen zerstört<br />
wurde) oder in die Festungen an<br />
der Küste. Gelang es den Griechen,<br />
eine solche Stadt zu erobern, wurde<br />
diese dem Erdboden gleichgemacht;<br />
deren Einwohner wurden massakriert.<br />
Als die Osmanen 1825 mit ägyptischen<br />
Hilfstruppen im Bürgerkrieg<br />
zeitweilig die Oberhand gewannen,<br />
wurde ihnen die Absicht unterstellt,<br />
alle Christen nach Ägypten zu verschleppen<br />
<strong>und</strong> sie in Griechenland<br />
durch Araber zu ersetzen. Dazu kam es<br />
nicht, stattdessen unterbreiteten 1826<br />
die Großmächte Großbritannien <strong>und</strong><br />
Russland den Vorschlag, »zum Zwecke<br />
der völligen Trennung der Nationen«,<br />
deren friedliches Zusammenleben<br />
nicht mehr möglich erscheine, sollten<br />
die Türken die griechischen Gebiete<br />
räumen. <strong>Die</strong>se völlige Ausweisung der<br />
Muslime aus dem griechischen Kernstaat<br />
wurde 1829/30 friedensvertrag-<br />
lich durchgesetzt. Und die territoriale<br />
Erweiterung Griechenlands im Laufe<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts bewirkte wie im<br />
serbischen Parallelfall immer wieder<br />
Flucht oder Vertreibung von Muslimen.<br />
Ein besonders heikler Fall war die Insel<br />
Kreta – seit den 1860er Jahren von<br />
griechischen Aufständen erschüttert,<br />
durch griechisch-europäisches Zusammenwirken<br />
immer mehr aus dem Osmanischen<br />
Reich herausgetrennt <strong>und</strong><br />
<strong>1912</strong> im Ersten Balkankrieg mit Griechenland<br />
vereinigt. <strong>Die</strong> ethnische »Säuberung«<br />
Kretas in diesen Bürgerkriegen<br />
vollzog sich ganz nach dem Muster<br />
des griechischen Aufstandes von<br />
1821/22: Ein gewalttätiger Partisanenkrieg<br />
der Griechen trieb die muslimische<br />
Bevölkerung zur Flucht aus<br />
den Dörfern in die Hafenstädte, wo ihrerseits<br />
die Türken Rache an der griechischen<br />
Stadtbevölkerung nahmen.<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> <strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
Zeitweilig flüchteten in den 1860er<br />
Jahren Tausende kretischer (griechischer)<br />
Frauen <strong>und</strong> Kinder per Schiff<br />
nach Griechenland, wo viele verhungerten,<br />
da der schwache Staat mit ihrer<br />
Versorgung völlig überfordert war.<br />
Und obwohl Kreta trotz mehrerer Versuche<br />
erst 19<strong>13</strong> an Griechenland fiel,<br />
wanderten schon lange zuvor viele<br />
Muslime aus ihrer unsicher gewordenen<br />
Heimat in andere Gebiete des<br />
Osmanischen Reiches aus, von denen<br />
sie annahmen, dass es für Muslime<br />
dort sicherer sei. Konflikte wie auf<br />
Kreta blieben daher nur scheinbar begrenzt,<br />
denn die Flüchtlinge verbreiteten<br />
ihre Gewalterlebnisse <strong>und</strong> ihre<br />
Revanchestimmung auch in den Aufnahmeregionen.<br />
Ein Teil der muslimischen Kreta-<br />
Flüchtlinge wandte sich nach Saloniki<br />
(Selanik), der Geburtsstadt des späteren<br />
türkischen Präsidenten Kemal<br />
Atatürk, das <strong>1912</strong> im Ersten Balkankrieg<br />
aber ebenfalls von den Griechen<br />
erobert wurde, was zur Flucht <strong>und</strong><br />
Vertreibung von Muslimen <strong>und</strong> Juden<br />
führte. Viele Muslime auf Kreta emigrierten<br />
nach Kleinasien, etwa in die<br />
große Hafenstadt Smyrna, wo sie auf<br />
neue griechische Nachbarn trafen <strong>und</strong><br />
wo die wechselseitigen Konflikte bald<br />
eskalierten – von den Massakern griechischer<br />
Besatzungstruppen an türkischen<br />
Zivilisten 1919 bis zur Flucht<br />
<strong>und</strong> Vertreibung der griechischen Zivilbevölkerung<br />
192<strong>2.</strong> Damals wurde<br />
die mehrheitlich von Griechen bewohnte<br />
Stadt Smyrna von den Türken<br />
zurückerobert, verbrannt <strong>und</strong> brutal<br />
von ihren christlichen Minderheiten<br />
»gesäubert«, um als türkisch geprägtes<br />
Izmir neu errichtet zu werden. Auch<br />
bei den osmanischen Türken hatten<br />
sich vor dem Hintergr<strong>und</strong> siegreicher<br />
christlicher Nationalismen ein intolerantes<br />
nationalistisch-ethnisches Denken<br />
durchgesetzt.<br />
Der auf beiden Seiten brutal geführte<br />
griechisch-türkische Krieg von 1919 bis<br />
1922 mit seinen Massakern <strong>und</strong> Vertreibungen<br />
ging 1923 durch den Vertrag<br />
von Lausanne in einen international<br />
geregelten »Bevölkerungsaustausch«<br />
über, sodass r<strong>und</strong> eineinhalb<br />
Millionen kleinasiatische Griechen<br />
nach Griechenland <strong>und</strong> über 350 000<br />
Muslime aus Griechenland in die kleinasiatische<br />
Türkei zwangsweise umgesiedelt<br />
wurden. <strong>Die</strong>se Vorgänge erin-<br />
6 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
nerten deutlich an die ganz ähnliche<br />
Gewalt während der <strong>Balkankriege</strong><br />
<strong>1912</strong>/<strong>13</strong>. Auch damals wurde nationale<br />
Befreiung durch Massaker <strong>und</strong> Vertreibung<br />
erreicht, <strong>und</strong> schon damals mündeten<br />
Flucht <strong>und</strong> Vertreibung in staatliche<br />
Verträge über Zwangsumsiedlungen.<br />
Der Erste Balkankrieg <strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
Der Erste Balkankrieg begann im Oktober<br />
<strong>1912</strong>, als ein »Balkanb<strong>und</strong>« aus<br />
Bulgarien, Serbien, Griechenland <strong>und</strong><br />
Montenegro das Osmanische Reich angriff,<br />
um diesem die letzten europäischen<br />
Besitzungen zu entreißen. <strong>Die</strong><br />
bulgarische Armee eroberte Adrianopel<br />
(Edirne) <strong>und</strong> kämpfte sich bis an<br />
die feindliche Hauptstadt Konstantinopel<br />
(seit 1930 Istanbul) heran. Währenddessen<br />
eroberten die Griechen das<br />
südmazedonische Selanik (Thessalonike/Saloniki)<br />
<strong>und</strong> Epiros, die Serben<br />
das zentralmazedonische Üsküb<br />
(Skopje) <strong>und</strong>, zusammen mit Montenegro,<br />
das Kosovo – jene Region, die für<br />
das serbische Nationalbewusstsein besonders<br />
wichtig ist, da dort die Hauptorte<br />
des mittelalterlichen serbischen<br />
Großreiches liegen: die alte Zarenstadt<br />
Prizren, der alte Hauptsitz der serbisch-orthodoxen<br />
Kirche in Peć, die<br />
von den serbischen Nemanjiden-Königen<br />
<strong>und</strong> -Kaisern gegründeten Klöster<br />
Visoki Dečani <strong>und</strong> Sveti Arhandjeli<br />
(= Erzengelkloster). Was dieser Nationalismus<br />
– wie alle übrigen intoleranten<br />
Nachbarnationalismen – geflissentlich<br />
übersah, war zweierlei: zum<br />
einen, dass das mittelalterliche Reich<br />
der Serben – ebenso wie das Byzantinische<br />
Reich der Griechen oder das Osmanische<br />
Reich – kein moderner Nationalstaat,<br />
sondern ein Vielvölkerreich<br />
gewesen war; zum zweiten, dass das<br />
Kosovo seit mehreren h<strong>und</strong>ert Jahren<br />
osmanisch beherrscht wurde, weshalb<br />
viele Serben – oft nach gescheiterten<br />
Aufständen – nach Norden in österreichisch-ungarisches<br />
Gebiet geflohen<br />
<strong>und</strong> viele Muslime (besonders Albaner)<br />
eingewandert waren.<br />
Montenegro versuchte im Ersten Balkankrieg<br />
<strong>1912</strong>/<strong>13</strong> zugleich das heutige<br />
Nordalbanien um Shkoder (Skutari) zu<br />
erobern. Der Krieg endete unter Vermittlung<br />
der Großmächte im Mai 19<strong>13</strong><br />
mit dem Frieden von London, der den<br />
Siegern die gesamte europäische Türkei<br />
zur Teilung überließ. Nur Konstantinopel<br />
blieb mit etwas europäischem Vorgebiet<br />
osmanisch, <strong>und</strong> nur der Kern<br />
5 <strong>Erster</strong> Balkankrieg: Bulgarische Artilleriestellung während der Belagerung von<br />
Adrianopel (Edirne), Januar 19<strong>13</strong>.<br />
ullstein bild
des albanischen Siedlungsgebiets<br />
wurde dem Expansionsstreben der Serben,<br />
Griechen <strong>und</strong> Montenegriner<br />
durch die Großmächte entzogen, die<br />
einen unabhängigen Staat Albanien zu<br />
bilden beschlossen. <strong>Die</strong>se Unabhängigkeit<br />
war, wie sich zeigen sollte, durch<br />
innere Konflikte <strong>und</strong> starke auswärtige<br />
Nachbarn immer wieder bedroht. Zugleich<br />
gerieten andere Gebiete mit albanischer<br />
Bevölkerungsmehrheit unter<br />
die Herrschaft der vergrößerten Balkanstaaten;<br />
die heutigen Minderheitenprobleme<br />
in Serbien, Montenegro <strong>und</strong><br />
Mazedonien, auch in Nordgriechenland<br />
gehen darauf zurück. Hierin liegt<br />
auch der Ursprung des nach wie vor<br />
bestehenden Kosovo-Problems.<br />
Der Zweite Balkankrieg 19<strong>13</strong><br />
Mit den Ergebnissen des Londoner<br />
Friedens zeigte sich Bulgarien nicht zufrieden.<br />
Zwar hatte dieses Land unter<br />
enormen Opfern Ostthrakien mit<br />
Edirne erobert, doch das symbolträchtige<br />
Hauptziel: die Besetzung bzw. –<br />
aus christlich-romantischer Sicht – die<br />
»Befreiung« Konstantinopels war gescheitert.<br />
Hingegen hatten Bulgariens<br />
Verbündete Serbien <strong>und</strong> Griechenland<br />
weit mehr Land erobert. Problematisch<br />
wurde die Weigerung Serbiens, auf<br />
große Teile des eroberten Mazedoniens<br />
zugunsten Bulgariens zu verzichten.<br />
Vorangegangen war diesem Schritt<br />
Serbiens die Verzichtsforderung seitens<br />
der Bulgaren. <strong>Die</strong> verbündeten<br />
Nationen waren sich in der Frage uneins,<br />
ob die Bewohner dieser Region eigentlich<br />
Serben oder Bulgaren oder<br />
Griechen seien; hinzu kam, dass der<br />
neue Staat Albanien Serbien den Weg<br />
zur Adria verbaute, weshalb Belgrad<br />
im Raum Skopje zu keinerlei Kompromissen<br />
bereit war. Serbien <strong>und</strong> Griechenland<br />
verbündeten sich bereits kurz<br />
nach dem Londoner Frieden, <strong>und</strong> das<br />
isolierte Bulgarien suchte sein Heil im<br />
Überraschungsangriff: Im Juni 19<strong>13</strong> begann<br />
der Zweite Balkankrieg um die<br />
Beute aus dem Ersten. Dabei hielt die<br />
geschwächte bulgarische Armee den<br />
neuen Feinden nicht lange stand, zumal<br />
Bulgarien auch noch durch das<br />
bisher neutrale Rumänien <strong>und</strong> das im<br />
Ersten Balkankrieg besiegte Osmanenreich<br />
im Rücken angegriffen wurde.<br />
Im Frieden von Bukarest (Juli 19<strong>13</strong>)<br />
musste Bulgarien den Siegern alle gewünschten<br />
territorialen Zugeständnisse<br />
machen. Im Separatfrieden von<br />
Konstantinopel holte sich das Osma-<br />
5 Zweiter Balkankrieg: Gefangene bulgarische Soldaten auf dem Marsch durch Saloniki,<br />
August 19<strong>13</strong>.<br />
nische Reich das geostrategisch wie<br />
symbolisch wichtige Edirne zurück –<br />
eine alte osmanische Sultansresidenz<br />
<strong>und</strong> das wichtigste Bollwerk für die<br />
Hauptstadt Konstantinopel.<br />
Für die meisten Staaten Europas galt<br />
damals die Norm der möglichst auf<br />
militärische Auseinandersetzungen begrenzten<br />
Staatenkriege, zu deren Einhegung<br />
1899/1907 die Haager Landkriegsordnung<br />
geschaffen worden<br />
war; auch Bulgarien, Griechenland,<br />
Montenegro, Rumänien <strong>und</strong> Serbien<br />
sowie die Türkei hatten den Vertrag<br />
1907 unterzeichnet. Auf dem Balkan<br />
aber fanden <strong>1912</strong>/<strong>13</strong> regelrechte »ethnische<br />
Bürgerkriege« statt, deren Brutalität<br />
sich aus dem völligen Verzicht<br />
auf die Unterscheidung von Soldaten<br />
<strong>und</strong> Zivilisten ergab. Das grausame<br />
Vorgehen gegen unerwünschte Teile<br />
der Zivilbevölkerung verfolgte das<br />
Ziel, durch Ermordung oder Vertreibung<br />
ganzer Volksgruppen in ethnisch<br />
bisher gemischten Gebieten größere<br />
»nationale« Einheitlichkeit zu erzwingen.<br />
Eine durch Furcht vor Massenmord<br />
ausgelöste panikartige Flucht<br />
der muslimischen Bevölkerung vor der<br />
serbischen Armee <strong>und</strong> der christlichen<br />
Bevölkerung vor muslimischen Aktionen<br />
erlebte der deutsche Journalist<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
ullstein bild
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> <strong>1912</strong>/<strong>13</strong><br />
5 <strong>Erster</strong> Balkankrieg: Montenegrinische Soldaten in Skutari (Shkoder) überwachen<br />
die Rückkehr vertriebener Einwohner in die Innenstadt, März 19<strong>13</strong>.<br />
Carl Pauli im Herbst <strong>1912</strong> in der mazedonischen<br />
Hauptstadt Üsküb, dem<br />
heutigen Skopje, von dessen 47 000<br />
Einwohnern 30 000 Muslime waren.<br />
Pauli berichtete:<br />
»<strong>Die</strong> Einheimischen suchten so rasch<br />
als möglich die Stadt zu verlassen, die<br />
Christen in ihrer Furcht vor einem [türkischen]<br />
Gemetzel, die Türken in ihrer<br />
Angst vor einem Bombardement der<br />
Stadt [...] Auf allen Seiten drängten die<br />
Massen heran <strong>und</strong> strömten gegen den<br />
Bahnhof [...] Alle die H<strong>und</strong>erte leer liegenden<br />
Lastwagen waren besetzt; zu<br />
H<strong>und</strong>erten hockten Weiber <strong>und</strong> Kinder<br />
in einem Wagen, <strong>und</strong> auch auf den<br />
Wagendächern hockten die kläglichen<br />
Gestalten der armen türkischen Frauen<br />
mit ihren weinenden Kindern <strong>und</strong> mit<br />
dem in Todesangst zusammengerafften<br />
Bündel. Und der kalte Regen rieselte<br />
mitleidlos über dem unsäglichen<br />
Jammer [...] Menschenknäuel, Flüchtlinge,<br />
die nur das eine riefen, baten<br />
<strong>und</strong> bettelten, mussten <strong>und</strong> kannten:<br />
Fort, Flucht, Hilfe! [...] Alles planlos,<br />
verwirrt, ohne Kopf <strong>und</strong> ohne Sinn. Es<br />
war die Todesfurcht, die Angst vor etwas<br />
nie erlebtem, die alle Menschen<br />
gleichmäßig gepackt hatte, <strong>und</strong> da gab<br />
es kein Halten mehr.«<br />
Zur selben Zeit herrschte in der von<br />
den Bulgaren bedrohten osmanischen<br />
Hauptstadt Konstantinopel das Gerücht,<br />
die Muslime wollten dort aus<br />
Rache alle »Fremden« ermorden. Zugleich<br />
ging eine andere »alte Prophe-<br />
8 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
zeiung« unter Muslimen um: Es werde<br />
eine Zeit kommen, in der die alte kleinasiatische<br />
Hauptstadt Brussa, wo die<br />
Grabstätten der ersten Sultane liegen,<br />
wieder zur Hauptstadt der Türkei<br />
werde. Das türkische Volk werde dann<br />
in Anatolien einen eigenen Nationalstaat<br />
errichten, der ausschließlich ihm<br />
gehöre <strong>und</strong> keine fremden Rassen<br />
mehr als Mitbesitzer dulden werde. In<br />
diesem erträumten <strong>und</strong> schon bald von<br />
Atatürk (mit der Hauptstadt Ankara<br />
statt Brussa) realisierten anatolisch-türkischen<br />
Kernstaat war für christliche<br />
Minderheiten kaum noch Platz.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> von <strong>1912</strong>/<strong>13</strong> führten<br />
nicht nur zu massenhaften Vertreibungen,<br />
sie erzeugten auch die ersten<br />
bilateralen Abkommen über »Bevölkerungsaustausch«.<br />
Das erste war der<br />
19<strong>13</strong> in Konstantinopel geschlossene<br />
Friedensvertrag zwischen dem Osmanischen<br />
Reich <strong>und</strong> Bulgarien. Es handelte<br />
sich um einen Frieden zwischen<br />
zwei geschwächten, hintereinander besiegten<br />
Staaten, <strong>und</strong> gerade diese beiderseitige<br />
Erschöpfung ermöglichte<br />
die Vereinbarung eines wechselseitigen<br />
»Bevölkerungstransfers«. <strong>Die</strong>se<br />
Vereinbarung war allerdings auf eine<br />
nur »15 km lange Zone entlang der gemeinsamen<br />
Grenze« beschränkt <strong>und</strong><br />
blieb hypothetisch, da die betroffenen<br />
48 000 Bulgaren <strong>und</strong> 49 000 Türken bereits<br />
während des Krieges »emigriert«<br />
waren. Beiden Regierungen ging es daher<br />
primär darum, die ethnischen<br />
ullstein bild<br />
»Säuberungen« völkerrechtlich zu bestätigen<br />
<strong>und</strong> die zurückgelassenen Vermögenswerte<br />
miteinander zu verrechnen.<br />
<strong>Die</strong> wenig später herbeigeführte griechisch-osmanische<br />
Ȇbereinkunft zu<br />
einem Bevölkerungsaustausch« vom<br />
Frühsommer 1914 hatte andere Hintergründe,<br />
denn Griechenland gehörte zu<br />
den Siegerstaaten der <strong>Balkankriege</strong>.<br />
Gerade deshalb wollte das in Konstantinopel<br />
regierende »jungtürkische« Regime<br />
die an der kleinasiatischen Küste<br />
siedelnden r<strong>und</strong> eine Million Griechen<br />
nicht mehr dulden. Seit Anfang 1914<br />
wurden 150 000 Griechen zur Flucht<br />
nach Griechenland getrieben, weitere<br />
50 000 nach Zentralanatolien deportiert.<br />
Dadurch sah sich die griechische<br />
Regierung gezwungen, dem osmanischen<br />
Vorschlag zuzustimmen, die<br />
hellenische Bevölkerung Thrakiens<br />
<strong>und</strong> Westanatoliens (die Region um<br />
Smyrna) gegen muslimische Einwohner<br />
Makedoniens <strong>und</strong> des Epiros auszutauschen.<br />
Infolge des Ersten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
wurden die vertraglichen Regelungen<br />
nicht mehr ratifiziert.<br />
Der Unterschied zur osmanisch-bulgarischen<br />
Konvention lag bei dieser osmanisch-griechischen»Absichtserklärung«<br />
darin, dass sie eine wesentlich<br />
größere Zahl von Menschen (über eine<br />
Million) innerhalb eines viel größeren<br />
Raumes hätte betreffen sollen. Der<br />
griechisch-türkische »Bevölkerungsaustausch«<br />
von Lausanne 1923, der einen<br />
weiteren Krieg beendete, griff<br />
dann bekanntlich noch sehr viel weiter<br />
aus. Dabei wurde der Lausanner Frieden<br />
während des Zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
für einige der gegen Hitler-Deutschland<br />
kämpfenden Alliierten – namentlich<br />
für die Polen <strong>und</strong> Tschechoslowaken,<br />
aber auch für die Briten <strong>und</strong> US-<br />
Amerikaner – zu einem wesentlichen<br />
Vorbild für die geplante <strong>und</strong> ab 1944/45<br />
in die Tat umgesetzte Vertreibung <strong>und</strong><br />
Zwangsaussiedlung von zwölf bis<br />
fünfzehn Millionen Deutschen aus den<br />
»Ostgebieten» des Deutschen Reiches.<br />
Vorspiel für den Ersten <strong>Weltkrieg</strong><br />
<strong>Die</strong> <strong>Balkankriege</strong> von <strong>1912</strong>/<strong>13</strong> verschärften<br />
weitere Konflikte. Der damals<br />
als verfolgter Kommunist aus<br />
dem Zarenreich emigrierte <strong>und</strong> als Balkan-Korrespondent<br />
tätige spätere so-
wjetische Spitzenpolitiker Leo Trotzki<br />
interviewte <strong>1912</strong> Andranik Toros Ozanian,<br />
der eine armenische Freiwilligenmiliz<br />
zur Unterstützung der bulgarischen<br />
Armee gegen die Osmanen aufstellte.<br />
Ozanian legte Wert auf die Feststellung,<br />
dass er »gegen die türkische<br />
Zivilbevölkerung [...] niemals irgendwelche<br />
feindlichen Aktionen unternommen«<br />
habe. Doch als Trotzki im<br />
November <strong>1912</strong> in Sofia auf Verw<strong>und</strong>ete<br />
dieser armenischen Truppe traf,<br />
gaben diese zu, unterdessen türkische<br />
Zivilisten massakriert zu haben. Zur<br />
Rechtfertigung beriefen sie sich auf<br />
zwanzig Jahre zurückliegende osmanische<br />
»Armenier-Pogrome«, an die<br />
sich jeder Armenier noch gut erinnern<br />
könne. Nach Beginn des Ersten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
stellten sich solche Freiwilligenverbände<br />
osmanischer Armenier<br />
sofort auf die Seite der Russen – des<br />
Kriegsgegners der Osmanen. <strong>Die</strong>s wiederum<br />
bot Anlass <strong>und</strong> mehr noch Vorwand<br />
für die osmanische Verfolgung<br />
