Almanah 2018/2019
Das Jahrbuch für Diversität
Das Jahrbuch für Diversität
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almanah<br />
<strong>2018</strong> / <strong>2019</strong> Jahrbuch für<br />
Diversität<br />
in Wirtschaft,<br />
Politik und<br />
Gesellschaft<br />
lmanah *<br />
* bosnisch/kroatisch/serbisch für »Almanach/Jahrbuch«<br />
AKTUELLE ENTWICKLUNGEN<br />
OMV-Chef über die russische Seele<br />
Lehrerinnen mit Kopftuch<br />
Schwimmheld mit Handicap<br />
SERVICE<br />
Zahlen, Daten, Fakten<br />
Unternehmen & Institutionen<br />
Best practice Beispiele<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 1
almanah<br />
Amar Rajković, Aleksandra Tulej, Simon Kravagna<br />
Marko Mestrović<br />
Liebe Leserin, lieber Leser,<br />
wie viele Weihnachtskarten haben Sie geschrieben? Vielleicht sollten<br />
Sie sich ein Beispiel an Rainer Seele nehmen. Der OMV-Chef hat rund<br />
1000 persönliche Grüße verschickt – in alle Welt. Handgeschrieben,<br />
versteht sich. Der deutsche Manager weiß um die Bedeutung persönlicher<br />
Beziehungen und interkultureller Kompetenzen, wie er<br />
im <strong>Almanah</strong> – Jahrbuch für Diversität in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft<br />
erklärt. Übrigens, der von Russlands Präsident Wladimir Putin<br />
angekündigte Freundschaftsorden wurde an den OMV-Chef bereits<br />
überreicht.<br />
VIELFALT IST UNSER PROGRAMM!<br />
EINE LEHRE MIT<br />
ZUKUNFTSPERSPEKTIVE?<br />
NASICHER<br />
nasicher.at<br />
Austro-chinesische<br />
Anwälte, Lehrerinnen<br />
mit Kopftuch &<br />
ein Paralympic-<br />
Schwimmstar: Erlesen<br />
Sie das Jahrbuch für<br />
Diversität.<br />
Vom Geschäft zum Geschlecht: Mona Eltahawy hat Tattoos, rote<br />
Haare und spricht offen über Sex. Die in Amerika lebende Ägypterin<br />
erzählt im Interview von weißen Feministinnen und warum es<br />
eine sexuelle Revolution im mittleren Osten braucht. Österreich wiederum<br />
braucht dringend „No more Bullshit: Das Handbuch gegen<br />
sexistische Stammtischweisheiten“. Einen Auszug aus dem Werk gibt<br />
es ebenfalls im vorliegenden <strong>Almanah</strong> zu lesen - so wie viele „best<br />
practice“-Beispiele, die zeigen, wie Diversität in Unternehmen und<br />
Institutionen erfolgreich gelebt werden kann.<br />
Abschließend noch eine beeindruckende Lebensgeschichte: Mit<br />
sechs Jahren verlor Andreas Onea bei einem Autounfall seinen linken<br />
Arm. Der heute 26-Jährige wuchs nicht mit dem Gedanken auf, dass<br />
er plötzlich etwas nicht mehr machen kann oder darf. Stattdessen<br />
begann er mit dem Schwimmen als Therapie. Heute kann Onea auf zig<br />
Medaillen bei Paralympic-Bewerben verweisen und sagt: „Man kann<br />
viele Dinge schaffen, wenn man fest an sich glaubt.“<br />
Simon Kravagna<br />
Herausgeber und Chefredakteur das biber<br />
Aleksandra Tulej<br />
Redaktionsleitung <strong>Almanah</strong><br />
Amar Rajković<br />
Redaktionsleitung <strong>Almanah</strong><br />
Ihre Meinung an redaktion@dasbiber.at<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 3
almanah<br />
INHALT<br />
Lehrerinnen mit<br />
Kopftuch<br />
HERKUNFT<br />
Arbnesa unterrichtet<br />
Mathe und Biologie an<br />
einer NMS. Sie dient in<br />
ihrer Schule als Vorbild<br />
für muslimische<br />
Mädchen. Aber der<br />
Bildungsminister will<br />
keine Lehrerinnen mit<br />
Kopftuch.<br />
16<br />
OMV-Chef Rainer Seele im Interview über den<br />
Freundschaftsorden, den er von Russland verliehen<br />
bekommen hat, warum er über eintausend<br />
Weihnachtskarten geschrieben hat und was er<br />
von Sebastian Kurz hält. 8<br />
Österreichs größte Anwaltskanzlei Wolf Theiss<br />
setzt auf austro-chinesische Top-JuristInnen.<br />
12<br />
Die Debatte rund ums Kopftuchverbot hat es von<br />
der Klasse ins Lehrerzimmer geschafft. Wie sieht<br />
der Alltag kopftuchtragender Lehrerinnen an<br />
Wiener NMS aus? 16<br />
Frauen, genießt<br />
euren Körper!<br />
GENDER<br />
Mona Eltahawy hat<br />
Tattoos, rote Haare und<br />
spricht offen über Sex.<br />
Die in Amerika lebende<br />
Ägypterin über weiße<br />
Feministinnen und<br />
warum es eine sexuelle<br />
Revolution im mittleren<br />
Osten braucht.<br />
22<br />
Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex:<br />
Auch so sind Musliminnen, sagt Autorin Mona<br />
Eltahawy, die weißen Feministinnen vorwirft,<br />
dass sie nur für Frauenrechte kämpfen und<br />
andere Probleme vergessen. 22<br />
Frauen an die Macht. Ein Auszug aus dem Buch<br />
„No more Bullshit – Das Handbuch gegen sexistische<br />
Stammtischweisheiten“. 26<br />
Melisa Erkurt fordert junge Frauen auf, Klassensprecherinnen<br />
zu werden! 30<br />
Gemeinsam<br />
für ein besseres Leben<br />
Wirtschaftsministerin Schramböck: Frauen<br />
Top-Ausbildung in 18 Lehrberufen<br />
Liebe NMS-Kinder<br />
Wie es wirklich in<br />
Klassenzimmern von<br />
„Brennpunktschulen“<br />
zugeht. Das Ergebnis<br />
ist überraschend. Und<br />
herzzerreißend. Und<br />
nein, es geht nicht zu<br />
wie in der Bronx. Von<br />
Melisa Erkurt.<br />
48<br />
sollen öfters das Gehalt ansprechen und Führungskräfte<br />
können auch in Teilzeit ihre Arbeit<br />
erledigen. 32<br />
INKLUSION<br />
Held mit Handicap. Andreas Onea verlor bei<br />
einem Autounfall als Kind seine linke Hand.<br />
Heute ist er einer der besten Para-Schwimmer<br />
weltweit. 40<br />
Über Initiativen und Vereine, an denen sich<br />
andere ein Beispiel nehmen sollten. 56<br />
Ivana und ihre Rolle als Mama für alles! 58<br />
Susanne Einzenberger, David Degner, Marko Mestrović<br />
Johannes Zimmerl* achtet darauf, dass unsere mehr als 1.700<br />
Lehrlinge eine Top-Ausbildung mit Zukunftschancen bekommen.<br />
Das Ergebnis: fast 43.000 MitarbeiterInnen – viele davon waren<br />
bei uns in der Lehre – kümmern sich mit viel Engagement und<br />
Know-how um unsere täglich 1,9 Mio. KundenInnen.<br />
* Johannes Zimmerl, Leiter Human Ressources, REWE International AG, mit<br />
Isabell Erian, Lennart Kühl, Therese Riegler, Sahat Benjamin, Gulbudin<br />
Rahmani und Maximilian Ludwicak stellvertretend für all unsere Lehrlinge<br />
www.rewe-group.at<br />
4<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
HERKUNFT<br />
OMV-Chef Rainer Seele wurde von Moskau ein Freundschaftsorden<br />
verliehen, Wolf Theiss setzt neuerdings auf austro-chinesische Juristen<br />
und kopftuchtragende Lehrerinnen an Wiener NMS müssen vielleicht<br />
bald um ihre Jobs fürchten.<br />
ПРОИСХОЖДЕНИЕ<br />
S. 8-11<br />
„GEHEN SIE INS ALTAI-GEBIRGE“<br />
OMV-Chef Rainer Seele über den Freundschaftsorden, den<br />
er von Russland verliehen bekommen hat, warum er über<br />
eintausend Weihnachtskarten geschrieben hat, was er von<br />
Sebastian Kurz hält und wie er die Frauenquote in der OMV<br />
erhöhen will.<br />
S. 12–13<br />
„HALLO, WIR SPRECHEN MANDARIN“<br />
Österreichs größte Anwaltskanzlei Wolf Theiss setzt auf<br />
austro-chinesische Top-JuristInnen. Über Sprache, kulturelles<br />
Gespür und darüber, warum diese Einstellung chinesischen<br />
Investoren gefällt.<br />
Russisch für Herkunft<br />
Marko Mestrović, Susanne Einzenberger<br />
S. 16–19<br />
„DU BIST JA GANZ NORMAL“<br />
Ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen scheint nur eine Frage<br />
der Zeit zu sein. Doch wie sieht der Alltag dieser Frauen aus?<br />
Zwei kopftuchtragende Wiener NMS-Lehrerinnen über ihre<br />
Vorbildfunktion, den Umgang im Lehrerzimmer und neugierige<br />
Eltern.<br />
6<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
„Meine größte<br />
Schwäche ist<br />
meine Ungeduld“<br />
OMV-Chef Rainer Seele<br />
über Russland und seinen<br />
Freundschaftsorden, warum er<br />
eintausend Weihnachtskarten<br />
geschrieben hat und die<br />
Frauenquote in der OMV.<br />
TEXT:<br />
Simon Kravagna<br />
FOTO:<br />
Susanne Einzenberger<br />
ALMANAH: Herr Seele, Sie sind in der OMV dafür<br />
bekannt, besonders viele Weihnachtskarten handschriftlich<br />
zu schreiben. Wie viele waren es denn diesmal?<br />
RAINER SEELE: So rund eintausend Karten, denke<br />
ich. Ich finde, man sollte zu bestimmten Anlässen ein<br />
persönliches Zeichen setzen. Das klingt vielleicht kitschig.<br />
Aber ein paar persönliche Worte bringen schon<br />
mehr Wertschätzung zum Ausdruck als jene Massenmails,<br />
die ich oft so vor Weihnachten bekomme.<br />
Wer bekam denn so eine Karte von Ihnen? Bundeskanzler<br />
Sebastian Kurz?<br />
Ja sicher, den schätze ich auch persönlich sehr.<br />
Und hat Russlands Präsident Putin eine Weihnachtskarte<br />
bekommen?<br />
Nein. Ich habe vor allem Geschäftspartnern geschrieben.<br />
Aber auch vielen Mitarbeitern und Freunden.<br />
Wie wichtig sind persönliche Beziehungen im internationalen<br />
Öl- und Gasgeschäft?<br />
Es gibt eine simple Erkenntnis: Vertrauen hilft enorm,<br />
nachhaltig Geschäfte zu machen. Diese Erkenntnis gilt<br />
wohl für die ganze Welt aber mit Sicherheit für Russland<br />
und den arabischen Raum. Wenn man eine gute<br />
Vertrauensbasis hat, geht man gemeinsam durch dick<br />
und dünn. Es hilft übrigens auch, sich nicht nur fürs<br />
Geschäft, sondern auch für die Kultur und die Menschen<br />
eines Landes zu interessieren.<br />
Sie gelten als Russland-Versteher. Sie sollen einmal<br />
gesagt haben: „Ein Russe spürt vom ersten Moment an,<br />
ob Sie ihm auf Augenhöhe begegnen.“ Sind Russen da<br />
besonders sensibel? Wie tickt die russische Seele?<br />
Ich bin kein Tiefenpsychologe. Aber auch in Russland<br />
hilft es, sich auf seine Gesprächspartner und das Land<br />
einzulassen.<br />
Wie machen Sie das konkret?<br />
Ich fahre nicht nur nach Russland, um Verträge zu<br />
unterzeichnen, sondern nehme mir ab und zu Zeit,<br />
Menschen zu treffen und mir das Land anzuschauen.<br />
Zurück zur Augenhöhe: Mit dominanten Modellen<br />
fahren Sie sowieso nie gut. Daher strebe ich immer<br />
gleichberechtigte Partnerschaften an – egal ob in<br />
Russland oder in Malaysien.<br />
Was gefällt Ihnen besonders gut in Russland?<br />
Da gibt es vieles. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft<br />
und die Kultur. Aber auch die Natur. Gehen<br />
Sie mal ins Altai-Gebirge. So ein wunderschöner Teil<br />
unberührter, geschützter Natur fasziniert mich. Eines<br />
der ersten Worte, die ich in Sibirien gelernt habe, ist<br />
übrigens Komáří, das heißt Mücken auf Russisch. Im<br />
Sommer wartet in Sibirien ja eine Mückenplage ‣<br />
„Vertrauen hilft<br />
enorm, nachhaltig<br />
Geschäfte zu<br />
machen.“<br />
8<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
almanah<br />
„Ich verstehe den<br />
Orden als Zeichen der<br />
Anerkennung, weil ich<br />
mich um die Beziehung<br />
zwischen Österreich und<br />
Russland bemühe.“<br />
Seele: „In Amerika denkt man mehr mit dem Kopf, in Russland und dem arabischen Raum mehr mit dem Herzen.“<br />
auf Sie. Aber im Altai-Gebirge gibt es keine Mücken, Nach der Republik Österreich ist Abu Dhabis Staatsfonds<br />
das ist unglaublich zu erleben, wenn Sie dort sind. IPIC der nächstgrößte Eigentümer. Wie kommen Sie mit<br />
Haben Sie eigentlich schon den Freundschaftsorden den arabischen Miteigentümern zurecht?<br />
bekommen, für den Sie von Präsident Putin vorgeschlagen<br />
wurden?<br />
trauen ist einfach das wesentliche Thema. In Amerika<br />
Ich erkenne sehr große Parallelen zu Russland. Ver-<br />
Ja, im Dezember. Aber man sollte einen Orden nicht denkt man mehr mit dem Kopf, in Russland und dem<br />
überbewerten. Ich verstehe ihn als Zeichen der Anerkennung,<br />
weil ich mich um die Beziehung zwischen Emotion hat einfach in den beiden Regionen mehr<br />
arabischen Raum mehr mit dem Herzen. Das Thema<br />
Österreich und Russland bemühe. Es ist nicht mehr, Bedeutung. Aber zur Klarstellung: Geschäftlich ist die<br />
aber auch nicht weniger.<br />
OMV dort tätig, wo wir die größten wirtschaftlichen<br />
Chancen sehen und nicht dort, wo ich gerne hinfahre.<br />
Kommen wir zu den USA: Wirkt sich die „America First“-Politik<br />
von Präsident Donald Trump auf die OMV aus?<br />
Nein, nicht direkt. Wir haben aber auch keinerlei<br />
geschäftliche Tätigkeiten in den USA. Wir spüren aber<br />
Druck bei Infrastrukturprojekten, die wir gemeinsam<br />
mit Partnern betreiben. Bei der von den USA abgelehnten<br />
Nord-Stream 2 Pipeline, die russisches Gas<br />
nach Europa bringen soll, erkennen wir, dass Wirtschaftspolitik<br />
mittels Sanktionspolitik betrieben wird.<br />
Die USA würden halt lieber ihr eigenes Flüssiggas in<br />
Europa vertreiben.<br />
Zu Präsident Trump: Verstehen Sie den Mann?<br />
Ich möchte mich da raushalten. Als jemand, der in<br />
Deutschland aufgewachsen ist, bin ich grundsätzlich<br />
ein Anhänger der transatlantischen Freundschaft.<br />
Da sehe ich doch mit einem gewissen Schmerz, dass<br />
die US-Regierung derzeit andere Prioritäten hat. Das<br />
Signal von Europa ist klar: Wir möchten Freundschaft<br />
mit Amerika. Aber wie man so schön sagt: Es braucht<br />
„two to tango“. Allerdings sollten wir nie ein Land mit<br />
seiner Regierung oder seinem Präsidenten gleichsetzen.<br />
Das gilt für die USA wie für Russland übrigens.<br />
Zu ihrer Heimat Deutschland. Hat Angela Merkel als<br />
Kanzlerin Großes geleistet?<br />
Ohne jegliche politische Leistung könnte sich eine<br />
Kanzlerin in einem so großen Land wie Deutschland<br />
nicht so lange halten. Wenn ich an Angela Merkel<br />
denke, denke ich als Erstes an ihre großartige Leistung<br />
