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HAYWIRE Issue <strong>11</strong> <strong>Spring</strong> <strong>2018</strong><br />
30<br />
Die Zahl, der Name und das Sein<br />
By Axel Schäfer, Ethics Department<br />
Es war nicht zu fassen! Ich hatte mich<br />
wirklich, wie eigentlich immer, auf meine Mutter<br />
gefreut. Und sie schien auch mich ungeduldig erwartet<br />
zu haben. Hatte mich strahlend vom Zug<br />
abgeholt, mich umarmt und geherzt. Hinter der<br />
Wohnungstür standen bereits meine Hausschuhe<br />
bereit, sie hatte mein Lieblingsessen gekocht und<br />
die Zahnbürste hingelegt. Es hätte ein schöner<br />
Abend werden können. Wie in den alten Zeiten…<br />
Doch nein, keine fünf Minuten nachdem ich<br />
mich gesetzt hatte, musste sie mir ihre neueste Entdeckung<br />
aufdrücken: Numerologie und Zahlenorakel,<br />
also wirklich, ging es noch dümmer?!<br />
Es half nichts, dass ich mich ostentativ langweilte,<br />
nicht auf sie einging und mehrfach versuchte,<br />
das Thema zu wechseln. Unerbittlich rieb<br />
sie mir diesen widerlichen Unfug unter die Nase.<br />
Dasselbe geheime Wissen ziehe sich von<br />
den Babyloniern, Altägypten über die Bibel bis<br />
heute. Der begnadete Geistreisende und Historiker<br />
Wolfgang Emothep Peckel, so ging es weiter, hätte<br />
dies schon Anfang des letzten Jahrhunderts für alle<br />
offenen Geister nachgewiesen. Die von ihm rekonstruierte<br />
Methode sei bis heute gültig. Und nun<br />
habe Grigori Grabovoi, der mir doch sicher bekannte<br />
russische Zahlenmystiker, experimentell und<br />
unwiderlegbar gezeigt, dass „Zahlen die Sprache<br />
des Universums seien, welche die Materie schafft<br />
und organisiert.“ Und ob mir nicht klar wäre, was<br />
das für Möglichkeiten eröffne.<br />
Selbst nach meinem verächtlichen Schnauben<br />
gab sie sich nicht geschlagen. Pythagoras, der<br />
müsste mir als Mathematiker doch was sagen, hätte<br />
bereits lange vor Christus erkannt: „Die Zahlen<br />
seien das Wesen der Dinge.“ Und das musste doch<br />
stimmen, warum sonst gäbe es bei allen Kulturen<br />
Unglückszahlen, wie die 13, bla, bla, bla …<br />
Wann hatte dieser ganze Mist eigentlich<br />
angefangen? Ziemlich genau, wenn ich darüber<br />
nachdachte, mit meinem Studienbeginn. Je tiefer<br />
ich mich in die akademische Welt einarbeitete, je<br />
mehr ich mit meinen Studien vorankam, desto tiefer<br />
verirrte sie sich in die esoterische Müllhalde. Ihre<br />
„Suche“ glich einer verzerrten Spiegelung meiner<br />
intellektuellen Bemühungen. Entdeckte ich Platons<br />
Dialoge, Descartes Cogito oder Kants Metaphysik,<br />
fand sie Rudolf Steiners Anthroposophie, die Gralswissenschaft<br />
oder Nostradamus Prophezeiungen.<br />
Meinem Diplom in Mathematik und später<br />
der Promotion „Zum Nutzen der Eulerschen Zahl in<br />
der analytischen Geometrie“ stellte sie die Weihung<br />
zur Feinstofftherapeutin und Hexerin 3. Grades bei<br />
Guru Javishna Ananda (eigentlich, wie ich recherchierte,<br />
ein Typ namens Andreas Schröder) und die<br />
Initiation zur Schamanin des siebenten Zirkels in<br />
einer Neuköllner Einzimmerwohnung entgegen.<br />
Anfangs hatte ich ihr begeistert von meinen<br />
Erkenntnissen berichtete, hatte wirklich versucht,<br />
sie an meinem Zugang zum Wissen und meiner<br />
geistigen Entwicklung teilhaben zu lassen. Doch<br />
sie hatte offensichtliche Schwierigkeiten, mir zu<br />
folgen, wurde immer kritischer und sogar abwertend.<br />
Immer aufs neue war mein Enthusiasmus bei<br />
ihr verpufft. Und das schlimmste: Sie weigerte sich<br />
stur, den Unterschied zwischen echter Wissenschaft<br />
und ihrem Hokuspokus anzuerkennen.<br />
Woher kam das nur? Sie war es doch selbst<br />
gewesen, die mich immer zum Abitur (das ihr nicht<br />
möglich gewesen war) und dann zur Universität<br />
gedrängt hatte. Jetzt aber schien sie mir den Bildungsvorsprung<br />
doch tatsächlich zu neiden.<br />
Erst hatte ich das nicht wahrhaben wollen.<br />
Aber die ganze Geschichte folgte einer nicht<br />
zu verkennenden Systematik. Es erinnerte<br />
irgendwie an eine dieser alten Waagen, die<br />
immer wieder ausgeglichen werden mussten,<br />
indem man Kontergewichte nachlegte. Ganz<br />
ähnlich häufte sie, als verzweifelte Antwort<br />
auf jeden meiner Erfolge, immer neuen Mist<br />
auf ihre Seite, ob nun Hellsehen, Handlesen,<br />
Pendeln oder Energiereisen.<br />
Ihre laienhaft vorgetragenen Einwände und<br />
Meckereien gegen die Ergebnisse meiner Arbeit<br />
waren so absurd, dass sie einfach an mir<br />
abperlen hätten müssen. Dem war jedoch