sämtlicher Armenier ab 1915: Auch<br />
hilflose Frauen <strong>und</strong> Kinder wurden als<br />
»Verräter« eingestuft <strong>und</strong> unter grausamen<br />
Umständen nach Mesopotamien<br />
deportiert. Den Tod zahlreicher<br />
Menschen kalkulierten die türkischen<br />
Verantwortlichen in die Aktion ein. Ein<br />
Teil der Opfer kam durch gezielte<br />
Mordaktionen um, was die staatlich organisierte<br />
Operation nach Ansicht vieler<br />
Historiker zu einem Genozid (Völkermord)<br />
machte.<br />
Nach den <strong>Balkankriege</strong>n erlebte Südosteuropa<br />
eine kurze Friedenspause.<br />
Doch schon im Sommer 1914 begann<br />
der Erste <strong>Weltkrieg</strong>, der auf dem Balkan<br />
womöglich noch grausamer geführt<br />
wurde als andernorts. <strong>Die</strong> österreichisch-ungarischen<br />
<strong>und</strong> deutschen<br />
Besatzer Serbiens <strong>und</strong> Montenegros sahen<br />
sich ab 1915/16 mit einem Partisanenkrieg<br />
konfrontiert <strong>und</strong> reagierten<br />
mit harten Repressalien gegen die Zivilbevölkerung.<br />
In Serbien soll während<br />
des Ersten <strong>Weltkrieg</strong>es ein Viertel<br />
der gesamten Bevölkerung umgekommen<br />
sein. Als ihre Besatzungsherrschaft<br />
in Montenegro 1918 zusammenbrach,<br />
massakrierten die Montenegriner<br />
sofort massenhaft Albaner <strong>und</strong><br />
Muslime. Im Kosovo ließ der <strong>Weltkrieg</strong><br />
einen schon seit <strong>1912</strong> dauernden Kampf<br />
zwischen Serben <strong>und</strong> Albanern ungehindert<br />
eskalieren; <strong>und</strong> dieser Nationalitätenkonflikt<br />
ging dort (wie auch<br />
an vielen anderen Orten des Balkans)<br />
auch nach Ende des <strong>Weltkrieg</strong>es jahrelang<br />
weiter. Bulgarien, ab 1915 Verbündeter<br />
der Deutschen <strong>und</strong> Österreicher,<br />
hatte im <strong>Weltkrieg</strong> Serbisch-Makedonien<br />
<strong>und</strong> das Kosovo besetzt <strong>und</strong> dort<br />
derart brutal gewütet, dass Aufstände<br />
die Folge waren. Der Historiker Misha<br />
Glenny bezeichnet daher den Ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> auf dem Balkan als eine Art<br />
»Dritten Balkankrieg«. <strong>Die</strong> Gewalt <strong>und</strong><br />
der dadurch erzeugte gegenseitige<br />
Hass dieser Kriege wirkten lange nach.<br />
<strong>Die</strong>se gegenseitige Gewalt wurde im<br />
Zweiten <strong>Weltkrieg</strong> auf mindestens<br />
ebenso grausame Weise eine Generation<br />
später erneuert – <strong>und</strong> wieder nicht<br />
vergessen.<br />
Seit jeher erklären viele die hier geschilderte<br />
Gewalt mit vorgeblich uralten<br />
nationalen Gegensätzen auf dem<br />
Balkan. Doch die interethnische Gewalt<br />
basierte nicht nur auf »uraltem«<br />
Hass, sondern war primär die brutale<br />
Folge neuartiger Modernisierungs-<br />
<strong>und</strong> »Verwestlichungsprozesse«. <strong>Die</strong><br />
intolerante nationalistische Ideologie<br />
selbst, welche die traditionellen Vielvölkerreiche<br />
infrage stellte <strong>und</strong> sie<br />
schließlich zerstörte, war ein westeuropäischer<br />
Import. <strong>Die</strong>se Ideologie wurde<br />
durch das moderne Schulwesen unter<br />
den zuvor analphabetischen Bauern<br />
des Balkans verbreitet. Ein weiterer Import<br />
erfolgte durch das Militär, das<br />
westliche Vorbilder hatte <strong>und</strong> das für<br />
eine flächendeckende »ethnische«<br />
Kriegführung unerlässlich war. <strong>Die</strong><br />
Gewalttaten der <strong>Balkankriege</strong> dienten<br />
nicht nur – wie frühere – der spontanen<br />
Rache <strong>und</strong> Plünderung, bei denen der<br />
Effekt ethnischer »Säuberung« eher nebenbei<br />
eintrat, sondern sie dienten der<br />
Vertreibung als vorgeplantes Hauptziel.<br />
Historiker haben festgestellt, dass<br />
derart massive Flucht- <strong>und</strong> Vertreibungsprozesse<br />
vor 1914 untypisch für<br />
den Rest von Europa gewesen <strong>und</strong> erst<br />
durch die Ereignisse des Zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
übertroffen worden seien – sowohl<br />
was die Opferzahlen als auch was<br />
die räumliche Ausdehnung der Vertreibungen<br />
anbelangt. Für den Balkan<br />
konstatierte 1914 die Carnegie-Kommission<br />
– eine international besetzte,<br />
von der privaten Stiftung eines US-<br />
Multimillionärs finanzierte Untersuchungskommission,<br />
welche die Kriegsgebiete<br />
19<strong>13</strong> bereist hatte – für Mazedonien<br />
<strong>und</strong> Thrazien eine regelrechte<br />
Völkerwanderung mit zahlreichen Todesopfern.<br />
Türken seien vor Christen<br />
geflüchtet, Bulgaren vor Griechen <strong>und</strong><br />
Türken, Griechen <strong>und</strong> Türken vor Bulgaren,<br />
Albaner vor Serben. Später haben<br />
Historiker die Opferzahlen nachgeliefert.<br />
Von dort bei Kriegsbeginn lebenden<br />
2,3 Millionen Muslimen waren<br />
bei Kriegsende Mitte 19<strong>13</strong> – neun Monate<br />
später – nur noch 1,4 Millionen<br />
vorhanden. 632 000 Menschen (27 Prozent)<br />
sollen durch Massaker, Fluchtstrapazen<br />
oder Seuchen zu Tode gekommen<br />
sein. Zwar hatten auch türkische<br />
Soldaten <strong>und</strong> albanische Muslime Verbrechen<br />
verübt, doch nach Kriegsende<br />
sahen sich die verbliebenen Muslime<br />
harter christlicher Herrschaft ausgeliefert,<br />
die durch Diskriminierung eine<br />
scheinbar freiwillige Auswanderung<br />
von Muslimen bewirkte oder letztere<br />
zu weitgehender Unterwerfung <strong>und</strong><br />
Anpassung zwang. Zu dieser auf bedingungslose<br />
Assimilation zielenden<br />
»Nationalitätenpolitik« der Balkanstaaten<br />
nach <strong>1912</strong>/<strong>13</strong> bemerkte die britische<br />
Publizistin Mary Edith Durham<br />
(eine Verteidigerin der Albaner <strong>und</strong><br />
Anklägerin der Serben) später sarkastisch:<br />
»So manches englische Dorf<br />
würde sich für indianisch erklären,<br />
wenn fünftausend bewaffnete Männer<br />
dies verlangten – <strong>und</strong> im Weigerungsfalle<br />
es mit der Vernichtung bedrohen.«<br />
<strong>Die</strong> Gewaltgeschichte des Balkans ist<br />
eine wesentliche (aber nicht alleinige)<br />
Ursache für die blutigen Bürgerkriege<br />
Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts. Das multiethnische<br />
Jugoslawien brach schließlich<br />
in den 1990er Jahren auseinander.<br />
Ob die durch Kriegsintervention oder<br />
mit Friedensmissionen dort engagierten<br />
internationalen Organisationen der<br />
UN, der NATO <strong>und</strong> der EU diese Spirale<br />
der Gewalt werden eindämmen<br />
können, ist ungewiss. Auch wenn wir<br />
heute vorsichtig optimistisch sein wollen,<br />
gilt immer noch, was der österreichische<br />
Historiker Carl von Sax schon<br />
vor h<strong>und</strong>ert Jahren – kurz nach den<br />
<strong>Balkankriege</strong>n <strong>und</strong> kurz vor dem Ersten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> – feststellte: »Ruhe wird<br />
[...] überhaupt nicht eher eintreten, als<br />
bis der blinde Nationalfanatismus,<br />
diese moderne Geißel der Menschheit,<br />
durch Vernunft, Kultur <strong>und</strong> Humanitätssinn<br />
überw<strong>und</strong>en sein wird.«<br />
� Michael Schwartz<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
9
Ermattungs- oder Vernichtungsstrategie?<br />
ullstein bild<br />
Ermattungs- oder<br />
Vernichtungsstrategie?<br />
<strong>Die</strong> Kriegführung der <strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> Obersten Heeresleitung (<strong>OHL</strong>)<br />
Im September 1914 war der Erste<br />
<strong>Weltkrieg</strong> bereits verloren! So könnte<br />
das Fazit lauten, wenn die operativen<br />
<strong>und</strong> strategischen Planungen des<br />
deutschen Generalstabes vor dem Krieg<br />
begründet waren. Angesichts der politischen<br />
<strong>und</strong> militärischen Rahmenbedingungen<br />
eines Zweifrontenkrieges<br />
sowie der begrenzten personellen <strong>und</strong><br />
materiellen Ressourcen Deutschlands<br />
schien nur der Vernichtungsgedanke<br />
eines »Schlieffenplans« den notwendigen<br />
schnellen Sieg zu ermöglichen.<br />
Insbesondere dem Zeitfaktor kam dabei<br />
eine existenzielle Bedeutung zu.<br />
Folgerichtig wurden die Erfolgsaussichten<br />
einer naturgemäß lang anzulegenden<br />
Ermattungsstrategie für das<br />
Deutsche Reich vor 1914 als äußerst gering<br />
bewertet. Dennoch führte die <strong>2.</strong> <strong>OHL</strong><br />
(1914–1916) in den folgenden Kriegsjahren<br />
mit General Erich von Falken-<br />
10 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
hayn ein Offizier, der »gegenüber der<br />
neuzeitlichen Waffenwirkung fortan<br />
Vernichtungsschläge von feldzugentscheidender<br />
Wirkung für ausgeschlossen«<br />
hielt.<br />
Daher stand seine Kriegführung unter<br />
dem Vorzeichen einer Ermattungsstrategie,<br />
so die allgemeine Forschungsmeinung.<br />
Seit Sommer 1916 hätten<br />
dann mit Paul von Hindenburg <strong>und</strong><br />
Erich Ludendorff zwei Offiziere die<br />
<strong>3.</strong> <strong>OHL</strong> (1916–1918) geführt, die aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Vorverwendungen auf<br />
dem östlichen Kriegsschauplatz eher<br />
offensiv geprägt waren <strong>und</strong> daher die<br />
Entscheidung im Westen 1918 wiederum<br />
klassisch durch militärische Vernichtung<br />
der Gegner suchten.<br />
Der Frage eines Strategiewechsels<br />
gilt im Folgenden die Analyse aus einer<br />
betont militärhistorischen Perspektive<br />
»von oben«, die einen Zugang zum<br />
Erich Ludendorff (1865–1937) mit einem Offizier eine<br />
Landkarte betrachtend:<br />
3Planung ...<br />
6... <strong>und</strong> Realität: Stellungskrieg 1916.<br />
Verständnis der handelnden militärischen<br />
Führer aus der ihnen zugänglichen<br />
taktischen <strong>und</strong> operativen Gedankenwelt<br />
ermöglicht. Anders gefragt:<br />
Wie ist der operative Ansatz unter<br />
den während des Krieges gegebenen<br />
strategischen Zielsetzungen <strong>und</strong> Rahmenbedingungen<br />
zu bewerten? <strong>Die</strong>s<br />
soll anhand des militärischen Vorgehens<br />
der Führer der <strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> <strong>OHL</strong>, der<br />
Generale Falkenhayn bzw. Ludendorff,<br />
untersucht werden.<br />
Operatives Denken<br />
Vernichtungsstrategie auf der einen<br />
<strong>und</strong> Ermattungsstrategie auf der anderen<br />
Seite waren deutschen Generalstabsoffizieren<br />
spätestens durch den<br />
Strategiestreit mit dem zivilen Historiker<br />
Hans Delbrück wohlvertraut. Beide<br />
Süddeutsche Zeitung Photo<br />
Logo der Reihe »Strategie«<br />
unter Verwendung eines Bildes<br />
von bpk/Antikensammlung;<br />
Foto: Jürgen Liepe;<br />
Gestaltung: MGFA
Erich von Falkenhayn (1861–1922).<br />
Strategien sollten dem gleichen Ziel<br />
dienen: »Das Niederwerfen des Feindes<br />
ist das Ziel des Krieges«, so der Vordenker<br />
Carl von Clausewitz, der hinzufügte,<br />
dass die »Vernichtung der<br />
feindlichen Streitkräfte das Mittel« sei.<br />
Demnach gehörte in der deutschen Militärtheorie<br />
des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts das<br />
Niederwerfen als Ziel zur strategischen<br />
Ebene <strong>und</strong> erforderte weitaus mehr als<br />
militärische Mittel. <strong>Die</strong> Vernichtung<br />
der feindlichen Streitkräfte betraf dagegen<br />
die operative Ebene. Wichtig ist<br />
festzuhalten, dass sowohl eine Vernichtungs-<br />
als auch eine Ermattungskriegführung<br />
zugleich beide Elemente,<br />
Angriff <strong>und</strong> Verteidigung, beinhalten<br />
konnte. In diesem Zusammenhang<br />
hieß »Vernichtung« für die Offiziere<br />
des Ersten <strong>Weltkrieg</strong>s nichts anderes,<br />
als die Feinde »so vollkommen niederzuwerfen,<br />
dass sie bedingungslos um<br />
Frieden bitten müssten« (Falkenhayn).<br />
Sie bedeutete aber nicht einmal ansatzweise<br />
die Vernichtung der Bevölkerung<br />
oder gar die Durchführung eines<br />
Genozids.<br />
In Deutschland wurde <strong>und</strong> wird jedem<br />
Offizier auf allen Führungsebenen<br />
das Führen mit Auftrag (kurz: Auftragstaktik)<br />
als zentrales Führungsdenken<br />
vermittelt. Das heißt mit den<br />
prägenden Worten Moltkes, dass der<br />
Vorgesetzte das übergeordnete Ziel bekannt<br />
gibt, <strong>und</strong> all das, »aber auch nur<br />
das« befiehlt, »was der Untergebene<br />
ullstein bild<br />
Paul von Hindenburg (1847–1934).<br />
zur Erreichung eines bestimmten<br />
Zweckes nicht selbständig bestimmen<br />
kann«. Ansonsten blieb <strong>und</strong> bleibt es<br />
dem Untergebenen überlassen, wie er<br />
den Auftrag erfüllt, frei von Schemadenken,<br />
Spielraum nutzend <strong>und</strong> selbstständig<br />
Initiative zeigend. <strong>Die</strong>ses Denken<br />
kooperierte mit der operativen<br />
Führung, auch hier war Statisches verpönt.<br />
Vielmehr galt es, die Möglichkeiten<br />
des Handelns abzuwägen; Folgerungen<br />
mussten in einen Entschluss<br />
münden, an dem dann aber zunächst<br />
mit aller Kraft festzuhalten war.<br />
Auf operativer Ebene ging es um die<br />
Planung von verfügbaren Kräften nach<br />
Raum <strong>und</strong> Zeit sowie um die Beurteilung<br />
der eigenen <strong>und</strong> der gegnerischen<br />
Kampfkraft. Dabei hatte der militärische<br />
Führer das von der Strategie –<br />
modern ausgedrückt: Politik – vorgegebene<br />
Ziel mit höchster Aussicht auf<br />
Erfolg zu erreichen. Angesichts dieser<br />
Vorgabe besaßen die Kriegführungen<br />
Falkenhayns <strong>und</strong> Ludendorffs bei allen<br />
Unterschieden auch Gemeinsamkeiten:<br />
1. Für beide war eine entscheidende<br />
Voraussetzung aller Planungen<br />
gleich; sie hatten die Operationen<br />
so zu führen, dass am Ende ein –<br />
wie auch immer gearteter – militärischer<br />
Erfolg mit politischen Gewinnen<br />
stand.<br />
<strong>2.</strong> Ob Abnutzungs- oder Vernichtungsstrategie:<br />
In beiden konnten<br />
ullstein bild<br />
sowohl Angriffs- als auch Verteidigungsoperationengleichermaßen<br />
zum Tragen kommen.<br />
<strong>3.</strong> <strong>Die</strong> rein militärischen Führungsprozesse<br />
in der <strong>OHL</strong> waren bis<br />
zum Sommer 1918 immer nüchtern<br />
lage- <strong>und</strong> kriegsorientiert.<br />
Hinzu traten operative <strong>und</strong> strategische<br />
Rahmenbedingungen, die für<br />
beide Akteure während des gesamten<br />
Kriegs letztlich gleich blieben:<br />
1. Von Anfang an waren die Deutschen<br />
ihren Gegnern materiell<br />
<strong>und</strong> personell deutlich unterlegen.<br />
<strong>2.</strong> Das sich ständig verschlechternde<br />
Kräfteverhältnis konnte nur in begrenztem<br />
Rahmen durch eine<br />
überlegene Taktik <strong>und</strong> ein überlegenes<br />
Führungsdenken ausgeglichen<br />
werden. Daher war der Faktor<br />
Zeit ein dominierendes Element<br />
bei allen Beurteilungen der Lage.<br />
<strong>3.</strong> Eine für die Vernichtungsstrategie<br />
notwendige Angriffsoperation mit<br />
dem Ziel der »Zerstörung der<br />
feindlichen Streitmacht« bedurfte<br />
im Schwerpunkt einer deutlichen<br />
Kräfteüberlegenheit. Angesichts<br />
der eigenen Kräfte waren damit<br />
Angriffe bei dem gegebenen<br />
Mehrfrontenkrieg auf operativer<br />
Ebene nur örtlich <strong>und</strong> zeitlich eng<br />
begrenzt zu führen.<br />
Falkenhayns Operationsführung<br />
Unsicher <strong>und</strong> gefährlich – so stellte<br />
sich die strategische Lage für Falkenhayn<br />
im November 1914 dar. Im Westen<br />
stand das Heer zwei etwa gleichstarken<br />
Gegnern gegenüber, die ebenso<br />
wie die Deutschen notgedrungen begonnen<br />
hatten, sich an der gesamten<br />
Front einzugraben. Unbestritten kommt<br />
Falkenhayn, so der Historiker Holger<br />
Afflerbach, das Verdienst zu, im November<br />
1914 »die ungünstige Lage erkannt<br />
<strong>und</strong> seine weitere Strategie nach<br />
ihr ausgerichtet zu haben«. Angesichts<br />
der skizzierten Lage sei Falkenhayn<br />
davon ausgegangen, dass der Krieg für<br />
ihn schon dann gewonnen wäre, wenn<br />
er nicht verloren würde. Eine diplomatische<br />
Lösung sollte, so unrealistisch<br />
sie auch im Rückblick erscheint, den<br />
Ausweg weisen. Andererseits waren<br />
der Kaiser, die Armee <strong>und</strong> die Bevölkerung<br />
noch fest davon überzeugt, den<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
11
Ermattungs- oder Vernichtungsstrategie?<br />
»Ermattungsstrategie«? Deutsche Soldaten in der »Knochenmühle« Verdun.<br />
Krieg mit einem »Sieg-Frieden« beenden<br />
zu können. Das bedeutete aber im<br />
Umkehrschluss eine Erwartungshaltung<br />
oder – militärisch formuliert –<br />
eine Vorgabe, der die Operationsplanung<br />
zu folgen hatte: Ein Kriegsende,<br />
dass aus Sicht des Deutschen Reiches<br />
nur die Situation vor 1914 wiederherstellen<br />
oder gar eine reduzierte Machtposition<br />
des Reiches zur Folge haben<br />
würde, war unbedingt zu verhindern.<br />
<strong>Die</strong> erhofften diplomatischen Verhandlungen<br />
mussten jedoch aus einer<br />
Position der Stärke heraus geführt werden.<br />
Doch wie war Stärke militärisch<br />
zu demonstrieren? Offensive benötigt<br />
Überlegenheit an Feuerkraft <strong>und</strong> an<br />
Soldaten sowie den Raum zum Operieren.<br />
<strong>Die</strong> Erfolge Hindenburgs <strong>und</strong> Ludendorffs<br />
im Osten hatten zwar gezeigt,<br />
dass großräumiges Operieren<br />
mit der Inkaufnahme von Lücken <strong>und</strong><br />
zeitlich begrenzter Schwerpunktbildungen<br />
personelle Unterlegenheit auszugleichen<br />
vermochten. Im Westen gab<br />
es jedoch nach dem Scheitern der deut-<br />
12 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
sche Offensive 1914 weder Personal,<br />
Material noch den Raum für weitere<br />
Offensiven. Eine offensive Kriegführung<br />
verbot sich dort wegen mangelnder<br />
Aussicht auf Erfolg für 1915 daher<br />
von selbst.<br />
Damit war der Rahmen für die Operationsführung<br />
des Jahres 1915 vorgegeben.<br />
Es galt, das Eroberte zu halten<br />
<strong>und</strong> dort offensiv zu werden, wo erwartbare<br />
Erfolge nach innen <strong>und</strong> außen<br />
die eigene Verhandlungsposition<br />
stärken konnten. Halten im Westen<br />
<strong>und</strong> großräumige Offensiven im Osten<br />
waren demnach Ergebnisse eines gemeinsamen<br />
militärstrategischen Ansatzes.<br />
Im Rückblick erweist sich das Jahr<br />
1915 für die Mittelmächte als das erfolgreichste<br />
des Krieges. Im Westen<br />
<strong>und</strong> auf den Dardanellen wurden<br />
feindliche Angriffe erfolgreich abgewehrt<br />
<strong>und</strong> im Osten gelangen große<br />
operative Raumgewinne. Doch dem eigentlichen<br />
Ziel, dem nun einmal eine<br />
erfolgreiche Ermattungsstrategie zu-<br />
gr<strong>und</strong>e liegt, kam Falkenhayn 1915<br />
nicht einen Schritt näher. Der Gegner<br />
konnte nicht zum Frieden gezwungen<br />
werden. <strong>Die</strong> für Angriffe notwendige<br />
örtliche Überlegenheit von mindestens<br />
drei zu eins, an welcher Front auch immer,<br />
hätte die anderen Fronten existenzbedrohend<br />
von Kräften entblößt.<br />
Zugleich zeigte das Beispiel der französischen<br />
Offensiven 1915 warnend,<br />
dass auch Angriffe mit deutlich überlegenen<br />
Kräften »keinen durchschlagenden<br />
Erfolg garantierten«. Demnach<br />
hätte – wie 1914 – die zweite Variante<br />
zum Tragen kommen können: zu halten,<br />
um so den Gegner zu schwächen<br />