bei der Bewältigung der Finanzkrise für Europa. Beim<br />
Thema Migration ist Deutschland – wie auch viele<br />
Länder in Europa - gespalten.<br />
Apropos Frauen an der Macht: Wo sind denn die Frauen<br />
im OMV-Vorstand?<br />
Da könnte ich mich jetzt auf den Aufsichtsrat herausreden.<br />
Das will ich aber gar nicht. Grundsätzlich ist<br />
mir wichtig zu sagen, dass man sich für den Vorstand<br />
auch durch besonders viel Erfahrung qualifiziert. Wir<br />
müssen daher zuerst einmal jenen Pool an Frauen<br />
erhöhen, die für so eine Funktion in Frage kommen.<br />
Daran arbeiten wir.<br />
Im Aufsichtsrat der OMV gibt es Frauen. Vielleicht aber<br />
nur, weil ein gewisser Frauenanteil gesetzlich vorgeschrieben<br />
ist. Sind Sie Fan derartiger Quoten?<br />
Wir haben uns im Unternehmen ja bereits selbst eine<br />
Quote gegeben. Bis zum Jahr 2025 wollen wir 25 Prozent<br />
Frauen im Management haben. Derzeit sind wir<br />
bei 18 Prozent, im Jahr 2010 waren es nur fünf Prozent.<br />
Wir holen auf. Wenn ich eine große Schwäche<br />
habe, dann ist es meine Ungeduld. Wir haben immer<br />
sehr viel über das Thema gesprochen, aber es hat sich<br />
nichts getan. Jetzt gibt es Ziele, die in Zahlen gegossen<br />
sind. Damit geht was weiter.<br />
Noch zum Thema Vielfalt im Konzern. Welche Sprache<br />
spricht man im Konzern?<br />
Bei unseren Standorten gilt die Landessprache. In<br />
Englisch wird untereinander kommuniziert. Wenn<br />
wir also jemanden ins Management der „Petrom“<br />
(OMV-Tochter) nach Rumänien schicken, erwarte ich<br />
mir, dass diese Person nach ein paar Jahren auch auf<br />
Rumänisch kommunizieren kann. In Wien sprechen<br />
wir Deutsch. Vor meiner Zeit war die Unternehmenssprache<br />
auch in Wien Englisch. Damit wollte man<br />
einen internationalen Anspruch betonen. Aber wir<br />
wollen uns bewusst nicht mehr als englischsprachiger<br />
Konzern verstehen, sondern als ein Unternehmen, wo<br />
Vielfalt großgeschrieben wird – sprachlich und kulturell.<br />
<br />
„Wir sollten nie ein<br />
Land mit seiner Regierung<br />
oder seinem Präsidenten<br />
gleichsetzen.“<br />
RAINER SEELE absolvierte sein Doktorats-Studium<br />
der Chemie an der Universität<br />
Göttingen. Von 2009 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender<br />
des deutschen Erdöl- und Erdgasproduzenten<br />
Wintershall, seit 2015 ist er Vorstandsvorsitzender<br />
des Mineralölkonzerns OMV.<br />
Rainer Seele ist verheiratet und Vater von drei<br />
erwachsenen Kindern.<br />
10 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
11
almanah<br />
almanah<br />
Hallo, wir sprechen<br />
TEXT:<br />
Simon Kravagna<br />
F O T O :<br />
Marko Mestrović<br />
Mandarin!<br />
Österreichs größte Anwalts kanzlei Wolf Theiss setzt auf austro-chinesische<br />
Top-JuristInnen. Chinesischen Investoren gefällt das.<br />
CHRISTIAN MIKOSCH<br />
Wolf Theiss Partner und<br />
Co-Leiter des China Desk.<br />
JIAYAN ZHU<br />
Anwältin und Co-Leiterin<br />
des China-Desk.<br />
ANGIE WONG<br />
Business Development und<br />
Marketing und Koordinatorin<br />
des China-Desk. Ihre Eltern<br />
stammen aus Hongkong.<br />
VENUS VALENTINA WONG<br />
Anwältin und Teammitglied<br />
des China-Desk.<br />
MARTIN LASCHAN<br />
Juristischer Mitarbeiter.<br />
Seine Mutter kommt aus<br />
Taiwan und er spricht<br />
fließend chinesisch (auch den<br />
taiwanesischen Dialekt).<br />
ZAIBAA THINGNA<br />
Business Development und<br />
Marketing. Zulassung als<br />
Anwältin in Indien.<br />
‣<br />
12 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
13
almanah<br />
„Wir wollen<br />
chinesischen<br />
Wolf Theiss-Anwalt Christian Mikosch<br />
Investoren die<br />
CEE-Region<br />
näherbringen.“<br />
„Wir wollen chinesischen Investoren<br />
die CEE-Region (Central and Eastern<br />
Europe) näherbringen“, erzählt Mikosch.<br />
Damit das besser gelingt, arbeiten für<br />
wenn im Vorhinein niemand weiß, wie viel<br />
Arbeit mit dem Auftrag verbunden ist“,<br />
erklärt Wong.<br />
Es braucht also viel Erfahrung und<br />
den „China-Desk“ der Kanzlei vor allem<br />
Fingerspitzengefühl, um zu einem Deal zu<br />
hochqualifizierte Austro-Chinesen. Und die<br />
kommen. Gut wäre es auch, die berühmten<br />
kommunizieren mit ihren Mandanten in<br />
feinen Unterschiede zu beachten, erzählt<br />
Anfangs waren es nur leere Kilometer.<br />
Ein Treffen mit dem zweiten<br />
Bürgermeister einer chinesischen<br />
Provinzhauptstadt da, ein Essen mit einem<br />
der vielen China-Experten dort. „Es war<br />
frustrierend. Außer Spesen nichts gewesen“,<br />
erinnert sich Anwalt Christian Mikosch an<br />
seine ersten Versuche, mittels der üblichen<br />
Polit-Kanäle und Freundschafts-Organisationen<br />
relevante Kontakte aufzubauen.<br />
„Irgendwann haben wir aber bemerkt,<br />
dass wir am besten mit vergleichbaren<br />
China auch auf Kantonesisch oder Mandarin.<br />
Jiayan Zhu, Anwältin bei Wolf Theiss und<br />
ebenfalls auf Merger & Acquisition spezialisiert,<br />
ist mit zehn Jahren gemeinsam mit<br />
ihren Eltern nach Österreich gekommen:<br />
„Ich musste hier erst Deutsch lernen. Jetzt<br />
bewege ich mich gut zwischen den beiden<br />
Welten.“<br />
Dabei geht es nicht nur um Sprache,<br />
sondern um kulturelles Gespür. „Für Chinesen<br />
ist es eine Schande, vor Gericht zu<br />
gehen“, erklärt Wolf Theiss-Anwältin und<br />
Expertin für Schiedsverfahren und alternative<br />
Streitbeilegung Venus Valentina Wong,<br />
Wong. Bitte die Visitenkarte mit beiden<br />
w<br />
Händen überreichen und nicht irgendwo in<br />
der Hosentasche verschwinden lassen. Das<br />
würde mangelnden Respekt zeigen. Und<br />
Respekt ist wichtig fürs Geschäft.<br />
Übrigens, mit Zaibaa Thingna hat Wolf<br />
Theiss auch eine in Indien zugelassene<br />
Anwältin mit an Bord. Die Absolventin der<br />
London School of Economics hat es zwar<br />
wegen der Liebe nach Wien verschlagen,<br />
aber wer weiß, sagt Mikosch: „Vielleicht<br />
kommt nach China der Indien-Boom. Dann<br />
sind wir auch dort vorne dabei.“ <br />
mehr<br />
en<br />
zum<br />
Wirtschaftskanzleien in China können“,<br />
erzählt der Mergers & Aquisitions-Experte in<br />
Österreichs größter Anwaltskanzlei. Seitdem<br />
Mikosch gemeinsam mit Kollegin Jiayan Zhu<br />
durch viele Trips nach Shanghai, Peking und<br />
Hongkong ihr Netzwerk zu chinesischen<br />
Kollegen aufgebaut hat, ist der „China-<br />
Desk“ der Kanzlei gut beschäftigt. So war<br />
Wolf Theiss etwa bei der Übernahme des<br />
slowenischen Paradebetriebs Gorenje durch<br />
den chinesischen Haushaltsgerätehersteller<br />
Hisense als führende Anwaltskanzlei tätig.<br />
deren Eltern aus Hongkong nach Österreich<br />
kamen. Chinesen lieben die Harmonie, weiß<br />
Wong. Streit sei der unrühmliche Beweis, die<br />
Dinge nicht im Griff zu haben.<br />
Generell hat der Beruf des Anwalts in<br />
China ein schlechtes Renommee. Viele<br />
chinesische Manager stehen westlichen<br />
Anwälten daher grundsätzlich skeptisch<br />
gegenüber. Auch wegen der in China unüblichen<br />
Art, anwaltliche Leistungen nach<br />
Stunden zu verrechnen. „Das geht gar nicht.<br />
Chinesen wollen Pauschalangebote, auch<br />
„Für Chinesen<br />
ist es eine<br />
Schande,<br />
vor Gericht<br />
zu gehen.“<br />
Ihre LEBENSQUALITÄT<br />
ist unsere Aufgabe.<br />
leben.<br />
Kultur, Immobilien, Logistik und Medien:<br />
Die Wien Holding schafft Lebensqualität für unsere<br />
Stadt. 365 Tage im Jahr zu jeder Zeit an jedem Ort.<br />
Für alle Wienerinnen und Wiener.<br />
14<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
www.wienholding.at
almanah<br />
almanah<br />
„Du bist ja ganz<br />
normal“<br />
Der Kampf der Regierung gegen das<br />
Kopftuch hat nach dem Kindergarten die<br />
Schule erreicht. Selbst Lehrerinnen mit<br />
Kopftuch stehen zur Diskussion. Doch wie<br />
sieht der Alltag dieser Frauen aus? Zwei<br />
Wiener NMS-Lehrerinnen über Dauerdruck,<br />
Vorbildfunktion und neugierige Eltern.<br />
TEXT:<br />
Amar Rajkovic, Salme Taha Ali<br />
Mohamed<br />
F O T O :<br />
Marko Mestrović, Susanne<br />
Einzenberger, Christoph Liebentritt<br />
„Ich weiß, ihr seht<br />
keine Ohren, aber ich<br />
habe welche.“<br />
Hurije ist sehr verwundert. Heute ist<br />
Elternsprechtag und die Schlange<br />
vor ihrem Zimmer wird immer<br />
länger. Dabei hat sie nur wenige Eltern von<br />
Problemschülern in Mathematik eingeladen.<br />
Gekommen sind sie aber alle, um die 28-jährige<br />
Mazedonierin mit albanischen Wurzeln<br />
kennenzulernen. Der Grund: Hurije trägt<br />
Kopftuch. Und das geht als Sensation durch,<br />
zumindest in dieser Wiener NMS jenseits der<br />
Donau. Die Kinder kommen zum großen Teil<br />
aus christlich-österreichischen Familien,<br />
das politisch aufgeladene Kopftuch scheint<br />
für die Eltern ein wichtigeres Thema als<br />
der Schulfortschritt ihrer Kids zu sein. Alle<br />
wollen sie wissen, wie „sie“ tickt, die Lehrerin<br />
mit dem Kopftuch. Das Stück Stoff,<br />
das für viele stellvertretend für das muslimische<br />
Patriarchat und die Unterdrückung<br />
der Frau steht. „Kann diese Person unseren<br />
Kindern die Werte mitgeben, die wir uns in<br />
Österreich wünschen?“, fragen sich wohl<br />
viele Eltern. Und diese Angst wächst weiter,<br />
seit das Thema Kopftuch und Schule die<br />
Schlagzeilen beherrscht. Beim Kreuzzug der<br />
Regierung gegen den Hijab geht es angeblich<br />
um den Schutz junger Mädchen. Es ist<br />
nur eine Frage der Zeit, bis Kurz und Strache<br />
das Kopftuch in der Volksschule verbieten.<br />
Aber auch ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen<br />
ist für Bildungsminister Heinz Faßmann<br />
sinnvoll, denn er ist für ein „ideologisch<br />
neutrales Auftreten der Repräsentanten des<br />
öffentlichen Dienstes“, so der frühere Wissenschaftler<br />
im ORF.<br />
Zahlen und Fakten zu Pädagoginnen mit<br />
Kopftuch im öffentlichen Schulbereich gibt<br />
es nicht. Es wird keine Statistik darüber<br />
geführt, was eine Lehrerin am Kopf trägt.<br />
In die Öffentlichkeit drängt es Lehrerinnen<br />
mit Kopftuch schon gar nicht. Die meisten<br />
Frauen möchten nicht auf ihre Kopfbedeckung<br />
reduziert werden und schweigen.<br />
Direktoren fürchten Boulevardjournalisten<br />
im Schulhof und verbieten im Normallfall<br />
jeglichen Kontakt zu Medienvertretern.<br />
Anders ist nicht zu erklären, dass es in<br />
Österreich keinen einzigen Artikel gibt, der<br />
den Alltag von Lehrerinnen mit Kopftuch<br />
intensiv beleuchtet. Einige Frauen, die<br />
im Zuge der Recherche bereit waren, sich<br />
fotografieren zu lassen, machten plötzlich<br />
wieder einen Rückzug. Wovor haben diese<br />
Frauen Angst?<br />
„In Österreich habe man<br />
sich anzupassen.“<br />
„Ich kann die Angst der Lehrerinnen gut<br />
nachvollziehen, weil man Angst um seinen<br />
Job hat“, zeigt sich Hurije verständnisvoll,<br />
als wir ihr erklären, dass sie zur Minderheit<br />
in der Minderheit gehört, die ihr Gesicht<br />
in der Öffentlichkeit zeigt. Die quirlige<br />
Wahl-St. Pöltnerin ist eloquent und schlagfertig.<br />
Sie findet es wichtig, dass Lehrerinnen<br />
mit Kopftuch sichtbar werden – und<br />
zwar außerhalb des Schulbetriebs, wo relativ<br />
rasch jeder vergisst, dass sie das Stück ‣<br />
Arbnesa unterrichtet Mathe und Biologie<br />
an einer NMS. Sie dient in ihrer Schule<br />
als Vorbild für muslimische Mädchen.<br />
16 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
17
almanah<br />
almanah<br />
Hurije strahlt, wenn sie von ihren KollegInnen als normal empfunden wird.<br />
Stoff auf ihrem Kopf tragen. Sie selbst trägt man in Österrich lebt, habe man sich anzupassen“,<br />
sagte ihr mal ein 14-jähriger Knirps<br />
das Kopftuch erst seit sechs Jahren, ihre<br />
Familie ist „so wie viele andere muslimische ganz unverblümt. Zuerst war sie etwas baff,<br />
Familien am Balkan“, so Hurije. Das heißt, sie erkannte aber auch anhand des Wordings,<br />
dass der Schüler die Worte des Vaters<br />
keine Frau habe das Kopftuch zu Hause<br />
getragen, was für eine sehr liberale Auslegung<br />
des Islams spricht. Trotzdem waren das sind nicht deine Worte“, dachte sie sich.<br />
beim Abendessen nachplapperte. „Bursche,<br />
die ersten Wochen in ihrer neuen Schule mit Eine andere Schülerin kam in der Pause auf<br />
kaum muslimischen Schülern eine Herausforderung<br />
und mit vielen Ungewissheiten sehen. Die 15-Jährige fiel selbst mit ihren<br />
sie zu und zeigte Verständnis für ihr Aus-<br />
verbunden. Hurije musste anfangs in ihrer grau-blau gefärbten Haaren auf und stellte<br />
Schule vor allem als Islam-Lexikon und fest: „Frau Lehrerin, ich weiß ganz genau,<br />
Vorurteilsentkräfterin auftreten. „Najo, is wie Sie sich fühlen. Mich starren auch alle<br />
besser, wenn Sie ka Kopftüchl trogn, wenn wegen meiner Haarfarbe an, wie muss das<br />
erst für Sie als Kopftuchträgerin sein?“<br />
Hurije hat rasch gelernt mit den Blicken fertigzuwerden,<br />
die Vorurteile nahmen in der<br />
neuen Schule mit jedem Tag immer mehr ab.<br />
Dabei wäre sie um ein Haar im 10. Bezirk<br />
gelandet: „Die Schulleiterin machte mir<br />
während der Einführungstour ganz klar,<br />
dass sie keinesfalls möchte, dass ich mich<br />
mit den Kindern auf Albanisch oder Türkisch<br />
unterhalte. Dabei habe ich das gar nicht<br />
vorgehabt“, so Hurije achselzuckend. Am<br />
nächsten Tag die überraschende Absage,<br />
