Wien 1910: Karl Lueger
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FILmDOKumENtE<br />
<strong>Wien</strong> <strong>1910</strong>: <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong><br />
Filmdokumente<br />
<strong>Wien</strong> vor 100 Jahren: Der ebenso legendäre wie umstrittene <strong>Wien</strong>er Bürgermeister <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong><br />
wird zu Grabe getragen. Die von ihm geprägte Ära, insbesondere auch die antisemitische Agitation<br />
im <strong>Wien</strong> der Jahrhundertwende, reflektieren historische Filmdokumente – von Originalaufnahmen<br />
<strong>Lueger</strong>s bis zum NS-Propagandafilm WIEN <strong>1910</strong>. Im Anschluß Podiumsdiskussion.
<strong>Wien</strong> <strong>1910</strong>: <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong> und das andere<br />
<strong>Wien</strong> der Jahrhundertwende<br />
DIENSTAG 18.5., 19:30<br />
»Allein er nimmt auch noch die Verzagtheit von den<br />
<strong>Wien</strong>ern … Er lobt sie … Er entbindet sie jeglichen<br />
Respekts. Er, ein Gebildeter, … zerfetzt die Ärzte,<br />
zerreißt die Advokaten, beschimpft die Professoren,<br />
verspottet die Wissenschaft; er gibt alles preis, was<br />
die menge einschüchtert und beengt, er schleudert<br />
es hin, trampelt lachend darauf herum … Er bestätigt<br />
die <strong>Wien</strong>er unterschicht in allen ihren Eigenschaften,<br />
in ihrer geistigen Bedürfnislosigkeit, in ihrem<br />
mißtrauen gegen die Bildung, in ihrem Weindusel,<br />
in ihrer Liebe zu Gassenhauern, in ihrem Festhalten<br />
am Altmodischen, in ihrer übermütigen Selbstgefälligkeit;<br />
und sie rasen vor Wonne, wenn er zu<br />
ihnen spricht.« (Felix Salten über <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong> 1909) 1<br />
– »<strong>Wien</strong> um 1900« wurde längst zu einem mythos.<br />
Jedem »gelernten Österreicher«, aber auch dem<br />
geschulten touristen sind über Ausstellungen, Kataloge<br />
und medien geprägte Assoziationen geläufig.<br />
Die Vertreter der <strong>Wien</strong>er Secession und der <strong>Wien</strong>er<br />
Werkstätte, Expressionisten, Architekten, atonale<br />
musiker, moral und Idylle verwerfende Literaten und<br />
Psychoanalytiker stehen für die <strong>Wien</strong>er moderne.<br />
Heute sind die einstigen Freigeister – ob sie nun<br />
Schiele, Loos, Schönberg oder Freud heißen mögen<br />
– zu österreichischen und oft speziell <strong>Wien</strong>erischen<br />
geistig-kulturellen Ikonen geworden. Doch die für<br />
Aufklärung und gegen prüde Bürgerlichkeit kämpfenden<br />
»Rebellen« begeisterten um 1900 nicht die<br />
massen. Vielmehr wurden sie mit den Schlagworten<br />
»international«, »entartet« und »jüdisch« vehement<br />
bekämpft. Einer, der sich dieser Antipathien, konser-<br />
FILmDOKumENtE<br />
vativen traditionen und alt hergebrachten Feindbildern<br />
wie kein anderer bediente, war der langjährige<br />
<strong>Wien</strong>er Bürgermeister <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong>. Er, aus kleinbürgerlichen<br />
Verhältnissen stammend, gab sich stets<br />
volksnah, hatte ein sicheres Gespür für Stimmungen<br />
und redete dem Volk nach dem mund. Das Kleinbürgertum,<br />
jene, die sich benachteiligt fühlten, konnte<br />
der charismatische Redner für sich gewinnen. Die an<br />
der misere des »kleinen mannes« Schuldigen waren<br />
schnell gefunden: die Aristokratie, die »jüdische«<br />
Intelligenz und Hochfinanz, die »Ostjuden« und<br />
letztlich auch die Sozialdemokratie als »Judenschutztruppe«.<br />
2 Für <strong>Lueger</strong> war der Antisemitismus<br />
vor allem mittel zum Zweck, ein Instrument, um die<br />
massen anzusprechen, doch er schürte damit tiefliegende<br />
Ressentiments. mit seiner fortschrittlichen<br />
Kommunalpolitik (Gas-, Strom- und Wasserversorgung,<br />
Errichtung von Spitälern, Bädern, Schulen und<br />
Grünanlagen, Sicherung des öffentlichen Nahverkehrs<br />