<strong>und</strong> auf eine politische Lösung zu setzen.<br />
Abwegig war dieser Ansatz nicht,<br />
wie ein Blick auf die Lage zum Jahresende<br />
1915 zeigt. Im Osten waren die<br />
Russen zwar nicht besiegt, aber nur<br />
noch zur Verteidigung fähig. In<br />
Deutschland war die Umstellung auf<br />
die Kriegswirtschaft erfolgreich angelaufen.<br />
Der notwendige Ersatz kam in<br />
die Regimenter. Vieles, was heute im<br />
Süddeutsche Zeitung Photo
Nachhinein als operativ fragwürdig erscheint,<br />
war zeitbedingt logisch entwickelt<br />
<strong>und</strong> bedurfte zunächst einmal des<br />
Scheiterns, um es als falsch zu erkennen.<br />
Das gilt auch für den operativen<br />
Ansatz Falkenhayns für das Jahr 1916.<br />
Er hatte gelernt, dass Russland durch<br />
eine Offensive nicht kriegsentscheidend<br />
zu schlagen war <strong>und</strong> ihm für eine<br />
entscheidende Offensive an der Westfront<br />
die Kräfte fehlten. <strong>Die</strong> Operation<br />
gegen Frankreich sollte daher keine<br />
mit hohen Opfern für Deutschland verb<strong>und</strong>ene<br />
Durchbruchsschlacht werden.<br />
Vielmehr sollten in der »Blutmühle«<br />
von Verdun nur die Franzosen<br />
verbluten <strong>und</strong> so zusammen mit den<br />
Erfolgen im U-Boot-Krieg die Briten<br />
zum Kriegsaustritt gezwungen werden.<br />
Falkenhayns Ansatz war ein bewusst<br />
strategischer. Er war auch nicht nur<br />
das Produkt einer aus Not geborenen<br />
Ermattungsstrategie des Novembers<br />
1914. Vielmehr war er Teil einer Strategie,<br />
die jetzt Züge einer Vernichtungsstrategie<br />
annahm. So kann es auch<br />
kaum verw<strong>und</strong>ern, dass die Truppe<br />
seine operativen Planungen für Verdun<br />
als offensive Vernichtung des Gegners<br />
missinterpretierte. Der Plan, den<br />
Gegner zu locken, um ihn dann im Artilleriefeuer<br />
ausbluten zu lassen, war<br />
zu konstruiert <strong>und</strong> scheiterte in einem<br />
ungeplanten Blutbad.<br />
Der Wechsel zu Ludendorff<br />
Der Wechsel in der <strong>OHL</strong> im August<br />
1916 hat etwas vom Wechseln der Trainer<br />
im Profimannschaftssport an sich.<br />
<strong>Die</strong> Mannschaft, ihre Gegner <strong>und</strong> die<br />
Regeln bleiben gleich. Und dennoch<br />
hofft man mit einer neuen Spitze auf<br />
eine entscheidende Neuausrichtung.<br />
Aber auch die neue, <strong>3.</strong> <strong>OHL</strong> stellte nach<br />
einer nüchternen Analyse im Herbst<br />
1916 fest, dass das Kräfteverhältnis<br />
<strong>und</strong> die Ressourcen am Jahresende<br />
1916 keine Möglichkeiten für eine<br />
kriegsentscheidende Offensive im Westen<br />
1917 bieten würden.<br />
<strong>Die</strong> strategische Hoffnung richtete<br />
sich nun auf den uneingeschränkten<br />
U-Boot-Krieg, der die Briten zum Frieden<br />
zwingen <strong>und</strong> so den Krieg beenden<br />
sollte. Offenk<strong>und</strong>ig war aber auch,<br />
dass die Alliierten 1917 die Entscheidung<br />
mit Angriffen an allen Fronten<br />
auf dem Kontinent suchen würden.<br />
Daher widmete sich Ludendorff nun<br />
vordringlich einer Aufgabe, die er meisterhaft<br />
beherrschte: Er ließ ein taktisches<br />
Verteidigungsverfahren entwickeln,<br />
um den Angreifer mit möglichst<br />
geringen eigenen Verlusten abwehren<br />
zu können. Der kongeniale operative<br />
Ansatz zu der neuen beweglichen<br />
Raumverteidigung war dann der operative<br />
Teilrückzug in die »Siegfriedstellung«<br />
im März 1917. Damit könnte der<br />
erfolgreiche operative Ansatz der<br />
Kräfte im Westen für 1917 sogar als<br />
noch defensiver als der Falkenhayns in<br />
den Vorjahren, vielleicht sogar als reine<br />
Ermattungsstrategie bewertet werden.<br />
<strong>Die</strong>se Wertung würde jedoch das Wesentliche<br />
aus dem Blick verlieren: Ludendorffs<br />
Defensive bereitete lediglich<br />
die erneute Offensive vor. Dabei fehlte<br />
der <strong>3.</strong> <strong>OHL</strong> jedoch der für Falkenhayn<br />
nachweisbare strategische Gesamtansatz.<br />
Ludendorff wollte den Krieg militärisch<br />
gewinnen. Realistische politische<br />
Optionen waren ihm fremd. Vor<br />
dem Hintergr<strong>und</strong> des Kriegseintritts<br />
der USA fehlte dem operativen Ansatz<br />
für die Offensive im Westen jedoch der<br />
gesamtstrategische Rahmen.<br />
Nur das Frühjahr 1918 erschien günstig.<br />
<strong>Die</strong> drei für den Hauptstoß der<br />
Operation Michael vorgesehenen Armeen<br />
besaßen jedoch nur bei einer Armee<br />
ein Kräfteverhältnis von drei zu<br />
eins bei den Divisionen, ansonsten war<br />
das Verhältnis etwa zwei zu eins.<br />
Der Ansatz 1918, mit einem überlegenen<br />
Stoß im Cambraibogen den Gegner<br />
zu umfassen <strong>und</strong> die Briten so zum<br />
Verlassen des Kontinents zu zwingen,<br />
war ein taktisch-operativer, kein strategischer.<br />
Maßgebend blieb der Faktor<br />
Zeit. Es gab nur ein enges Zeitfenster<br />
für einen erfolgversprechenden Angriff.<br />
In dem Augenblick, wo sich die<br />
militärische Potenz der USA auswirken<br />
würde, spätestens im Sommer<br />
1918, war der Krieg verloren.<br />
Ein Vergleich<br />
<strong>Die</strong> Operationsführung während des<br />
Ersten <strong>Weltkrieg</strong>s hat mehrfach zwischen<br />
offensiven <strong>und</strong> defensiven Planungen<br />
gewechselt. Eine scharfe Trennung<br />
zwischen einer Ermattungsstrategie<br />
Falkenhayns <strong>und</strong> der Vernichtungsstrategie<br />
Ludendorffs hat es aber<br />
Strategie<br />
nicht gegeben. Vielmehr nahm schon<br />
Falkenhayns Kriegführung für 1916<br />
Züge einer Vernichtungsstrategie an.<br />
Bezeichnend für diese These ist auch,<br />
dass Ludendorff ähnlich wie die <strong>2.</strong> <strong>OHL</strong><br />
zunächst einen defensiven operativen<br />
Ansatz wählte, weil er militärisch begründet<br />
war. Der Ansatz 1917, aus einer<br />
durch erfolgreiche Verteidigung<br />
gestärkten Position heraus im Folgejahr<br />
offensiv zu werden, verweist auf<br />
Parallelen in Falkenhayns Überlegungen<br />
Ende 1915. Daher liegt die<br />
Schlussfolgerung nahe, Falkenhayn<br />
hätte unter den Rahmenbedingungen<br />
des Jahresendes 1917 mit seinem Stab<br />
zu einem ähnlichen operativen Ansatz<br />
gelangen können wie Ludendorff. Das<br />
liegt in den militärischen Verfahren begründet,<br />
die verlangen, dass eine militärische<br />
Beurteilung der Lage immer<br />
alle Möglichkeiten des Handelns prüfen<br />
muss, offensive wie defensive. Im<br />
Zeitfenster März/April 1918 war der<br />
Ansatz, den Gegner mit einer Angriffsoperation<br />
zu vernichten, beim Abwägen<br />
gegenüber anderen Möglichkeiten<br />
des Handelns – orientiert an der Absicht<br />
der übergeordneten Führung –<br />
der am erfolgversprechendste.<br />
Der eigentliche Unterschied zwischen<br />
<strong>2.</strong> <strong>und</strong> <strong>3.</strong> <strong>OHL</strong> besteht nicht im<br />
operativen Denken oder einem Gegensatz<br />
von Abnutzungs- oder Vernichtungsstrategie.<br />
Er besteht vielmehr darin,<br />
dass Falkenhayn strategisch dachte,<br />
während Ludendorff in taktisch-operativen<br />
Dimensionen verhaftet blieb<br />
<strong>und</strong> damit seiner zugewiesenen politischen<br />
Rolle nicht gerecht wurde. Andernfalls<br />
hätte er erkennen können,<br />
dass selbst ein Durchbruch im Westen<br />
den Krieg nicht ohne ein strategisches<br />
Gesamtkonzept beendet hätte. Falkenhayn<br />
war ein strategischer Kopf mit<br />
beschränkter taktischer Begabung,<br />
während Ludendorff ein taktisches Genie<br />
mit großer Organisationsbegabung<br />
war, jedoch ohne die Fähigkeit, über<br />
den operativen Tellerrand hinaus zu<br />
denken.<br />
� Burkhard Köster<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
<strong>13</strong>
Auf dem Weg zum 20. Juli 1944<br />
Bis zum Attentat auf Hitler <strong>und</strong><br />
zu dem Umsturzversuch am<br />
20. Juli 1944 war es ein weiter<br />
Weg. Generalmajor Henning von<br />
Tresckow (1901–1944) war 1944 einer<br />
der führenden Offiziere des militärischen<br />
Widerstandes. Anfang der<br />
dreißiger Jahre hatte er noch als Oberleutnant<br />
für Hitler <strong>und</strong> den Nationalsozialismus<br />
Partei genommen, weil er<br />
auf die »nationale Wiedergeburt« einer<br />
»wehrfähigen« Nation gehofft<br />
hatte. <strong>Die</strong>s änderte sich gr<strong>und</strong>legend,<br />
als Hitler am 30. Juni 1934 bei der<br />
»Röhm-Affäre« die SA-Spitze, die innerparteiliche<br />
Opposition <strong>und</strong> konservative<br />
politische Gegner wie den ehemaligen<br />
Reichskanzler General Kurt<br />
von Schleicher mit Ehefrau ermorden<br />
ließ. Dem folgte Tresckows innere<br />
Abkehr von Hitler <strong>und</strong> dem NS-Regime.<br />
Als sich im Jahre 1938 erstmals<br />
ein zivil-militärischer Widerstand formierte,<br />
gehörte er dazu. Schließlich<br />
schloss sich Tresckow spätestens im<br />
Herbst 1939 dem Attentatsgedanken<br />
an, wie er von Oberst Hans Oster vertreten<br />
wurde, der Schlüsselfigur des<br />
Widerstandes im militärischen Nachrichtendienst.<br />
Der zivil-militärische<br />
Widerstand war am 28. September<br />
1938 <strong>und</strong> am 5. November 1939 einem<br />
Staatsstreich nahegekommen.<br />
Widerstand in Anlehnung an die<br />
militärische Hierarchie<br />
Im April 1940 – vor dem Angriff im<br />
Westen <strong>und</strong> nach dem vergeblichen<br />
Bemühen um einen Umsturz – traf sich<br />
Oberstleutnant i.G. (im Generalstab)<br />
von Tresckow mit seinem ehemaligen<br />
Regimentskameraden Hauptmann i.G.<br />
Wolf Graf von Baudissin. Es war ihr<br />
letztes Zusammentreffen. Tresckow<br />
zeigte sich skeptisch: Er meinte, der<br />
Angriff habe gute Erfolgsaussichten,<br />
aus politischer Sicht müsse aber auf ein<br />
Scheitern des Angriffs gehofft werden,<br />
denn bei einem Sieg wäre an Widerstand<br />
gegen Hitler kaum mehr zu denken.<br />
Widerstand durch Sabotage der<br />
eigenen Angriffsoperationen schloss<br />
Tresckow aus. <strong>Die</strong> Verantwortung für<br />
die eigenen Soldaten – sonst ein zentrales<br />
Motiv des Widerstandes – war<br />
für Tresckow in dieser Situation nicht<br />
mit seiner politischen Einsicht vereinbar.<br />
<strong>Die</strong>s änderte sich mit dem Ab-<br />
14 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Auf dem Weg zum 20. Juli 1944.<br />
Henning von Tresckow<br />
im Jahre 1941<br />
schluss der Operationen in Frankreich.<br />
Am 24. Juni trat Tresckow an den Generalstabschef<br />
des Heeres General der<br />
Artillerie Franz Halder heran <strong>und</strong><br />
schlug die Durchführung des Attentats<br />
auf Hitler vor. Halder lehnte ab, indem<br />
er auf den Triumph Hitlers durch den<br />
Sieg über Frankreich verwies. Eine weitere<br />
solche Initiative Tresckows ist bis<br />
1941 nicht überliefert.<br />
Im Sommer 1940 begannen die Planungen<br />
des Deutschen Reiches für den<br />
Überfall auf die Sowjetunion. Am 10.<br />
Dezember wurde Tresckow in die Führungsabteilung<br />
im Generalstab der<br />
Heeresgruppe B versetzt. <strong>Die</strong> Heeresgruppe<br />
sollte im Mittelabschnitt der<br />
Ostfront den sowjetischen Schwerpunkt<br />
treffen. Oberbefehlshaber der<br />
Heeresgruppe war Generalfeldmarschall<br />
Fedor von Bock. Dessen Adjutant<br />
war der Gutsbesitzer <strong>und</strong> Major d.R.<br />
(der Reserve) Carl-Hans Graf von Hardenberg,<br />
den Tresckow seit 1918 durch<br />
die damalige <strong>Die</strong>nstzeit im selben Regiment<br />
kannte. Hardenberg war 1941<br />
sein engster Vertrauter im Widerstand.<br />
Im Februar 1941 ließ Tresckow zudem<br />
einen entfernten Verwandten als Ordonnanzoffizier<br />
zu sich versetzen, der<br />
auch zum Widerstand gehörte: den<br />
ullstein-bild<br />
3 Oberst i.G. Henning<br />
von Tresckow an<br />
seinem Arbeitsplatz<br />
in der Führungsabteilung<br />
der<br />
Heeresgruppe<br />
Mitte bei Smolensk<br />
im Sommer 194<strong>2.</strong><br />
Rechtsanwalt <strong>und</strong> Leutnant d.R. Fabian<br />
von Schlabrendorff. Tresckow erörterte<br />
mit diesem mehrfach die Frage: »Warum<br />
will Hitler den Angriff auf Russland?«<br />
<strong>Die</strong>s bedeutete den Zweifrontenkrieg,<br />
den das Deutsche Reich aller<br />
Voraussicht nach verlieren musste,<br />
wenn der Feldzug nicht innerhalb von<br />
drei Monaten siegreich beendet sein<br />
würde. Er hielt aber einen Erfolg für<br />
möglich <strong>und</strong> teilte den Standpunkt des<br />
Generalstabs des Heeres, wonach der<br />
Angriff zunächst die Masse der sowjetischen<br />
Streitkräfte zerschlagen müsse,<br />
um dann – ohne Rücksicht auf die<br />
Flankenbedrohung – in einem direkten<br />
Stoß auf Moskau das »Herz« des<br />
Gegners zu treffen. Dadurch sollte das<br />
Sowjetsystem zusammenbrechen.<br />
Am 28. April 1941 wurde die von Hitler<br />
befohlene Einplanung der berüchtigten<br />
»Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei<br />
<strong>und</strong> des SD« bekannt. Sie<br />
sollten als selbstständige Formationen<br />
neben dem Heer im rückwärtigen Gebiet<br />
auftreten. <strong>Die</strong> Einsatzgruppen unterstanden<br />
dem Reichsführer-SS<br />
Himmler <strong>und</strong> hatten den ideologisch<br />
begründeten mörderischen »Rassenkampf«<br />
gegen die Zivilbevölkerung in<br />
Osteuropa erstmals 1939/40 in Polen
geführt. Tresckow erhielt bereits um<br />
den 8. März – unter Umgehung des<br />
<strong>Die</strong>nstweges – von Oster Informationen<br />
über deren Einplanung. Mitte<br />
Juni stand fest, dass die Einsatzgruppe<br />
im Bereich der Heeresgruppe B von<br />
dem Reichskriminaldirektor <strong>und</strong> SS-<br />
Brigadeführer Arthur Nebe geführt<br />
werden würde. Nebe stand in Kontakt<br />
mit Oster. <strong>Die</strong>s war Tresckow nicht bekannt.<br />
Besorgt entsandte er Schlabrendorff<br />
nach Berlin, um Erk<strong>und</strong>igungen<br />
über Nebe einzuholen. Warum Nebe<br />
seit 1938 den Widerstand unterstützte,<br />
muss aufgr<strong>und</strong> der mangelnden Überlieferung<br />
offen bleiben. Oster verbürgte<br />
sich jedoch für den SS-Führer, der den<br />
Widerstand unterstützt habe. Vor dem<br />
Überfall nahm Nebe Verbindung zu<br />
Tresckow auf. Der Inhalt ihres Gesprächs<br />
ist nicht bekannt geworden.<br />
Überliefert ist jedoch Tresckows Erleichterung<br />
aufgr<strong>und</strong> des Gesprächs<br />
mit Nebe. Er erhoffte sich von der verdeckten<br />
Zusammenarbeit mit Nebe die<br />
Sabotage der SS-Mordaktionen. Nebe<br />
hatte Tresckow also offenbar die Nichtausführung<br />
der Mordbefehle oder zumindest<br />
die Minimierung der Mordaktionen<br />
seiner Einsatzgruppe zugesichert.<br />
Am 31. Mai 1941 gab die Heeresführung<br />
den von Hitler ausgehenden<br />
»Kriegsgerichtsbarkeitserlass« an die<br />
Truppe weiter, der die Zivilbevölkerung<br />
praktisch für »vogelfrei« erklärte.<br />
Am <strong>13</strong>. Juni folgte der »Kommissarbefehl«,<br />
der die Ermordung der sowjetischen<br />
Parteifunktionäre im Offizierrang<br />
anordnete. Damit wurde das Heer<br />
selbst zum Träger der verbrecherischen<br />
Kriegführung. Tresckow versuchte, dagegen<br />
Widerstand zu mobilisieren,<br />
scheiterte aber bereits an seinem eigenen<br />
Oberbefehlshaber. Ohne Befehlsgewalt,<br />
eingeb<strong>und</strong>en in die Kommandostrukturen<br />
einer Heeresgruppe unter<br />
einem Oberbefehlshaber <strong>und</strong> unter<br />
einem Generalstabschef, war Treskkows<br />
Handlungsspielraum auf den<br />
fortwährenden Versuch beschränkt,<br />
seine Umgebung zu beeinflussen oder<br />
seine Gesprächspartner zu überzeugen.<br />
Der Übergang zum kompromisslosen<br />
Widerstand<br />
Mit dem Überfall auf die Sowjetunion<br />
am 2<strong>2.</strong> Juni 1941 wurde die Heeresgruppe<br />
B in Heeresgruppe Mitte umbenannt.<br />
Der Kriegsgerichtsbarkeitser-<br />
5Der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Mitte Generalfeldmarschall Fedor von<br />
Bock (im Vordergr<strong>und</strong> grüßend), der 1. Generalstabsoffizier Oberstleutnant i.G. von<br />
Tresckow (daneben), der Adjutant Major d.R. Graf von Hardenberg (dahinter mit<br />
Mütze) <strong>und</strong> weitere Offiziere des Stabes im Hauptquartier in Borissow (zwischen dem<br />
11. <strong>und</strong> 30. Juli 1941).<br />
Privat. Uta Freifrau von Aretin<br />
lass machte dem Oberkommando der<br />
Heeresgruppe eine eindeutige Sprachregelung<br />
zur Aufrechterhaltung der<br />
Disziplin in der Truppe unmöglich,<br />
<strong>und</strong> der Kommissarbefehl wurde von<br />
zahlreichen Verbänden befolgt. Demgegenüber<br />
fiel es nicht ins Gewicht,<br />
dass Tresckow – seine Befugnisse überschreitend<br />
– einmal die Ermordung<br />
eines Kommissars verbot oder einen<br />
Soldaten mit einem Kriegsgerichtsverfahren<br />
bedrohte, nachdem dieser einen<br />
Kriegsgefangenen erschossen hatte.<br />
<strong>Die</strong> militärischen Operationen verliefen<br />
indessen planmäßig. Am <strong>13</strong>. Juli<br />
ging aber bei der Heeresgruppe die<br />
Nachricht ein, dass Hitler plane, den<br />
Angriffsschwerpunkt im Mittelabschnitt<br />
– also das Angriffsziel Moskau<br />
– aufzugeben. Dabei begann sich zu<br />
dieser Zeit das Lagebild zu verdichten,<br />
dem zufolge die sowjetischen Reserven<br />
zwischen der Heeresgruppe Mitte <strong>und</strong><br />
Moskau zu treffen waren. Für Tresckow<br />
war damit der gesamte Feldzug – <strong>und</strong><br />
damit die weitere Existenz des Deutschen<br />
Reiches – infrage gestellt. Am 25.<br />
Juli besuchte der Chef des Oberkommandos<br />
der Wehrmacht (OKW) Generalfeldmarschall<br />
Wilhelm Keitel die<br />
Heeresgruppe, um die neue Operationsplanung<br />
zu vertreten <strong>und</strong> Hitlers<br />
Idee für die künftige Kampfweise darzustellen.<br />
Keitel sagte: »Führer [= Hitler]<br />
wünscht [...], dass militärische Führung<br />
sich von großen, operativen Einkreisungsschlachten<br />
umstellt auf taktische<br />
Vernichtungsschlachten in<br />
kleineren Räumen, in denen gestellter<br />
Feind 100%ig vernichtet wird.« <strong>Die</strong>se<br />
von Hitlers Brutalität diktierte Vorstellung<br />
kam einer Verhöhnung damaliger<br />
militärischer Vernunft gleich. Gleichwohl<br />
setzte Hitler im August die<br />
Schwerpunktverlagerung nach Nord<br />
<strong>und</strong> Süd durch.<br />
Noch deutlicher wurde die Ohnmacht<br />
Tresckows angesichts des Vorgehens<br />
der Einsatzgruppe B. Ob Nebe<br />
seinen Handlungsspielraum zur Verhinderung<br />
von Mordaktionen tatsächlich<br />
voll ausschöpfte, bleibt unklar.<br />
Sicher ist, dass bei einem solchen Unterfangen<br />
die Unterstützung des Oberbefehlshabers<br />
der Heeresgruppe Mitte<br />
kaum vorhanden war, vor allem aber,<br />
dass Nebe dabei seinem Vorgesetzten,<br />
dem Höheren SS- <strong>und</strong> Polizeiführer<br />
Mitte Erich von dem Bach-Zelewski,<br />
sowie den untergebenen Chefs der Ein-<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
1
Auf dem Weg zum 20. Juli 1944<br />
satzkommandos <strong>und</strong> Sonderkommandos<br />
gegenüberstand. Bach-Zelewski<br />
trieb den unterstellten Bereich im »Rassenkampf«<br />
gnadenlos an. Er führte unmittelbar,<br />
insbesondere die beiden<br />
größten Formationen Nebes, die Einsatzkommandos<br />
8 <strong>und</strong> 9. Es konnte somit<br />
keine Rede davon sein, dass Nebe<br />
seine Einsatzgruppe mehr oder minder<br />
»neutralisierte«. Am 20. Juli wurde<br />
Tresckow ein Tätigkeitsbericht der Einsatzgruppe<br />
B für den Zeitraum vom 9.<br />
bis 16. Juli vorgelegt. Am Rand war die<br />