obwohl die Direktorin im ersten persönlichen<br />
Gespräch noch betonte, wie sehr sie<br />
unter dem Lehrermangel leiden würde.<br />
Die Absage sollte sich als Glücksgriff für<br />
Hurije herausstellen. Sie wurde einer Schule<br />
mit vorwiegend österreichischen Kindern<br />
zugewiesen. Donaustadt statt Favoriten,<br />
Vorstadtidyll statt Migrantenbezirk.<br />
Mit Kopftuch in Migrantenschule<br />
In Gegensatz zu Hurije unterrichtet Arbnesa<br />
viele SchülerInnen mit islamischem Glauben<br />
in einem stark von Migranten bewohnten<br />
Bezirk. Sie ist gerade in ein Schulbuch vertieft,<br />
als wir sie in einem Wiener Café treffen.<br />
„Ich bereite gerade die nächsten Hausaufgaben<br />
für meine SchülerInnen vor“, verrät<br />
sie uns, während sie ihren Turban zurechtzupft.<br />
Die 24-Jährige unterrichtet seit drei<br />
Jahren an einer Wiener NMS Deutsch, Biologie<br />
und Turnen. Arbnesa machte sich<br />
anfangs viele Sorgen, wie sie mit ihrem<br />
Kopftuch aufgenommen wird. In der ersten<br />
Stunde stand sie vor der Klasse und es war<br />
ganz ruhig, wie sonst nur bei Schularbeiten.<br />
Sie sah förmlich die Fragezeichen über den<br />
Köpfen der SchülerInnen. „Sind Sie nicht<br />
die Islamlehrerin?“, aber vor allem: „Wer<br />
ist diese junge Lehrerin?“, oder „Zeigen Sie<br />
uns Ihre Haare?“, waren die Fragen, die ihr<br />
gestellt wurden. Ein muslimischer Vater,<br />
dessen Tochter kein Kopftuch trägt, kam<br />
bald auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und<br />
freute sich darüber, dass auch muslimische<br />
Lehrerinnen in der Schule arbeiten. Die ihr<br />
damals nicht bewusste Vorbildfunktion<br />
wurde durch Gespräche mit anderen Mädchen<br />
unterstrichen. Sie fragten Arbnesa,<br />
wie sie es geschafft habe, mit Kopftuch zu<br />
unterrichten. Sie lauschten mit weit auf-<br />
Chronologie: Kopftuchverbot in der EU<br />
DEUTSCHLAND:<br />
Bei unseren nördlichen<br />
Nachbarn gibt es keine<br />
einheitliche, bundesweite<br />
Regelung bezüglich<br />
des Kopftuchtragens<br />
in der Schule. In Bremen<br />
ist es erlaubt, in Berlin<br />
aufgrund des Neutralitätsgesetzes<br />
verboten, in<br />
Bayern wird es von Fall<br />
zu Fall entschieden.<br />
FRANKREICH:<br />
Verbot von allen religiösen<br />
Symbolen an Schulen<br />
am 3.Februar 2004<br />
beschlossen.<br />
gerissenen Augen ihren Erzählungen und<br />
waren stolz, von ihr unterrichtet zu werden.<br />
Arbnesa teilt diesen Stolz und betont, für alle<br />
Kinder ein Vorbild sein zu wollen, nicht nur<br />
für die muslimischen: „Ich versuche, meine<br />
Prinzipien an meine SchülerInnen weiterzugeben,<br />
egal woher sie kommen oder wie sie<br />
aussehen.“ Das Thema Islam also nur eine<br />
Randnotiz im Unterricht?<br />
„Ich wollte den Kindern zeigen, dass<br />
man als Muslima genauso fähig wie der Rest<br />
der Bevölkerung ist. Und ich wollte zeigen,<br />
dass Frauen mit Kopftuch nicht fremdbestimmt<br />
und passiv sind, sondern erfolgreich<br />
Karriere machen können“, so Arbnesa. „Ist<br />
Ihnen unter dem Kopftuch nicht heiß?“, oder<br />
„Welche Haarfarbe haben Sie eigentlich?“<br />
überdeckten die politischen Fragen, die im<br />
Schulalltag unbedeutsam zu sein scheinen.<br />
Hurije schlägt da in die gleiche Kerbe,<br />
wobei sie das Kopftuch auch mal als Witzequelle<br />
gebrauchte. „Ich schrieb etwas auf<br />
die Tafel und merkte, dass hinter meinem<br />
Rücken getuschelt wurde. Daraufhin drehte<br />
ich mich um und sagte: „Ich weiß, ihr seht<br />
keine Ohren, aber ich habe welche“, erinnert<br />
sie sich. Der angesprochene Schüler war<br />
kurz perplex, bevor Gelächter im Klassenraum<br />
ausbrach. „Ich habe versucht, sehr<br />
offen mit dem Thema umzugehen. Durch die<br />
Flucht nach vorne konnte ich relativ schnell<br />
das Vertrauen der Schüler gewinnen“,<br />
berichtet Hurije über ihr Erfolgsgeheimnis.<br />
Arbnesa konnte Mädchen mit Kopftuch<br />
BELGIEN:<br />
Kein generelles Kopftuchverbot.<br />
Schulen<br />
dürfen allerdings eines<br />
verhängen.<br />
beispielsweise gute Tipps geben, wie sie ihr<br />
Kopftuch befestigen, ohne die für Turnen<br />
gefährlichen Nadeln zu verwenden. Einmal<br />
dachten alle, ein Kind würde keine kurze<br />
Hose tragen wollen aus religiösen Gründen.<br />
Nach einem vertraulichen Gespräch mit<br />
Arbnesa stellte sich heraus, dass das Kind<br />
ein Problem mit seinem Körper hatte und die<br />
Weigerung am Turnunterricht teilzunehmen<br />
nichts mit radikaler Auslegung des Islam zu<br />
tun hatte. Diese Geschichten aus dem Schulbetrieb<br />
könnten der Beweis dafür sein, dass<br />
das Kopftuch bei Lehrkräften eine Integrationsfunktion<br />
erfüllen könnte und nicht –<br />
wie von Gegnern aus verschiedenen Lagern<br />
behauptet – das Gegenteil bewirkt.<br />
„Na super, das brauch ma a no“<br />
Dem Horrorszenario für jede Lehrerin mit<br />
Kopftuch, nämlich ein verbindliches Verbot,<br />
sehen beide Frauen mit großer Sorge entgegen.<br />
Während Arbnesa seit Jahren darüber<br />
Hurije musste<br />
anfangs in ihrer<br />
Schule vor allem als<br />
Islam-Lexikon und<br />
Vorurteils entkräfterin<br />
auftreten.<br />
HOLLAND:<br />
Kein Kopftuchverbot an<br />
öffentlichen Schulen.<br />
Private Schule dürfen<br />
eines verhängen.<br />
DÄNEMARK:<br />
Im Mai <strong>2018</strong> hat das<br />
dänische Parlament<br />
beschlossen, ein Verbot<br />
des Niqab und der Burka<br />
einzuführen.<br />
URTEIL DES EUROPÄISCHEN GERICHTSHOFS AM 14.MAI 2017<br />
Es wird entschieden, dass ein Arbeitgeber Arbeitnehmern verbieten kann, religiöse Symbole,<br />
also auch das Kopftuch, am Arbeitsplatz zu tragen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es kein<br />
spezifisches Kopftuchverbot gibt (= Diskriminierung), sondern, dass unter dem Neutralitätsprinzip<br />
alle religiösen Symbole vom Arbeitsplatz verbannt werden.<br />
nachdenkt, was sie in diesem Fall machen<br />
würde, weiß Hurije ganz genau: „Wenn der<br />
Worst-Case eintritt, müsste ich schweren<br />
Herzens mein Österreich verlassen.“ Ob<br />
das nicht zu radikal sei? „Nö, das Kopftuch<br />
gehört zu mir und wenn ich hier nicht in<br />
Ruhe leben kann, dann muss ich eben wegziehen“,<br />
sagt sie. Arbnesa tut sich jedenfalls<br />
mit dieser Entscheidung schwer, hat eine<br />
endgültige Entscheidung für den Fall der<br />
Fälle aber nicht getroffen.<br />
Zurück zum Elternsprechtag jenseits der<br />
Donau. „Hurije, bitte mach schneller, die<br />
Schlange vor der Tür wird immer länger“, so<br />
die gestresste Direktorin, die selbst über den<br />
Andrang überrascht ist. Nach zwei Jahren an<br />
der Schule ist die gebürtige Mazedonierin,<br />
die mit zwölf Jahren nach Wien übersiedelte,<br />
bestens integriert. Kollegen outeten sich an<br />
ihrem vorerst letzten Arbeitstag: „Als du<br />
damals bei uns angefangen hast, haben wir<br />
uns gedacht, na super, des brauch ma a no“,<br />
so ein Kollege. Eine andere Kollegin kam an<br />
der Küche des Lehrerzimmers vorbei, wo<br />
Hurije mit anderen Lehrerinnen herumflachste<br />
und stellte verwundert fest: „Ich<br />
wollte dir das immer schon sagen, du bist<br />
ja ganz normal.“ Hurije hält kurz inne, ihre<br />
Mundwinkel formen langsam aber sicher<br />
ein breites Grinsen. Dann stellt sie zufrieden<br />
fest: „Das ist das beste Argument, das eine<br />
Hijabi bekommen kann.“ <br />
Dieser Artikel erschien das erste Mal in der biber<br />
Winter-Ausgabe <strong>2018</strong>/19<br />
18 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
19
almanah<br />
GENDER<br />
Die ägyptische Feministin Mona Eltahawy schlägt Machos, kritisiert<br />
weiße Feministinnen und trägt rote Haare und Tattoos. Klar ist auch<br />
der Titel des Buchs „No more Bullshit: Das Handbuch gegen sexistische<br />
Stammtischweisheiten.“ Wirtschaftsministerin Margarete<br />
Schramböck glaubt nicht an typisch männliche oder weibliche Führungskräfte.<br />
S. 22–25<br />
„ICH HABE MIR DIE SCHULDGEFÜHLE<br />
RAUSGEFICKT“<br />
Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex: Auch so sind<br />
Musliminnen, sagt Autorin Mona Eltahawy, die weißen<br />
Feministinnen vorwirft, dass sie nur für Frauenrechte<br />
kämpfen und dabei andere Probleme vergessen.<br />
S. 26-29<br />
„ALLE TÜREN STEHEN EUCH OFFEN –<br />
WAS WOLLT IHR DENN NOCH?“<br />
„Stimmen die Rahmenbedingungen, steigen Frauen*<br />
sehr wohl als erfolgreiche Führungskräfte auf.“ Aus dem<br />
Buch „No more Bullshit: Das Handbuch gegen sexistische<br />
Stammtischweisheiten“.<br />
Hebräisch für Gender<br />
David Degner, Soza Almohammad<br />
S. 32-33<br />
„TEILZEIT-FÜHRUNGSKRAFT<br />
FUNKTIONIERT GUT“<br />
Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck im Interview:<br />
Warum Frauen viel zu selten über das Gehalt reden<br />
und es Ihrer Meinung nach keine typische männliche oder<br />
weibliche Führungskraft gibt.<br />
20<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
almanah<br />
Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex:<br />
Auch so sind Musliminnen, sagt Autorin<br />
Mona Eltahawy, die weissen Feministinnen<br />
vorwirft, dass sie nur für Frauenrechte kämpfen<br />
und dabei andere Probleme vergessen.<br />
I N T E R V I E W :<br />
Solmaz Khorsand<br />
F O T O :<br />
David Degner<br />
„Ich habe mir die<br />
Schuldgefühle<br />
rausgefickt“<br />
Eine wütende Frau sei sie, sagt Mona Eltahawy.<br />
Und sie ist stolz darauf. Die Welt gibt ihr dafür<br />
genügend Gründe. Eltahawy ist Journalistin,<br />
Aktivistin und Feministin. Geboren in Ägypten,<br />
aufgewachsen in England und Saudiarabien,<br />
lebt sie heute in New York und Kairo. Sie wurde<br />
in den Feminismus „traumatisiert“, schreibt<br />
sie in ihrem Bestseller „Headscarves and<br />
Hymens: Why the Middle East Needs a Sexual<br />
Revolution“. Darin plädiert die 50-Jährige<br />
nicht nur für eine sexuelle Revolution im Nahen<br />
Osten, sondern verarbeitet auch ihre Erfahrungen,<br />
unter anderen jene auf dem Tahrirplatz in<br />
Kairo 2011, als sie über die Proteste gegen das<br />
Mubarak-Regime berichtete und von Polizisten<br />
misshandelt wurde. Ungeschönt und plastisch<br />
schreibt, tweetet und flucht Eltahawy<br />
über Tabus, Scham und Doppelmoral. Und sie<br />
macht es dezidiert als Muslimin.<br />
Vor knapp einem Jahr startete Eltahawy<br />
den Hashtag #MosqueMeToo, nachdem eine<br />
pakistanische Frau über sexuelle Übergriffe<br />
während ihrer Pilgerreise nach Mekka auf<br />
Facebook berichtet hatte. Auch Eltahawy wurde<br />
als 15-Jährige am heiligsten Ort der Muslime<br />
begrapscht. Mit #MosqueMeToo sollten auch<br />
andere Frauen ihr Schweigen brechen. Und sie<br />
taten es. Tausende Frauen teilten ihre Erfahrungen<br />
auf den sozialen Medien. Zum ersten<br />
Mal schwappte damit die MeToo-Debatte auch<br />
in die muslimischen Communitys weltweit.<br />
Zeitgleich initiierte Mona Eltahawy einen<br />
weiteren Hashtag: #IBeatMyAssaulter (Ich<br />
schlug meinen Angreifer). Auch dieser ging<br />
viral. Daneben ein Foto mit Eltahawys Hand in<br />
einer Schale voller Eiswürfel.<br />
ALMANAH: Tut Ihnen die Hand noch weh, Frau Eltahawy?<br />
MONA ELTAHAWY: Ja schon. Jemanden zu schlagen, tut verdammt<br />
weh. Aber das war es mir wert. Ich mache bald einen Selbstverteidigungskurs,<br />
damit ich jemanden schlagen kann, ohne mich<br />
selbst dabei zu verletzen.<br />
War es das erste Mal, dass Sie einen Mann verprügelt haben?<br />
Das nicht, aber es war das erste Mal, dass ich so massiv zugehauen<br />
habe. Das hat ja eine Geschichte.<br />
Wir bitten darum.<br />
In meinen Zwanzigern habe ich angefangen, Männer anzubrüllen,<br />
die mich gegen meinen Willen angefasst haben. Später, in meinen<br />
Dreissigern und Vierzigern, habe ich sie gestossen, geschubst und<br />
angespuckt. Vor fünf Jahren habe ich zum ersten Mal zurückgeschlagen<br />
und einen Mann in Kairo dazu gebracht, dass er vor mir wegläuft.<br />
Und vor ein paar Wochen habe ich diesen Kerl in einem Club<br />
in Montreal verprügelt, der mich von hinten begrapscht hatte. Ich<br />
habe sicher 15 Mal auf ihn eingeschlagen. Es war wunderbar. Ich bin<br />
so glücklich. Es war sicher einer der stolzesten Momente in meinem<br />
Leben.<br />
Warum sind Sie stolz auf diese Prügelattacke?<br />
Ich will mit meiner Erfahrung andere Frauen nicht dazu drängen,<br />
rauszugehen und ihre Peiniger zu verprügeln. Ich weiss, wie gefährlich<br />
das als Frau sein kann. Aber in diesem Club, da fühlte ich mich<br />
sicher genug, mich selbst zu verteidigen und diesen Mann windelweich<br />
zu schlagen. Mir ist wichtig, dass Frauen wissen, dass sie ein<br />
Recht haben, jene zu schlagen, die sie verletzen.<br />
Weil uns als Mädchen immer eingebläut wurde, bloss nicht handgreiflich<br />
zu werden?<br />
Genau. Wir werden als Mädchen nicht dazu sozialisiert, zurückzuschlagen.<br />
Wir bringen Mädchen nicht bei, dass sie sich verteidigen<br />
können, wenn Männer sie verletzen. Als ich 15 Jahre alt war und<br />
begrapscht wurde, habe ich nichts getan. Ich war erstarrt. Jetzt bin<br />
ich 50 Jahre alt, und ich schlage zurück.<br />
Mit 15 Jahren wurden Sie auf Ihrer Pilgerreise nach Mekka sexuell belästigt.<br />
Zuerst in der Menge, als Sie die Kaaba, das Haus Gottes in der Heiligen<br />
Moschee, umkreist haben. Später sogar von einem Polizisten, als Sie<br />
die Kaaba küssen wollten.<br />
‣<br />
22 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
23
