Schneephysiker Martin Schneebeli im Kältelabor des WSL-Instituts ...
Schneephysiker Martin Schneebeli im Kältelabor des WSL-Instituts ...
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<strong>Schneephysiker</strong> <strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong><br />
<strong>im</strong> <strong>Kältelabor</strong> <strong>des</strong> <strong>WSL</strong>-<strong>Instituts</strong><br />
für Schnee- und Lawinenforschung<br />
in Davos.
LAWINENFORSCHER<br />
SIND SUPER-GLACE<br />
AUF DER SPUR<br />
Ein bekanntes Problem: Temperaturschwankungen<br />
setzen der Glace zu. Sie schmeckt spröde und verliert<br />
an Geschmeidigkeit. Nestlé geht der Sache auf den<br />
Grund und spannt mit dem Institut für Schnee- und<br />
Lawinenforschung (SLF) zusammen. Aber was haben<br />
Schnee und Glace überhaupt gemeinsam?<br />
Mit <strong>im</strong>mer neuen saisonalen oder<br />
exotischen Aromen kämpfen die<br />
Big-Player <strong>im</strong> Schweizer Glacemarkt<br />
um die Gunst der Gastronomen.<br />
Nestlé spielt dabei mit, arbeitet aber neu<br />
mit Wissenschaftlern zusammen, um<br />
endlich ein Problem zu lösen, dass der Industrie<br />
seit Jahren Kopfzerbrechen bereitet.<br />
Es geht um Folgen<strong>des</strong>: Glace, min<strong>des</strong>tens<br />
einmal kurz aufgetaut und wieder<br />
gefroren, verliert ihren cremigen Geschmack.<br />
Ihre Textur wird grob und zäh.<br />
Nun könnte man, wie bis anhin, weiter<br />
darauf pochen, dass beispielsweise die<br />
Kühlkette nie und n<strong>im</strong>mer unterbrochen<br />
werden dürfe. Die Realität ist jedoch –<br />
und daran wird sich auch kaum etwas ändern<br />
– eine andere. Glace bleibt – auch bei<br />
grösster Vorsicht seitens der Gastronomen<br />
– bei Lagerung und Verkauf leichten<br />
Temperaturschwankungen unterworfen.<br />
Wie also muss die Glace beschaffen sein,<br />
die an Geschmack und Cremigkeit nicht<br />
verliert, auch wennsie kurzaufgetaut und<br />
wieder tiefgekühlt worden ist?<br />
Nestlé geht derzeit dieser Frage nach<br />
und sucht nach einer Antwort. Mit welchem<br />
Erfolg – darüber hüllt sich das Unternehmen,<br />
dem die Marken Frisco und<br />
Mövenpick Ice Cream gehören, in Schwei-<br />
Text: Jörg Ruppelt<br />
Fotos: Barbara Kern, SLF<br />
gen. Wann die perfekte Glace auf den<br />
Markt kommt, ist also ungewiss. Was<br />
bis anhin durchsickerte, ist lediglich die<br />
Nachricht, dass Nestlé mit Wissenschaftlern<br />
<strong>des</strong> Schweizer <strong>Instituts</strong> für Schneeund<br />
Lawinenforschung zusammenspannt,<br />
um eine Lösung <strong>des</strong> Problems zu<br />
finden. «Die Glace wird zum Forschungsobjekt»,<br />
meldete Ende März die Pendlerzeitung<br />
20minuten und sorgte sowohl<br />
bei der Leserschaft als auch bei der Industriekonkurrenz<br />
für grosses Staunen. Was<br />
haben Schneeforscher und Glaceproduzenten<br />
gemeinsam? «Vieles», sagt Julia<br />
Wessels, Leiterin Kommunikation <strong>im</strong> Institut<br />
für Schnee- und Lawinenforschung,<br />
auf Anfrage <strong>des</strong> Hotellerie et Gastronomie<br />
Magazins.<br />
Sie lädt uns nach Davos ein, dem Sitz<br />
<strong>des</strong> <strong>Instituts</strong>, um dort <strong>Schneephysiker</strong><br />
<strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong> zu treffen. Auf unsere<br />
Frage, wie er und Nestlé die Glace der<br />
Zukunft kreieren wollen, muss der Wissenschaftler<br />
schmunzeln. «Wir machen<br />
sie nicht besser. Das kann ich gar nicht»,<br />
antwortet er. «Mein Forschungsauftrag<br />
– 23 –<br />
besteht lediglich darin, die Struktur der<br />
Glace sichtbar zu machen.» Eine Aufgabe,<br />