Zahl der Ermordeten – insgesamt <strong>13</strong>30<br />
– zusammengezählt. Der Bericht offenbarte,<br />
wie die Gewalt im rückwärtigen<br />
Heeresgebiet Mitte eskalierte.<br />
� � � � � � � �<br />
����<br />
��������<br />
��������<br />
��������<br />
�<br />
�<br />
��������<br />
�������<br />
�<br />
� � � � �<br />
� � � � �<br />
������ �����<br />
���������<br />
������������<br />
�������<br />
������<br />
����<br />
�<br />
��������������������������<br />
�������<br />
������<br />
�����<br />
Mit dem Versuch, innerhalb des verbrecherischen<br />
Handlungsrahmens auf<br />
eine professionelle <strong>und</strong> zivilisierte<br />
Kriegführung hinzuwirken, erreichte<br />
Tresckow nichts Wesentliches. In der<br />
zweiten Julihälfte 1941 traf er sich deshalb<br />
mit Hardenberg zu einer gr<strong>und</strong>legenden<br />
Aussprache: Sie stellten fest,<br />
dass »der bisher beschrittene Weg des<br />
Versuches der Einflussnahme auf die<br />
zur Führung berufenen Persönlichkeiten<br />
[gemeint sind die Führungsspitzen<br />
des Heeres] zu keinem Erfolge«<br />
geführt habe. Niemand finde sich, »der<br />
kraft seiner Stellung versuchte, sich<br />
gegen befohlene Verbrechen <strong>und</strong> militärischen<br />
Wahnsinn aufzulehnen«.<br />
���������<br />
�����<br />
�������<br />
������<br />
���<br />
��������<br />
16 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
�<br />
���������������������������������������<br />
����������������������<br />
������������������������������������<br />
�������������������<br />
������������������������������<br />
������������������<br />
�������������������������������������<br />
����������<br />
��������<br />
�������������������������������<br />
�<br />
������<br />
�������<br />
� � � � � � �<br />
� � � � �<br />
����<br />
� ��� ������<br />
������<br />
�������<br />
��������<br />
��������<br />
����<br />
����������<br />
�����������������<br />
������� �<br />
����<br />
��������<br />
Tresckow <strong>und</strong> Hardenberg blieb deshalb<br />
nur eine Möglichkeit übrig, um<br />
auf die moralische Herausforderung<br />
zu reagieren: Sie mussten im hochverräterischen<br />
Vorgehen gegen die Staatsführung,<br />
im Extremfall als Attentäter,<br />
die Initiative übernehmen. Eigentlich<br />
an mitdenkenden Gehorsam gewöhnt<br />
<strong>und</strong> in elitären Ehrbegriffen altpreußischer<br />
Tradition sowie an einem verpflichtenden<br />
Glauben geb<strong>und</strong>en, löste<br />
diese Einsicht einen inneren Konflikt<br />
aus, den Hardenberg Anfang 1946 so<br />
beschrieb:<br />
»<strong>Die</strong> Schwierigkeit der Aufgabe war<br />
uns voll bewusst. Es galt zu aktiven revolutionären<br />
Taten zu schreiten, d.h.<br />
mit allem zu brechen, was uns von den<br />
Vätern gelehrt <strong>und</strong> was mit der Ehre<br />
eines preußisch-deutschen Soldaten<br />
verb<strong>und</strong>en war. Besitz, Familie, eigene<br />
<strong>und</strong> Standesehre musste[n] in die<br />
Waagschale geworfen werden, wenn<br />
dieser Weg beschritten werden sollte.<br />
War es notwendig? War es richtig? War<br />
es zu vereinbaren mit den ethischen<br />
<strong>und</strong> christlichen Gesetzen, denen wir<br />
unterstanden? Wir schieden, als bereits<br />
der Sternenhimmel die russische Weite<br />
überdeckte, mit dem Versprechen, mit<br />
uns selber über diese Frage ins reine zu<br />
kommen.<br />
Wer [...] glaubt, dass Ehrgeiz, Ruhmsucht<br />
oder der Wunsch, sich der kommenden<br />
Katastrophe zu entziehen, die<br />
Männer [des zivil-militärischen Widerstandes]<br />
damals geleitet hat, der weiß<br />
nichts von den Gewissensbissen <strong>und</strong><br />
seelischen Qualen, mit denen jeder für<br />
sich allein fertig werden musste. Und<br />
was war, wenn uns der Erfolg nicht beschieden<br />
sein sollte? War dann nicht<br />
der ganze Einsatz vergeblich <strong>und</strong> nur<br />
ein Verbrechen? Es dauerte Tage <strong>und</strong><br />
Wochen, in denen diese Gedankengänge<br />
immer wieder abgesprochen<br />
wurden«.<br />
Als Hitler am 4. August 1941 das<br />
Hauptquartier der Heeresgruppe in<br />
Borissow besuchte, wurde die weitere<br />
Kriegführung im Osten besprochen.<br />
Dabei schnitt die Heeresgruppe die<br />
Gr<strong>und</strong>satzfragen an – auch die Behandlung<br />
der Zivilbevölkerung –, ohne<br />
dass Hitler sich hätte beeinflussen lassen.<br />
Tresckow prüfte bei dieser Lagebesprechung<br />
erstmals die Möglichkeit<br />
eines Attentats. Im letzten Septemberdrittel<br />
fiel bei Tresckow <strong>und</strong> Hardenberg<br />
die Entscheidung: »Das Wohl des
Volkes« verlange »den vollen Einsatz<br />
[...]. Auch im Falle des Missglückens<br />
muss der Welt gezeigt werden, dass es<br />
in dieser Zeit Männer gegeben hat, die,<br />
wie der Grabstein von Marwitz in Friedersdorf<br />
sagt, Ungnade wählten, wo<br />
Gehorsam nicht Ehre einbrachte.«<br />
Tresckow <strong>und</strong> Hardenberg waren<br />
nicht bereit, die moralische Richtschnur<br />
der Ehre aufzugeben. Als traditionell<br />
eingestellte Offiziere empfanden<br />
sie jedoch zugleich Attentat <strong>und</strong><br />
Umsturz als unvereinbar mit ihrem<br />
Wertegefüge. Der Entschluss zum Handeln<br />
fiel letztlich, weil beide nicht damit<br />
leben konnten, angesichts der beispiellosen<br />
Situation untätig zu bleiben.<br />
<strong>Die</strong> über Jahre gewachsene Opposition<br />
<strong>und</strong> dann der Widerstand seit 1938 waren<br />
dafür die Voraussetzungen. Dabei<br />
lässt die Überlieferung keine Aussage<br />
darüber zu, ob entweder die Beendigung<br />
des »militärischen Wahnsinns« –<br />
mit dem massenhaften Opfern von<br />
Soldaten auf dem Weg in den Untergang<br />
– oder die Beendigung der verbrecherischen<br />
Kriegführung mit dem<br />
massenhaften Morden das stärkere<br />
Widerstandsmotiv war. Ohne die »befohlenen<br />
Verbrechen« ist allerdings<br />
Tresckows <strong>und</strong> Hardenbergs im September<br />
1941 gefasster Entschluss kaum<br />
vorstellbar.<br />
Vergebliches Bemühen um den<br />
Umsturz<br />
Mit dem Umsturz sollte das Deutsche<br />
Reich wieder unter die zivilisierten Nationen<br />
zurückgeführt werden, um<br />
dann den Krieg schnellstmöglich durch<br />
einen Verständigungsfrieden zu beenden.<br />
Dafür musste verdeckt eine zivilmilitärische<br />
Umsturzorganisation aufgebaut<br />
werden. <strong>Die</strong>se Aufgabe bezeichnete<br />
Tresckow (Anfang 1944 rückblickend)<br />
unter den Bedingungen des<br />
Überwachungsstaates als die »Hauptschwierigkeit«.<br />
Absprachen waren nur<br />
über Kuriere oder durch persönliche<br />
Begegnungen möglich. So befand sich<br />
Hardenberg vom 30. Juli bis zum 26.<br />
August 1941 infolge einer Krankmeldung<br />
in Berlin. Schlabrendorff wurde<br />
im letzten Septemberdrittel zur Durchführung<br />
vorbereitender Gespräche<br />
nach Berlin entsandt. Am 8. November<br />
besprachen Tresckow <strong>und</strong> Hardenberg<br />
im Hauptquartier bei Smolensk das<br />
weitere Vorgehen mit dem zum Widerstand<br />
gehörenden Verwaltungsfachmann<br />
<strong>und</strong> Oberleutnant d.R. Fritz-<br />
<strong>Die</strong>tlof Graf von der Schulenburg. <strong>Die</strong>ser<br />
hoffte wie Hardenberg, den Umsturz<br />
noch 1941 erreichen zu können.<br />
Tresckow war skeptischer.<br />
In Berlin stellte Schulenburg mehrere<br />
Kontakte her. Am 14. November sprach<br />
er mit dem Rechtsanwalt <strong>und</strong> Kriegsverwaltungsrat<br />
im OKW Helmuth<br />
James Graf von Moltke sowie dem<br />
Oberregierungsrat <strong>und</strong> Leutnant d.R.<br />
Peter Graf Yorck von Wartenburg, die<br />
ebenfalls den Umsturz anstrebten. Parallel<br />
dazu prüften Tresckow <strong>und</strong> Hardenberg<br />
bei einigen Oberbefehlshabern<br />
an der Ostfront die Bereitschaft<br />
zum Widerstand – mit negativem Ergebnis.<br />
<strong>Die</strong> einzige Ausnahme bei den<br />
Führungsspitzen war der Oberbefehlshaber<br />
West in Paris, Generalfeldmarschall<br />
Erwin von Witzleben. Zeitweilig<br />
bestand auch die Hoffnung, dass Generalfeldmarschall<br />
Walther von Brauchitsch,<br />
der Oberbefehlshaber des<br />
Heeres, sich an die Spitze eines Umsturzes<br />
stellen würde. <strong>Die</strong>se Hoffnung<br />
endete aber spätestens am 19. Dezember,<br />
als Hitler Brauchitsch entließ <strong>und</strong><br />
selbst dessen Oberbefehl übernahm.<br />
<strong>Die</strong>s war die entscheidende Phase bei<br />
dem Bemühen um einen Umsturz, <strong>und</strong><br />
Tresckow war infolge einer Krankmeldung<br />
vom 17. bis zum 27. Dezember in<br />
Berlin. Das wichtigste Gespräch führte<br />
Tresckow wohl in dieser Zeit mit<br />
Halder, dem Generalstabschef des<br />
Heeres.<br />
Halder versicherte Tresckow unter<br />
Tränen, dass ein Staatsstreich wegen<br />
der Führungsverhältnisse nicht durchsetzbar<br />
sei. Erneut wurde sein ungenügender<br />
Widerstand deutlich: Halder<br />
setzte wie Tresckow sein gesamtes militärisches<br />
Können ein, war aber, im<br />
Gegensatz zu Tresckow, ohne innere<br />
Distanz gegenüber der strategisch-operativen<br />
Kriegführung des Reiches. <strong>Die</strong><br />
Verbrechen ließ er nicht als Handlungszwang<br />
gelten. Ende 1939 hieß es bei<br />
ihm, »erst einmal den Krieg glücklich<br />
beenden«. Nach dem Sieg über Frankreich<br />
hieß es, erst eine Krise müsse den<br />
Weg zum Umsturz freimachen. Als<br />
dann aber die militärische Krise im Dezember<br />
1941 da war, sah er – wie bei<br />
der Krise im Herbst 1939 – keine Möglichkeit<br />
für eine Aktion. Moltke fasste<br />
am 8. Februar 1942 resigniert zusam-<br />
men: »an die Stelle des mir vor Weihnachten<br />
entgegengehaltenen ›es ist zu<br />
früh‹, ist jetzt getreten ›es ist zu spät‹.«<br />
Tresckow wurde wie Moltke angesichts<br />
der militärischen Führer, die<br />
nicht einmal aus ihrer militärischen Beurteilung<br />
der Lage Konsequenzen zogen,<br />
zu einem Verächter dieser Offiziere.<br />
<strong>Die</strong> strategische Wende des Krieges<br />
war besiegelt, als die Wehrmacht einer<br />
unbesiegten Roten Armee gegenüberstand<br />
<strong>und</strong> Hitler den USA am 11. Dezember<br />
den Krieg erklärte. Vom 2<strong>2.</strong> Juni<br />
1941 bis Ende Januar 1942 hatte die<br />
Wehrmacht mehr als eine Million Tote,<br />
Verw<strong>und</strong>ete, Kranke <strong>und</strong> Vermisste,<br />
die Rote Armee etwa zehn Millionen.<br />
In den zehn Monaten bis April 1942 erschossen<br />
die Einsatzgruppen A, B, C<br />
<strong>und</strong> D mehr als 500 000 Juden. <strong>Die</strong><br />
»Endlösung der Judenfrage« wurde<br />
seit 1942 in Todeslagern wie Auschwitz-Birkenau<br />
verfolgt. Aber erst das<br />
militärische Desaster von Stalingrad<br />
im Winter 1942/43 eröffnete dem zivilmilitärischen<br />
Widerstand die Möglichkeit<br />
für einen Anlauf zum Attentat <strong>und</strong><br />
zum Umsturz am <strong>13</strong>. März 194<strong>3.</strong> Der<br />
Attentatsversuch misslang jedoch,<br />
blieb aber unentdeckt. Es dauerte danach<br />
bis zum 20. Juli 1944, ehe Attentat<br />
<strong>und</strong> Umsturzversuch unternommen<br />
wurden. Für Tresckow hatte der politische<br />
Zweck dieser Unternehmung,<br />
die Rettung des Reiches, zu diesem<br />
Zeitpunkt keine Bedeutung mehr<br />
(siehe Militärgeschichte 2/2004). Er erfuhr<br />
am Nachmittag an der Ostfront<br />
vom Scheitern des Attentats auf Hitler.<br />
Als in der Nacht auch das Scheitern<br />
des Umsturzversuchs feststand, nahm<br />
sich Tresckow am nächsten Tag das<br />
Leben.<br />
Literaturtipps:<br />
� Thomas Reuther<br />
Winfried Heinemann, Der militärische Widerstand <strong>und</strong><br />
der Krieg. In: Das Deutsche Reich <strong>und</strong> der Zweite <strong>Weltkrieg</strong>,<br />
Bd 9/1, München 2004, S. 743–892<br />
Peter Hoffmann, Oberst i.G. Henning von Tresckow <strong>und</strong><br />
die Staatsstreichpläne im Jahr 194<strong>3.</strong> In Vierteljahreshefte<br />
für Zeitgeschichte, 55 (2007), S. 330–364<br />
Henning von Tresckow. Ich bin der ich war. Texte <strong>und</strong> Dokumente<br />
hrsg. von Sigrid Grabner <strong>und</strong> Henrik Röder, <strong>3.</strong>,<br />
veränderte Aufl., Berlin 2005<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
1
Das Bauwesen der NVA<br />
Das<br />
Bauwesen<br />
der NVA<br />
Von der Aufstellung der NVA am<br />
1. März 1956 bis zur Auflösung<br />
am <strong>2.</strong> Oktober 1990 verrichteten<br />
die NVA-Soldaten auch Tätigkeiten,<br />
die nicht zu den herkömmlichen Aufgaben<br />
des Militärs zählen. Neben der<br />
Erbringung von Truppeneigenleistungen<br />
beim Bau von Unterkünften, Ausbildungsanlagen<br />
<strong>und</strong> Gefechtsständen<br />
wurde an der »Getreidefront« <strong>und</strong> bei<br />
der Kartoffelernte »gekämpft«. In der<br />
Industrie <strong>und</strong> Bauwirtschaft der DDR<br />
herrschte Arbeitskräftemangel, der<br />
durch den Einsatz von Soldaten kompensiert<br />
werden sollte. Ob Hochwasser,<br />
Schnee oder Frost: <strong>Die</strong> NVA setzte<br />
teilweise die Hälfte ihres Personals im<br />
Katastrophenfall ein. Da die Braunkohle-<br />
<strong>und</strong> Energiewirtschaft der DDR<br />
krankte <strong>und</strong> fast jede Schlechtwetterlage<br />
eine Krise bedeutete, mussten immer<br />
mehr Soldaten helfen. Logische<br />
Folge war die Aufstellung neuer Ingenieur-<br />
<strong>und</strong> Pionierbautruppenteile der<br />
NVA. Ihre Geschichte soll im Folgenden<br />
kurz skizziert werden.<br />
Gesellschaftliche<br />
Rahmenbedingungen<br />
Anders als im Gr<strong>und</strong>gesetz (GG) der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland war in<br />
der Verfassung der DDR keine Trennung<br />
zwischen dem militärischen Teil<br />
der Streitkräfte <strong>und</strong> der zivilen Wehrverwaltung<br />
verankert. <strong>Die</strong>s bedeutete,<br />
dass konfliktlos Baueinheiten aufgestellt<br />
werden konnten. Neubau, Betrieb<br />
<strong>und</strong> Unterhaltung militärischer Anlagen<br />
wurden durch Unterkunftsabteilungen<br />
in jedem Bezirk geplant, organisiert<br />
<strong>und</strong> kontrolliert. Ausschreibungen<br />
an konkurrierende Firmen gab es<br />
in der staatlich gelenkten Planwirtschaft<br />
nicht. Der Sonderbedarf I, die<br />
sogenannten »Bauwerke mit spezieller<br />
militärischer Zweckbestimmung«,<br />
musste mindestens zwei Jahre vor Beginn<br />
jedes 5-Jahr-Planes durch den<br />
Nationalen Verteidigungsrat (NVR)<br />
bestätigt werden. <strong>Die</strong> Staatliche Plankommission,<br />
deren Abteilung I ein Generalleutnant<br />
führte, gliederte die Militärgroßvorhaben<br />
in den Staatsplan ein.<br />
<strong>Die</strong> Haushaltsmittel wurden geplant<br />
<strong>und</strong> es wurde eine LVO-Nummer<br />
(Leistungs- <strong>und</strong> Lieferverordnung für<br />
die sozialistische Landesverteidigung)<br />
vergeben.<br />
<strong>Die</strong> DDR kannte kein Gr<strong>und</strong>recht auf<br />
Kriegsdienstverweigerung. Mit Einführung<br />
der Allgemeinen Wehrpflicht<br />
am 24. Januar 1962 stellte sich die<br />
Frage, wie mit Staatsbürgern zu verfahren<br />
sei, die den Waffendienst aus<br />
religiösen Gründen ablehnten. Verweigerung<br />
der Wehrpflicht wurde mit<br />
Freiheitsstrafen bedroht. Das Verhältnis<br />
des Staates zu den Kirchen verschlechterte<br />
sich, wie auch der Druck<br />
der westlichen Öffentlichkeit zu einer<br />
Lösung zwang. Als einziger Staat des<br />
Ostblocks bot die DDR ab dem 7. Sep-<br />
18 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Soldaten der NVA bei der Kartoffelernte auf Rügen, 10. Mai 196<strong>3.</strong><br />
tember 1964 den Gläubigen einen waffenlosen<br />
<strong>Die</strong>nst in Baueinheiten der<br />
NVA. <strong>Die</strong>se wurden in die Baupionierbataillone<br />
eingegliedert.<br />
Baupioniereinheiten (der NVA)<br />
1964–19 1<br />
Mit dem Befehl 108/64 des Ministers<br />
für Nationale Verteidigung (MfNV)<br />
wurden das Baupionierbataillon (BPiB)<br />
5 in Prenzlau <strong>und</strong> drei weitere in Bärenstein<br />
im Erzgebirge für die Landstreitkräfte,<br />
das BPiB-14 der Luftstreitkräfte/Luftverteidigung<br />
(LSK/LV) Garz<br />
<strong>und</strong> das BPiB-7 der Marine in Nonnewitz<br />
auf Rügen aufgestellt. <strong>Die</strong> Bataillone<br />
der Landstreitkräfte setzten<br />
sich aus vier Pionierbaukompanien mit<br />
wehrdienstleistenden Soldaten <strong>und</strong><br />
zwei Baueinheiten mit 64 sogenannten<br />
Bausoldaten zusammen. Bei den LSK/<br />
LV waren neben den sieben »regulären«<br />
Baukompanien drei Baueinheiten<br />
mit 96 Bausoldaten eingesetzt,<br />
bei der Marine eine Baueinheit mit 32<br />
Angehörigen aufgestellt. <strong>Die</strong> Möglichkeit<br />
der Einberufung von 256 waffenlos<br />
Wehrdienstleistenden halbierte die<br />
Zahl der Totalverweigerer sofort. An<br />
die Stelle der Maschinenpistole trat der<br />
Spaten, der als Symbol auch die Schulterklappen<br />
zierte. <strong>Die</strong> eingezogenen<br />
Soldaten nannten sich oft »Spatensoldaten«.<br />
Bis 1973 wurden sie auch zum<br />
Bau von militärischen Ausbildungsan-<br />
ullstein bild
lagen, z.B. dem Schießtrainingsplatz in<br />
Prenzlau, verwendet. Das führte zu<br />
neuen Gewissenskonflikten, weil viele<br />
Gläubige auch die Ausbildung zum<br />
Töten nicht unterstützen wollten. <strong>Die</strong><br />
Bausoldaten kannten ihre Rechte sehr<br />
genau, die Kirchen unterstützten sie.<br />
Nicht zuletzt wegen ihrer Eingaben<br />
<strong>und</strong> Beschwerden erfolgte der Einsatz<br />
ab 1973 vorwiegend dezentral in Lazaretten,<br />
Ferienheimen <strong>und</strong> rückwärtigen<br />
Einrichtungen. Es ist eine Ironie<br />
der Geschichte, dass nach dem Ende<br />
der SED-Herrschaft mit Rainer Eppelmann<br />
ein ehemaliger Bausoldat zum<br />
letzten Verteidigungsminister der DDR<br />
ernannt wurde. Teile der Armeeangehörigen<br />
aus den Gefechtstruppen mit<br />
85%igem Bereitschaftsdienst beurteilten<br />
die Aufgaben der Bausoldaten als<br />
»leichte Hilfsarbeiten«. Sie wähnten<br />
sich benachteiligt <strong>und</strong> protestierten<br />
gegen die vorgeblich angenehmen<br />
<strong>Die</strong>nstbedingungen der Bausoldaten.<br />
<strong>Die</strong> Zahl der Wehrdienstverweigerer<br />
wuchs, mancher lehnte den NVA-<br />
<strong>Die</strong>nst nicht nur aus religiösen <strong>und</strong> Gewissensgründen,<br />
sondern gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
ab <strong>und</strong> wurde Bausoldat. Er nahm<br />
berufliche Benachteiligungen in der<br />
DDR in Kauf.<br />
<strong>Die</strong> steigenden Forderungen nach<br />
Arbeitskräften in der Industrie veranlassten<br />
das Ministerium für Nationale<br />
Verteidigung, mit Befehl 45/82 neue<br />
Baueinheiten aufzustellen, die im Straßenbauregiment<br />
2 <strong>und</strong> in Lagern <strong>und</strong><br />
Einrichtungen der Rückwärtigen<br />
<strong>Die</strong>nste Verwendung fanden. Ab 1. No-<br />
vember 1983 wurde dem PiBB-MU-<br />
KRAN eine Baueinheit (BE) mit 150<br />
Mann unterstellt. Im Strukturschema<br />
85 hatte die Baueinheit für den Fährhafenbau<br />
auf der Insel Rügen bereits<br />
480 Angehörige. In den Chemiekombinaten<br />
Schwedt, Buna, Leuna <strong>und</strong> Bitterfeld<br />
mussten Bausoldaten Schichtarbeit<br />
leisten, die zudem noch körperlich<br />
schwer <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitsgefährdend<br />
war. Mit der Auflösung der Baueinheiten<br />
im Januar 1990 wurden 1500<br />
Bausoldaten entlassen. Im August 1989<br />
noch hatte der Stellenplan 95 (STAN)<br />