almanah<br />
almanah<br />
„Ich war die ganze Zeit Feministin.<br />
Ich hatte nur kein Wort dafür.“<br />
Es hat so lange gedauert, weil sexuelle Belästigung<br />
in konservativen Kulturen tabuisiert wird<br />
und mit sehr viel Scham behaftet ist. Wenn sich<br />
der Missbrauch an einem heiligen Ort ereignet,<br />
wird es umso schwieriger, darüber zu sprechen,<br />
egal ob das eine Moschee, eine Kirche oder ein<br />
Tempel ist. Ich denke, jetzt ist der Moment<br />
gekommen, dass muslimische Communitys<br />
weltweit erkennen müssen, was der Preis ist,<br />
wenn sie muslimische Frauen mundtot machen.<br />
Die Communitys schaden sich so nur selbst.<br />
Sie sagen immer, die Musliminnen sässen in der<br />
Klemme. Einerseits können sie nichts sagen, weil<br />
„Wenn ich mich<br />
zwischen der<br />
Community und den<br />
Frauen entscheiden<br />
müsste, würde ich<br />
mich immer für<br />
meine Schwestern<br />
entscheiden.“<br />
Ich war wie gelähmt. Ich hatte keine Worte. Du glaubst, dass du sie mit jeder Kritik Rechtspopulisten in ihrer Dämonisierung vom Muslim<br />
sicher bist an diesem magischen und spirituellen Ort, und da fasst als Triebtäter in die Hände spielen. Andererseits werden sie von der eigenen<br />
Community zum Schweigen gebracht, weil ihre Kritik die Muslime<br />
dir jemand an den Po und ein anderer an die Brust. Etwas ist in mir<br />
damals zerbrochen.<br />
und den Islam in ein schlechtes Licht rücken würde.<br />
Sabica Khan, eine Muslimin aus Pakistan, hat Ähnliches über ihre Pilgerreise<br />
auf Facebook berichtet, woraufhin Sie den Hashtag #MosqueMeToo aussehen lassen, nicht wir. Es geht in der MeToo-Debatte nicht<br />
Es sind die muslimischen Männer, die unsere Community schlecht<br />
ins Leben gerufen haben. Seither haben Tausende Frauen ihre Erfahrungen<br />
geteilt. Es ist die erste globale Auseinandersetzung mit dem Thema Männer? Die muslimischen Männer? Die schwarzen Männer? Nein,<br />
darum, welche Männer am schlimmsten sind. Sind es die weissen<br />
innerhalb der muslimischen Community. Warum<br />
hier geht es um das Patriarchat, und das schützt<br />
hat es so lange gedauert?<br />
die Männer, egal welcher Community sie angehören.<br />
Nur nutzt jede Community ein gewisses<br />
Extra, um ihre Frauen gleichzuschalten und<br />
zum Schweigen zu bringen. Die Weissen sagen:<br />
Stell deine Rasse über dein Geschlecht. Die Muslime<br />
sagen: Stell den Islam über dein Geschlecht.<br />
Wenn ich mich zwischen der Community und<br />
den Frauen entscheiden müsste, würde ich mich<br />
immer für meine Schwestern entscheiden.<br />
Mit 15 Jahren haben Sie niemanden von den Übergriffen<br />
in Mekka erzählt. Warum?<br />
Ich konnte es niemanden erzählen. Es war<br />
das erste Mal, dass mich ein Mann so angefasst<br />
hatte. Ab diesem Zeitpunkt betrachtete<br />
ich Männer als Triebtäter, die gefährlich waren und vor denen ich<br />
mich verstecken musste. Deswegen begann ich auch, den Hidschab<br />
zu tragen.<br />
Als Schutzschild?<br />
Einerseits wollte ich meinen Körper vor den Männern schützen,<br />
andererseits war der Hidschab meine «Abmachung» mit Gott. Ich<br />
trage das Kopftuch, dafür bewahrst du mich vor all dem Wahnsinn<br />
in dieser misogynen Atmosphäre, die mich depressiv macht. Gott hat<br />
sich nicht an seinen Teil der Abmachung gehalten.<br />
Inwiefern?<br />
Ich wurde trotzdem überall begrapscht. Wir haben damals in Saudiarabien<br />
gelebt, und obwohl alles in Saudiarabien segregiert ist –<br />
vom Kindergarten bis zur Universität –, gibt es<br />
doch öffentliche Plätze, wo Männer und Frauen<br />
aufeinandertreffen, beispielsweise Märkte. Dort<br />
wurde ich immer wieder betatscht. Der Hidschab<br />
hat mich nicht beschützt, oh Wunder!<br />
Es hat neun Jahre gedauert, bis ich ihn wieder<br />
abgelegt habe.<br />
Warum so lange?<br />
Meine Familie wollte es nicht. Hätte ich mit 15<br />
Jahren gar nicht begonnen, das Kopftuch zu<br />
tragen, wäre es kein Thema gewesen. Mir wurde<br />
beigebracht, dass es besser ist, das Kopftuch gar<br />
nicht zu tragen, als es zu tragen und dann abzulegen.<br />
Dabei war Ihre Familie sehr liberal, betonen Sie<br />
immer.<br />
In manchen Dingen war sie sehr liberal, in anderen Dingen sehr konservativ.<br />
Meine Familie ist das perfekte Beispiel, wofür meine Arbeit<br />
heute steht: Wir Muslime sind kein monolithischer Block. In ein und<br />
derselben Familie haben Sie jemanden wie mich, der offen über Sex,<br />
Sexualität, Queer- und LGTB-Themen spricht, und andere Familienmitglieder,<br />
die Homosexualität als Sünde begreifen.<br />
Wie stark haben Ihre Eltern Sie geprägt?<br />
Meine Mutter ist ein grosses feministisches Vorbild für mich. Meine<br />
Eltern haben sich in Kairo auf der Medizinuniversität kennengelernt.<br />
Es war eine Liebesheirat, keine arrangierte Ehe wie bei anderen.<br />
Später haben meine Eltern von der ägyptischen Regierung ein<br />
Stipendium bekommen, um in London ihren PhD, ihren Doktor,<br />
zu machen. Beide wohlgemerkt. 1975 zogen wir dann wegen ihrer<br />
Jobs nach Saudiarabien. Und ich konnte sehen, was dieses Land aus<br />
meiner Mutter, dieser starken, selbstbestimmten und unabhängigen<br />
Frau, gemacht hat. Da haben Sie eine Frau mit einem Doktortitel<br />
in Medizin, und sie darf nicht Auto fahren und kann nirgendwohin<br />
ohne ihren Ehemann. Sie selbst hat damals gesagt: Ich fühle mich so,<br />
als hätten sie mir die Beine abgeschnitten.<br />
Hat Sie das Leben in Saudiarabien zur Feministin gemacht?<br />
Saudiarabien hat mich zur Frau gemacht, die ich heute bin. Ich war<br />
die ganze Zeit Feministin. Ich hatte nur kein Wort dafür. Das Wort<br />
«Feminismus» habe ich mit 19 Jahren entdeckt. Und das ausgerechnet<br />
in einer Universitätsbibliothek in Saudiarabien. Da waren<br />
„Wenn ich zu<br />
meinem jüngeren<br />
Selbst sprechen<br />
könnte, würde<br />
ich sagen:<br />
Geniess deinen<br />
Körper.“<br />
die Werke von Fatima Mernissi und Huda Shaarawi, Frauen, die mit<br />
denselben Erfahrungen und demselben Zwiespalt zu kämpfen hatten<br />
wie ich: zwischen dem, was sie sein wollten, und den Erwartungen<br />
der Gesellschaft an eine muslimische Frau.<br />
Die muslimische Frau werde auf zwei Dinge reduziert: das Kopftuch und<br />
ihr Jungfernhäutchen. Auf das, was sie auf dem Kopf trägt und was zwischen<br />
ihren Beinen ist, schreiben Sie in Ihrem Buch «Headscarves and<br />
Hymens».<br />
Ich benutze diesen Ausdruck «Headscarves and Hymens» seit zehn<br />
Jahren, weil diese zwei Dinge das Leben von muslimischen Frauen<br />
dermassen bestimmen. Ich hasse das Konzept «Jungfräulichkeit»<br />
und «Jungfernhäutchen». Das sind Ketten, die uns Frauen nicht nur<br />
physisch, sondern auch emotional und mental<br />
fesseln.<br />
Sie selbst bedauern, dass Sie lange gebraucht<br />
haben, um Ihre eigenen Ketten zu sprengen. Sie<br />
waren 29 Jahre alt, als Sie das erste Mal Sex hatten.<br />
Das macht mich bis heute traurig. Wenn ich<br />
zu meinem jüngeren Selbst sprechen könnte,<br />
würde ich sagen: Geniess deinen Körper. Es hat<br />
lange gedauert, bis ich darüber sprechen konnte.<br />
Und es hat lange gedauert, bis ich schliesslich<br />
Sex ausserhalb der Ehe haben konnte. Ich wurde<br />
wie viele andere Musliminnen so erzogen: Du<br />
darfst nur Sex haben, wenn du verheiratet bist.<br />
Meine Eltern haben mich nie dazu gedrängt zu<br />
heiraten, aber es war irgendwie immer latent<br />
klar, dass ich einmal heiraten werde. Doch ich<br />
wollte nicht heiraten, weil ich wusste, dass ich in dieser patriarchalen<br />
Welt, in der ich lebte, meine hart erkämpfte Freiheit mit der Ehe<br />
hätte aufgeben müssen.<br />
Sie hatten trotzdem Sex – ohne zu heiraten.<br />
Und wie! Ich sage den Leuten immer: Ich habe mir die Schuldgefühle<br />
rausgefickt. Ich bin absichtlich derb hier, denn ich will nicht, dass<br />
mich irgendwer wegen meiner Geschichte bemitleidet. Und ich hatte<br />
sehr viel Sex seit diesem ersten Mal. Meine Botschaft an alle Frauen<br />
ist: Egal aus welcher Kultur, Religion oder Erziehung ihr kommt,<br />
findet heraus wie, wann und mit wem ihr euren Körper geniessen<br />
wollt, weil ihr jedes Recht dazu habt, das so zu tun, wie es euch<br />
gefällt, selbstbestimmt und einvernehmlich. <br />
Solmaz Khorsand (33) ist Redakteurin<br />
beim Schweizer Online Magazin Republik<br />
(republik.ch). Sie schreibt u.a. über<br />
österreichische Scheuklappen, Schweizer<br />
Patriotismus und vermeintliche NormabweichlerInnen<br />
aus aller Welt.<br />
Das Interview in der Gesamtlänge findest du auf<br />
www.republik.ch<br />
24 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
25
almanah<br />
almanah<br />
„Alle Türen stehen<br />
euch offen – was<br />
wollt ihr denn noch?”<br />
Aus dem Buch: No more<br />
Bullshit: Das Handbuch<br />
gegen sexistische<br />
Stammtischweisheiten<br />
TEXT:<br />
Fränzi Kühne<br />
MITARBEIT:<br />
Ana-Marija Cvitić<br />
ILLUSTRATIONEN:<br />
Lana Lauren<br />
Starre Unternehmenskulturen, traditionelle<br />
Karrieremodelle, überholte<br />
Geschlechterrollen, flexible Start-<br />
Up-Modelle, digitaler Kapitalismus, Rabenmütter<br />
und neue Väter – und obendrüber<br />
und drumherum der Staat: Die deutschsprachige<br />
Gleichstellungsdebatte sucht gerne<br />
den ganz großen Diskurs und liebt dann<br />
doch die flachen Positionen. Immer wieder<br />
begegnet einem etwa die Frau* – also zum<br />
Beispiel ich – als defizitäres Wesen. Ob es<br />
um die Verweigerung von Quotenregelungen<br />
geht oder um die doch wohlmeinende Förderung<br />
weiblicher Fachkräfte: Die Frau* ist es,<br />
die nicht genug ist. Nicht laut, nicht mutig,<br />
nicht aggressiv oder dominant genug, keine<br />
gute Netzwerkerin – oder sie will einfach<br />
nicht Karriere machen.<br />
Den Abbau dieses Defizits sollen „Frauenförderungsmaßnahmen“<br />
wie Mentoringund<br />
Karriereprogramme herbeiführen. Dazu<br />
schreibt Journalistin Anna-Lena Scholz in<br />
der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT:<br />
„Pflichtschuldig werden Köpfe gezählt:<br />
null Frauen, eine Frau*, zwei Frauen*, drei<br />
Frauen*. Dazu noch paar Kinderbetreuungsplätze,<br />
ein Mentoring-Programm und<br />
ein Plakat von Lise Meitner im Flur. Diese<br />
hochglanzpolierte Gleichstellungspolitik<br />
– so wichtig sie ist – hat einen doppelt<br />
perfiden Effekt.“ Frauen* werde nämlich<br />
damit nahegelegt, ihnen stünden sämtliche<br />
Türen offen und Chancenungleichheit am<br />
Arbeitsmarkt gehöre der Vergangenheit an.<br />
Sie müssten nur wollen.<br />
Der Rahmen muss stimmen<br />
Nur ein Bruchteil der Führungspositionen<br />
im deutschsprachigen Raum ist von Frauen*<br />
besetzt. Diese wenigen Frauen* sind mit<br />
großer Sicherheit nicht schon alle, die<br />
führen wollten und könnten. Nur ein Wertewandel<br />
auf der Chef-Etage kann Veränderungen<br />
bringen. Zugleich stehen Frauen*<br />
wie Männer* gleichermaßen in der Verantwortung,<br />
jetzige Führungsbilder zu hinterfragen<br />
und zeitgemäßer auszugestalten. Aus<br />
persönlicher Erfahrung als Geschäftsführerin<br />
einer Agentur für Digital Business, als<br />
Aufsichtsrätin und Mutter* einer zweijährigen<br />
Tochter kann ich sagen: Stimmen die<br />
Rahmenbedingungen, steigen Frauen* sehr<br />
wohl als erfolgreiche Führungskräfte auf. An<br />
ihrem Willen scheitert es nicht.<br />
In Deutschland sind 74 Prozent aller<br />
Frauen* berufstätig, in Österreich liegt die<br />
Erwerbsfrequenz bei rund 68 Prozent und<br />
in der Schweiz bei rund 79 Prozent, wie die<br />
statistischen Ämter der jeweiligen Länder<br />
zeigen. Zudem waren Frauen* noch nie<br />
so gut ausgebildet wie heute. Mehr als 50<br />
Prozent der Hochschulabsolvent*innen<br />
26 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
27
almanah<br />
almanah<br />
sind weiblich, in Deutschland streben rund<br />
unser Team darum bittet, dass nicht die<br />
position als solche dem gesellschaftli-<br />
dass sich das Führen oder Beurteilen von<br />
sich auf einen neuen Wertekanon zu einigen.<br />
stellen und flexible Arbeitsmodelle möglich<br />
45 Prozent der Absolventinnen* sogar<br />
erfahrene Consulting-Chefin, sondern<br />
chen Wandel angepasst hätte. Eine Familie<br />
Mitarbeiter*innen bei reduzierter Arbeits-<br />
Das Ziel von Unternehmen sollte sein,<br />
zu machen. Die Lösungen sind individu-<br />
eine Promotion an. Und doch liegt der<br />
der männliche Praktikant die Strategie-<br />
mit zwei berufstätigen Elternteilen ist in<br />
zeit oder im Home-Office zuverlässig erfül-<br />
eine nachhaltige Unternehmenskultur zu<br />
ell, doch eint sie ein Grundprinzip: Teilzeit<br />
Frauen*anteil in den Vorständen der 30<br />
präsentation vor dem Vorstand hält, dann<br />
der DACH-Region nicht mehr die Abwei-<br />
len lasse; Wochen mit einem Arbeitspensum<br />
schaffen, die sich an den Bedürfnissen der<br />
heißt nicht Teilkarriere oder Teilverantwor-<br />
größten deutschen Börsenunternehmen<br />
werden diese sehr greifbar. Und natürlich<br />
chung, sondern die Norm. Bei zwei Vollzeit<br />
von 70 Stunden sind keine Seltenheit. Auch<br />
Mitarbeiter beiderlei Geschlechts und ihrer<br />
tung. Niemand ist als reine Zeitressource bei<br />
nur bei 12 Prozent, in den Aufsichtsräten<br />
gibt es dazu kein Wort der Erklärung, keine<br />
arbeitenden Eltern stellt eine Familie dem<br />
die Führungskräfte selbst reproduzieren<br />