die Nestlé allein aufgrund fehlender<br />
technischer Möglichkeiten nicht lösen<br />
konnte.<br />
<strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong> führt uns in ein<br />
<strong>Kältelabor</strong>, einen zwei mal drei Meter<br />
kleinen Raum, in dem permanent Temperaturen<br />
um die minus 20 Grad Celsius<br />
herrschen. Auf dem Weg vom Büro<br />
in die arktische Kältekammer erklärt er<br />
die Gemeinsamkeiten von Schnee und<br />
Glace und gibt eine erste Antwort, weshalb<br />
ein Lawinenforscher Eiscreme unter<br />
die Lupe n<strong>im</strong>mt. «Schnee besteht aus<br />
Eis und Luft. Die Festigkeit verändert<br />
sich <strong>im</strong> Laufe der Zeit. Glace setzt sich<br />
aus Eis, Luft und Zuckerlösung zusammen.<br />
Hier verändert sich der Geschmack<br />
mit der Zeit. Eis-Festigkeit und Glace-Geschmack<br />
werden also durch die gleiche<br />
Physik best<strong>im</strong>mt.»<br />
Zur Untersuchung der Strukur und<br />
der Phasen von Glace während der Lagerung<br />
nutzt Forscher <strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong><br />
die Technologie der In-situ-Röntgentomografie.<br />
Dabei verwendet er einen<br />
Mikrocomputertomografen, der<br />
<strong>im</strong> <strong>Kältelabor</strong> steht. Das Gerät wird<br />
von den Lawinenwissenschaftlern bereits<br />
seit zehn Jahren in der Schneeforschung<br />
eingesetzt. Entwickelt wurde die<br />
eine halbe Million teure Technik einst<br />
für die Medizin, speziell für die Messung<br />
<strong>des</strong> Calzit-Gehalts in Knochen, was bei<br />
Osteoporose-Abklärungen von unschätzbarem<br />
Wert ist. Statt Knochen durchleuchtet<br />
<strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong> also Eis und<br />
Glace.<br />
Was der Lawinenforscher <strong>im</strong> <strong>Kältelabor</strong><br />
dabei ans Tageslicht brachte, veröffentlichten<br />
er und sein Team <strong>im</strong> Februar<br />
dieses Jahres in der wissenschaft- weiter
Dreid<strong>im</strong>ensionale Darstellung der<br />
Luftbläschen (braun) in der Glace<br />
<strong>im</strong> Mikrocomputertomografen<br />
nach mehreren Schmelz- und<br />
Gefrierzyklen.<br />
lichen Fachpublikation Soft Matter. «Uns<br />
ist es als erste gelungen, erst einmal die<br />
drei Phasen Luft, Eiskristalle und Zuckerlösung<br />
bildlich darzustellen, auseinanderzunehmen<br />
und deren Grössen zu<br />
best<strong>im</strong>men. Wir verwendeten dabei eine<br />
Modell-Glace, die mit Jod versetzt wurde.<br />
Nach mehreren Wärmeschocks, bei<br />
denen sich die Temperatur um bis zu fünf<br />
Grad jeweils veränderte, zeichnete der<br />
Tomograf auf, wie die Luftblasen grösser<br />
wurden und die kleinen Eiskristalle sich<br />
zu langen Nadeln verbanden. Da Luftblasen<br />
und Eiskristalle für die Mechanik<br />
<strong>im</strong> Eis verantwortlich sind, ist das auf<br />
der Zunge spürbar. Geschmacklich ist die<br />
Glace sandiger.» Das Team von <strong>Martin</strong><br />
<strong>Schneebeli</strong> konnte also zeigen, dass das<br />
Kristallwachstum am stärksten von den<br />
Schwingungen <strong>des</strong> Temperaturzyklusses<br />
beeinflusst wurde, wobei die Vergröberung<br />
der Luftbläschen von der Dauer <strong>des</strong><br />
Wärmezyklusses abhing. Durch das Aufwärmen<br />
wurde ausserdem der Anteil der<br />
Zuckerlösung in der Glace grösser. Die<br />
Glace schmeckte zuckriger.<br />
Im Grunde dreht sich also alles um die<br />
Zuckerlösung. Sie und der Eiweissanteil<br />
in der Glace verändern den Gefrier- beziehungsweise<br />
Schmelzpunkt. Woran<br />
Nestlé «schrauben» wird, so vermutet der<br />