des Ministeriums für Nationale Verteidigung<br />
4200 Bausoldaten vorgesehen.<br />
1966 entstanden vier weitere Baupionierbataillone<br />
mit Standorten in Bernau<br />
(2), Torgau <strong>und</strong> Prenzlau. Das<br />
BPiB-5 wurde zwischenzeitlich nach<br />
Torgelow-Drögeheide verlegt. <strong>Die</strong> Einheiten<br />
unterstanden dem Chef der Verwaltung<br />
Spezialbauwesen im Bereich<br />
Militärbauwesen/Unterbringung des<br />
Ministeriums für Nationale Verteidigung.<br />
<strong>Die</strong> militärische Führung der<br />
Baueinheiten wurde aus bestehenden<br />
Pioniertruppenteilen gebildet. Bauingenieure<br />
aus den Reihen der eingezogenen<br />
Soldaten erhielten lukrative Angebote.<br />
Der Einstellungsdienstgrad für<br />
Fachschulabsolventen war der des Unterleutnants,<br />
Diplomingenieure erhielten<br />
den Leutnantsrang, ohne die übliche<br />
Offizierausbildung durchlaufen<br />
zu müssen. <strong>Die</strong> Verpflichtungszeit betrug<br />
drei oder zehn Jahre. Ab Mitte der<br />
1970er Jahre studierten an der Inge-<br />
bpk/Horst E. Schulze<br />
Bau des Erdölkombinates<br />
Schwedt,<br />
17. September 196<strong>2.</strong><br />
nieurhochschule in Cottbus, heute<br />
Brandenburgische Technische Universität<br />
(BTU), die künftigen Spezialisten<br />
des Militärbauwesens. Sie erhielten<br />
Abschlüsse als Diplomingenieur für<br />
Technologie der Bauproduktion. Nach<br />
halbjährlichem Gr<strong>und</strong>kurs als Pionier<br />
an der Offizierschule der Landstreitkräfte<br />
in Zittau folgte der Einsatz auf<br />
den Baustellen als Zugführer in einer<br />
Ingenieurbaukompanie.<br />
<strong>Die</strong> Aufgaben <strong>und</strong> Arbeitsorte der<br />
vier Bataillone, später auch der beiden<br />
Ingenieurbauregimenter, waren streng<br />
geheim. Dem Autor ist bekannt, dass<br />
das BPiB-6 Prenzlau erstmals 1967 bei<br />
Lychen zur Errichtung von Raketenstellungen<br />
für die Sowjetarmee eingesetzt<br />
wurde. Es folgte der Führungspunkt<br />
der Volksmarine als damals<br />
größtes militärisches Bauvorhaben<br />
zwischen Tessin <strong>und</strong> Laage, unweit<br />
von Rostock. Nach dem Aushub einer<br />
riesigen Baugrube betonierten die Baupioniere<br />
mehrstöckige, auf riesigen<br />
Stahlfedern gelagerte Schutzbauwerke<br />
unter Tage. Meterdicke Betonschichten<br />
gegen Bombenwirkung wurden aufgebracht.<br />
Mehrere Schleusen sorgten für<br />
den Schutz vor atomarer Strahlung,<br />
Druckwellen oder biologischen bzw.<br />
chemischen Kampfstoffen. Spezialisten<br />
oblag die Führungstechnik sowie die<br />
Einrichtung einer autarken Strom-,<br />
Wasser- <strong>und</strong> Sauerstoffversorgung. In<br />
solchen Bunkern sollte die militärische<br />
Führung mehrere Tage nach einem<br />
Atomwaffenangriff überleben können.<br />
Letzte Arbeiten galten der Tarnung,<br />
der Wiederherstellung der natürlichen<br />
Umgebung <strong>und</strong> der Sicherung durch<br />
eine Hochspannungsanlage. Allerdings<br />
enttarnten sich die Objekte oft<br />
durch ihre Nebenanlagen, wenn aus<br />
dem Wald der Schornstein eines Heizkraftwerkes<br />
ragte.<br />
Alle Bataillone hatten feste Stammobjekte,<br />
von denen aus die Vorhaben<br />
erschlossen wurden. Dann erfolgte die<br />
Verlegung der Bau- <strong>und</strong> Sicherungskräfte.<br />
Erste Unterkünfte waren Zelte,<br />
denen Baracken folgten. Später dienten<br />
zusammenschiebbare Raumzellen der<br />
Unterbringung der Soldaten. Sie wurden<br />
auch als Kultur- <strong>und</strong> Freizeiteinrichtungen<br />
sowie als Depots genutzt.<br />
Neben den dem Ministerium direkt<br />
unterstellten Baubataillonen waren<br />
auch den Teilstreitkräften Einheiten für<br />
ihre speziellen Bauvorhaben zugeord-<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
19
Das Bauwesen der NVA<br />
net. Hier wurden vor allem Unterkünfte,<br />
Technikhallen, Sturm- bzw.<br />
Hindernisbahnen gebaut. Dem Kommando<br />
der Landstreitkräfte unterstand<br />
das Ingenieurbaubataillon 40 in Brandenburg.<br />
<strong>Die</strong> Luftstreitkräfte hatten<br />
für den Bau <strong>und</strong> die Instandsetzung<br />
von Flugbetriebsflächen das Flugplatzpionierbataillon<br />
14. Geschlossene Deckungen<br />
für Flugzeuge (GDF-12 <strong>und</strong><br />
16) errichtete das PiB-24 gemeinsam<br />
mit Spezialisten des VEB Schachtbau<br />
Nordhausen. <strong>Die</strong> beiden selbstständigen<br />
Einheiten waren in der Ruinenberg-Kaserne<br />
in Potsdam stationiert.<br />
Bauaufgaben der Marine erledigte das<br />
Ingenieurbaubataillon 18 in Saßnitz<br />
auf Rügen. <strong>Die</strong> vier Baukompanien der<br />
Grenztruppen hatten ihre Kasernen in<br />
Berlin, Gardelegen <strong>und</strong> Eisenach. Bis<br />
1971 war die Anzahl der Bau-Einheiten<br />
der NVA relativ gering.<br />
Pionier- <strong>und</strong><br />
Ingenieurbautruppen 19 1–19 8<br />
Auf dem VIII. Parteitag der SED 1971<br />
wurde Erich Honecker zum Parteichef<br />
gewählt, der die Einheit von Wirtschafts-<br />
<strong>und</strong> Sozialpolitik proklamierte<br />
<strong>und</strong> ein gewaltiges Wohnungsbauprogramm<br />
auflegte. Daraus folgte, dass<br />
die Bauindustrie ihre Kräfte auf die Errichtung<br />
der Plattenbausiedlungen z.B.<br />
in Eisenhüttenstadt, Schwedt, Halle-<br />
Neustadt, Leipzig-Grünau <strong>und</strong> Berlin-<br />
Marzahn konzentrieren musste. »Jedem<br />
seine Wohnung«, lautete die Parole,<br />
wenig später bereits zu »Jedem<br />
eine Wohnung« abgeändert. Der volkseigenen<br />
Bauwirtschaft fehlten für das<br />
ambitionierte Bauprogramm jedoch<br />
die Kapazitäten. Sie zeigte sich zunehmend<br />
überfordert, die Planauflagen<br />
mussten ständig nach unten korrigiert<br />
werden. Hilfe sollte die NVA bieten.<br />
Mit der Zunahme der »Großbaustellen<br />
des Sozialismus« musste die NVA einerseits<br />
eigene Strukturen für ihre Bauvorhaben<br />
schaffen <strong>und</strong> andererseits<br />
Unterstützungsleistungen für die Bauindustrie<br />
erbringen. Hinzu kam die<br />
Hilfe für die Kohle- <strong>und</strong> Energiewirtschaft.<br />
Da die DDR keine nennenswerten<br />
Steinkohle- oder Erdölvorkommen<br />
besaß, konnte die Energie nur aus<br />
der heimischen Braunkohle erzeugt<br />
werden. Ihre Förderung in offenen Tagebauen<br />
war ebenso lebenswichtig wie<br />
witterungsabhängig <strong>und</strong> personalintensiv.<br />
Es verw<strong>und</strong>ert nicht, dass die Braunkohlekombinate<br />
<strong>und</strong> Großkraftwerke<br />
fast ständig auf die Hilfe der NVA, der<br />
Grenztruppen wie auch der Bereitschaftspolizei<br />
angewiesen waren. Im<br />
Katastrophenwinter 1978/79 wurde ein<br />
Großteil der Armee zur Versorgung<br />
der Bevölkerung, im Verkehrswesen<br />
<strong>und</strong> zur Sicherung der Energieversorgung<br />
eingesetzt. Aufgr<strong>und</strong> der Auswertung<br />
der sich wiederholenden Wintereinsätze<br />
beantragte der Minister für<br />
Kohle- <strong>und</strong> Energiewirtschaft zwei<br />
Baubataillone für den Gleisbau in den<br />
Revieren Cottbus <strong>und</strong> Borna bei Leipzig.<br />
<strong>Die</strong> ständige Verfügbarkeit der militärischen<br />
Arbeitskräfte hatte sich bereits<br />
beim Bau des Palastes der Republik<br />
in Berlin bewährt.<br />
Aus dem NVA-Sonderbaustab <strong>und</strong><br />
den zukommandierten Kräften rekrutierte<br />
sich am 1. Dezember 1975 der<br />
Stamm des Pionierbaubataillons 22<br />
(PiBB) in Berlin-Biesdorf, das an allen<br />
wesentlichen Bauvorhaben in der Hauptstadt<br />
beteiligt war. Gleichzeitig wurden<br />
20 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Pionierbaubataillone in Storkow, Prenzlau,<br />
Gotha <strong>und</strong> Merseburg aufgestellt.<br />
Zwei Bataillone arbeiteten für die Chemiekombinate<br />
in Buna, Leuna <strong>und</strong> Bitterfeld.<br />
Später wurde für den Bau des<br />
Hafens der Fährlinie Mukran/Rügen–<br />
Klaipeda (damals UdSSR) ein weiterer<br />
Truppenteil gebildet. Der Warenaustausch<br />
mit der Sowjetunion sollte auf<br />
dem Seeweg möglich gemacht werden.<br />
Der neue Chef Pionierwesen der NVA<br />
Oberst Waldemar Seifert (später Generalleutnant)<br />
setzte ab 1978 neue Schwerpunkte.<br />
Standen beim Vorgänger, Generalleutnant<br />
Harry Strobel, die Volkswirtschaftseinsätze<br />
im Vordergr<strong>und</strong>,<br />
sollten sich die Bataillone nun auf ihre<br />
militärische Aufgaben konzentrieren.<br />
Nach zweitägiger Mobilmachung <strong>und</strong><br />
Auffüllung mit Reservisten mussten<br />
sie Pionier- bzw. Straßen- <strong>und</strong> Brückenbauregimenter<br />
für den Kriegsfall (Soll II)<br />
bilden. Das PiBB-2 in Storkow errichtete<br />
Feldbefestigungsanlagen <strong>und</strong> Pioniersperren,<br />
in Merseburg wurde der Bau<br />
von Scheinbrücken trainiert <strong>und</strong> in<br />
Prenzlau wurden Pontonbrücken vorgehalten.<br />
Einsatz einer Pioniereinheit der NVA im Braunkohlenwerk »Jugend« in Schlabendorf bei<br />
Lübbenau, 2<strong>2.</strong> Januar 196<strong>3.</strong><br />
MHM Dresden (MBD 0908/2)
Richtfest des Palastes der Republik am 18. November 1974.<br />
Bautruppen ab 19 8<br />
<strong>Die</strong> verstärkte Rüstung der NVA<br />
machte den Bau immer neuer Führungsstellen,<br />
Einsatzzentralen <strong>und</strong><br />
Schutzbauwerke erforderlich. Obwohl<br />
sich die ökonomische Lage der DDR<br />
verschlechterte, wurde dafür Geld <strong>und</strong><br />
vor allen Dingen Material bereitgestellt.<br />
<strong>Die</strong> dem Chef Militärbauwesen/<br />
Unterbringung unterstellten Einheiten<br />
wurden in zwei Ingenieurbauregimentern<br />
(IBR) in Bernau <strong>und</strong> Torgau mit<br />
Stärken von 1058 Mann zusammengefasst.<br />
<strong>Die</strong> IBR waren nicht in Bataillone<br />
gegliedert, sondern entsprechend der<br />
Anzahl von Großbaustellen, in variable<br />
Oberbauleitungen unterteilt. <strong>Die</strong>se<br />
erhielten für die Lösung ihrer Aufgaben<br />
Ingenieurbaukompanien, Wach-<br />
<strong>und</strong> Sicherstellungskräfte sowie Transportmittel<br />
<strong>und</strong> Bautechnik unterstellt.<br />
Großtechnik wurde vom Regiment bereitgestellt.<br />
Für die Bahnentladung von<br />
Ganzzügen (bis 36 Waggons) mit<br />
Schüttgütern bildete man »Entladekomplexe«.<br />
Zivile Auftragnehmer leisteten<br />
Arbeiten, die nicht zum Leistungsumfang<br />
der Regimenter gehörten.<br />
<strong>Die</strong> Vorhaben besonderer Geheimhaltung<br />
planten die Unterkunftsabteilungen<br />
2 in Leipzig bzw. 12 in Berlin.<br />
Sie erarbeiteten die Vorgaben, nach denen<br />
das Zentrale Entwicklungs- <strong>und</strong><br />
Konstruktionsbüro Berlin bzw. das<br />
Projektierungsbüro Süd Dresden die<br />
Feinplanungen <strong>und</strong> Bauzeichnungen<br />
erstellten. Vorhaben ohne Geheimhaltung<br />
planten die Projektierungsgruppen<br />
der Unterkunftsabteilung (UKA)<br />
in den Bezirken. <strong>Die</strong> Oberbauleitungen<br />
erstellten den Jahreseinsatzplan, den<br />
Plan der Militärökonomie <strong>und</strong> den für<br />
Rationalisierung. Mit »Bestenbewegung«<br />
<strong>und</strong> »sozialistischem Wettbewerb«<br />
sollten die Vorgaben überboten<br />
werden. Deren Nichterfüllung war indes<br />
kaum möglich, da alle Pläne so<br />
lange »präzisiert« wurden, bis sie dem<br />
tatsächlich Geleisteten entsprachen.<br />
<strong>Die</strong> Versorgung mit Baustoffen,<br />
»Engpassmaterialien« sowie Spezialdienstleistungen<br />
war durch die LVO<br />
gesichert. Bis in die frühen 1980er Jahre<br />
besaß die Landesverteidigung Priorität.<br />
Seit Mitte der 1980er Jahre konzentrierten<br />
man sich erneut auf den Wohnungsbau.<br />
Hinzu kamen nun devisenbringende<br />
Aufträge. Hauptaufgaben<br />
des IBR-2 waren die Errichtung von<br />
Schutzbauwerken in Berlin-Oberschöneweide<br />
<strong>und</strong> Bad Sulza/Thüringen,<br />
Wohn- <strong>und</strong> Gesellschaftsbauten in<br />
Strausberg <strong>und</strong> des Zentrallazaretts in<br />
Bad Saarow. Das IBR-12 baute das<br />
»Komplexlager« 23 in Blankenburg/<br />
Harz, in dem Waffen <strong>und</strong> Ausrüstung<br />
deponiert wurden, die Untertageanlage<br />
Regenstein, das Tagungszentrum<br />
Strausberg, ein Ferienheim in Schierke/<br />
Harz sowie Fla-Raketen-Stellungen bei<br />
Apolda. Letztere war die größte Baustelle<br />
der NVA vor dem Zusammenbruch<br />
der DDR.<br />
Auch außerhalb der Befehlsgewalt<br />
des Ministeriums für Nationale Verteidigung<br />
waren Armeeangehörige an<br />
Bauvorhaben beteiligt. <strong>Die</strong> Abteilung I<br />
Spezialbauwesen im Ministerium für<br />
Bauwesen führte ein Generalleutnant.<br />
Ihm unterstanden unmittelbar jeweils<br />
drei Regimenter <strong>und</strong> Baubetriebe. Das<br />
in Seelow stationierte Hochbauregiment<br />
7001 errichtete bis 1988 insgesamt<br />
ullstein bild Meßner<br />
16 400 Wohnungen für Armeeangehörige.<br />
Es war Auftragnehmer für den<br />
VEB GAN Schwedt, der die Bauten des<br />
Ministeriums für Staatssicherheit ausführte.<br />
Der VEB Spezialbau Potsdam<br />
zeichnete für die Baumaßnahmen der<br />
Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte<br />
in Deutschland (GSSD) verantwortlich.<br />
Auch in Seelow war das Straßen- <strong>und</strong><br />
Brückenbauregiment 7004 stationiert,<br />
dessen Hauptaufgabe die Vorfertigung<br />
<strong>und</strong> Montage von Stahlbetonbrücken<br />
für Kettenfahrzeuge auf den Marschstraßen<br />
der GSSD <strong>und</strong> NVA war. Im<br />
Kriegsfalle sollten hierauf die Truppen<br />
des Warschauer Vertrages Richtung<br />
Westen rollen.<br />
Das Straßenbauregiment 7002 Neuseddin<br />
war zur Gleisnetzstabilisierung<br />
bei der Deutschen Reichsbahn befohlen.<br />
Bröselnde Betonschwellen mussten<br />
ausgetauscht werden. Auch das Eisenbahnbauregiment<br />
2 Walddoehna verlegte<br />
Gleise. Eine Kompanie arbeitete<br />
ständig im Betonschwellenwerk Rethwisch.<br />
In Verantwortung der Abteilung<br />
Spezialbauwesen im Bauministerium<br />
sanierten die Truppenteile Polizeireviere,<br />
den Flugplatz Basepohl <strong>und</strong><br />
bauten ein Internat für die SED-Parteihochschule.<br />
Aufgr<strong>und</strong> des zunehmenden<br />
Bedarfs erfolgte 1988 die Aufstellung<br />
eines weiteren Straßenbauregimentes.<br />
Das Nachrichteninstandsetzungsregiment<br />
2 Oschatz unterstützte<br />
das Ministerium für Post- <strong>und</strong> Fernmeldewesen<br />
bei der Wartung <strong>und</strong> Instandsetzung<br />
militärischer Nachrichtenverbindungen,<br />
indem es Übertragungsstellen<br />
baute <strong>und</strong> Kabel verlegte.<br />
Insgesamt haben acht Regimenter<br />
<strong>und</strong> zehn personalstarke, selbstständige<br />
Bataillone im Interesse der bewaffneten<br />
Organe <strong>und</strong> zur Unterstützung<br />
der Volkswirtschaft Bauaufgaben<br />
erfüllt. Mit dem Fortschreiten des politischen<br />
<strong>und</strong> wirtschaftlichen Niedergangs<br />
der DDR wurden ab 1988 alle<br />
Soldaten des <strong>3.</strong> <strong>Die</strong>nsthalbjahres in der<br />
Volkswirtschaft eingesetzt. Wie so viele<br />
Entwicklungen in Staat <strong>und</strong> Gesellschaft<br />
nahmen die Unterstützungsleistungen<br />
inflationären Charakter an.<br />
1989 setzte die Staatsführung weitere<br />
10 000 Soldaten für die Realisierung<br />
wichtiger Volkswirtschaftsvorhaben<br />
ein. Der Zusammenbruch der DDR<br />
war damit jedoch nicht aufzuhalten.<br />
� Klaus Udo Beßer<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
21
Service<br />
4 Einzug der Befreier in Wien am<br />
<strong>13</strong>. September 1683 nach dem Entsatz<br />
der belagerten Stadt in der Schlacht am<br />
Kahlenberg, 1<strong>2.</strong> September. Holzstich,<br />
um 1860, nach einer Zeichnung von Wilhelm<br />
Camphausen, spätere Kolorierung.<br />
Bereits 1529 belagerten Truppen<br />
des Osmanischen Reiches die<br />
kaiserlich-erzherzogliche Haupt-<br />
<strong>und</strong> Residenzstadt Wien. <strong>Die</strong> Belagerung<br />
scheiterte am entschlossenen Widerstand,<br />
an zu geringer Belagerungsartillerie<br />
<strong>und</strong> an schlechten Witterungsbedingungen.<br />
<strong>Die</strong> Osmanen zogen ab,<br />
beherrschten ab 1541 allerdings große<br />
Teile des benachbarten Ungarn. 1664<br />
misslang ein erneuter Versuch, Wien<br />
zu erobern, bereits beim Anmarsch auf<br />
die Stadt. Bei St. Gotthard/Raab (heute<br />
Szentgotthárd in Ungarn) konnte einem<br />
osmanischen Truppenteil eine vernichtende<br />
Niederlage beigebracht werden.<br />
Daraufhin wurde zwischen dem Osmanischen<br />
Reich <strong>und</strong> dem Habsburgerreich<br />
ein zwanzigjähriger Friede geschlossen.<br />
Noch vor Ablauf der Friedensfrist begann<br />
das Osmanische Heer unter dem<br />
Großwesir Kara Mustafa im Frühjahr<br />
1683 erneut einen Feldzug gegen den<br />
»Goldenen Apfel« Wien, wie die Türken<br />
die Stadt unter anderem nannten. <strong>Die</strong><br />
120 000 Mann starke Truppe – manche<br />
sprechen gar von bis zu 350 000 Mann,<br />
die schließlich vor Wien standen –<br />
setzte sich am 31. März 1683 in Adrianopel<br />
(heute Edirne, Bulgarien) in Bewegung.<br />
Nach etlichen Gefechten erreichte<br />
sie in der zweiten Juliwoche die<br />
Umgebung von Wien. Ab dem 15. Juli<br />
1683 belagerten die Truppen die modern<br />
befestigte Stadt, was mit einer<br />
Verheerung des Umlandes einherging.<br />
Hinter den Stadtmauern <strong>und</strong> Bastionen<br />
standen r<strong>und</strong> 10 000 Verteidiger<br />
unter Waffen, die von Ernst Rüdiger<br />
Graf Starhemberg kommandiert wurden,<br />
unterstützt von etwa 5000 Wiener<br />
Bürgern.<br />
Schon bald neigten sich die Lebensmittelvorräte<br />
dem Ende zu. Seuchen<br />
brachen aus, welche die Verluste bei<br />
den Verteidigern der Stadt <strong>und</strong> der Bevölkerung<br />
noch zusätzlich in die Höhe<br />
schnellen ließen. Hungersnöte plagten<br />
auch die Belagerer, denn 120 000 Soldaten,<br />
ihre Pferde <strong>und</strong> der dazugehö-<br />
Das historische Stichwort<br />
22 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Der Entsatz von<br />
Wien im<br />
September 1683<br />
rende Tross wollten versorgt werden.<br />
<strong>Die</strong> Belagerten kämpften mit zunehmender<br />
Verbissenheit <strong>und</strong> dem Mut<br />
der Verzweifelung. Nach damaligem<br />
Kriegsbrauch erhielten einfache Soldaten<br />
<strong>und</strong> Hilfstruppen geringen Sold.<br />
Ihre Entlohnung war die Beute: Eine<br />
eroberte Stadt war drei Tage lang zur<br />
Plünderung freigegeben.<br />
Das osmanische Vorgehen unterschied<br />
sich allerdings von den üblichen<br />
Belagerungen. <strong>Die</strong> Truppen Kara<br />
Mustafas verfügten über zu wenig<br />
schwere (Belagerungs-)Artillerie. Somit<br />
konnten die Befestigungen weder<br />
im Sturm genommen noch sturmreif<br />
geschossen werden. Also verlegten die<br />
Truppen sich auf die langsameren Belagerungstaktiken<br />
des Sappeurkrieges<br />
(= Grabenkrieg) <strong>und</strong> des Mineur-<br />
krieges. Beim sogenannten Minenkampf<br />
wurden unterirdische Stollen<br />
an die Bastionen Wiens getrieben, mit<br />
Schießpulver gefüllt <strong>und</strong> gezündet,<br />
was Teile der Befestigungen zum Einsturz<br />
bringen sollte. <strong>Die</strong> Gegentaktik<br />
bestand darin, selbst Tunnel zu bauen<br />
<strong>und</strong> den Angreifer zu überwältigen.<br />
Ein nicht geringer Teil der Belagerung<br />
spielte sich also unterirdisch ab. <strong>Die</strong><br />
Lage in Wien Anfang September war<br />
verzweifelt, die Stadt stand kurz vor<br />