Familiensituation orientiert. Das würde<br />
uns. Es wäre dumm, sich Fähigkeiten, Ideen,<br />
sind es immerhin 33 Prozent. Den Unter-<br />
Geste der Entschuldigung, kein sichtbares<br />
Arbeitsmarkt heute über 80 Stunden pro<br />
die Erwartungshaltung, in ihrer Position<br />
automatisch jene Hindernisse beseitigen, die<br />
professionelle Erfahrung oder spannende<br />
schied macht hier wohl die 2015 eingeführte<br />
Bewusstsein für eine Grenzüberschreitung<br />
Woche zur Verfügung. Gleichzeitig sind<br />
überdurchschnittlich viel Zeit investieren<br />
Frauen* von einer Bewerbung für Führungs-<br />
Perspektiven entgehen zu lassen, nur weil<br />
30-Prozent-Quote für Aufsichtsräte. Dass<br />
– es ist halt, wie es ist.<br />
es noch immer primär die Frauen, die der<br />
zu müssen. Wenn Frauen* diesen Zustand<br />
positionen abhalten. Der Schlüssel für das<br />
man Führung streng mit Vollzeit gleichsetzt.<br />
dort, wo angeblich keine fähigen Frauen*<br />
Jahrhundertelang rechtfertigten Vorur-<br />
familiären Fürsorgepflicht nachkommen,<br />
kritisieren, wird ihnen vorgeworfen, dass<br />
Ausschöpfen des vorhandenen weiblichen<br />
Ein flexibles Arbeitszeitmodell bedeutet vor<br />
sind, plötzlich doch welche gefunden werden<br />
teile über binäre, festgelegte Unter-<br />
selbst wenn der Trend zu mehr Partner-<br />
der Fehler an ihnen liege und sie eben<br />
– wie männlichen – Führungspotenzials der<br />
allem eine Konzentration auf Kernaufgaben<br />
können, belegt den Bedarf an gesetzlicher<br />
schiede zwischen den Geschlechtern eine<br />
schaftlichkeit und geteilter Familienarbeit<br />
nicht für Führungspositionen geschaffen<br />
jungen Generation sind alternative Arbeits-<br />
und essenzielle Fähigkeiten – und gutes<br />
Quotierung. Einen Wertewandel in Konzer-<br />
Ungleichbehandlung von Männern* und<br />
geht.<br />
seien. Dabei wird diese Erwartungshaltung<br />
modelle wie reduzierte Vollzeit, mobiles<br />
Zeitmanagement. Qualität statt Quantität,<br />
nen bewirkt sie aber nicht: Studien, etwa der<br />
Frauen*, im Arbeits- wie im Privatleben.<br />
an Leadership, die mit Vollzeiteinsatz und<br />
Arbeiten oder Jobsharing. Es überrascht,<br />
darum geht es doch, auch auf der Seite der<br />
AllBright Stiftung, zeigen, dass die Quote<br />
Dieser sogenannte Gender-Essenzialismus<br />
Berufswelt wird Lebensrealitäten nicht<br />
Präsenzkultur gekoppelt ist, der heutigen<br />
dass in der DACH-Region trotz Digitalisie-<br />
Familie. Dass heute bei uns in der Agen-<br />
kaum Einfluss auf darüber hinausgehenden<br />
sorgte dafür, dass der klassische Mann*<br />
mehr gerecht<br />
Lebenswelt von Berufstätigen nicht gerecht<br />
rung, fortschreitender Globalisierung und<br />
tur 55 Prozent der Führungspositionen von<br />
Frauen*anteil im aktiven Top-Management<br />
als aggressiv, individualistisch und ratio-<br />
Auch heute noch gehört zu einer Füh-<br />
– und zwar weder jener von Frauen* noch<br />
Fachkräftemangel innovative Arbeitszeit-<br />
Frauen* besetzt sind, ist nicht das Resul-<br />
hat.<br />
nal galt; die klassische Frau* als passiv<br />
rungskarriere eine hohe Leistungsbereit-<br />
von Männern*. Um noch einen Schritt wei-<br />
modelle so wenig Akzeptanz im Unterneh-<br />
tat einer Quotierung. Zu solchen Werten<br />
Dabei sind Frauen* aber nicht nur Leidt-<br />
und emotional. Darauf aufbauend entstand<br />
schaft, die mit langer Anwesenheit, hohem<br />
terzugehen: Das Festhalten an diesem tra-<br />
mensumfeld finden.<br />
kommt, wer sich von Anfang an vielseitig<br />
ragende eines maroden Recruiting-Sys-<br />
das Bild der Führungspersönlichkeit par<br />
Arbeitspensum und Mobilität gleichgesetzt<br />
ditionellen, klischeebasierten Führungsbild<br />
aufstellt und gezielt Talente fördert, unab-<br />
tems sich sehr ähnlicher Führungskräfte im<br />
excellence – männlich, dominant, rational<br />
wird. „Führungskräfte haben vor Ort zu<br />
ist weltfremd, ungesund und gefährlich für<br />
Frühestmögliche Talenteförderung<br />
hängig von Geschlecht und Lebensentwurf.<br />
Top-Management, die nur auf Ihresgleichen<br />
und mit einer Leistungsbereitschaft, die<br />
sein, Leitungskultur heißt Präsenzkultur“,<br />
Führungskräfte, für Unternehmen und die<br />
Ich bin seit zehn Jahren Chefin einer Agentur<br />
Gelingt uns der Wertewandel, der einer-<br />
zählen. Tatsächlich bestätigen Studien, wie<br />
Karriere allem anderen überordnete. Dieses<br />
erläutert die Initiative Chefsache, ein Netz-<br />
Gesellschaft. Denn dieses System kann sich<br />
fürs digitale Geschäft und seit zwei Jahren<br />
seits weibliches Potenzial auf Führungsebene<br />
etwa des Instituts der Deutschen Wirtschaft,<br />
Führungsbild stammt aus einer Zeit, in der<br />
werk zur Förderung eines ausgewogenen<br />
am Ende nur immer wieder selbst replizie-<br />
Mutter. Meine Position ist relativ luxuriös,<br />
und andererseits eine Unternehmenskultur<br />
dass der Anteil an weiblichen Bewerberin-<br />
Männer* die Alleinverdiener waren und eine<br />
Verhältnisses von Frauen* und Männern*<br />
ren – und das bei stark veränderten Arbeits-<br />
aber dieser Luxus ist auch ein Auftrag: Ich<br />
zulässt, die den Menschen in den Vorder-<br />
nen* für Schlüsselpositionen nicht mehr<br />
Familie dem Arbeitsmarkt im Durchschnitt<br />
in Führungspositionen. Eine qualitative<br />
welten. Wir haben es hier mit dem Gegenteil<br />
möchte ihn mit den Kolleg*innen, die Fami-<br />
grund stellt, werden wir sehr wohl in naher<br />
als 30 Prozent ausmacht, unabhängig von<br />
45 Stunden pro Woche zur Verfügung stellte.<br />
Befragung von 220 weiblichen und männ-<br />
eines evolutionären Prozesses zu tun, auf<br />
lien haben, teilen. Gerade in der Phase der<br />
Zukunft auf viele erfolgreiche Frauen im<br />
der Qualifikation oder Ausbildung. Es sind<br />
Da die Frau* die gesamte Kindererziehung<br />
lichen Führungskräften ergab, dass sich<br />
Veränderungen folgt keine Weiterentwick-<br />
Rückkehr in den Beruf heißt das für mich<br />
Top-Management treffen.<br />
<br />
also auch Frauen* selbst, die auf Führungs-<br />
und Familienarbeit übernahm, konnte der<br />
die Betroffenen unter extremem Erwar-<br />
lung.<br />
als Arbeitgeberin, Zeit zur Verfügung zu<br />
positionen verzichten und sich tradierten<br />
Mann* beruflich eingesetzt werden, wie<br />
tungsdruck sehen, viel und<br />
Führungsstrukturen entziehen.<br />
es die Beschäftigungssituation gerade<br />
lange zu arbeiten und<br />
Familien mitdenken<br />
verlangte. Diese Beschäftigungssi-<br />
immer erreich-<br />
Ein wesentlicher Weg, dem entgegenzu-<br />
Der Praktikant als Über-Chefin<br />
tuation hat sich jedoch in den<br />
bar zu sein.<br />
wirken, ist die Veränderung von unten. Die<br />
Der Blick durch die gläserne Decke offen-<br />
50 Jahren radikal geändert<br />
Es<br />
wird<br />
weiblichen Führungskräfte von morgen<br />
bart nun einmal nicht nur Erstrebenswertes,<br />
– ohne dass sich die<br />
bezwei-<br />
müssen heute schon eingestellt, ausgebil-<br />
sondern zeigt auch die auf höchster Füh-<br />
Führungs-<br />
felt,<br />
det, gehört und verstanden werden – und<br />
rungsebene replizierten Reste traditionel-<br />
zwar als Teil eines vielfältigen, vielseitigen<br />
ler Führungsbilder, die nicht ohne<br />
Männlich-Weiblich-Klischees<br />
auskommen. Das<br />
zeigen nicht nur Statistiken:<br />
Wenn<br />
der Kunde<br />
Teams. Notfalls geschieht dies mit einer<br />
Quote im mittleren Management, notfalls<br />
mit einer Quote im Top-Management,<br />
unbedingt mit Veränderungen von Recruiting-<br />
und HR-Prinzipien – nicht jedoch mit<br />
isolierten „Frauenförderungsmaßnahmen“.<br />
Begleiten muss diesen Prozess ein Umdenken<br />
auf höchsten Ebenen.<br />
Wann diesen Wertewandel anstoßen,<br />
wenn nicht jetzt? Unsere Gesellschaft<br />
befindet sich im Wandel von einer Industriegesellschaft<br />
zu einer Wissens- und<br />
Aus dem Buch:<br />
No more Bullshit: Das<br />
Handbuch gegen sexistische<br />
Stammtischweisheiten<br />
<strong>2018</strong><br />
Verlag Kremayr&Scheriau<br />
GmbH&Co. KG; Wien<br />
Herausgeberin:<br />
Sorority – Verein zur<br />
branchenübergreifenden<br />
Vernetzung<br />
Informationsgesellschaft. Das stellt für<br />
die Arbeitswelt eine enorme Chance dar,<br />
verkrustete Strukturen aufzuweichen und<br />
28 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
29
almanah<br />
almanah<br />
„Das ist nichts für mich“<br />
W24.at<br />
facebook.com/W24TV<br />
Melisa Erkurt möchte junge Mädchen in den<br />
Schulen stärken - ohne die Burschen dadurch<br />
zu schwächen.<br />
Mathe), bringen die Hausaufgaben verlässlicher,<br />
machen weniger Ärger und trotzdem oder gerade<br />
deshalb gehen sie irgendwie irgendwann unter. Die<br />
Mädchen zeigen brav auf, die Burschen schreien<br />
einfach raus – wie bei den Erwachsenen. Eine Lehrerin<br />
hat mir neulich erzählt, dass sie in ihrer Klasse die<br />
letzten zehn Minuten einer Stunde „Mädchen-Zeit“<br />
Wieso hat keine von euch als Klassensprecherin<br />
kandidiert?“, frage ich die Mädchen<br />
der siebten Klasse einer Wiener<br />
nennt, da dürfen nur Mädchen etwas sagen, weil sie die<br />
ganze Stunde über von den Burschen übertönt werden.<br />
Ob das nicht den Burschen gegenüber ungerecht wäre,<br />
AHS. „Das geht sich alles nicht mit den Schularbei-<br />
will ich wissen. „Die sind froh, wenn sie sich mal nicht<br />
ten, Tests und Hausübungen aus“, antwortet mir eine<br />
beweisen müssen und eine Pause machen können“,<br />
Schülerin. „Musa hat sich aufstellen lassen und er ist<br />
erklärt sie mir. Denn Mädchen zu stärken heißt auf<br />
ein Freund von mir. Also habe ich lieber ihn gewählt,<br />
keinen Fall die Burschen zu schwächen. Das Ziel ist,<br />
als seine Konkurrentin zu sein“, sagt eine andere.<br />
sie alle ins selbe Boot zu holen. Als ich kürzlich einer<br />
„Es wäre mir so peinlich, wenn ich verlieren würde“,<br />
Klasse voll mit 13-Jährigen erklärt habe, was gendern<br />
Melisa Erkurt ist drei<br />
Jahre lang mit dem biber<br />
Schulprojekt „Newcomer“<br />
durch Wiener Schulklassen<br />
getourt und hat mit über<br />
500 Schüler*innen über<br />
Rollenbilder, Vorurteile<br />
und alles, was die<br />
Jugendlichen sonst so<br />
beschäftigt, gesprochen.<br />
TEXT:<br />
Melisa Erkurt<br />
„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, „Das ist nichts<br />
für mich“. 30 Schüler*innen sitzen in der Klasse, die<br />
Hälfte davon Mädchen – ihr Klassensprecher und<br />
sein Stellvertreter sind beide Burschen. Die Situation<br />
kommt mir bekannt vor, genauso wie die Argumente<br />
der Mädchen. Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung<br />
aus und trotzdem wird unsere Welt von Männern<br />
regiert. Österreich hatte noch nie eine Bundeskanzlerin<br />
oder eine Bundespräsidentin. Wieso sollte es in<br />
den Klassenzimmern anders sein? „Dafür haben wir<br />
uns als Schülerbibliothekarinnen beworben“, sagen<br />
mir ein paar der Mädchen rechtfertigend. Als Schülerbibliothekar*innen<br />
werden in der Regel besonders<br />
fleißige und vertrauensvolle Jugendliche ausgewählt,<br />
meistens Mädchen. Ansehen und Macht gibt es dafür<br />
kaum, dafür wird man von den Lehrer*innen gelobt.<br />
Die Schule als Mikrokosmos, sie spiegelt die Realität<br />
wieder. Die Mädchen schreiben oft die besseren<br />
Noten (außer in den Naturwissenschaften und in<br />
bedeutet, waren sie alle ganz begeistert davon. „Es<br />
ist unhöflich, andere zu ignorieren“, fasste einer<br />
der Buben zusammen, wieso ihm gendern logisch<br />
erscheint. Sie hatten davor nichts von gendersensibler<br />
Sprache gehört und plötzlich sprachen sie von<br />
Schülern und Schülerinnen als wäre es das Selbstverständlichste<br />
auf der Welt – Moment, das ist es ja<br />
auch. Denn die Wahrheit ist, die nächste Generation<br />
ist Gleichberechtigung gegenüber vollkommen offen,<br />
sie braucht nur Vorgänger*innen, die ihnen den Weg<br />
ebnen, sie gelegentlich an der Hand nehmen und<br />
empowern. Ob das nun eine „Mädchen-Zeit“ oder eine<br />
Unterrichtstunde darüber ist, was Klassensprecherinnen<br />
und Feminismus miteinander zu tun haben. Ein<br />
paar Wochen später habe ich übrigens erfahren, dass<br />
eines der Mädchen, das sich nicht als Klassensprecherin<br />
aufgestellt hat, zur Schulsprecherin gewählt wurde<br />
– dann kann es ja auch nicht mehr lange dauern, bis<br />
Österreich seine erste Kanzlerin bekommt. <br />
Marko Mestrović<br />
1,2 MILLIONEN MAL SCHAUEN UNS DIE<br />
WIENERINNEN UND WIENER SCHON MONATLICH.<br />
DAS KANN SICH SEHEN LASSEN.<br />
Impressum<br />
Medieninhaber:<br />
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Herausgeber und Chefredakteur:<br />
Simon Kravagna<br />
Redaktionelle Leitung:<br />
Amar Rajković, Aleksandra Tulej<br />
Kolumnistin:<br />
Ivana Cucujkić<br />
Gastautorinnen:<br />
Solmaz Khorsand (republik.ch)<br />
Fränzi Kühne<br />
AD & Grafik:<br />
Dieter Auracher<br />
Fotoredaktion:<br />
Marko Mestrović<br />
Projektkoordination:<br />
Katja Trost & Aida Durić<br />
Lektorat:<br />
Birgit Hohlbrugger<br />
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Kontakt:<br />
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© <strong>2018</strong> biber<br />
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30 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
31<br />
auf
almanah<br />
almanah<br />
„Öfter das Thema<br />
