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12 Fokus besetzten Früchten, die sich im Fell von Tieren festsetzen, verbreitet die Klette ihre Samen ohne eigenes Zutun über weite Strecken. Ohne die selbstreinigenden Blätter wäre die Photosynthese der Lotosblume zeitweise reduziert. Beim Hornissennest tritt der sorgsame Umgang mit Energie noch viel deutlicher zu Tage. Die Insekten unterwerfen alles dem Diktat der Energieeffizienz: das Baumaterial, die Bauweise, das Verhalten. Wissenschaftler der Ab - teilung Holz der Eidgenössischen Material - prüfungs- und Forschungsanstalt Empa um Klaus Richter (siehe Serviceleiste oben) konnten das thermodynamische Verhalten von Hor - nissen erstmals unter Laborbedingungen untersuchen. Zwei Hornissenpopulationen standen während eines ganzen Lebenszyklus von Mai bis Oktober unter Beobachtung. In diesem ganzen Zeitraum schafften es die Hornissen, im Innern ihres Nestes eine Temperatur aufrechtzuerhalten, die nur um wenige Grad von der idealen Bruttemperatur von 29 °C abwich. Das ist verblüffend, wenn man bedenkt, dass die Aussentemperatur gegen Ende der Brutzeit bis auf 14 °C absinkt. An den Isolationseigenschaften des Baumaterials alleine könne es nicht liegen, stellt Richter klar: «Die Leichbaukonstruktion aus abgenagten Holzspänen und Speichel hält zwar den Energieverbrauch bei der Bautätigkeit tief, bietet aber nur eine leichte Wärmedämmung.» Mit anderen Worten: Steigende oder sinkende Temperaturen im Aussenklima haben eine unmittelbare Wirkung auf das Innenklima. Die spezifische Struktur des Nestes wirkt dem entgegen. Das Material ist äusserst porös und bietet so eine grosse Oberfläche, die Feuchtigkeit aufnehmen kann. Die Hornissen würden die Feuchtigkeit sozusagen als Wärmespeicher nutzen, erklären die Forscher. In der Nacht oder an kalten Tagen wird Feuchtigkeit vom Wandmaterial aufgenommen. Dabei entsteht Kon- [ Bionik an der Empa ] Auf dem Holzweg Innerhalb der von Klaus Richter verantworteten Abteilung Holz an der Empa beschäftigt sich die Gruppe Holzwissenschaft auch mit dem Thema Biomimetik. Biomimetik, auch Bionik genannt, steht für das systematische Lernen von der Natur. Bäume und andere verholzte Pflanzen haben eine 100 Millionen Jahre dauernde Evolution hinter sich, die zu erstaunlichen Eigenschaften geführt hat. Die Forscher der Empa untersuchen diese Eigenschaften, um Hinweise für die Verarbeitung, Veredelung und den Einsatz von Holz zu gewinnen. densationswärme. Umgekehrt wird so das Nest bei hohen Aussentemperaturen durch Verdunstung gekühlt. Genügsame Insekten als Vorbild Das Baumaterial ist das eine, das Verhalten der Hornissen das andere. Die Tiere können die beschriebenen Effekte durch eigene Aktivitäten noch verstärken. So erhöhen sie durch Transpiration die Luftfeuchtigkeit im Innern oder fördern mit kräftigen Flügelschlägen am Nestausgang die Wärmeabfuhr. Letzteres bedingt eine gute Zirkulation der Luft im ganzen Nest. Diese wird durch die typische Etagenbauweise erleichtert. Effizienz an allen sechs Ecken und Enden. Sogar die Wabenstruktur ist optimal. Keine andere Form bringt auf gleicher Fläche bei gleichem Materialaufwand so viele Waben unter. «Nichts am Hornissennest ist zufällig», schlussfolgert Richter. Selbst die Anzahl Schichten in der Aussenhülle – es sind höchstens vier – folgt dem Grundsatz der Optimierung. Um mehr Schichten zu bauen, wäre der Energieaufwand im Verhältnis zur Lebensdauer des Hornissenvolkes zu gross. Hier liegen wohl auch die Grenzen der Übertragbarkeit auf unsere Bauten. Hornissen fangen jedes Jahr wieder bei null an. Architekten hingegen müssen ihre Gebäude für mehrere Jahrzehnte auslegen. Trotzdem findet Richter das Verhalten der Hornissen inspirierend: «Die Genügsamkeit dieser Insekten sollte uns zu denken geben. Während der Mensch nach immer grösserer Wohnfläche strebt, geben sich die Energieproduktion: Vogelschwingen als Inspiration für Windkonzentratoren. Hornissen mit dem kleinstmöglichen Raum zufrieden. Solange die Population nicht wächst, wird auch nicht ausgebaut.» Bauen, jagen, klimatisieren. Die Hornissen tun das mit minimalem Energieaufwand und optimalem statt maximalem Ertrag. Denn für Hornissen und jeden anderen Vertreter des Tierreiches gibt es keine Verschwendung. Das einzige Lebewesen ohne Mass beim Energieverbrauch ist zurzeit noch der Mensch. «Der Blick auf die Natur lohnt sich. Speziell, wenn man noch näher ran geht. Der aktuelle Fokus unserer Forschung und der Bionik im Allgemeinen liegt deshalb vor allem in der Betrachtung kleinster Strukturen im Nanobereich», führt Richter aus. Das Potenzial der Bionik ist auf jeden Fall noch lange nicht ausgeschöpft. Bis anhin wurden erst etwa hundert Tier- und Pflanzenarten genauer unter die Lupe genommen. Womöglich lassen sich mit dem Wunder der Evolution noch ein paar Millionen Jahre Entwicklungsarbeit einsparen. MATTHIAS BILL