dem Fall.<br />
<strong>Die</strong> osmanischen Belagerer hatten jedoch<br />
die nahe an Wien heranreichende<br />
Erhebung des Kahlenberges – einen<br />
Ausläufer des Wienerwaldes – weder<br />
besetzt noch aufgeklärt. Außerdem<br />
hatten sie es versäumt, sich in ihrem<br />
Rücken durch eine zweite Befesti-<br />
akg-images
gungslinie zu sichern. Dadurch erhielt<br />
die eilig zusammengestellte Armee<br />
zum Entsatz der belagerten Stadt ihre<br />
Chance. Allerdings hatte es dazu<br />
großen diplomatischen Geschicks bedurft.<br />
Das »christliche Abendland« war<br />
auf dem Kontinent Europa zwar als<br />
Idee vorhanden, tatsächlich rangen<br />
aber unterschiedliche Mächte um die<br />
Vorherrschaft. Ein Dauerkonflikt bestand<br />
zwischen dem Heiligen Römischen<br />
Reich Deutscher Nation <strong>und</strong><br />
Frankreich, doch König Ludwig XIV.<br />
von Frankreich unternahm nun zumindest<br />
keine militärischen Aktivitäten gegen<br />
das Reich. Somit herrschte Ruhe an<br />
dessen Westgrenze.<br />
Für die Aufstellung der Entsatzarmee<br />
mussten vorhandene Pflichten zur<br />
Heerfolge genutzt <strong>und</strong> zahlreiche Drohungen<br />
ausgesprochen werden, Geld<br />
musste fließen <strong>und</strong> Zugeständnisse<br />
wurden gemacht, um die Allianz zur<br />
Rettung Wiens zu schmieden <strong>und</strong> sich<br />
von mehr oder weniger souveränen<br />
Staaten Truppen stellen zu lassen. An<br />
den Verhandlungen waren neben dem<br />
Kaiser, diversen Reichsständen, darunter<br />
Bayern, Sachsen <strong>und</strong> der Südwesten<br />
des Reiches, auch Papst Innozenz<br />
IX., König Jan III. Sobieski von Polen<br />
<strong>und</strong> die Republik Venedig beteiligt.<br />
Den Oberbefehl über die so geschaffene<br />
Entsatzarmee hatte der polnische<br />
König inne, die kaiserlichen Truppen<br />
6 Kara Mustafa (um 1630–1683), türkischer<br />
Großwesir seit 1676. Öl auf Leinwand,<br />
anonym.<br />
akg-images<br />
wurden von Herzog Karl V. von Lothringen<br />
kommandiert. <strong>Die</strong> Truppe bestand<br />
aus ca. 80 000 Mann, darunter<br />
24 000 polnische, 21 000 kaiserliche,<br />
10 500 bayerische, 9500 südwestdeutsche<br />
(Franken, Schwaben, Baden, Hessen)<br />
<strong>und</strong> 9000 sächsische Soldaten. Sie<br />
rückte in zwei Kolonnen vor, die sich<br />
am 7. September bei Tulln an der Donau<br />
vereinigten <strong>und</strong> dann durch den<br />
Wienerwald auf den Kahlenberg vorstießen.<br />
Am 1<strong>2.</strong> September eröffnete die polnische<br />
Kavallerie, die »Husaria«, mit<br />
ihrer Attacke von den Höhen des Kahlenberges<br />
die Schlacht <strong>und</strong> die gesamte<br />
Armee kämpfte sich gegen die überraschten<br />
Osmanen vor. Der rechte Flügel,<br />
bestehend aus polnischen Truppen,<br />
hatte den weitesten Anmarschweg;<br />
er befand sich im Kampf mit der<br />
osmanischen Hauptmacht. <strong>Die</strong> wirkungsvolle<br />
Unterstützung durch das<br />
Zentrum unter Max II. Emanuel von<br />
Bayern <strong>und</strong> Graf Christian Friedrich<br />
von Waldeck führte schließlich zum<br />
Durchbruch in das Lager der Osmanen.<br />
Der linke Flügel unter Karl von<br />
Lothringen <strong>und</strong> Johann Georg III. von<br />
Sachsen kämpfte sich zeitgleich zum<br />
Wiener Becken vor. Durch diese starken<br />
Angriffe sowie durch einen Ausfall der<br />
Wiener Verteidiger sahen sich die Osmanen<br />
in die Zange genommen, worauf<br />
die Führung unentschlossen reagierte.<br />
<strong>Die</strong> Osmanen flohen, auf dem<br />
Platz blieben 15 000 tote <strong>und</strong> verw<strong>und</strong>ete<br />
Osmanen, die Entsatzarmee zählte<br />
4000 bis 5000 Verluste. Eine festliche<br />
Siegesparade beendete am 18. September<br />
den Einsatz der Armee <strong>und</strong> in<br />
Teilen auch ihre Existenz, da die nur<br />
wegen der osmanischen Bedrohung<br />
ruhenden Gegensätze wieder aufbrachen.<br />
Den osmanischen Oberbefehlshaber<br />
Kara Mustafa erwartete die<br />
Todesstrafe. Am 25. Dezember 1683<br />
wurde er in Belgrad auf Befehl des Sultans<br />
hingerichtet.<br />
Anders als nach der ersten Belagerung<br />
Wiens 1529 erfolgte diesmal eine<br />
Offensive gegen das Osmanische Reich.<br />
In den folgenden Jahren setzten kaiserliche,<br />
bayerische, sächsische, polnische<br />
<strong>und</strong> badische Verbände den Türken<br />
nach, eroberten in blutigen Kämpfen<br />
Ungarn, rückten auf Belgrad <strong>und</strong> Sarajewo<br />
vor. Venezianische Verbände bekämpften<br />
die Türken in Griechenland.<br />
Der Friede von Karlowitz 1699 been-<br />
dete diesen Krieg, der Konflikt mit<br />
dem Osmanischen Reich schwelte jedoch<br />
weiter. Österreich schuf sich durch<br />
diese Siege einen Großmachtstatus, beherrschte<br />
fortan Ungarn <strong>und</strong> sicherte<br />
seine gemeinsame Grenze mit dem<br />
Osmanischen Reich durch die Einrichtung<br />
einer besonderen »Militärgrenze«.<br />
Es hat nicht an zeitgenössischen Versuchen<br />
gefehlt, diesen Konflikt als einen<br />
Kampf der Religionen zu deuten: Der<br />
Türke sei der Antichrist, sein Heiliges<br />
Buch, der Koran, ein Lügengespinst. Er<br />
weigere sich, die überkommenen Regeln<br />
des Krieges anzuerkennen. Es waren<br />
nicht zuletzt die weltlichen <strong>und</strong><br />
geistlichen Führer des Abendlandes,<br />
welche die »Türkenangst« schürten.<br />
Allerorten fürchtete man die Grausamkeit,<br />
insbesondere gegen Frauen, Kinder<br />
<strong>und</strong> Alte, des plündernden, raubenden<br />
<strong>und</strong> mordenden Feindes. <strong>Die</strong><br />
Bilder vom »Türken«, die so gezeichnet<br />
wurden, dienten nicht zuletzt dazu,<br />
die Stellung der Obrigkeiten zu festigen.<br />
Darüber hinaus sollten die Menschen<br />
für den Kampf gegen die Türken<br />
mobilisiert werden. Und der zeitgenössische<br />
Prediger Abraham a Sancta Clara<br />
sprach von »der Anfrischung der christlichen<br />
Waffen wider den Tuerckischen<br />
Bluetengel«.<br />
Aus den erbeuteten osmanischen Bronzekanonen<br />
wurde eine neue Glocke für<br />
den Stephansdom gegossen. <strong>Die</strong> katholische<br />
Kirche schuf im Gedenken an<br />
den Sieg am 1<strong>2.</strong> September den Feiertag<br />
»Mariä Namen«. Im oberösterreichischen<br />
Stift St. Florian ist der Kampf<br />
gegen die Osmanen in zahllosen Bildern<br />
<strong>und</strong> Skulpturen präsent. <strong>Die</strong> an<br />
den Kämpfen beteiligten Truppenführer<br />
verewigten sich <strong>und</strong> ihre Siege in<br />
weltlichen Bauten: Prinz Eugen von Savoyen<br />
(»der edle Ritter«) im Wiener<br />
Belvedere, Kurfürst Max II. Emanuel<br />
von Bayern (»der blaue König«) in<br />
Schleißheim <strong>und</strong> Markgraf Ludwig<br />
Wilhelm von Baden (»Türkenlouis«) in<br />
Rastatt. Auf den Konflikt sind aber<br />
auch kulturelle Importe aus dem Orient<br />
zurückzuführen. So fanden der<br />
Schellenbaum der osmanischen Musikgruppen,<br />
auf dessen Herkunft vor<br />
allem der englischsprachige Begriff<br />
»Turkish crescent« hinweist, <strong>und</strong> die<br />
ihn zierenden Rosshaarschweife Eingang<br />
in die deutsche Militärmusik.<br />
� Harald Potempa<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
23
Service<br />
Freiheit <strong>und</strong> Unfreiheit<br />
Markus Bultmann, Erfahrung von Freiheit <strong>und</strong> Unfreiheit<br />
in der deutschen Geschichte. Rastatt <strong>und</strong> Offenburg:<br />
Erinnerungsorte der Revolution 1848/49. Darstellung –<br />
Dokumentation – Vermittlung, Koblenz 2007 (= Materialien<br />
aus dem B<strong>und</strong>esarchiv, Heft 19). ISBN 9783<br />
865097682; 312 S., <strong>und</strong> eine CD, 15,50 Euro<br />
<strong>Die</strong> Soldatinnen <strong>und</strong> Soldaten der B<strong>und</strong>eswehr<br />
bekennen sich durch ihr feierliches<br />
Gelöbnis bzw. ihren Eid, »der<br />
B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland treu zu<br />
dienen <strong>und</strong> das Recht <strong>und</strong> die Freiheit<br />
des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen«.<br />
Als »Staatsbürgerinnen <strong>und</strong><br />
Staatsbürger in Uniform« sind sie den<br />
Werten <strong>und</strong> Normen des Gr<strong>und</strong>gesetzes<br />
in besonderer Weise verpflichtet.<br />
<strong>Die</strong> politische Bildung in den Streitkräften<br />
soll daher auch verdeutlichen,<br />
dass die freiheitlich demokratische<br />
Gr<strong>und</strong>ordnung schützens- <strong>und</strong> verteidigenswert<br />
ist. Für diese Gr<strong>und</strong>werte<br />
wurde lange gestritten, sie sind verletzlich.<br />
Es bedurfte Mut, sich für sie<br />
einzusetzen <strong>und</strong> es bedarf nach wie<br />
vor des Mutes, sie zu verteidigen. <strong>Die</strong>s<br />
vermittelt die Publikation »Erfahrung<br />
von Freiheit <strong>und</strong> Unfreiheit in der<br />
deutschen Geschichte«. Der Autor,<br />
Markus Bultmann, ist Gymnasiallehrer<br />
in Offenburg <strong>und</strong> entwarf in den Jahren<br />
2003 bis 2005 ein museumspädagogisches<br />
Konzept für die »Erinnerungsstätte<br />
für die Freiheitsbewegungen in<br />
Medien online/digital<br />
24 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
der deutschen Geschichte« in Rastatt.<br />
Dementsprechend versteht sich die<br />
nun vorliegende Studie als eine Handreichung<br />
für die historisch-politische<br />
Bildung.<br />
Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf<br />
der Revolution von 1848/49. Aus erfahrungsgeschichtlicher<br />
Perspektive werden<br />
die historischen Wurzeln unserer<br />
heutigen Demokratie erschlossen. <strong>Die</strong><br />
Darstellung beschränkt sich dabei nicht<br />
nur, wie man aufgr<strong>und</strong> des Untertitels<br />
glauben könnte, auf regionalgeschichtliche<br />
Ereignisse, sondern umfasst die<br />
gesamtdeutsche Entwicklung ebenso<br />
wie die europäische Dimension. Das<br />
Militär spielt bei der Erfahrung von<br />
Freiheit <strong>und</strong> Unfreiheit eine zentrale<br />
Rolle: Es fungierte damals als Instrument<br />
der obrigkeitsstaatlichen Unterdrückung.<br />
Zugleich konnte es sich dem<br />
revolutionären Gedankengut nicht völlig<br />
entziehen, wie Bultmann eindrucksvoll<br />
am Leitbild des »Bürgersoldaten«<br />
erörtert.<br />
Neben dem darstellenden Teil <strong>und</strong><br />
der Vorstellung der Städte Rastatt <strong>und</strong><br />
Offenburg als historische Lernorte bietet<br />
die Publikation zusätzlich auf einer<br />
beigefügten CD zahlreiche Vermittlungshilfen<br />
<strong>und</strong> umfangreiches Quellenmaterial<br />
– alles im PDF-Format. Das<br />
digitale Begleitmedium beinhaltet eine<br />
192 Seiten umfassende kommentierte<br />
Quellensammlung, darunter allein 20<br />
Quellen zum Thema »Der Kampf um<br />
die Streitkräfte«, eine Auswahl an digitalisierten<br />
Handschriften, Arbeitsmaterialien<br />
für den Besuch der Erinnerungsstätte,<br />
praktische Vermittlungshilfen<br />
für die Bildungsarbeit <strong>und</strong> Längsschnitte<br />
zur deutschen Demokratiegeschichte.<br />
Buch <strong>und</strong> CD geben dem Nutzer<br />
sowohl theoretische Gr<strong>und</strong>lagen<br />
als auch eine Vielzahl von praktischen<br />
Hilfestellungen zur Thematik.<br />
DDR<br />
mn<br />
www.nationaler-verteidigungsrat.de<br />
Das Militärgeschichtliche Forschungsamt<br />
(MGFA) hat in Zusammenarbeit<br />
mit dem B<strong>und</strong>esarchiv <strong>und</strong> dem Institut<br />
für Zeitgeschichte, München–Berlin,<br />
eine Website mit den digitalisierten<br />
Akten der Protokolle des Nationalen<br />
Verteidigungsrates der DDR von 1960<br />
bis 1989 erstellt. Das Gemeinschaftsprojekt<br />
wurde von der »B<strong>und</strong>esstiftung<br />
zur Aufarbeitung der SED-Diktatur«<br />
gefördert.<br />
<strong>Die</strong> bis Anfang 1990 streng geheimen<br />
Akten des Nationalen Verteidigungsrates<br />
der DDR sind ein Schlüsselinstrument<br />
für die Erforschung der Sicherheits-<br />
<strong>und</strong> Militärpolitik der SED, aber<br />
auch des Warschauer Paktes insgesamt<br />
sowie der UdSSR. An der Spitze dieses<br />
geheim tagenden Gremiums standen<br />
die Spitzenfunktionäre der SED: Walter<br />
Ulbricht bis 1971, dann Erich Honecker<br />
<strong>und</strong> schließlich in der Endphase<br />
1989 Egon Krenz. <strong>Die</strong> Protokolle der<br />
Sitzungen dokumentieren neben den<br />
eigentlichen militärischen Sicherheits-<br />
<strong>und</strong> Verteidigungsanstrengungen des<br />
SED-Regimes die umfassende Militari
digital<br />
hochrangigen Plenum präsentiert. Fer-<br />
sierung von Staat <strong>und</strong> Gesellschaft in<br />
der DDR <strong>und</strong> erlauben auch einen<br />
Blick auf die NATO von außen. So wurden<br />
regelmäßig Auswertungen von<br />
Manövern <strong>und</strong> Übungen vor dem<br />
ner spiegeln die Dokumente des NVR<br />
den Aufbau des Warschauer Paktes als<br />
Instrument zur Wahrung der sowjetischen<br />
Hegemonial- <strong>und</strong> Sicherheitsinteressen<br />
in Osteuropa wider. Sie<br />
erlauben somit tiefe Einblicke in entscheidende<br />
Dimensionen des ostdeutschen<br />
sowie sowjetischen Herrschaftssystems.<br />
Deshalb waren die Projektpartner<br />
der Ansicht, dass die Akten des<br />
Nationalen Verteidigungsrates der<br />
DDR Wissenschaftlern in aller Welt sowie<br />
einer breiteren, interessierten Fachöffentlichkeit<br />
ohne Beschränkungen<br />
zugänglich gemacht werden sollten.<br />
Eine Veröffentlichung der mehr als<br />
20 000 Blatt umfassenden Sitzungsprotokolle<br />
des NVR von 1960 bis 1989<br />
nebst Anlagen konnte daher nur im<br />
Publikationsmedium Internet erfolgen.<br />
So wird erreicht, dass gerade Wissenschaftlerinnen<br />
<strong>und</strong> Wissenschaftler in<br />
Osteuropa, deren einzige Quelle aus<br />
Mangel an Finanzen zumeist das Internet<br />
ist, einen unbeschränkten <strong>und</strong> vergleichsweise<br />
kostengünstigen Zugang<br />
zu historisch bedeutenden Aktenbeständen<br />
erhalten, die auch für die Aufarbeitung<br />
der Nachkriegsgeschichte<br />
ihrer eigenen Staaten von erheblicher<br />
Bedeutung sein können <strong>und</strong> es zugleich<br />
ermöglichen, Besonderheiten<br />
der von Westeuropa nach 1945 teilweise<br />
abgekoppelten gesellschaftlichen<br />
<strong>und</strong> politischen Entwicklung Osteuropas<br />
besser zu verstehen. Ein weiterer<br />
Nutzen soll darin bestehen, ein Zeichen<br />
in Richtung dieser ehemaligen<br />
Ostblockstaaten zu setzen, ebenfalls<br />
ihre Akten für die Wissenschaft weiter<br />
zu öffnen. Hierzu wurde auf der Internetplattform<br />
des Projektes ein Bereich<br />
für die ehemaligen Staaten des Warschauer<br />
Vertrages – Albanien, Bulgarien,<br />
Polen, Rumänien, Tschechoslowakei,<br />
Sowjetunion <strong>und</strong> Ungarn – geschaffen,<br />
der Forschern aus diesen Ländern<br />
die Möglichkeit eröffnet, über die<br />
Verteidigungsräte ihrer Länder <strong>und</strong><br />
den Verbleib der dazugehörigen Akten<br />
zu informieren.<br />
Heiner Bröckermann<br />
Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände<br />
Mit Nürnberg werden beim Blick auf<br />
die NS-Zeit vier Dinge eng verb<strong>und</strong>en:<br />
die Reichsparteitage der NSDAP, die<br />
»Nürnberger Gesetze« des Jahres 1935,<br />
der Verlagsort der NS-Hetzschrift »Der<br />
Stürmer« sowie die Nürnberger Prozesse<br />
1945/46.<br />
Das »Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände«<br />
stellt alle vier der<br />
Öffentlichkeit vor, unter anderem auch<br />
auf der Internetseite www.museen.<br />
nuernberg.de/dokuzentrum. <strong>Die</strong><br />
Homepage präsentiert neben aktuellen<br />
Veranstaltungshinweisen die Themenbereiche<br />
»<strong>Die</strong> Stadt der Reichsparteitage«,<br />
»Das Reichsparteitagsgelände«<br />
<strong>und</strong> die Dauerausstellung »Faszination<br />
<strong>und</strong> Gewalt«. So wird einerseits<br />
deutlich, wieso die NS-Bewegung gerade<br />
die alte Kaiserstadt Nürnberg zur<br />
Stadt ihrer »Reichsparteitage« wählte.<br />
<strong>Die</strong> Verbindung zwischen Mittelalter-<br />
Mythos, Gedenken an die Gefallenen<br />
des Ersten <strong>Weltkrieg</strong>es, das den »Frontkämpfer-Mythos«<br />
einschloss, <strong>und</strong> NS-<br />
Bewegung wird herausgestellt. Ein<br />
Lageplan, zahlreiche Fotos <strong>und</strong> Texte<br />
informieren über die Größe des Reichsparteitagsgeländes,<br />
über die verschiedenen<br />
Bauten <strong>und</strong> Einrichtungen.<br />
<strong>Die</strong> Dauerausstellung »Faszination<br />
<strong>und</strong> Gewalt« wird in Gr<strong>und</strong>riss <strong>und</strong><br />
Detail vorgestellt. Der Bogen spannt<br />
sich hier von dem Aufstieg der NSDAP<br />
über »Führer-Mythos«, »Volksgemeinschaft«<br />
<strong>und</strong> »Rassismus/Antisemitismus«<br />
bis hin zur Nutzung des Geländes<br />
nach 1945.<br />
<strong>Die</strong> Homepage gewährt einen Einblick<br />
in den Aufbau einer Ausstellung<br />
am historischen Ort. <strong>Die</strong> auf der Seite<br />
angesprochenen Filmpräsentationen,<br />
Bilder, Zeitzeugeninterviews <strong>und</strong> elektronischen<br />
Schaustationen zeigen die<br />
Möglichkeiten heutiger historisch-politischer<br />
Bildung.<br />
hp<br />
www.museen.nuernberg.de/dokuzentrum<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
2
Service<br />
Lesetipp<br />
Eisernes Kreuz<br />
Welt-online titelte »Ein Orden, in<br />
dem deutsche Geschichte steckt«,<br />
am 6. März 2008 über das Eiserne<br />
Kreuz. 18<strong>13</strong> wurde es vom preußischen<br />
König Friedrich Wilhelm III. als Tapferkeitsauszeichnung<br />
in den Befreiungskriegen<br />
gegen Napoleon gestiftet.<br />
Zu Beginn der Kriege 1870, 1914 <strong>und</strong><br />
1939 wurde die Stiftung von König,<br />
Kaiser <strong>und</strong> »Führer« jeweils erneuert.<br />
Seit 1956 ist das Eiserne Kreuz Hoheitszeichen<br />
der B<strong>und</strong>eswehr. In modernerer<br />
Erscheinungsform ist es seit einigen<br />
Jahren auch als Symbol <strong>und</strong> quasi<br />
Markenzeichen der deutschen Streitkräfte<br />
erkannt, respektiert <strong>und</strong> geachtet<br />
im In- <strong>und</strong> Ausland.<br />
<strong>Die</strong> Symbolgeschichte des Eisernen<br />
Kreuzes war nicht frei von Brüchen,<br />
Widersprüchen <strong>und</strong> Missbrauch. Einen<br />
Teil dieser Historie untersucht Ralph<br />
Winkle in seinem Buch. Er beschränkt<br />
sich auf den Zeitraum 1914 bis 1936. Im<br />
Mittelpunkt der Untersuchung steht<br />
der Begriff der »sozialen Ehre«. Winkle<br />
zeigt die Ordenspolitik <strong>und</strong> die Rituale<br />
der Verleihung des Eisernen Kreuzes<br />
im Ersten <strong>Weltkrieg</strong> als Funktionselement<br />
symbolischer Ordnung im Heer.<br />
Orden <strong>und</strong> Ehrenzeichen waren »billige<br />
Zahlungsmittel« <strong>und</strong> zugleich »moralisches<br />
Kapital«. In der Nachkriegsoder<br />
vielmehr Zwischenkriegszeit forderten<br />
Kriegsinvaliden, Veteranen oder<br />
deren Hinterbliebene den »Dank des<br />
Vaterlands« ein. »Der tote Held <strong>und</strong><br />
der bettelnde Kriegskrüppel« symbolisierten<br />
die Verweigerung sozialer Anerkennung.<br />
Nach 1933 folgten »Glorifizierung«<br />
<strong>und</strong> »Wiederaufwertung«<br />
des Eisernen Kreuzes <strong>und</strong> damit der<br />
»soldatischen Ehre«, so Winkle. »Das<br />
soziale Drama der Ehrung <strong>und</strong> der Entehrung,<br />
der Verleihung, der Verweigerung<br />
[...] von Orden« ist für den Autor<br />
Ralph Winkle, Der<br />