Gehalt ansprechen“<br />
Wirtschaftsministerin<br />
Margarete Schramböck<br />
(ÖVP) will keine Frauenquote<br />
in Vorstandsetagen.<br />
Firmen sollten aber endlich<br />
den „gender pay gap“<br />
schließen.<br />
INTERVIEW:<br />
Simon Kravagna<br />
F O T O :<br />
Soza Almohammad<br />
ALMANAH: Kann man als Teilzeitkraft eine<br />
Führungskraft sein?<br />
MARGARETE SCHRAMBÖCK: Ich habe oft<br />
erlebt, dass dies gut funktioniert – etwa<br />
wenn sich zwei Frauen eine Führungsfunktion<br />
teilen. Wir sollten uns an neue Formen<br />
der Arbeit gewöhnen. Bevor ich hier im<br />
Ministerium angefangen habe, war Telearbeit<br />
für Führungskräfte verboten. Das habe<br />
ich ermöglicht.<br />
Warum?<br />
Manchmal ist es effizienter von zu Hause<br />
zu arbeiten. Ich habe gute Erfahrung damit<br />
gemacht. Man muss nicht immer physisch<br />
anwesend sein. Ich habe Aufsichtsratssitzungen<br />
geleitet, da waren wir nur per<br />
Video-Konferenz miteinander verbunden.<br />
Die Technik ermöglicht uns neue Formen<br />
des Arbeitens.<br />
Apropos Aufsichtsrat: Es gibt mehr Frauen<br />
in Aufsichtsräten von großen Unternehmen<br />
seit dort eine Frauenquote eingeführt wurde.<br />
Warum keine Quote für die Vorstände?<br />
Da bin ich dagegen. Es wäre ein zu großer<br />
Eingriff in die Autonomie von Unternehmen.<br />
Aber warum? Man sieht bei den Aufsichtsräten,<br />
dass es gut funktioniert?<br />
Es engt Unternehmen zu sehr ein. Als<br />
nächstes kommen dann weitere Forderungen,<br />
die der Vorstand erfüllen muss: Etwa,<br />
dass dort jüngere Leute sitzen müssen oder<br />
einen bestimmten ethnischen Background<br />
aufweisen sollten. Da bin ich dagegen. Klar<br />
ist, und Studien bestätigen das: Firmen mit<br />
einem diversen Aufsichtsrat sind in der<br />
Regel erfolgreicher.<br />
Was tun Sie selbst im Bereich Frauenförderung?<br />
Wir erhöhen den Anteil von Frauen in<br />
Management- und Aufsichtsratspositionen<br />
durch unsere Initiative „Zukunft.Frauen“.<br />
Durch dieses Programm gehen hunderte<br />
Frauen, um dann die nächsten Karriereschritte<br />
gehen zu können.<br />
Warum verdienen Frauen nach wie vor weniger<br />
als Männer?<br />
Weil Firmen hier viel zu wenig tun. Es braucht<br />
mehr Sensibilität und konkrete Maßnahmen,<br />
um den „gender pay gap“ zu schließen.<br />
Frauen kann ich zudem nur empfehlen,<br />
öfters das Thema Gehalt anzusprechen. Aus<br />
eigener Erfahrung weiß ich, dass Männer<br />
dies gerne tun - während Frauen warten,<br />
dass ihre Leistungen gesehen werden.<br />
Gibt es eigentlich so etwas wie weibliche Führung?<br />
Nein, glaube ich nicht. Ich erlebe, dass sich<br />
der Führungsstil generell ändert. Es wird<br />
teamorientierter als früher geführt, weniger<br />
autoritär und hierarchisch. Aber das ist eine<br />
Frage der Generation, nicht des Geschlechts.<br />
Viele Firmen klagen über die überzogenen<br />
Erwartungen heutiger Jobeinsteiger. Die sogenannten<br />
„Millennials“ wollen oft mehr als nur<br />
einen Job. Ihre Erfahrung?<br />
Es ist eine absolute Führungsaufgabe, die besten Talente zu gewinnen.<br />
Wer auf diese neue Generation nicht eingeht,<br />
der bekommt auch nicht die besten Talente.<br />
Neben der Aufgabe, zu erklären, warum es<br />
eine Firma oder Institution überhaupt gibt,<br />
sehe ich es als eine absolute Führungsaufgabe,<br />
die besten Talente zu gewinnen.<br />
Junge Leute wollen heute halt eine coole und<br />
sinnstiftende Aufgabe und nicht nur einen<br />
Nine-to-five-Job. Wer ihnen das nicht gibt,<br />
der bekommt sie nicht.<br />
Margarete Schramböck ist Bundesministerin<br />
für Wirtschaftsstandort<br />
und Digitalisierung. Zuvor war die gebürtige<br />
Tirolerin Chief Executive Officer<br />
der A1 Telekom Austria. Schramböck<br />
promovierte an der WU Wien und erwarb<br />
einen MBA an der Universität Lyon. Sie ist<br />
Mitglied des Landesparteivorstands der<br />
Tiroler Volkspartei und des Wirtschaftsbundes.<br />
32 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
33
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Seifen mit<br />
Sozialeffekt<br />
Mit ihrem Sozialunternehmen Uganics stellt Joan (Mitte) Seifen her, die die Übertragung von Malaria verhindern.<br />
Die Sozialunternehmerin Joan aus Uganda kämpft mit<br />
Seifen gegen Malaria. Auch die Ärmsten sollen davon<br />
profitieren. Mit ihrem Engagement ist Joan nicht<br />
allein. In Uganda setzen sich immer mehr Start-ups<br />
für gesellschaftlichen Wandel ein.<br />
„AM WICHTIGSTEN IST es, die Menschen einzubinden.<br />
Erst wenn man mit den Leuten redet, versteht<br />
man ihre Situation wirklich“, erklärt Joan. Die junge<br />
Frau ist im ländlichen Uganda aufgewachsen und will<br />
die Malaria bekämpfen.<br />
KINDER BESONDERS BETROFFEN<br />
Die Tropenkrankheit trifft Kinder unter fünf Jahren<br />
besonders häufig. Denn die Mütter wissen oft nicht, wie<br />
sie die Übertragung verhindern können. Für die teuren<br />
Insektensprays fehlt ihnen das Geld. Die Regierung verteilt<br />
zwar Moskitonetze, diese halten die Parasiten aber<br />
nicht gänzlich ab.<br />
„Ich wollte etwas finden, das sich die Mütter leisten<br />
können. Etwas, das natürlich hergestellt wird. Gleichzeitig<br />
wusste ich, dass ich einen Weg finden musste, wie<br />
die Menschen an die nötigen Informationen kommen“,<br />
erzählt Joan.<br />
EINE GUTE IDEE …<br />
So entstand Uganics. Das Sozialunternehmen stellt Seifen<br />
her. Die darin enthaltenen ätherischen Öle schützen<br />
nachweislich gegen Gelsen und verhindern so Malaria.<br />
Uganics verkauft auch an Hotels sowie an Touristinnen<br />
ADA<br />
und Touristen. Diese Querfinanzierung bewirkt, dass<br />
das Produkt für Einheimische günstiger wird. Selbst die<br />
armen Bevölkerungsschichten können es sich leisten.<br />
Joan möchte ihre Verkaufszahlen verdoppeln. Das rentiert<br />
sich nicht nur für ihre Kundinnen und Kunden, auch<br />
neue Arbeitsplätze entstehen.<br />
… MIT SOZIALER WIRKUNG<br />
Die Jungunternehmerin ist eine von immer mehr jungen<br />
Menschen in Uganda, die Sozialunternehmen gründen.<br />
Mit innovativen, sozialen Geschäftsmodellen gehen sie<br />
nachhaltig gegen gesellschaftliche Missstände vor.<br />
Unterstützung bekommen sie von der Social Innovation<br />
Academy. „Das Tolle an der Akademie ist, dass wir neue<br />
Ideen und Ansätze kennenlernen“, erzählt Joseph. Er<br />
geht mit seinem Team an Schulen. Das Ziel: die Selbstmordrate<br />
unter ugandischen Jugendlichen senken. Konkret<br />
bietet er Bewusstseinsbildungsmaßnahmen und<br />
Trainings an.<br />
Auch Christine ist überzeugt, dass man aus den eigenen<br />
Ideen etwas machen kann. Sie arbeitet mithilfe<br />
der Social Innovation Academy gerade daran, dass die<br />
Menschen in Uganda online wählen können. So können<br />
sie sich die oft weiten Wege zum Wahllokal sparen.<br />
„Man darf sich nicht von Leuten einschüchtern lassen,<br />
die sagen, dass man nichts kann. Je mehr man scheitert,<br />
desto mehr lernt man“, ist Christine überzeugt.<br />
„Uganda ist seit 1992 ein Schwerpunktland der Österreichischen<br />
Entwicklungszusammenarbeit. Das Land<br />
im Herzen Afrikas hat in den letzten Jahren viel erreicht.<br />
Doch noch immer bleibt einiges zu tun, um die<br />
Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Junges<br />
Sozial-Unternehmertum leistet hier einen wichtigen<br />
Beitrag,“ so Martin Ledolter, Geschäftsführer der Austrian<br />
Development Agency (ADA).<br />
GEMEINSCHAFTLICHE IDEENSCHMIEDE<br />
Die Social Innovation Academy (SINA) liegt knapp 30 km außerhalb der ugandischen<br />
Hauptstadt Kampala. In einer selbstorganisierten Umgebung entwickeln<br />
benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam mit<br />
Mentorinnen und Mentoren neue Perspektiven. Sie tauschen sich mit Sozialunternehmerinnen<br />
und -unternehmern aus und bekommen Hilfe, damit sie ihr<br />
eigenes Start-up aufbauen können.<br />
Die Austrian Development Agency (ADA) unterstützt SINA über eine Wirtschaftspartnerschaft<br />
mit dem österreichischen Projektpartner Karmalaya<br />
Heart Work & Soul Travel. Karmalaya vermittelt Führungskräfte aus Österreich,<br />
Deutschland und der Schweiz als virtuelle Mentorinnen und Mentoren. Treffen<br />
in Uganda verstärken die Lernpartnerschaft.<br />
Mithilfe der Social Innovation Academy verfolgt Joseph (re.) sein Ziel die Selbstmordrate<br />
unter ugandischen Jugendlichen zu senken. Durch Bewusstseinsbildungsmaßnamen<br />
verhilft er ihnen zu mehr Selbstwertgefühl.<br />
Christine (Mitte) engagiert sich dafür, dass die Menschen in Uganda online wählen<br />
können.<br />
34 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
35
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WAS DIE ADA MACHT:<br />
Die Austrian Development Agency, die<br />
Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit,<br />
unterstützt Länder<br />
in Afrika, Asien, Südost- und Osteuropa bei<br />
ihrer nachhaltigen Entwicklung. Gemeinsam<br />
mit öffentlichen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen<br />
und Unternehmen setzt<br />
die ADA derzeit Projekte und Programme<br />
mit einem Gesamtvolumen von 500 Millionen<br />
Euro um.<br />
Näher Infos unter:<br />
www.entwicklung.at<br />
austriandevelopmentagency<br />
@austriandev<br />
Ivana Stjepanovic produziert hochwertige Heil- und Gewürzkräuter für ganz Europa.<br />
Kräuter gegen<br />
ehemalige Ackerflächen liegen daher seit<br />
dem Krieg brach.<br />
Gemeinde Derventa im Norden Bosnien und<br />
Herzegowinas. „Menschen, die vorher Krieg<br />
gegeneinander geführt haben, kommen durch<br />
BESTER BIO-BODEN<br />
das Projekt wieder zusammen. Während sie<br />
Kriegswunden<br />
Das möchte Ivana Stjepanovic mit Bosnia<br />
grows Organic ändern. Das junge Unternehmen<br />
setzt brachliegendes und verwucher-<br />
gemeinsam arbeiten, singen und lachen sie.<br />
Das heilt auch die seelischen Kriegswunden<br />
ein wenig,“ erzählt Ivana Stjepanovic.<br />
tes Ackerland wieder instand und produziert<br />
qualitativ hochwertige, bio-zertifizierte<br />
STARKE FRAU IN MÄNNERWELT<br />
Martin Ledolter, ADA-Geschäftsführer<br />
Auch mehr als 20 Jahre<br />
nach dem Krieg erholt sich<br />
Bosnien und Herzegowina<br />
nur langsam. Seit Kurzem<br />
gibt dort das junge<br />
Start-up Bosnia grows<br />
Organic den Menschen eine<br />
Zukunftsperspektive.<br />
„DA GEHT ES zu wie auf dem Balkan!“<br />
Diese Aussage kennt Ivana Stjepanovic aus<br />
ihrer Kindheit in Wien. Dorthin war sie mit<br />
ihrer Familie vor dem Krieg aus Bosnien und<br />
Herzegowina geflüchtet. Heute verbindet sie<br />
den Satz mit ihrem eigenen Start-up, das sie<br />
in ihrem Geburtsland aufgebaut hat.<br />
„Bei uns geht es tatsächlich zu wie auf<br />
dem Balkan. Das Spektrum unserer Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter ist groß und bunt.<br />
Wie die Natur in Bosnien und Herzegowina“,<br />
erzählt sie stolz. Die Vielfalt der Natur nutzt<br />
Norden des Landes sieht man immer noch<br />
zerschossene Häuser, unbewohnt und ohne<br />
Dächer. Im Volksmund auch „Cabrios“ genannt.<br />
Schwer vorstellbar an einem Ort, der<br />
nur sechs Autostunden von der österreichischen<br />
Hauptstadt Wien entfernt ist.<br />
Auch die Infrastruktur ist großteils zerstört.<br />
Ganze Ortschaften sind nach wie vor<br />
ohne Strom und fließendes Wasser. Zentralheizungen<br />
gibt es nicht, die Menschen heizen<br />
mit Holz. Das ist reichlich vorhanden, denn<br />
die, denen die vielen privaten Wälder einst<br />
Heil- und Gewürzkräuter für ganz Europa.<br />
Auch die Trocknung der Kräuter und die Aufbereitung<br />
für den Weiterverkauf erfolgt vor<br />
Ort. Finanzielle Unterstützung kommt aus<br />
Österreich, über eine Wirtschaftspartnerschaft<br />
mit der Austrian Development Agency<br />
(ADA), der Agentur der Österreichischen<br />
Entwicklungszusammenarbeit. „Das Projekt<br />
unterstützt auch die Wiederansiedlung von<br />
Flüchtlingsfamilien und sichert Arbeitsplätze<br />
vor Ort. In Summe werden mehr als 1.000<br />
Personen einen Nutzen aus dem Projekt ha-<br />
Leicht hat sie es nicht immer. Das Umfeld ist<br />
von Männern dominiert und von ethnischen<br />
Spannungen gezeichnet. „Ich kämpfe täglich<br />
gegen Diskriminierung, Ungerechtigkeit<br />
und Korruption, aber auch dafür, dass meine<br />
Bio-Heilpflanzen gedeihen und überleben.“<br />
Damit die natürliche und menschliche Vielfalt<br />
Bosnien und Herzegowinas langfristig erhalten<br />
bleibt.<br />
www.bosniagrowsorganic.com<br />
sie, damit die lokale Bevölkerung zu Hause<br />
gehörten, sind längst weg. Geflüchtet ins<br />
ben,“ ist ADA-Geschäftsführer Martin Ledolter<br />
eine Zukunft hat.<br />
Ausland.<br />
überzeugt.<br />
Auf die unberührte Natur und die sauberen<br />
GESCHUNDENES LAND<br />
Böden und Gewässer könnten die Bos-<br />
NEUE LEBENSGRUNDLAGEN<br />
Perspektiven sind bitter nötig, denn der<br />
nierinnen und Bosnier stolz sein. Doch sie<br />
Das Projekt schafft neue Lebensgrundlagen<br />
Krieg hat Wunden hinterlassen. Vor allem im<br />
kämpfen mit existenziellen Problemen. Viele<br />
ADA<br />
und bringt Hoffnung für die Menschen der<br />
36 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
37
almanah<br />
INKLUSION<br />
Ein Schwimmer mit nur einem Arm gewinnt Medaillen, die Erste Group<br />
gründet ein LGBTIQ-Netzwerk und Wiener „Brennpunktschulen“ erweisen<br />