und Einführung der städtischen Bestattung)<br />
macht er <strong>Wien</strong> zur modernen metropole und wurde<br />
zum »Volkskaiser«, zum »Herrgott von <strong>Wien</strong>«. Sein<br />
antijüdischer Populismus ließ ihn aber auch zum<br />
»Vater des modernen Antisemitismus« avancieren<br />
und seine einstigen Parolen »<strong>Wien</strong> ist deutsch und<br />
muss deutsch bleiben« oder »Groß-<strong>Wien</strong> darf nicht<br />
Groß-Jerusalem werden« 3 scheinen heute noch so<br />
manchen einschlägigen Wahlstrategen zu inspirieren.<br />
Das dokumentarische Filmmaterial zu <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong><br />
ist bescheiden. Nur eine Aufnahme zeigt den von<br />
seiner schweren Krankheit bereits gezeichneten<br />
Bürgermeister anlässlich seines 64. Geburtstages<br />
umringt von Gratulanten (DR. KARL LuEGERS<br />
GEBuRtStAG 1908 IN LOVRANO). Daran schließen<br />
schon die Bilder seines prunkvollen Begräbnisses<br />
<strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong> um 1900<br />
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an: Die Stadt ist schwarz beflaggt, mehr als tausend<br />
Kutschen folgen dem Kondukt, menschenmassen<br />
säumen die Straßen (DER tRAuERZuG SEINER<br />
EXZELLENZ DES BÜRGERmEIStERS DR. KARL<br />
LuEGER).<br />
<strong>Lueger</strong>s »anderes <strong>Wien</strong>« – die Schattenseiten:<br />
Armut, Ausgrenzung, nationale und ideologische<br />
Konflikte – lässt sich über die geschönten Filmdokumente<br />
kaum nachvollziehen. Der Film tYPEN uND<br />
SZENEN AuS DEm WIENER VOLKSLEBEN bildet eine<br />
Ausnahme. Er zeigt mit recht sarkastischem Humor<br />
eine visuell meist ausgesparte Seite der Residenzstadt:<br />
Eine betagte Frau sichert sich ihren Lebensunterhalt<br />
mit dem Verkauf von Blumen. Verwahrloste<br />
trunkene männer suchen nach einem Weg, ihren<br />
Rausch zu verlängern. Deutschnationale Studenten<br />
pöbeln Passanten an, ein jüdischer Kleinhändler wird<br />
hämisch vertrieben. Hier erahnt man jenes <strong>Wien</strong>,<br />
in welchem die sozialen, ethnischen und religiösen<br />
Konflikte des Vielvölkerstaates kulminieren. In der<br />
damals sechstgrößten Stadt der Welt suchten neue<br />
FILmDOKumENtE<br />
Gesellschaftsgruppen nach politischer mitspra-<br />
che und ermöglichten die Etablierung moderner<br />
massenparteien (Christlichsoziale, Deutschnationale,<br />
Sozialdemokraten). Die bereits geschwächte monar-<br />
chie, das Festhalten an alten Besitzansprüchen und<br />
traditionellen Glaubenssätzen sowie zunehmende<br />
modernisierungsängste erzeugten eine allgemeine<br />
unsicherheit, welche Populisten zu nutzen wussten.<br />
Beeinflusst von der antisemitischen Agitation im<br />
<strong>Wien</strong> der Jahrhundertwende war Adolf Hitler, der<br />
zwei ihrer Protagonisten in Mein Kampf allzu gerne<br />
zitierte: Georg Schönerer und <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong>. Schönerer,<br />
der radikale Deutschnationale und spätere<br />
Führer der Alldeutschen Vereinigung, war ein fanatischer<br />
Bismarck-Verehrer, setzte sich – anders als<br />
<strong>Lueger</strong> – für den Anschluss »Deutsch-Österreichs«<br />
an das Hohenzollernreich und die Zerschlagung<br />
der Habsburgermonarchie ein. Hitler übernahm<br />
teile von Schönerers politischen Grundsätzen, die<br />
vor allem auf der Vormachtstellung des deutschen<br />
Volkes, dem germanischen Führerkult und einem<br />
WIEN <strong>1910</strong> | D/A 1942<br />
aggressiven Rassenantisemitismus beruhten. 4<br />
Widersprüchlich gestaltete sich Hitlers spätere<br />
Einstellung zu <strong>Lueger</strong>. Er anerkannte wohl dessen<br />
Fähigkeit, die massen durch sein Rednertalent und<br />
den Hang zur Selbstinszenierung zu begeistern,<br />
kritisierte aber den »Scheinantisemitismus« des<br />
<strong>Wien</strong>er Bürgermeister. Letzterer bediente sich eines<br />
religiösen Antisemitismus, auch wenn er dessen<br />