Dank des Vaterlandes.<br />
Eine<br />
Symbolgeschichte<br />
des Eisernen<br />
Kreuzes 1914 bis<br />
1936, Essen 2007.<br />
ISBN 978389861<br />
6102; 400 S.,<br />
35,00 Euro<br />
26 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Ausdruck eines Konflikts innerhalb<br />
des deutschen Heeres, der sich nach<br />
1918 in der zivilen Gesellschaft fortsetzte.<br />
Wer mehr über die Geschichte<br />
des Eisernen Kreuzes erfahren will,<br />
dem sei Winkles Buch empfohlen.<br />
ks<br />
Reichstagsbrand<br />
Sven Felix Kellerhoff,<br />
Der Reichstagsbrand.<br />
<strong>Die</strong> Karriere<br />
eines Kriminalfalls,<br />
Berlin 2008. ISBN 978<br />
3898090780; 160 S.,<br />
14,90 Euro<br />
Der Brand des Reichstagsgebäudes<br />
im Februar 1933 erhitzt noch immer<br />
die Gemüter. War es Marinus van<br />
der Lubbe, der junge Niederländer?<br />
Hatte er kommunistische Hintermänner,<br />
wie die Nationalsozialisten sofort<br />
lautstark behaupteten? Oder waren es<br />
die Nationalsozialisten selber, um sich<br />
einen Vorwand für die Verfolgung der<br />
Opposition zu schaffen?<br />
<strong>Die</strong> These von der »kommunistischen<br />
Verschwörung« wurde schon<br />
1933 in einem spektakulären Prozess<br />
vor dem Reichsgericht in Leipzig ad<br />
absurdum geführt. Der Reichstagspräsident<br />
<strong>und</strong> preußische Ministerpräsident<br />
Hermann Göring, als Zeuge wohl<br />
eher Ankläger, fand sich verbal selbst<br />
in der Rolle des Angeklagten wieder.<br />
Das NS-Regime erlitt eine herbe Niederlage:<br />
die kommunistischen Parteifunktionäre<br />
wurden freigesprochen.<br />
Bis heute diskutieren Historiker <strong>und</strong><br />
Publizisten das pro <strong>und</strong> contra der<br />
Thesen einer Verstrickung der NS-Führung<br />
oder des Einzeltäters van der<br />
Lubbe.<br />
Zum 75. Jahrestag des Brandes legt<br />
Sven Felix Kellerhoff ein wichtiges<br />
Buch zum Thema vor: »<strong>Die</strong> Karriere<br />
eines Kriminalfalls«. Kellerhoff gibt<br />
zunächst das Geschehen in der Nacht<br />
vom 27. auf den 28. Februar 1933 minutiös<br />
<strong>und</strong> detailliert wieder. Dabei stützt<br />
er sich auf die protokollierten Aussagen<br />
der Kriminalbeamten. Der größere<br />
Teil des Buches befasst sich mit den<br />
weitreichenden Folgen des Brandes:<br />
Hetze gegen <strong>und</strong> Jagd auf Kommunisten,<br />
»Schutzhaft«, die Reichstagswahlen<br />
im Schatten der Verfolgungen<br />
<strong>und</strong> der Hysterie gegen alle Oppositionellen,<br />
schließlich in Konsequenz dessen<br />
das Ermächtigungsgesetz vom<br />
März 193<strong>3.</strong><br />
Kellerhoff schreibt leicht verständlich<br />
<strong>und</strong> anschaulich. Er zitiert auch<br />
aus dem Prozessprotokoll, wie der Angeklagte<br />
Georgi Dimitroff den Zeugen<br />
Göring vorführte: »Gegen die kommunistische<br />
Partei in Deutschland einen<br />
Kampf zu führen, ist Ihr Recht. Mein<br />
Recht ist [...] Ihre Regierung zu bekämpfen<br />
[...].« Göring antwortete: »Sie<br />
sind in meinen Augen ein Gauner, der<br />
längst an den Galgen gehört!« Dimitroff:<br />
»Haben Sie Angst [...], Herr<br />
Ministerpräsident?« Der Richter entzog<br />
Dimitroff das Wort. Vor den Augen<br />
der Öffentlichkeit aber war Göring<br />
bloßgestellt.<br />
ks<br />
Der Kaukasus<br />
Marie-Carin von<br />
Gumppenberg <strong>und</strong><br />
Udo Steinbach (Hg.),<br />
Der Kaukasus.<br />
Geschichte – Kultur –<br />
Politik, München<br />
2008. ISBN 9783<br />
406568008; 240 S.,<br />
12,95 Euro<br />
Der EU-Beitritt Rumäniens <strong>und</strong> Bulgariens<br />
im Jahr 2007 rückte den<br />
Kaukasus in unmittelbare Nachbarschaft<br />
zu Europa. Dennoch ist die Region<br />
nach wie vor für viele Europäer<br />
»Terra incognita«. <strong>Die</strong> drei südkaukasischen<br />
Staaten Georgien, Armenien<br />
<strong>und</strong> Aserbaidschan waren Teil der Sowjetunion<br />
<strong>und</strong> wurden Anfang der<br />
1990er Jahre unabhängig. Innerhalb<br />
Georgiens versuchen seitdem die Provinzen<br />
Abchasien <strong>und</strong> Südossetien die<br />
Unabhängigkeit zu erlangen. <strong>Die</strong> daraus<br />
resultierenden Konflikte <strong>und</strong> die<br />
langjährige Auseinandersetzung zwischen<br />
Armeniern <strong>und</strong> Aserbaidschanern<br />
um »Berg Karabach« beschäftigen<br />
die Weltöffentlichkeit. Im Gegensatz<br />
zu den »eingefrorenen« Konflikten im
Südkaukasus dauern die bewaffneten<br />
Auseinandersetzungen in den zur Russischen<br />
Föderation gehörenden nordkaukasischen<br />
Teilrepubliken weiter an.<br />
Zwar wurde der Tschetschenienkonflikt<br />
offiziell längst beigelegt. Anschläge<br />
<strong>und</strong> Gefechte stehen aber bis<br />
heute auf der Tagesordnung. Allerdings<br />
haben sie an Zahl <strong>und</strong> Intensität<br />
in Tschetschenien abgenommen bzw.<br />
sich in die Nachbarrepubliken verlagert.<br />
16 namhafte Wissenschaftler zeigen<br />
in dem über 250 Seiten umfassenden<br />
Buch zunächst kenntnisreich die politische<br />
Situation auf. Mit der Türkei <strong>und</strong><br />
dem Iran werden dabei auch zwei an<br />
den Kaukasus grenzende Staaten in<br />
den Blick genommen. <strong>Die</strong> Perspektiven,<br />
die Rolle internationaler Organisationen<br />
sowie die wirtschaftliche Lage<br />
in der Region sind Gegenstand weiterer<br />
prof<strong>und</strong>er Beiträge.<br />
Darauf aufbauend werden die eingangs<br />
skizzierten vielschichtigen Konflikte<br />
analysiert <strong>und</strong> dem Leser gut<br />
verständlich vorgestellt. Im Mittelpunkt<br />
des Bandes stehen allerdings<br />
nicht nur die politischen Verhältnisse<br />
<strong>und</strong> die Konflikte. Informative Beiträge<br />
über ausgesuchte kulturelle Aspekte<br />
erzählen über die Ethnien, Sprachen,<br />
Religionen, Kunst, politischen Traditionen<br />
<strong>und</strong> Rechtskultur. Sie bringen<br />
dem Leser in gelungener Weise den<br />
kulturellen Reichtum der Region nahe.<br />
Mehrere Karten zu Geografie, Ethnien,<br />
Politik <strong>und</strong> Wirtschaft erleichtern dem<br />
Leser die Orientierung <strong>und</strong> r<strong>und</strong>en das<br />
Buch ab.<br />
mp<br />
Militärbiografie<br />
»<br />
Jedesmal, wenn ein Buch mit einer<br />
Erfahrung zusammenstößt, kommt<br />
es zu einer Interferenz, zu einer pro-<br />
Hans Magnus<br />
Enzensberger, Hammerstein<br />
oder der Eigensinn.<br />
Eine deutsche<br />
Geschichte, Frankfurt<br />
a.M. 2008. ISBN 9783<br />
518419601; 376 S.,<br />
64 Abb., 22,90 Euro<br />
duktiven Störung«, so der Schriftsteller<br />
Hans Magnus Enzensberger 1979 bei<br />
seiner Übersetzung von Molières »Der<br />
Menschenfeind«. Reich an produktiven<br />
Störungen ist sein Versuch, das<br />
Leben des Generalobersten Kurt von<br />
Hammerstein-Equord (1878-1943) für<br />
ein breites Publikum zu »übersetzen«.<br />
Hammerstein war ein erklärter Gegner<br />
der Nationalsozialisten, Russland-Spezialist<br />
<strong>und</strong> hatte Kontakt zum Widerstand.<br />
In der Endphase der Weimarer<br />
Republik war er Chef der Heeresleitung<br />
(1930-1934). Hitler hielt seine berühmt-berüchtigte<br />
erste Rede zur künftigen<br />
Militärpolitik vor den Spitzen der<br />
Reichswehr am <strong>3.</strong> Februar 1933 in<br />
Hammersteins <strong>Die</strong>nstwohnung im<br />
Bendlerblock. Zwei seiner Söhne waren<br />
am 20. Juli 1944 beteiligt, die Töchter<br />
sympathisierten offen bzw. verdeckt<br />
mit der KPD.<br />
Enzensberger schrieb ein Psycho-<br />
<strong>und</strong> Soziogramm einer deutschen<br />
Adelsfamilie, die Widerstand leistete.<br />
Es gewährt Einblicke in die persönlichen<br />
Verbindungen führender Militärs<br />
sowie in die Struktur der (1933 verbotenen)<br />
KPD sowie der KPdSU. Es<br />
macht zugleich die Problematik <strong>und</strong><br />
Vielschichtigkeit des Widerstandes gegen<br />
das NS-Regime fassbar.<br />
Elf fiktive Unterhaltungen mit Toten<br />
sowie sieben eingeschobene Glossen<br />
(etwa »<strong>Die</strong> Schrecken der Weimarer<br />
Republik«) bieten einen eigenwilligen<br />
Zugang zur deutschen Geschichte. Sie<br />
rütteln auf – <strong>und</strong> erreichen dadurch<br />
beim Leser mehr als so manche nüchterne<br />
Darstellung von Historikern. »Es<br />
bleibt ein ungesagter Rest, den keine<br />
Biographie auflösen kann; <strong>und</strong> vielleicht<br />
ist es dieser Rest, auf den es ankommt«,<br />
so Enzensberger am Ende seines<br />
ungewöhnlichen Buches (S. 343).<br />
hp<br />
Hitlers Helfer<br />
Wer in einer beliebigen deutschen<br />
Stadt Kriegerdenkmäler betrachtet<br />
oder sich in den populären Medien<br />
über Kriege der letzten 200 Jahre mit<br />
Beteiligung deutscher Truppen informiert,<br />
der kann einen falschen Eindruck<br />
bekommen. Er oder sie mag annehmen,<br />
dass diese Kriege die Unternehmungen<br />
von nur einem deutschen<br />
Staat oder dem Deutschen Reich gewesen<br />
seien. <strong>Die</strong>sem schiefen Bild eines<br />
»einfachen« nationalen Krieges wird<br />
dann gerne die heutige komplexe Gemengelage<br />
von Bündnissen, »Rules of<br />
Engagement« <strong>und</strong> Truppenstellerkonferenzen<br />
entgegengehalten.<br />
Rolf-<strong>Die</strong>ter Müller,<br />
An der Seite der<br />
Wehrmacht. Hitlers<br />
ausländische Helfer<br />
beim »Kreuzzug gegen<br />
den Bolschewismus«<br />
19411945, Berlin<br />
2007. ISBN 9783<br />
861534488; 275 S.,<br />
24,90 Euro<br />
Rolf-<strong>Die</strong>ter Müller ist es gelungen,<br />
dieses Bild mit Blick auf den Zweiten<br />
<strong>Weltkrieg</strong> an der Ostfront im Zeitraum<br />
1941 bis 1945 zu korrigieren. Was sich<br />
auf den ersten Blick als der »letzte<br />
deutsche Krieg« darstellt, entpuppt<br />
sich als Einsatz von Truppen aus 20 europäischen<br />
Völkern, die an der Seite<br />
der Wehrmacht – gezwungen oder freiwillig<br />
– gegen die Rote Armee im Einsatz<br />
waren. Das Buch ist nach Ländern<br />
gegliedert. <strong>Die</strong> Analyse der drei Gruppen<br />
– Verbündete, Freiwillige aus neutralen<br />
<strong>und</strong> besetzten Gebieten, osteuropäische<br />
Völker im Kampf gegen den<br />
Stalinismus – macht den Hauptteil des<br />
Buches aus.<br />
Der Autor kommt zu dem Ergebnis,<br />
dass die Zahl der Verbündeten 1941 an<br />
der Ostfront etwa eine Million Mann<br />
ausmachte, bei einer Wehrmachtsstärke<br />
von drei Millionen deutscher<br />
Soldaten. Während des Krieges sank<br />
die Stärke der Wehrmacht auf 2,5 Millionen<br />
Mann, die der Verbündeten erhöhte<br />
sich auf zwei Millionen. Ohne<br />
diese Verbündeten hätte sich die Wehrmacht<br />
nicht auf den Hauptstoß Richtung<br />
Moskau konzentrieren können,<br />
wäre die Sommeroffensive 1942 nicht<br />
möglich gewesen <strong>und</strong> hätte die Wehrmacht<br />
niemals so lange durchhalten<br />
können. Hinzu kam der Einsatz hinter<br />
der Front im Rahmen der »Partisanenbekämpfung«.<br />
Auch sie wäre ohne<br />
Deutschlands Verbündete nicht möglich<br />
gewesen.<br />
hp<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
2
� Alzey<br />
Service<br />
Als Not erfinderisch machte.<br />
»Notprodukte« aus der Zeit<br />
vor <strong>und</strong> nach dem Ende<br />
des Zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es.<br />
Museum der Stadt Alzey<br />
Antoniterstraße 41<br />
55232 Alzey<br />
Telefon: 0 67 31/49 88 96<br />
Telefax: 0 67 31/99 08 85<br />
www.museum-alzey.de<br />
museum@alzey.de<br />
18. Mai bis 6. Juli 2008<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 1<strong>2.</strong>00 <strong>und</strong><br />
14.00 bis 16.30 Uhr<br />
Montag geschlossen<br />
Eintritt frei<br />
� Artstetten<br />
Feldmarschallleutnant<br />
Freiherr Guido von Novak<br />
Arienti: »Ein Leben für<br />
Gott, Kaiser <strong>und</strong> Vaterland«.<br />
Ein Offizier <strong>und</strong><br />
seine Zeit<br />
Schloss Artstetten<br />
Erzherzog Franz Ferdinand<br />
Museum<br />
A-3661 Artstetten<br />
Telefon:<br />
+43 (0) 74 <strong>13</strong> / 80 06-0<br />
Telefax:<br />
+43 (0) 74 <strong>13</strong> / 80 06-15<br />
www.schloss-artstetten.at<br />
museum@schloss-artstetten.at<br />
1. April bis <strong>2.</strong> Nov. 2008<br />
täglich von 9.00 bis 17.30<br />
Uhr<br />
Eintritt: 7,00 €<br />
ermäßigt ab 4,00 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Pkw: A1 Ri chtung Linz/<br />
Salzburg Abfahrt »Pöchlarn«.<br />
Ausstellungen<br />
� Bad Bocklet<br />
Aufstand des Gewissens<br />
Wandelhalle im Kurpark<br />
97708 Bad Bocklet<br />
Telefon: 0 97 08 / 7 07 03-0<br />
Telefax: 0 97 08 / 7 07 03-9<br />
www.badbocklet.de<br />
info@badbocklet.de<br />
<strong>2.</strong> Juli bis 4. August 2008<br />
Öffnungszeiten:<br />
täglich 8.30 bis 2<strong>2.</strong>00 Uhr<br />
Eintritt frei<br />
� Berlin<br />
The Making of ... <strong>Die</strong><br />
Männer <strong>und</strong> Frauen der<br />
Berliner Luftbrücke 1948/49<br />
AlliiertenMuseum<br />
Clayallee <strong>13</strong>5<br />
14195 Berlin<br />
Telefon: 030 / 81 81 99-0<br />
Fax: 030 / 81 81 99-91<br />
www.alliiertenmuseum.de<br />
info@AlliiertenMuseum.de<br />
27. Juni 2008 bis<br />
20. September 2009<br />
Öffnungszeiten<br />
täglich außer Mittwoch<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt frei<br />
Verkehrsanbindung:<br />
S-Bahn: S 1 bis Station »Zehlendorf«,<br />
weiter mit Bus 115<br />
bis Haltestelle »Alliierten-<br />
Museum«; U-Bahn: U 3 bis<br />
Station »Oskar-Helene-<br />
Heim«; Bus: Linie 115 oder<br />
183 bis Haltestelle »Alliierten-<br />
Museum«.<br />
Welt im Umbruch.<br />
Fotojournalismus in den<br />
90er Jahren<br />
Deutsches Historisches<br />
Museum – Pei-Bau<br />
Hinter dem Gießhaus 3<br />
10117 Berlin<br />
Telefon: 0 30 / 20 30 40<br />
Telefax: 0 30 / 20 30 45 43<br />
www.dhm.de<br />
bresky@dhm.de (Führungen)<br />
14. März bis 15. Juni 2008<br />
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 4,00 €<br />
(unter 18 Jahren frei)<br />
28 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Verkehrsanbindung:<br />
S-Bahn: Stationen »Hackescher<br />
Markt« <strong>und</strong> »Friedrichstraße«;<br />
U-Bahn: Stationen<br />
»Französische Straße«,<br />
»Hausvogteiplatz« <strong>und</strong><br />
»Friedrichstraße«; Bus: Linien<br />
100, 157, 200 <strong>und</strong> 348 bis<br />
Haltstellen »Staatsoper«<br />
oder »Lustgarten«.<br />
Brennpunkt Berlin: <strong>Die</strong><br />
Blockade 1948/49. Der Fotojournalist<br />
Henry Ries<br />
Deutsches Historisches<br />
Museum – Pei-Bau<br />
(siehe oben)<br />
1<strong>2.</strong> Juni bis 21. Sept. 2008<br />
Jewgeni Chaldej – Der<br />
bedeutende Augenblick.<br />
Eine Retrospektive<br />
Martin-Gropius-Bau<br />
Niederkirchnerstraße 7<br />
10963 Berlin<br />
Telefon: 030 / 2 54 86-0<br />
Telefax: 030 / 2 54 86-1 07<br />
www.gropiusbau.de<br />
post@gropiusbau.de<br />
www.chaldej.de<br />
8. Mai bis 28. Juli 2008<br />
Mittwoch bis Montag<br />
10.00 bis 20.00 Uhr<br />
Eintritt: 5,00 €<br />
ermäßigt 3,00 €<br />
Verkehrsverbindung:<br />
U-Bahn: U 2 bis Station<br />
»Potsdamer Platz« ;<br />
S-Bahn: Linien 1, 2, 25 bis<br />
Stationen »Potsdamer Platz«<br />
oder »Anhalter Bahnhof«;<br />
Bus: M 29 bis Station<br />
»S Anhalter Bahnhof«, M 4<br />
bis Station »Abgeordnetenhaus«.<br />
Geschichte der Luftfahrzeugantriebe<br />
Luftwaffenmuseum der<br />
B<strong>und</strong>eswehr<br />
Kladower Damm 182<br />
14089 Berlin-Gatow<br />
Telefon: 030 / 36 87 26 01<br />
Telefax: 030 / 36 87 26 10<br />
www.luftwaffenmuseum.com<br />
LwMuseumBwEingang@<br />
b<strong>und</strong>eswehr.org<br />
1<strong>2.</strong> Oktober 2007 bis<br />
31. Oktober 2008<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
9.00 bis 17.00 Uhr<br />
Eintritt frei<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Eingang zum Museum: Ritterfelddamm<br />
/Am Flugfeld Gatow.<br />
� Celle<br />
Nec Aspera Terrent.<br />
Hannoversche Militärgeschichte<br />
vom Siebenjährigen<br />
Krieg bis zur<br />
Schlacht bei Langensalza.<br />
Zinnfiguren-Ausstellung<br />
in der Ehrenhalle der<br />
Hannoverschen Armee<br />
Bomann-Museum Celle<br />
Schloßplatz 7<br />
29221 Celle<br />
Telefon: 0 51 41 / 1 23 72<br />
Telefax: 0 51 41 / 1 25 35<br />
www.bomann-museum.de<br />
(links unter »Museen« auf<br />
»Bomann-Museum« klicken)<br />
bomann-museum@celle.de<br />
20. April bis 26. Okt. 2008<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 17.00 Uhr<br />
Eintritt: 3,00 €<br />
ermäßigt ab 1,00 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Pkw: (von Norden) A 7<br />
Hamburg-Hannover, Abfahrt<br />
Soltau-Süd, B 3 Soltau-Celle<br />
bzw. A 250 Hamburg-Lüneburg,<br />
B 4 Lüneburg-Uelzen,<br />
B 191 Uelzen-Celle (von Süden),<br />
B 214 Braunschweig-Celle<br />
bzw. A 7 Hannover-Hamburg,<br />
Abfahrt AB-Kreuz Hannover-<br />
Kirchhorst: A 37 Hannover-<br />
Burgdorf, B 3 Burgdorf-Celle.<br />
� Frankfurt (Oder)<br />
Friedrich Wilhelm Carl<br />
von Schmettau – Pionier<br />
der modernen Kartographie,<br />
Übersetzer, Militärschriftsteller,<br />
Gestalter von<br />
Parks <strong>und</strong> Gärten<br />
Kleist-Museum<br />
Faberstraße 7<br />
15230 Frankfurt (Oder)<br />
Telefon: 03 35 / 53 11 55<br />
Telefax: 03 35 / 5 00 49 45<br />
www.kleist-museum.de<br />
info@kleist-museum.de<br />
27. April bis 29. Juni 2008<br />
Eintritt: 3,00 €<br />
ermäßigt 2,00 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Wegbeschreibung:<br />
www.kleist-museum.de<br />
(Menüpunkt »Museumsbesuch«).<br />
� Kossa/Söllichau<br />
Militärmuseum Bunker<br />
Kossa<br />
Dauerausstellung zur NVA-<br />
Geschichte
Dahlenberger Str. 1<br />
04849 Kossa/Söllichau<br />
Telefon: 03 42 43 / 2 21 20<br />
Telefax: 03 42 43 / 2 31 20<br />
www.bunker-kossa.de<br />
mmk@bunker-kossa.de<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
9.00 bis 16.00 Uhr<br />
(Führungen jeweils 10.00<br />
<strong>und</strong> <strong>13</strong>.00 Uhr)<br />
Eintritt: 5–10 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Von Bad Düben nach<br />
Söllichau, am Ortsausgang<br />
Söllichau hinter Bahnübergang<br />
links der Waldstraße folgen,<br />
Ausschilderung beachten.<br />
� Krefeld<br />
Das Geheimnis der Kelten<br />
Museum Burg Linn<br />
Rheinbabenstraße 85<br />
47809 Krefeld<br />
Telefon: 0 21 51 / 57 00 36<br />
www.diekelten.de<br />
burglinn@krefeld.de<br />
20. Jan. bis <strong>3.</strong> Aug. 2008<br />
bis Ende März <strong>Die</strong>nstag bis<br />
Sonntag 11.00 bis 17.00 Uhr<br />
ab April <strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
11.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 3,00 €<br />
ermäßigt: ab 1,50 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Pkw: A 57 Abfahrt Krefeld-<br />
Oppum/Linn; Straßenbahn:<br />
ab Hauptbahnhof Linie 044-<br />
Rheinhafen bis Haltestelle<br />
»Burg Linn«.<br />
� Ludwigsburg<br />
Zwischen Kunst <strong>und</strong><br />
Kitsch – Erinnerungskultur<br />
der Soldaten<br />
Garnisionmuseum<br />
Ludwigsburg<br />
Asperger Straße 52<br />
71634 Ludwigsburg<br />
Telefon: 0 71 41 / 9 10 24 12<br />
Telefax: 0 71 41 / 9 10 23 42<br />
www.garnisionmuseumludwigsburg.deinfo@garnisionmuseumludwigsburg.de<br />
1. Juli 2007 bis 27. Juli 2008<br />
Mittwoch<br />
15.00 bis 18.00 Uhr<br />
Sonntag<br />
<strong>13</strong>.00 bis 17.00 Uhr<br />
(<strong>und</strong> auf Anfrage)<br />
Eintritt frei<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Pkw: A 81-B 27; S-Bahn: S 4<br />
<strong>und</strong> S 5 (von Stuttgart bzw.<br />
Bietigheim) bis Station<br />
»Ludwigsburg«.<br />
� Munster<br />
Unverschämtes Glück<br />
Deutsches Panzermuseum<br />
Munster<br />
Hans-Krüger-Str. 33<br />