sich als Orte der Herzlichkeit statt Hetze.<br />
S. 40-41<br />
HELD MIT HANDICAP<br />
Andreas Onea verliert bei einem Autounfall als Kind seine<br />
linke Hand. Danach beginnt er mit dem Schwimmen als<br />
Therapiesport. Heute gewinnt der österreichische Schwimmer<br />
Medaillen in der Sportspitze.<br />
S. 42-45<br />
DIE DIVERSITÄTS-LOBBYISTIN<br />
LGBTIQ-Netzwerke im Unternehmen? Wer braucht das?<br />
Was genau bedeutet das? Diese Fragen beantwortet Julia<br />
Valsky, die Sprecherin von ErsteColours. Sie blickt auf zwei<br />
Jahre Diversitätsarbeit in der Erste Group zurück.<br />
Thailändisch für Inklusion<br />
Soza Almohammad, Marko Mestrović<br />
S. 48-49<br />
ÜBER SOZIAL STARKE KINDER<br />
Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“ gehe es<br />
zu wie in der Bronx. Die Wahrheit ist aber: Nirgends sonst<br />
findet man so viel Herzlichkeit, Zusammenhalt und Vertrauen<br />
wie bei SchülerInnen mancher Wiener NMS.<br />
38<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
almanah<br />
Held mit<br />
Handicap<br />
Als Sechsjähriger<br />
verliert er bei einem<br />
Autounfall seinen linken<br />
Arm. Heute gewinnt<br />
der österreichische<br />
Schwimmer Andreas Onea<br />
eine Medaille nach der<br />
anderen.<br />
TEXT:<br />
Nada El-Azar<br />
3. Mai 1998. Der Tag, den Andreas Onea<br />
niemals vergessen wird. Der Tag, der<br />
das Leben des 26-Jährigen Schwimmers<br />
für immer verändert hat. Der Tag, den<br />
er auch als Startschuss in sein „neues Leben“<br />
bezeichnet. Das ist der folgenschwere Tag,<br />
an dem er als knapp sechsjähriger Bub bei<br />
einem Autounfall seinen linken Arm verlor.<br />
„Wenn ich träume, sehe ich mich mit<br />
einem Arm“<br />
Andreas‘ Vater verlor die Kontrolle über den<br />
Wagen, der von der Fahrbahn schlitterte<br />
und sich mehrfach überschlug. Die Mutter<br />
erlitt einen Unterschenkelbruch, der Vater<br />
war mit schweren Verletzungen in der Fahrerseite<br />
eingeklemmt und musste später<br />
von den Rettungskräften aus der Karosserie<br />
herausgeschnitten werden. Andreas’ beide<br />
Brüder blieben unverletzt. Der Großvater<br />
erlag drei Wochen später den Folgen des<br />
Unfalls. Andreas selbst landete einige Meter<br />
vom Wagen entfernt in einer Schlammlacke<br />
– ohne seinen linken Arm. „Ich hätte eigentlich<br />
am Blutverlust sterben müssen, aber<br />
der Schlamm verschloss die Wunde“, so der<br />
Spitzensportler. Wenn der heute 26-Jährige<br />
noch so detailliert über die Geschehnisse<br />
vom 3. Mai 1998 erzählt, scheint er kaum<br />
einen Anflug von Trauer zu zeigen. Vielmehr<br />
strotzt Andreas vor Dankbarkeit dafür,<br />
heute vielen Menschen von diesem Erlebnis<br />
überhaupt erzählen zu können und ihnen<br />
Mut zu machen. „Dass ich überlebt habe, ist<br />
ein großes Wunder“, glaubt der gebürtige<br />
Zwettler fest.<br />
Aus seinem früheren, zweiarmigen Leben<br />
habe er nur einige vage Erinnerungen. „Wenn<br />
ich von mir träume, sehe ich mich immer<br />
mit nur einem Arm“, so Andreas. Einen Arm<br />
zu haben ist seine Realität und ganz normal<br />
für ihn – genau wie für sein Umfeld. „Meine<br />
Eltern haben mich niemals anders behandelt<br />
als meine Brüder, das war für mich sehr<br />
wichtig“, sagt er. Andreas wuchs nicht mit<br />
dem Gedanken auf, dass er plötzlich etwas<br />
nicht mehr machen kann oder darf. Stattdessen<br />
lernte er, dass er gewisse Dinge einfach<br />
anders machen müsse, um zu seinem Ziel<br />
zu kommen. Mit dem Schwimmen begann<br />
Andreas als Therapie. Vor dem Unfall war er<br />
übrigens Nichtschwimmer.<br />
„Ich habe nicht mehr in den Tag hineingedacht,<br />
sondern an große Ziele“<br />
Mit zwölf Jahren wurde er Staatsmeister<br />
über 100 Meter Brustschwimmen. Für<br />
Andreas war dieser Sieg ein großer Ansporn,<br />
sich komplett dem Schwimmsport zu<br />
widmen. Nach seinem Wechsel in den Leistungssport<br />
begann er mehrmals die Woche<br />
mit Nicht-Behinderten in einem regulären<br />
Schwimmverein zu trainieren. „Plötzlich<br />
hatte ich eine Passion. Ich habe nicht mehr<br />
in den Tag hineingedacht, sondern an große<br />
Ziele.“ Diszipliniertes Training, die richtige<br />
Ernährung und die Angst vor Verletzungen<br />
wurden Bestandteil seines Lebens. Mit 16<br />
Jahren qualifizierte er sich für die Paralympics<br />
in Peking – landete allerdings auf Platz<br />
6. „Ich hatte damals den Traum, irgendwann<br />
eine paralympische Medaille zu gewinnen<br />
und auf dem Podest zu stehen“, so Andreas.<br />
2008 hielt Onea den Weltrekord über 50<br />
Meter Brust.<br />
„Behinderte müssen den Zugang zum<br />
Arbeitsmarkt finden“<br />
In seiner Schwimmkarriere erlebte Onea<br />
viele Rückschläge, die ihn mit dem Gedanken<br />
spielen ließen, dem Schwimmsport den<br />
Rücken zu kehren. Bei den Paralympischen<br />
Spielen 2012 in London verpasste er um 0,26<br />
Sekunden die Bronzemedaille. „Ich war am<br />
Boden zerstört. Aber dann fiel mir wieder<br />
ein, wie viel mir das bedeutet und ich trainiere<br />
härter weiter.“ Fünf Bronze- und zwei<br />
Silbermedaillen hat er sich bereits bei Weltund<br />
Europameisterschaften erschwommen.<br />
Freizeit hat Andreas aufgrund seines<br />
intensiven Trainings nicht viel. Gerade zieht<br />
er zweimal täglich à zwei Stunden seine<br />
Bahnen, um sich auf die Weltmeisterschaften<br />
im Para-Schwimmen vorzubereiten, die<br />
im Juli <strong>2019</strong> in Malaysia stattfinden werden.<br />
„Ich möchte niemals etwas nicht geschafft<br />
haben, ohne es probiert zu haben“, so der<br />
Spitzensportler. Zum Thema Behindertenrechte<br />
positioniert er sich klar: „Behinderte<br />
müssen in unserer Gesellschaft sichtbarer<br />
werden und vor allem Zugang auf den<br />
Arbeitsmarkt finden.“ Seine persönliche<br />
Geschichte wird er wieder und wieder erzählen,<br />
um zu zeigen, dass man Dinge schaffen<br />
kann, wenn man sie sich fest vornimmt. <br />
F O T O :<br />
Soza Almohammad<br />
40 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
41
almanah<br />
almanah<br />
Die<br />
Diversitäts-<br />
Lobbyistin<br />
LGBTIQ-Netzwerke<br />
im Unternehmen? Wer<br />
braucht das? Was genau<br />
bedeutet das? Diese<br />
Fragen beantwortet Julia<br />
Valsky, die Sprecherin<br />
von ErsteColours. Sie<br />
blickt auf zwei Jahre<br />
Diversitätsarbeit in der<br />
Erste Group zurück.<br />
TEXT:<br />
Emir Dizdarević<br />
Bei der Förderung von LGBTIQ taucht häufiger<br />
der Vorwurf der "Homolobby" auf.<br />
Mussten Sie sich das anhören? Oder wäre<br />
das sogar ein Kompliment?<br />
Nein, also der Vorwurf ist noch nie gefallen.<br />
Der Terminus Lobbying ist ja generell etwas<br />
negativ besetzt, wäre das aber der Vorwurf:<br />
Ich mache Lobbying für Diversität. Damit<br />
habe ich kein Problem, weil ich wirklich<br />
davon überzeugt bin, dass es das Unternehmen<br />
als Ganzes weiterbringt.<br />
Welchen konkreten Nutzen haben die Mitarbeiter<br />
von „ErsteColours?“<br />
Aktuelles Beispiel: Ich habe einen neuen<br />
Kollegen, der davor bei der Royal Bank of<br />
Scotland gearbeitet hat. Der ist zum ersten<br />
Mal in seinem Leben in Wien, er kennt keine<br />
Möglichkeiten, wo man weggeht und weiß<br />
noch nicht, wie man ein gleichgesinntes<br />
Netzwerk hier findet. Er hat dann gesehen,<br />
dass es „ErsteColours“ gibt, uns geschrieben<br />
und wir haben uns dann getroffen. Für<br />
ihn waren wir die erste Anlaufstelle.<br />
Und was haben die Kunden von dem<br />
Engagement dieses Netzwerks?<br />
Wir haben uns anlässlich der Pride angeschaut,<br />
wie viele Personen sich als LGBTIQ<br />
identifizieren. Konservativen Schätzungen<br />
nach sind das sechs Prozent der Bevölkerung,<br />
rechnet man Familie und Freunde<br />
dazu, ist das Thema in etwa für 15 Prozent<br />
relevant, die dem offen gegenüberstehen.<br />
Dazu zählen eben auch unsere Kunden. Wir<br />
haben das aber nicht als Verkaufsstrategie<br />
oder Ähnliches genutzt, wir legen den Fokus<br />
klar auf Sensibilisierung.<br />
Geht es aber um Arbeitsrecht, braucht es<br />
diese Netzwerke nicht wirklich. Im Gegensatz<br />
zum Privatrecht können Menschen im<br />
Arbeitsrecht sich relativ gut gegen Diskriminierung<br />
wehren.<br />
Das Arbeitsrecht entscheidet nicht darüber,<br />
ob ich mich in einem Unternehmen outen<br />
kann. Das ist völlig irrelevant. Hier ist die<br />
Unternehmenskultur entscheidend, also<br />
ob sich jemand unterstützt, gleichgestellt<br />
und willkommen fühlt. Das kann man nicht<br />
rechtlich angehen, sondern braucht andere<br />
Methoden.<br />
Die ErsteColours ist eine "Business Ressource<br />
Group" im Unternehmen. Was ist<br />
das?<br />
Das ist eine Gruppe, die von Mitarbeitern<br />
freiwillig geleitet und geführt wird. Sie soll<br />
eine Anlaufstelle, ein Service für Mitarbeiterinnen<br />
und Mitarbeiter sein und einen<br />
Mehrwert fürs Unternehmen schaffen. Da<br />
ist in den letzten zwei Jahren wirklich viel<br />
passiert zum Thema Diversity-Management.<br />
Neben ErsteColours gibt es in unserem<br />
Unternehmen noch die Erste Women's Hub,<br />
ein erfolgreiches Frauennetzwerk.<br />
Wann ist Diversity-Management in einem<br />
Unternehmen erfolgreich?<br />
Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, dass Diversity-Management<br />
auch die Unterstützung von<br />
oben hat. Das sagt die Literatur dazu, und<br />
das ist auch bei uns der Fall. Unser Sponsor<br />
ist unser Chief Financial Officer, Gernot Mittendorfer.<br />
Nächste Woche zum Beispiel gibt<br />
es auf unserem Areal einen Charity-Punschstand<br />
von ErsteColours, bei dem er ausschenkt.<br />
Jetzt kann man natürlich sagen,<br />
dass sowas nicht die Welt bewegt, aber es<br />
hat eine große Wirkung auf das Unternehmen<br />
und zeigt, dass Diversität hier mehr als<br />
nur ein Lippenbekenntnis ist.<br />
Wo merken Sie noch, dass es hier um mehr<br />
geht als um ein bloßes Lippenbekenntnis?<br />
Wie Sie wissen, gab es im Sommer das Urteil<br />
des Verfassungsgerichtshofes zum dritten<br />
Geschlecht. Mein Kollege hat nach dem<br />
Urteil sofort unternehmensintern Gespräche<br />
aufgenommen, weil es eben auch bedeutet,<br />
dass man Formulare ändert. Es war sofort<br />
möglich, das Gespräch mit unserer Personalabteilung<br />
zu führen, weil wir viele Formulare<br />
haben, wo nach dem Geschlecht<br />
gefragt wird. Die Kollegen waren demgegenüber<br />
sofort offen und momentan warten wir<br />
nur noch auf eine gute technische Lösung.<br />
Aber der Prozess ist voll im Gange.<br />
Das Hauptinteresse eines Unternehmens<br />
ist der Profit, Diversität hingegen ist<br />
ein gesellschaftspolitisches Phänomen.<br />
Betreibt ein Unternehmen mit Diversity-Management<br />
nicht irgendwie Politik?<br />
Natürlich sind wir ein Unternehmen, das<br />
Gewinn machen will und das auch sehr<br />
erfolgreich tut. Aber wir sehen unseren<br />
Zweck darin, Prosperität zu schaffen, Wohlstand<br />
und Wachstum. Und das auch persönlich.<br />
Daher ist unser Anspruch auch,<br />
Menschen dabei zu unterstützen, an sich<br />
selbst zu glauben. Ich denke schon, dass man<br />
da im Unternehmen selbst damit anfangen<br />
muss, um glaubwürdig zu sein.<br />
Laut der aktuellen Studie der Arbeiterkammer<br />
zu dem Thema Unternehmen und<br />
LGBTIQ haben Trans-Personen die meisten<br />
Probleme am Arbeitsmarkt. Gab es hier<br />
von ErsteColours Überlegungen, wie man<br />
solche Personen unterstützen kann?<br />
Bei uns gab es bisher einen Fall, der ein gutes<br />
Beispiel dafür ist, wie wichtig Sichtbarkeit<br />
ist und wie wichtig es ist, Anlaufstelle zu<br />
sein. Die Person ist zu uns gekommen und<br />
hat uns erklärt, dass sie sich im Prozess der<br />
Transition befindet und gefragt, wie wir sie<br />
dabei unterstützen können. In erster Linie<br />
ging es für sie einfach darum zu wissen, dass<br />
da jemand ist, der sie unterstützt und vermittelt.<br />
Diese Person hat jetzt kein konkretes<br />
Problem, aber sie wollte wissen, wie und<br />
mit wem man sich austauschen kann.<br />
In der Zielsetzung von ErsteColours steht<br />
unter anderem, dass man mit dieser<br />
Gruppe auch neue Geschäftsmöglichkeiten<br />
schaffen möchte. Was wären solche?<br />
Ehrlicherweise haben wir uns in den ersten<br />
beiden Jahren darauf konzentriert, uns zu<br />
positionieren. Innerhalb des Unternehmens<br />
als Anlaufstelle und auch innerhalb<br />
der Zivilgesellschaft. Konkrete Geschäftsmöglichkeiten<br />
oder gar Produkte werden für<br />
diese Zielgruppe nicht geschaffen. Es steht,<br />
wie schon gesagt, die Sensibilisierung im<br />
Vordergrund.<br />
Neben Österreich hat die Erste Bank noch<br />
sechs weitere Töchterfirmen in Osteuropa.<br />
Wie sind da die Erfahrungen?<br />
In der Slowakei überlegt man gerade, nach<br />
dem Vorbild von ErsteColours ein ähnliches<br />
Netzwerk zu gründen. Pro Land gibt es auch<br />
einen Diversity-Manager oder eine Diversity-Managerin.<br />
In Kroatien gab es einen Spot<br />
von uns unter dem Slogan #glaubandich, wo<br />
wir eine Zehntelsekunde zwei Männer im<br />
Bild hatten, deren Hände sich berühren. Das<br />
war ein riesiges Thema. Es war dann so, dass<br />
unser CEO einen offenen Brief geschrieben<br />
hat, warum es aus seiner Sicht wichtig<br />
ist, solche Themen zu kommunizieren und<br />
warum das Sinn macht. Da haben wir Haltung<br />
gezeigt. Das meine ich mit Glaubwürdigkeit.<br />
<br />
F O T O :<br />
Soza Almohammed<br />