harte rassische Variante in seinen Reihen durchaus<br />
duldete. 5 Für den »Führer« des Dritten Reiches war<br />
dies zu wenig – das Rassenprinzip hatte zu gelten.<br />
Es wundert nicht, dass die Verehrung Schönerers<br />
und <strong>Lueger</strong>s nach dem »Anschluss« neuerlich<br />
aufflammte. Das NS-Regime widmete ihrer Gegnerschaft<br />
einen Propaganda-Spielfilm, produziert<br />
von der sonst vornehmlich für leichte unterhaltung<br />
sorgenden <strong>Wien</strong>-Film. WIEN <strong>1910</strong> ist allen voran eine<br />
Huldigung für den »sterbenden großen Bürgermeister«.<br />
Seine Feinde – Habsburg, der Hochadel, die<br />
»Finanzhaie« und die »jüdische« Sozialdemokratie<br />
– erwarten mit hämischer Vorfreude das Ableben<br />
<strong>Lueger</strong>s. Er will, dem tode nahe, noch Stärke<br />
beweisen, nimmt mit letzter Kraft offizielle Auftritte<br />
war und sucht ein klärendes Gespräch mit seinem<br />
politischen Rivalen Georg Schönerer. Eine Auseinandersetzung<br />
zwischen den Anhängern beider Lager<br />
hat wieder einmal tote gefordert. Schönerer ziert<br />
sich, lehnt eine Aussprache ab und richtet auch<br />
zuletzt noch über das zu sanfte, einende Wesen des<br />
Bürgermeisters. Er, Schönerer, wäre stets konsequenter<br />
und vorausschauender gewesen. Der Film
vermittelt, dass die deutschnationale, antiliberale,<br />
antisemitische und antisozialdemokratische Einstellung<br />
Alldeutsche und Christlichsoziale verbindet<br />
und ein miteinander schon damals die Durchsetzung<br />
gemeinsamer Ziele ermöglicht hätte. Die Schuld am<br />
einstigen Scheitern wird in WIEN <strong>1910</strong> aber eindeutig<br />
Schönerer zugewiesen, der den negativen Part zu<br />
<strong>Lueger</strong> gibt. Die »letzten Schönerianer« hätten diese<br />
Darstellung nicht goutiert und auch den machthabern<br />
in Berlin war »<strong>Lueger</strong> zu volkstümlich« und<br />
»Schönerer zu blass« gezeichnet. Der Film kam daher<br />
letztlich nie in der »Ostmark« zur Aufführung. 6<br />
(Karin moser)<br />
Anmerkungen<br />
1 Felix Salten, Das österreichische Antlitz, Berlin o. J. (1909), S. 132 f.<br />
2 Brigitte Hamann, Hitlers <strong>Wien</strong>. Lehrjahre eines Diktators, münchen<br />
2001, S. 411.<br />
3 Ebd., S. 396 und S. 404.<br />
4 Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische<br />
Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, <strong>Wien</strong> 1994, S. 121 f.<br />
5 Siehe zu dieser Entwicklung v. a. John W. Boyer, <strong>Karl</strong> <strong>Lueger</strong><br />
(1844–<strong>1910</strong>). Christlichsoziale Politik als Beruf. Eine Biografie, <strong>Wien</strong><br />
2010, S. 123–177.<br />
6 Walter Fritz, Im Kino erlebe ich die Welt, <strong>Wien</strong> 1996, S. 193 f.<br />
FILmDOKumENtE<br />
Vorprogramm<br />
DR. KARL LUEGERS GEBURTSTAG 1908 IN<br />
LOVRANO A 1908<br />
stumm, s/w, LÄNGE (Ausschnitt) 1’30’’<br />
PRODUKTION: unbekannt<br />
DER TRAUERZUG SEINER EXZELLENZ DES<br />
BÜRGERMEISTERS DR. KARL LUEGER A <strong>1910</strong><br />
stumm, s/w, LÄNGE (Ausschnitt) 2’<br />
PRODUKTION unbekannt<br />
TYPEN UND SZENEN AUS DEM WIENER<br />
VOLKSLEBEN A 1911<br />
stumm, s/w, LÄNGE 5’35’’<br />
PRODUKTION Österreichisch-ungarische Kinoindustrie<br />
Hauptprogramm<br />
Mit einer Einführung von Gernot Heiß<br />
WIEN <strong>1910</strong> D/A 1942<br />
REGIE E. W. Emo<br />
BUCH Gerhard menzel<br />
KAMERA Sepp Ketterer, Hans Schneeberger<br />
MUSIK Willy Schmidt-Gentner<br />
MIT Rudolf Forster, Heinrich George, Herbert Hübner,<br />
O. W. Fischer, Lil Dagover, Harry Hardt, Rosa Albach-Retty<br />
PRODUKTION <strong>Wien</strong>-Film<br />
LÄNGE 92 minuten<br />
Podiumsdiskussion<br />
DR. KARL LUEGERS GEBURTSTAG 1908 IN<br />
LOVRANO | A 1908<br />
WIEN <strong>1910</strong> | D/A 1942<br />
Es diskutieren Veronika Kocher, Heidemarie<br />
Uhl, Gernot Heiß und Hannes Leidinger.<br />
Moderation Günter Kaindlstorfer<br />
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