29633 Munster<br />
Telefon: 05 19 / 22 55 2<br />
Telefax: 05 19 / 21 30 21 5<br />
www.munster.de (links Verlinkung<br />
zum »Panzermuseum«)<br />
panzermuseum@munster.de<br />
5. Juni bis 1. Nov. 2008<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
10.00 Uhr bis 18.00 Uhr<br />
Montag geschlossen<br />
(letzter Einlass 17.00 Uhr)<br />
An den Feiertagen auch<br />
montags geöffnet<br />
Eintritt: 5,00 €<br />
ermäßigt 2,50 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Pkw: Eine Anfahrtsskizze gibt<br />
es auf der Internetseite über<br />
»Kontakt«, dann »Anfahrt«;<br />
Bahn: Vom Bahnhof Munster<br />
entweder mit Taxi oder zu<br />
Fuß über Bahnhofsstraße,<br />
Wagnerstraße <strong>und</strong> Söhlstraße<br />
zur Hans-Krüger-Straße<br />
(ca. 15 Minuten Fußweg).<br />
� Nordholz<br />
Manfred von Richthofen<br />
AERONAUTICUM<br />
Deutsches Luftschiff- <strong>und</strong><br />
Marinefliegermuseum<br />
Peter-Strasser-Platz 3<br />
27637 Nordholz<br />
Telefon: 0 47 41 / 18 19-<strong>13</strong><br />
(oder -11)<br />
Telefax: 0 47 41 / 18 19-15<br />
www.aeronauticum.de<br />
info@aeronauticum.de<br />
10. April bis 14. Sept. 2008<br />
Februar bis November<br />
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Dezember bis Januar<br />
täglich 10.00 bis 16.00 Uhr<br />
Eintritt: 6,50 €<br />
ermäßigt 2,50 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Anfahrtsbeschreibung per Kfz:<br />
www.aeronauticum.de<br />
(Menüpunkt Besucherinformation,<br />
Anfahrt).<br />
� Prora<br />
Erinnerung bewahren.<br />
Sklaven <strong>und</strong> Zwangsarbeiter<br />
des Dritten Reiches<br />
aus Polen 1939–1945<br />
Dokumentationszentrum<br />
Prora<br />
Objektstraße, Block 3/<br />
Querriegel<br />
18609 Prora<br />
Telefon: 03 83 93 / 1 39 91<br />
Telefax: 03 83 93 / 1 39 34<br />
www.proradok.de<br />
info@proradok.de<br />
24. April bis 31. Aug. 2008<br />
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 3,00 €<br />
ermäßigt 2,00 €<br />
(Kinder unter 14 Jahren<br />
freier Zutritt)<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Anfahrtsbeschreibung für<br />
Anreise mit Bahn, Bus <strong>und</strong><br />
Kfz: www.proradok.de/seiten_<br />
deutsch/service.html.<br />
� Speyer<br />
Samurai<br />
Historisches Museum<br />
der Pfalz<br />
Domplatz, 67346 Speyer<br />
Telefon: 0 62 32 / 1 32 50<br />
Telefax: 0 62 32 / 1 32 54 0<br />
www. museum.speyer.de<br />
info@museum.speyer.de<br />
24. Februar bis 5. Okt. 2008<br />
<strong>Die</strong>nstag bis Sonntag<br />
10.00 bis 18.00 Uhr<br />
Eintritt: 10,00 €<br />
ermäßigt 7,00 €<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Anfahrtsbeschreibung per Bus<br />
<strong>und</strong> Kfz:<br />
www.museum.speyer.de<br />
(Menüpunkt Informationen,<br />
Anreise).<br />
� Wien<br />
Einmarsch ‘38<br />
Heeresgeschichtliches<br />
Museum<br />
Militärhistorisches Institut<br />
Arsenal, Objekt 1<br />
A-1030 Wien<br />
Telefon: +43 (1) / 79 56 1-0<br />
Telefax: +43 (1) / 79 56 1-17<br />
70 7<br />
www.hgm.or.at<br />
bmlv.hgm@magnet.at<br />
11. Juni bis 9. Nov. 2008<br />
täglich 9.00 bis 17.00 Uhr<br />
Freitag geschlossen<br />
Eintritt: 5,10 €<br />
ermäßigt 3,30 €<br />
(bis 10 Jahre frei)<br />
Verkehrsanbindung:<br />
Schnellbahn: Bis Station<br />
»Südbahnhof«; Straßenbahn:<br />
Linien 18, D, O; Autobus:<br />
Linien <strong>13</strong> A, 69 A; U-Bahn:<br />
U 1 bis Station »Südbahnhof«,<br />
U 3 bis Station<br />
»Schlachthausgasse«.<br />
� Wilhelmshaven<br />
Meuterei – Revolution –<br />
Selbstversenkung. <strong>Die</strong><br />
Marine <strong>und</strong> das Ende des<br />
Ersten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
Deutsches Marinemuseum<br />
Südstrand 125<br />
26382 Wilhelmshaven<br />
Telefon: 0 44 21 / 4 10 61<br />
www.marinemuseum.de<br />
info@marinemuseum.de<br />
25. April bis 9. Nov. 2008<br />
April bis Oktober<br />
täglich 10.00 bis 18.00 Uhr<br />
November bis März<br />
täglich 10.00 bis 17.00 Uhr<br />
Eintritt: 8,50 €<br />
ermäßigt 5,00 €<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
29
<strong>3.</strong> September 1 83<br />
ullstein bild - Granger Collection<br />
Service<br />
Militärgeschichte kompakt<br />
Friede zu Versailles 1 83 – Ende des<br />
Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges<br />
Der Friedensschluss zu Versailles – auch Friede zu Paris genannt<br />
– beendete am <strong>3.</strong> September 1783 den Amerikanischen<br />
Unabhängigkeitskrieg (1776-1783). Er wurde zwischen<br />
Großbritannien <strong>und</strong> den dreizehn aufständischen Kolonien<br />
in Nordamerika geschlossen. Dem Friedensvertrag waren<br />
britische Niederlagen <strong>und</strong> ein Vorfriede vom 20. November<br />
1782 vorausgegangen. Ratifiziert wurde der Friedensvertrag<br />
von Versailles seitens der USA am 14. Januar 1784, die<br />
britische Seite ließ mit ihrer Unterschrift bis zum 9. April<br />
1784 auf sich warten.<br />
Zeitgleich schloss Großbritannien Frieden mit den am Kriege<br />
5 Friede zu Paris, 1783: ebenfalls beteiligten Königreichen Frankreich <strong>und</strong> Spanien.<br />
<strong>Die</strong> amerikanischen Friedens- <strong>Die</strong> Vereinigten Staaten von Amerika wurden durch den<br />
kommissare (<strong>3.</strong> v. links Benja- Frieden anerkannt, diverse amerikanische Fischereierechte<br />
min Franklin). Unvollendetes wurden ebenso garantiert wie die freie Nutzung des Missis-<br />
Gemälde (die britischen Friesippi. Beide Kriegsparteien hatten ihre Kriegsschulden zu<br />
denskommissare weigerten bezahlen; verbliebenes britisches Militärmaterial in den<br />
sich, für das Gemälde zu posie- USA durfte nicht beschädigt werden, die Kriegsgefangenen<br />
ren) von Benjamin West. waren freizulassen. <strong>Die</strong> USA hatten Gebiete, die nach dem<br />
Frieden besetzt worden waren, zu räumen.<br />
Der Friede von Versailles bedeutete den Anfang der USA als Nation sowie den Beginn<br />
der ersten großen Republik mit demokratischer Herrschaftsform der Neuzeit.<br />
<strong>Die</strong>ses Beispiel wirkte auf Frankreich, wo 1789 die Revolution ausbrach, sowie auf Polen,<br />
das sich 1791 die erste geschriebene Verfassung Europas gab.<br />
hp<br />
26. August 19 8<br />
ullstein bild - ADN-Bildarchiv<br />
Start des ersten Deutschen in den Weltraum<br />
Am letzten Samstag im August 1978 startete Major Sigm<strong>und</strong><br />
Jähn (Luftstreitkräfte/Luftverteidigung der NVA) als<br />
erster Deutscher einen Flug in den Weltraum. Jähn, 1937 im<br />
Vogtland geboren, trat nach einer Lehre als Buchdrucker im<br />
April 1955 seinen Wehrdienst in der DDR an. Nach mehreren<br />
Verwendungen in den DDR-Luftstreitkräften wurde Jähn<br />
Mitte der 60er Jahre für ein Studium an die Militärakademie<br />
der Luftstreitkräfte der Sowjetunion »J.A. Gagarin« berufen,<br />
das er mit dem Diplom eines Militärwissenschaftlers<br />
abschloss. Ab 1976 nahm Jähn an einer Kosmonautenausbildung<br />
im Rahmen des Interkosmos-Programms der UdSSR<br />
teil. Es sah die Einbindung nicht-sowjetischer Technik in<br />
5 Waleri F. Bykowski (links) das sowjetische Raumfahrtprogramm vor. Am 26. August<br />
<strong>und</strong> Sigm<strong>und</strong> Jähn vor der ge- flog Jähn schließlich gemeinsam mit Waleri F. Bykowski in<br />
borgenen Raumkapsel, der sowjetischen Raumkapsel Sojus 31 ins All. Insgesamt<br />
<strong>3.</strong>9.1978.<br />
125 Mal sollten die beiden Kosmonauten die Erde umkreisen<br />
<strong>und</strong> dabei etliche wissenschaftliche Experimente durchführen.<br />
Nach sieben Tagen, 20 St<strong>und</strong>en, 49 Minuten <strong>und</strong> vier Sek<strong>und</strong>en landete die<br />
Rückkehrkapsel Sojus 29 wieder auf der Erde – unerwartet hart, was bei Jähn bleibende<br />
Wirbelsäulenschäden hinterließ.<br />
<strong>Die</strong> DDR würdigte Jähn ausgiebig. Zahlreiche Schulen <strong>und</strong> Freizeiteinrichtungen<br />
tragen noch heute seinen Namen. Der »Held der DDR« <strong>und</strong> »Held der Sowjetunion«<br />
stieg 1986 zum Generalmajor der NVA auf. Der Name Jähn ist auch heute noch zahlreichen<br />
Menschen in den neuen B<strong>und</strong>esländern ein Begriff: 2005 erinnerten sich im<br />
Osten bei einer Umfrage noch 60 Prozent an Jähn. Sigm<strong>und</strong> Jähn erfuhr im All die<br />
»totale Glückseligkeit: Unsere Erde, in leuchtendes Blau gehüllt.« <strong>Die</strong> DDR war das<br />
fünfte Land, das an der bemannten Raumfahrt teilhaben konnte; er habe, so der Kosmonaut<br />
denn auch im September 1978, seinem Land »das Tor ins Weltall aufgestoßen«.<br />
Fünf Jahre später, 1983, flog mit Ulf Merbold der erste Westdeutsche ins All. Mit<br />
besonderen Worten würdigte 2002 der damalige B<strong>und</strong>espräsident Johannes Rau den<br />
ehemaligen NVA-General Jähn: »Sie haben an diesem Tag vielen Menschen das Gefühl<br />
gegeben, zum ersten Mal sei ›einer von uns‹ hinaus ins All geflogen.« Sigm<strong>und</strong> Jähn<br />
ist heute als freier Berater für die European Space Agency (ESA) <strong>und</strong> für das Deutsche<br />
Zentrum für Luft- <strong>und</strong> Raumfahrt e.V. (DLR) tätig.<br />
mt<br />
30 Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
Heft 3/2008<br />
Militärgeschichte<br />
Zeitschrift für historische Bildung<br />
� Vorschau<br />
Im November vor 90 Jahren endete der Erste<br />
<strong>Weltkrieg</strong>, der auch als die »Urkatastrophe<br />
des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts« bezeichnet wird. Doch<br />
nicht nur der Krieg selbst war katastrophal,<br />
die Folgen waren es ebenfalls. In Deutschland<br />
kam es zu Revolution <strong>und</strong> Bürgerkrieg.<br />
<strong>Die</strong> »Vielvölkerreiche« Österreich-Ungarn<br />
<strong>und</strong> das Osmanische Reich zerbrachen durch<br />
nationale Aufstände. Aus den Trümmern des<br />
zaristischen Russlands erwuchs nach blutigen<br />
Kämpfen die Sowjetunion. Das damalige<br />
Europa <strong>und</strong> die Welt wurden erschüttert,<br />
die Nachwirkungen sind bis heute spürbar.<br />
Im Mittelpunkt der nächsten Ausgabe der<br />
Militärgeschichte stehen die Ereignisse des<br />
Herbstes 1918. <strong>Die</strong>se waren so vielfältig, dass<br />
der Versuch, sie alle historisch zu würdigen,<br />
nur scheitern kann. <strong>Die</strong> Redaktion traf daher<br />
eine Auswahl, die unvollständig bleiben<br />
muss. Ausschlaggebend war letztlich eine engere<br />
Verbindung zur deutschen Militärgeschichte.<br />
Werner Rahn blickt auf die Ereignisse in<br />
Kiel <strong>und</strong> Wilhelmshaven im Oktober/November<br />
1918 zurück. <strong>Die</strong>ter Storz schildert<br />
den Zusammenbruch der Westfront. Beide<br />
Aufsätze greifen somit zwei Hauptstränge jener<br />
militärischen Entwicklungen am Ende<br />
des Krieges auf, die, neben anderen tiefer liegenden<br />
Ursachen, zur Revolution im November<br />
führten. Der Beitrag von Rüdiger Bergien<br />
geht zeitlich über den November 1918 hinaus.<br />
Er stellt die Zeit des Bürgerkriegs, der<br />
bewaffneten Aufstände <strong>und</strong> deren Zerschlagung<br />
durch ehemalige Fronttruppen, vor,<br />
wobei die besondere Rolle der Freikorps aufgezeigt<br />
wird.<br />
<strong>Die</strong> Kriegsmüdigkeit aller Völker Europas<br />
hielt nicht lange an. 21 Jahre später begann<br />
Deutschland einen neuen <strong>Weltkrieg</strong>. Aus den<br />
schrecklichen Lehren beider Kriege heraus<br />
entstand die Überzeugung der Weltgemeinschaft,<br />
dass sich Ähnliches nicht mehr wiederholen<br />
darf. <strong>Die</strong>sem Ziel verpflichtet, verabschiedete<br />
die Generalversammlung der<br />
Vereinten Nationen im Dezember 1948 die<br />
Konvention über die Verhütung <strong>und</strong> Bestrafung<br />
des Völkermords. Sie jährt sich damit<br />
zum 60. Mal, ein Gr<strong>und</strong> für Franz-Joseph<br />
Hutter, darauf zurückzublicken.<br />
Ein anderes, erfreuliches Jubiläum feiert<br />
die Deutsche Marine <strong>und</strong> mit ihr die B<strong>und</strong>eswehr<br />
im Dezember: den 50. Jahrestag der Indienststellung<br />
des Segelschulschiffs »Gorch<br />
Fock«. <strong>Die</strong> kommende Ausgabe der Militärgeschichte<br />
geht auf dieses Jubiläum ein.<br />
ks
Militärgeschichte im Bild<br />
ČSSR 1968: Militärische<br />
Reaktionen des Westens<br />
In der Nacht vom 20. zum 21. August<br />
1968 marschierten Truppen des Warschauer<br />
Paktes – aus vier Richtungen<br />
kommend – auf breiter Front <strong>und</strong> unter<br />
Einhaltung völliger Funkstille in die<br />
ČSSR ein. Mehr als 200 000 Mann mit<br />
Tausenden von Panzern <strong>und</strong> Schützenpanzerwagen<br />
fluteten ins Land. <strong>Die</strong><br />
militärische Intervention beendete gewaltsam<br />
den Versuch der Tschechen<br />
<strong>und</strong> Slowaken, einen »Sozialismus mit<br />
menschlichem Antlitz« aufzubauen,<br />
der als »Prager Frühling« in die Geschichte<br />
einging. Das totalitäre sowjetische<br />
System hatte damit im eigenen<br />
Herrschaftsbereich noch einmal seine<br />
Macht demonstriert (siehe Militärgeschichte<br />
3/2003).<br />
<strong>Die</strong> zügig durchgeführte Militäroperation<br />
der Sowjets kam nicht nur für<br />
die Führung der ČSSR, sondern auch<br />
für den Westen überraschend. <strong>Die</strong> tatsächliche<br />
Überraschung bezog sich vor<br />
allem darauf, dass es bis zuletzt nicht<br />
gelungen war, den Tag <strong>und</strong> die St<strong>und</strong>e<br />
des Überfalls exakt festzustellen.<br />
Freilich waren der NATO die militärischen<br />
Aktivitäten der UdSSR <strong>und</strong> ihrer<br />
Verbündeten an den Grenzen zur<br />
ČSSR nicht verborgen geblieben. Spätestens<br />
seit Ende Juli bestand in der mi-<br />
litärischen NATO-Führung kein Zweifel<br />
mehr an der Absicht des Warschauer<br />
Paktes, in der ČSSR militärisch aktiv zu<br />
werden. Doch weder der Militärausschuss<br />
noch der Ständige Rat der<br />
NATO hielten es für notwendig, vorausschauend<br />
eine besondere Spannungs-<br />
<strong>und</strong> Alarmbereitschaft anzuordnen,<br />
obwohl der Oberbefehlshaber<br />
Europa (SACEUR), General Lyman L.<br />
Lemnitzer, zu einer verstärkten militärischen<br />
Wachsamkeit riet. Im NATO-<br />
Hauptquartier (SHAPE) bei Mons, 40<br />
km südlich von Brüssel, war man sich<br />
offenbar ziemlich sicher, dass dem<br />
Westen seitens der sowjetischen Truppen<br />
<strong>und</strong> ihrer Verbündeten keine Gefahr<br />
drohte. Eine inoffizielle Nachricht<br />
der Russen, dass der Aufmarsch im<br />
Ostblock auf keinen Fall gegen den<br />
Westen gerichtet sei, soll angeblich in<br />
den westlichen Führungskreisen der<br />
Hauptgr<strong>und</strong> für diese Ruhe <strong>und</strong> Gelassenheit<br />
gewesen sein.<br />
Es war ein Spiel mit dem Feuer. <strong>Die</strong><br />
regionalen Befehlshaber <strong>und</strong> Kommandeure<br />
wurden am 21./ 2<strong>2.</strong> August<br />
1968 ohne jegliche »Vorwarnung« seitens<br />
der NATO mit der sowjetischen<br />
Militäraktion gegen die ČSSR konfrontiert.<br />
In dieser Situation befahl der<br />
5 Besatzung eines sowjetischen Panzers in Prag inmitten einer aufgebrachten Menschenmenge,<br />
26. August 1968.<br />
ullstein bild<br />
Oberbefehlshaber der CENTAG (Central<br />
Army Group), General James<br />
H. Polk, eigenverantwortlich sofort<br />
erste Alarmmaßnahmen für seine<br />
Truppen. Ebenso schnell <strong>und</strong> konzentriert<br />
handelte der Kommandierende<br />
General des II. Korps der B<strong>und</strong>eswehr,<br />
Generalleutnant Karl Wilhelm Thilo.<br />
Er traf umgehend in seinem grenznahen<br />
Verantwortungsbereich einige vorsorgliche<br />
Anordnungen zur Erhöhung<br />
der Einsatzbereitschaft der Truppe.<br />
»Ich meinerseits hatte meinem G 4<br />
[Logistik, Nachschub] bereits befohlen,<br />
die Munitionsbestände des Korps zu<br />
überprüfen <strong>und</strong> einige vorgezogene<br />
Vorratslager mit Munition <strong>und</strong> Treibstoff<br />
einzurichten. Auch einen vorgeschobenen<br />
Korpsgefechtsstand ließ ich<br />
erk<strong>und</strong>en«, so erinnerte sich Thilo später.<br />
<strong>Die</strong>ses verantwortungsvolle Handeln<br />
stieß in Bonn aber nur auf wenig<br />
Verständnis. Hier beharrte man auf äußerste<br />
militärische Zurückhaltung. Seitens<br />
des B<strong>und</strong>esministeriums der Verteidigung<br />
wurden jedoch zumindest<br />
die Wochenendurlaube der Soldaten<br />
ausgesetzt.<br />
Als erste militärische Reaktion der<br />
NATO auf den Einmarsch war nur die<br />
Luftwarnstufe »Gelb« für die Luftverteidigungskräfte<br />
der Kommandobereiche<br />
»Zentraleuropa« <strong>und</strong> »Ostseeausgänge«<br />
ausgelöst worden. Ab den<br />
Mittagsst<strong>und</strong>en des 21. August <strong>und</strong> in<br />
den folgenden Tagen liefen in den<br />
NATO-Landstreitkräften jedoch offizielle<br />
Teilmaßnahmen zu den Stufen<br />
»Militärische Wachsamkeit« <strong>und</strong> »Einfacher<br />
Alarm« an, die unter anderem<br />
ein kurzfristiges Verlegen von Truppen<br />
in Konzentrierungs- bzw. Handlungsräume<br />
möglich machen sollten. <strong>Die</strong><br />
Aufklärung <strong>und</strong> die Beobachtung an<br />
den Grenzen zu Lande, zur See <strong>und</strong> in<br />
der Luft wurden wesentlich verstärkt.<br />
Ende August kam es jedoch bereits zu<br />
Lockerungen im militärischen Bereitschaftssystem.<br />
<strong>Die</strong> Lage in der Tschechoslowakei<br />
hatte sich – zumindest für<br />
die Militärs im Westen – entspannt.<br />
Rüdiger Wenzke<br />
Militärgeschichte · Zeitschrift für historische Bildung · Ausgabe 2/2008<br />
31
���������������������������<br />
► �������������������������������������������<br />
� ����������������������������������<br />
� ����������������������������������������������<br />
� �����������������<br />
� ����������������������������������������������<br />
� ��������������������������������������������������<br />
� ����������������������������������������������������<br />
� �������������������������������������������������������<br />
� ����������������������������������<br />
► �����������������������������������������������<br />
� ��������������������������������������������������������<br />
� ����������������������������������������������<br />
� ������������������<br />
� ������������������������������������<br />
� ��������������������������������������������������<br />
� �����������������������������������������������������<br />
� �������������������������������������������������������<br />
� ����������������������������������<br />
Das große<br />
Standardwerk<br />
������������������<br />
�������������������������������������������<br />
����������������������������<br />
������������������������������������<br />
Das bei der Deutschen Verlags-Anstalt erscheinende Reihenwerk<br />
»Das Deutsche Reich <strong>und</strong> der Zweite <strong>Weltkrieg</strong>«<br />
gilt als das wissenscha� liche Flaggschiff des Militärgeschichtlichen<br />
Forschungsamtes (MGFA) <strong>und</strong> zählt zu den<br />
größten <strong>und</strong> ambitioniertesten Projekten der modernen<br />
deutschen Wissenscha� sgeschichte. In zehn Bänden (mit<br />
Teilbänden in dreizehn Büchern) haben über fünfzig Autoren<br />
zu einer umfassenden Geschichte des Zweiten <strong>Weltkrieg</strong>es<br />
beigetragen.<br />
»Eines der größten Unternehmen der modernen<br />
Geschichts wissenscha� «<br />
Johannes Hürter, Frankfurter Allgemeine Zeitung<br />
»Eine überaus eindrucksvolle Gesamtleistung, von<br />
der Öff entlichkeit <strong>und</strong> Forschung fortab profi tieren<br />
werden«<br />
Hans-Ulrich Wehler, <strong>Die</strong> Zeit