Lawinenforscher, ist das Verhältnis von<br />
Zuckerlösung zu Eis.<br />
Nach den Worten von <strong>Martin</strong> <strong>Schneebeli</strong><br />
setzt Nestlé die Untersuchungen nun<br />
mit dem Paul-Scherrer-Institut in Villigen<br />
fort. Dort will man mit Hilfe modernster<br />
Phasenkontrast-Tomografie die<br />
einzelnen Substanzen wie Eis, Zucker<br />
und Fett noch deutlicher darstellen. Auf<br />
das Ergebnis, vor allem aber auf die Auswirkungen<br />
auf die Geschmeidigkeit der<br />
Glace darfman gespannt sein. X<br />
Hintergrundwissen:<br />
Das Material Schnee<br />
Schnee ist ein poröses Material aus Eis und Luft, das sich unter äusseren<br />
Einflüssen ständig verändert. Die Wissenschaft hält selbst für poröse<br />
Materialien mit unveränderlicher Mikrostruktur nur in begrenztem<br />
Masse Theorien zu den mechanischen und thermischen Eigenschaften<br />
bereit. Für die Beschreibung der Mikrostruktur von Schnee werden daher<br />
besondere exper<strong>im</strong>entelle und theoretische Konzepte benötigt – nur so<br />
können Fortschritte in der Lawinenvorhersage und Kl<strong>im</strong>aforschung erzielt<br />
werden. Jeder in den Wolken gewachsene Eiskristall hat an sich schon<br />
eine einzigartige Form. Werden die Kristalle während <strong>des</strong> Schneefalls<br />
unregelmässig auf dem Boden angehäuft, entsteht ein sehr komplexes<br />
Material. Am Anfang ist dies in der Regel puderartig, aber innerhalb kurzer<br />
Zeit wachsen die Eiskristalle an ihren Berührungspunkten zusammen und<br />
bilden so eine zusammenhängende, poröse Struktur, einen «Schaum<br />
aus Eis». Diese Struktur bleibt jedoch keineswegs erhalten. Je nach<br />
Umgebungsbedingungen wie Temperatur, Wind und Strahlung verändert<br />
sie sich weiter.<br />
Eine sehr langsame Veränderung der Schneestruktur findet statt, wenn der<br />
Schnee eine konstante Umgebungstemperatur hat. Die Schneemetamorphose<br />
(Umwandlung der Schneekristalle) wird dabei lediglich durch das<br />
physikalische Prinzip der Energiemin<strong>im</strong>ierung angetrieben: Die zu Beginn<br />
stark verästelten Schneekristalle «versuchen» eine energieärmere Form zu<br />
erhalten, in dem sie sich in gröbere, rundlichere Kristalle mit einer kleineren<br />
Oberfläche verwandeln. Solche konstanten Temperaturbedingungen<br />
findet man vor allem in den tiefen Schichten einer polaren Schneedecke.<br />
In den oberflächennahen Schichten der saisonalen, alpinen Schneedecke<br />
sind es vor allem räumliche Temperaturunterschiede, die zu einer deutlich<br />
schnelleren Strukturänderung der Kristalle führen.<br />
Die physikalischen Eigenschaften <strong>des</strong> Schnees wie Wärmeleitfähigkeit<br />
oder Festigkeit hängen letztlich von der Struktur <strong>des</strong> Netzwerks ab, in dem<br />
die Eiskristalle angeordnet sind. Diese dreid<strong>im</strong>ensionale Struktur lässt sich<br />
mittels Computertomografie eindeutig rekonstruieren,<br />
ähnlich wie damit in der Medizin auch Knochen und Gewebe untersucht<br />
werden.<br />
In der Natur wirken verschiedene Einflüsse gleichzeitig auf die Dynamik<br />
<strong>des</strong> Schnees ein und lassen sich nicht <strong>im</strong>mer klar trennen. Deshalb werden<br />
<strong>im</strong> Labor einzelne Aspekte separat untersucht, um so Schritt für Schritt<br />
weitere Puzzleteile der mechanischen und thermischen Eigenschaften<br />
von Schnee zu identifizieren. So trägt die Schneephysik stufenweise zum<br />
nachhaltigen Fortschritt in Lawinenvorhersage, Wintersportindustrie und<br />
Kl<strong>im</strong>aforschung bei. www.slf.ch<br />
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