Schlesischer Gottesfreund - Gemeinschaft evangelischer Schlesier
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BEITRÄGE 20<br />
Lücken in Häuserzeilen gerissen worden und auch die<br />
Sprengung der inzwischen wiedererrichteten Atstadtbrücke<br />
hatte zu Schäden beiderseits des Flußes geführt, aber im<br />
Wesentlichen hatte der Ort bis in die 50er Jahre hinein sein<br />
ursprüngliches Gesicht bewahrt. Im deutsch gebliebenen<br />
Westteil der Stadt versuchten engagierte Denkmalpfleger zu<br />
retten, was zu retten ist. Von einem solchen wird im<br />
Folgenden noch die Rede sein. Aber – und auch das muß<br />
auszusprechen erlaubt sein – all diese Bemühungen hätten<br />
ohne die politische Wende des Jahres 1989 die Stadt nicht<br />
vor dem endgültigen Verfall retten können. Im seit 1945 zu<br />
Polen gehörenden Ost-Görlitz gab es von jeher nur einen<br />
kleinen Stadtteil unmittelbar am Neißeufer, dessen Entstehung<br />
auf das Mittelalter zurückgeht. Dennoch zeigt der Blick<br />
auf ein altes Luftbild eine enge und charakteristische<br />
Bebauung, der die beiden ungleichen Stadtteile zu einem<br />
harmonischen Ganzen zusammenführte. Heute fehlen dort<br />
jegliche Spuren eines vormals lebendigen Miteinanders.<br />
Ganz wenige Häuser stehen noch, und um deren Äußeres ist<br />
es nicht gerade gut bestellt.<br />
Um nicht mißverstanden zu werden, es geht nicht um<br />
Schuldzuweisung, sondern vielmehr um die Frage, wie es<br />
soweit kommen konnte. Eine recht bemerkenswerte<br />
Antwort erhielt ich vor Jahren von einem alten polnischen<br />
Schuhmachermeister. Zwar zielte das Gespräch auf seine<br />
ganz persönlichen Befindlichkeiten, aber die Worte, die er<br />
fand, sind auch in diesem Zusammenhang von großer<br />
Bedeutung: „Meine Füße gehen auf Pflaster, das Deutsche<br />
verlegten. Ich wohne in einem Haus, das nicht mein Vater<br />
errichtete. Ich sitze unter Bäumen, die nicht gepflanzt wurden,<br />
um mir und meinen Landsleuten Schatten zu spenden<br />
und ich werde in einer Erde ruhen, die keinen sonst meiner<br />
Angehörigen bedeckt.“<br />
Letztendlich sprach er das aus, was tausenden „Neu-<br />
<strong>Schlesier</strong>n“ nach der Grenzverschiebung auf der Seele lag:<br />
im neuen Zuhause nicht daheim zu sein, eine Heimat, die<br />
anderen genommen worden war, nur schwerlich als eigene<br />
annehmen zu können.<br />
Was im Ostteil von Görlitz in besonderer Weise augenfällig<br />
ist, wiederholt sich im Niederschlesischen vielfach. Was<br />
seinerzeit nicht als Erbe angenommen werden konnte und<br />
entsprechend stiefmütterlicher Behandlung ausgesetzt war,<br />
ist heute – nachdem sich die politischen Verhältnisse geändert<br />
haben und darüberhinaus viele polnische Menschen<br />
ein neues unverkrampfteres Verhältnis zu Schlesien aufbauen<br />
konnten – in vielen Fällen unrettbar verloren.<br />
Aber es gibt auch Gegenbeispiele, ein Aufbegehren gegen<br />
den Verfall, die Unachtsamkeit im Umgang mit Geschichte<br />
und ein neues Bewußtsein, das schlesische Erbe als gemeinsame<br />
Verpflichtung zu bewahren und voranzubringen.<br />
In den folgenden Monaten wird unter dem Titel „Alte<br />
Mauern“ an Aktionen, Ereignisse und Menschen im Zusammenhang<br />
mit alten Gemäuern erinnert werden, die von<br />
jeher schlechtem Zeitgeist ein gutes Zeichen entgegenzusetzen<br />
wußten.<br />
Grufthaus auf dem Görlitzer Nikolaifriedhof Foto: ANN<br />
OKR i.R. Norbert Ernst erinnert in einem Artikel an einen<br />
Görlitzer, der sich in den Jahren der DDR um den Erhalt<br />
bedrohter Kulturgüter große Verdienste erwarb<br />
„Im November 2008 fand in Kassel die Ehrung zweier<br />
Persönlichkeiten durch die Gesellschaft für Bestattungsund<br />
Friedhofskultur statt. Einer der beiden war ein Görlitzer,<br />
ein schlesischer Oberlausitzer, Horst Kranich, Bauingenieur<br />
in seinen aktiven Berufszeiten, oberster Denkmalsschützer<br />
und Gebäudeaufseher in der etwas maroden Stadt Görlitz.<br />
Er meinte, daß er stets mit einem Bein im Gefängnis gestanden<br />
habe auf diesem Posten, falls etwas passierte, falls ein<br />
Haus einstürzte. Seine Verantwortung war wohl größer als<br />
die vieler seiner Mitbürger.<br />
Als er „in Rente ging“, wie es in der DDR hieß, nahm er<br />
sich, weil er nun eben Nachbar des Görlitzer historischen<br />
Nikolaifriedhofes mit Pestacker und Nikolaikirche war, dieses<br />
alten Nachbarn an, bemerkte die Gefährdung des<br />
Dachstuhls der Kirche und sorgte für seine Rettung. Er<br />
scharte eine Gruppe von Rentnern um sich, mit denen er<br />
sich um die Erhaltung der etwa 400 Grabdenkmale des<br />
Kirchhofes von St. Nikolai bemühte. Jacob Böhme liegt hier<br />
begraben, den die Philosophen als den ersten deutschen<br />
Philosophen preisen, den die Christen aber als Theosophen<br />
bezeichnen, den man in Görlitz freilich kaum kennt, dessen<br />
Werke aber in Japan, Moskau, den Niederlanden und in<br />
Amerika gelesen werden. Und der Maler Avenarius hat hier<br />
sein Grab, der in Gerhart Hauptmanns Villa Wiesenstein in<br />
Agnetendorf die Halle wunderbar ausgemalt hat. Ricarda<br />
Huch, die alte Dame in unserer Literatur, hat den Nikolaifriedhof<br />
einen der schönsten Bergfriedhöfe Deutschlands