42 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
43
almanah<br />
almanah<br />
GASTKOMMENTAR<br />
Renate Anderl<br />
Arbeiterkammerpräsidentin<br />
#LOYAL<br />
Was ist schon<br />
„normal“?<br />
Zurück haltung. Sechs von zehn Befragen<br />
geben ihre sexuelle Orientierung bzw.<br />
Identität am Arbeitsplatz zwar nicht von<br />
sich aus an, reden aber auf Nachfrage offen<br />
darüber. Zwei von zehn sind offensiver und<br />
sprechen in der Arbeit bewusst darüber.<br />
Die anderen lassen ihre KollegInnen<br />
#PERSÖNLICH<br />
entweder im falschen Glauben oder halten<br />
ihre sexuelle Orientierung bzw. Identität<br />
komplett geheim.<br />
Das ist nicht unbegründet. Unsere Studie<br />
#KREATIV<br />
hat gezeigt, dass es doch ein beträchtliches<br />
Ausmaß an negativen Erfahrungen gibt.<br />
Rund 40 Prozent haben schon Tuscheln<br />
bzw. böse Gerüchte in ihrem derzeitigen<br />
Betrieb erlebt, genauso wie dumme Witze.<br />
Jede/r Dritte ist schon einmal gegen seinen<br />
Willen geoutet worden. Ebenfalls fast ein<br />
#DIVERSITÄT<br />
Drittel hat schon einmal berufliche Benachteiligungen<br />
erfahren.<br />
Als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer<br />
verbringt man viel Zeit am Arbeitsplatz<br />
und ist nie nur Arbeitskraft, sondern immer<br />
auch Mensch. Mir ist es daher wirklich ein<br />
#WIRSINDANDERS<br />
AK-Chefin Renate Ander<br />
großes Anliegen, dass sich niemand dafür<br />
verstecken muss, wer er oder sie ist oder<br />
Schwul oder lesbisch am<br />
Arbeitsplatz: AK-Präsidentin<br />
Renate Anderl ist<br />
für eine faire Arbeitswelt,<br />
in der Diskriminierungen<br />
keinen Platz haben.<br />
Hört man die Worte schwul oder lesbisch<br />
denkt man schnell an „Minderheit“.<br />
Tatsächlich gibt es in<br />
Österreich aber bis zu 300.000 Beschäftigte,<br />
die in ihrer sexuellen Orientierung oder<br />
Identität von der „Norm“ abweichen. Wie es<br />
ihnen am Arbeitsplatz geht, hat die Arbeiterkammer<br />
erstmals in einer Studie erhoben.<br />
„Privates hat am Arbeitsplatz nichts<br />
verloren“. Diese Meinung wird immer dann<br />
wen man liebt.<br />
Wer erzählt nicht manchmal vom<br />
Wochenende mit der Familie, wer hat nicht<br />
gerne Fotos auf dem Schreibtisch oder redet<br />
über Erlebnisse im Urlaub? Das macht uns<br />
nicht nur als Menschen aus, das ist es auch,<br />
was unsere Beziehung zu den Kolleginnen<br />
und Kollegen bereichert und für ein gutes<br />
Arbeitsklima sorgt. Nur so können sich<br />
Menschen mit Freude und Engagement<br />
Wir könnten Euch jetzt erzählen, was für eine große, tolle Anwaltskanzlei<br />
wir sind und wie oft wir bereits ausgezeichnet wurden – doch damit<br />
wollen wir Euch nicht langweilen.<br />
Wir sind anders. Wir leben Diversität nach innen und nach außen.<br />
Und bei uns haben nicht nur Männer die Hosen an.<br />
besonders lautstark vertreten, wenn es um<br />
ihrer Aufgabe widmen und müssen ihre<br />
die sexuelle Orientierung von Beschäftigten<br />
geht. In vielen Betrieben wird noch immer<br />
ganz selbstverständlich davon ausgegangen,<br />
dass Frauen sich nur für Männer und<br />
Männer sich ausschließlich für Frauen<br />
Energie nicht für Verstecken oder Abwehrkämpfe<br />
vergeuden.<br />
Für Unternehmen ist es deswegen<br />
wichtig, darauf zu schauen, dass im Betrieb<br />
Offenheit und Respekt herrschen. Für eine<br />
Hanita Veljan<br />
Rechtsanwältin und<br />
gebürtige Bosnierin<br />
interessieren. Für LSBTI-Personen stellt<br />
sich daher stets die Frage, ob sie mit ihrer<br />
„anderen“ Orientierung offen umgehen<br />
oder sie doch lieber verheimlichen sollten.<br />
Viele lösen das Problem mit<br />
faire Arbeitswelt, in der Diskriminierungen<br />
keinen Platz haben, hat die Arbeiterkammer<br />
schon immer gekämpft und wird das auch<br />
weiterhin tun. Dafür stehe ich als AK-Präsidentin.<br />
<br />
Sebastian Philipp<br />
Ihr habt Fragen an uns?<br />
Kontaktiert uns auf<br />
www.phh.at / veljan@phh.at<br />
44 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
45
almanah<br />
almanah<br />
Mit dem Orient Express<br />
Name des Kretaviertels ist eine Anspielung<br />
auf blutige Unruhen auf der griechischen<br />
Insel, die um 1900 zur Zeit seiner Entste-<br />
Mit Teamwork zum Genuss<br />
„Das Kochen ist der kleinste gemeinsame<br />
Nenner für alle und die Küche ist ein<br />
hung stattfanden. Heute ist das Grätzl nicht<br />
geschützter Raum zum Reden“, so Prak-<br />
zum Dinner nach Kreta<br />
mehr brandgefährlich, aber dennoch sozial<br />
schwach. Alte Arbeitereinfamilienhäuser<br />
und Gemeindebauten aus den Achtzigerjah-<br />
tikantin Martina Winkler. Sie schätzt den<br />
sozialen und kulturellen Austausch an den<br />
Kochrunden sehr. Viele der Köchinnen und<br />
ren säumen nebst türkischen Supermärkten<br />
Köche arbeiten ihre Fluchterfahrungen<br />
jüngeren Datums die „Ankergründe“ um<br />
auf und finden in der Gemeinschaftsküche<br />
In der alten Ankerbrotfabrik<br />
brutzelt’s und<br />
brodelt’s jeden Dienstag,<br />
wenn Menschen aus<br />
die Fabrik. Die wöchentlichen Kochrunden<br />
sollen das Areal öffnen und den Austausch<br />
fördern.<br />
Dienstags ab 17 Uhr finden sich vor<br />
allem arabischsprachige Teilnehmer in der<br />
Küche ein, von denen viele noch keine fünf<br />
Anschluss an ein neues soziales Umfeld.<br />
„Es gab bereits türkische, polnische, afghanische<br />
und viele andere Abende. Einmal<br />
wollten die Teilnehmer unbedingt österreichische<br />
Küche probieren. Also machten wir<br />
Paprikahendl, Knödel und Palatschinken mit<br />
verschiedenen Kulturen<br />
beim Kochen und Essen<br />
zusammenkommen. Ein<br />
Jahre in Österreich leben. Bekannte und<br />
neue Gesichter finden sich lachend ein und<br />
reichen sich die Hand zur Begrüßung. Vom<br />
Mann-Frau-Gefälle keine Spur. Jede Woche<br />
Marillen- und Powidlfüllung“, erzählt die<br />
39-Jährige. Um 20 Uhr werden die Tische<br />
gedeckt und das Essen serviert. Um uns<br />
herum gibt es viel Gelächter und aufwen-<br />
Lokalaugenschein.<br />
treffen sich zwischen 30 und 40 Köchinnen<br />
und Köche im Objekt 19, wo früher kein<br />
dig gestylte Damen wollen unbedingt von<br />
meiner Kollegin Soza fotografiert werden.<br />
Dutzend zustande kam. Teammember Salwa<br />
sind hier so viel besser als in meiner Heimat-<br />
Das Ergebnis der mexikanischen<br />
TEXT:<br />
Nada El-Azar<br />
F O T O S :<br />
Soza Almohammad<br />
Salib und Diätologin Elisabeth Saathen<br />
geben bekannt: „Heute wird mexikanisch<br />
gekocht. Es gibt Tortillas, vegetarisch und<br />
stadt Toronto.“ Natasha besuchte schon<br />
in Kanada und den Niederlanden solche<br />
Community Cookings und wurde im Internet<br />
Kochrunde ist etwas unkonventionell: Statt<br />
gefüllter Tortillas gibt es eine Art Gemüseund<br />
Fleischauflauf mit kleinen Brotstücken.<br />
mit Fleischfüllung.“ Beim Wort Tortilla<br />
auf die Kochrunden im Objekt 19 aufmerk-<br />
Auch wenn die arabische Interpretation<br />
sehen sich viele Freiwillige fragend an.<br />
sam. „Die Menschen hier sind wirklich sehr<br />
etwas vom Plan abweicht: Schmecken tut’s<br />
Einige von ihnen haben noch nie von Tortil-<br />
nett, ich werde bestimmt öfter mitmachen“,<br />
fantastisch und alle sind zufrieden.<br />
<br />
las gehört, geschweige denn mexikanisch<br />
sagt die gebürtige Kanadierin mit indischen<br />
gegessen.<br />
und afrikanischen Wurzeln.<br />
Die alte Ankerbrotfabrik ist eines<br />
der Wahrzeichen von Wien-Favoriten.<br />
In den 1920er Jahren<br />
größter Arbeitgeber der Stadt, war sie<br />
Zentrum gewerkschaftlich organisierter<br />
Arbeiter im Widerstand gegen die Nazis.<br />
Die geschichtsträchtige Großbäckerei aus<br />
rotbraunem Sichtziegel liegt am Fuße der<br />
„Kreta-Insel“ östlich der Absberggasse.<br />
Die Gegend galt als besonders unsicher. Den<br />
„Kretabuam“, die schon Gerhard Bronner<br />
in seinem Favoriten-Lied besang, ging man<br />
lieber aus dem Weg. Den einzigen Anschluss<br />
an das öffentliche Verkehrssystem bildet<br />
nach wie vor die Straßenbahnlinie 6 –<br />
von jungen Favoritnern liebevoll „Orient<br />
Express“ genannt. Brot wird heute nur mehr<br />
in einem kleinen Teil der Fabrik gebacken,<br />
die restlichen Räume wurden durch einen<br />
Investor zu hippen Galerien, Ateliers und<br />
Showrooms umfunktioniert.<br />
Frischer Wind für die Kreta<br />
Die Caritas Wien hat das Objekt 19 der<br />
Brotfabrik zu einer neuen Begegnungszone<br />
für das Grätzl gemacht. Im Jahr 2014 wurde<br />
das Community Cooking ins Leben gerufen.<br />
Ein Projekt, bei dem Menschen regelmäßig<br />
ihr Abendessen gemeinsam zubereiten.<br />
„Das Projekt wurde einerseits zur Stärkung<br />
von Ernährungskompetenzen gestartet und<br />
andererseits zur Involvierung von Menschen,<br />
die erst seit Kurzem in Wien leben“,<br />
sagt Lisa Plattner von der Caritas Wien. Der<br />
Nicht verzagen, Smartphone fragen!<br />
Langsam beginnt an den drei Kochstationen<br />
das Schneiden, das Würzen, das Braten<br />
und das Rühren. Wasan kommt ursprünglich<br />
aus dem Irak und ist vor zweieinhalb Jahren<br />
der Liebe wegen aus Schweden nach Wien<br />
gezogen. „Ich bin über Freunde zur Caritas<br />
gekommen und besuche seit einem Jahr die<br />
Kochrunden, um besser Deutsch zu lernen“,<br />
sagt sie. „Manchmal dolmetsche ich sogar<br />
für andere.“ Die Frohnatur beweist Führungstalent<br />
in der Gruppe – die Fleischfüllung<br />
der Tortillas nimmt Gestalt an.<br />
An der nächsten Station knetet Natasha<br />
den Teig für die frischen Tortillas. „Ich<br />
habe keine Ahnung, was ich hier mache“,<br />
lacht sie. Die 29-Jährige hat es nach ihrem<br />
Masterstudium der Kartographie nach Wien<br />
verschlagen und sie ist gerade auf Jobsuche.<br />
„Ich habe bereits ein Semester hier studiert.<br />
Die Lebensqualität und die Infrastruktur<br />
46 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
47
almanah<br />
almanah<br />
Die Klasse auf diesem Foto ist<br />
nicht diejenige, die im Text<br />
behandelt wird.<br />
Über sozial<br />
starke Kinder<br />
Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“<br />
gehe es zu wie in der<br />
Bronx. Die Wahrheit ist aber: Ich habe<br />
nirgends so herzliche, liebevolle Kinder<br />
kennengelernt wie an diesen Schulen.<br />
TEXT:<br />
Melisa Erkurt<br />
F O T O :<br />
Marko Mestrovic<br />
Melisa Erkurt tourt<br />
mit dem biber-Projekt<br />
„Newcomer“ seit drei<br />
Jahren durch Wiener<br />
Schulklassen und<br />
berichtet regelmäßig<br />
über ihre Erfahrungen<br />
aus den Schulen.<br />
Neulich stand ich nach einem schlechten<br />
Morgen in einer Klasse. Ich versuchte alles,<br />
damit die Kids meine Laune nicht bemerken.<br />
Sie waren so lieb in der Stunde, arbeiteten fleißig mit,<br />
fragten, was ich am Wochenende vorhabe und brachten<br />
mich mit Erzählungen von ihrem letzten Wochenende<br />
zum Lachen. Am Ende der Stunde sagte ein<br />
Schüler aus der ersten Reihe ganz leise zu mir: „Heute<br />
waren Sie traurig. Geht’s Ihnen schon besser?“ Ich<br />
war gerührt, was waren das bloß für empathische<br />
Kinder. Aber das dachte ich mir nicht zum ersten Mal.<br />
Immer, wenn mich die aktuelle Debatte rund um die<br />
Bildungspolitik frustriert, ich den Glauben daran<br />
verliere, dass wir dieses Zwei-Klassen-Schulsystem<br />
jemals überwinden werden, gibt mir die Arbeit<br />
mit Kindern und Jugendlichen Hoffnung. Denn an all<br />
diesen sozioökonomisch schwächeren Schulen, auch<br />
Brennpunktschulen genannt, habe ich Kinder und<br />
Jugendliche mit den größten Herzen und tollsten Charakteren<br />
kennengelernt. Kinder, die mir in der Pause<br />
ihre Jause angeboten haben. Kinder, die mir Baklava<br />
mitgebracht haben („Die hat meine Mama für Sie<br />
gemacht, nachdem ich ihr von Ihnen erzählt habe“).<br />
Kinder, die sich nicht wegen Äußerlichkeiten über den<br />
anderen lustig gemacht haben. Oftmals waren Kinder<br />
dabei, bei denen ich wusste, so traurig es klingt, dass<br />
sie in einer anderen Schule beispielsweise wegen ihrer<br />
Kleidung gemobbt werden würden. Oder Mario, der<br />
zwei Köpfe kleiner als alle anderen war, er wurde von<br />
keinem seiner Schulkollegen aufgrund seiner Größe<br />
gehänselt, im Gegenteil, er wurde von seinen Mitschülern<br />
im Park „beschützt“. „Normal, er ist unser<br />
Bruder.“ Kinder, die noch Ärmeren ihr Jausengeld<br />
schenken. Kinder, die vor Freude weinen, weil sie sich<br />
so für ihre Freundin freuen, deren Mutter nach drei<br />
Jahren in Syrien endlich nach Österreich nachkommen<br />
darf. Kinder, die sich bei schlechten Noten trösten, die<br />
einander beim Elternabend nicht auslachen, weil der<br />
Papa nicht so gut Deutsch spricht, sondern füreinander<br />
dolmetschen. Kinder, die sich vor den anderen<br />
nicht schämen zuzugeben, dass sie gerade kein Geld<br />
fürs Kino haben, weil sie wissen, keiner wird sie deshalb<br />
schief anschauen.<br />
„Heißt das, dass wir dumm und asozial sind?“<br />
Ich weiß von vielen Lehrer*innen, dass sie aufgrund<br />
dieser Herzlichkeit der Kinder und deren Eltern viel<br />
lieber an solchen Schulen unterrichten, als an Schulen,<br />
an denen die Kinder auf sie herabsehen, weil sie „nur“<br />
Lehrer sind und die eigenen Eltern etwas viel Besseres.<br />
Sie werden von den Eltern nicht in Frage gestellt,<br />
sie sprechen ihnen nicht ihre Kompetenzen ab und<br />
drohen bei einem „Nicht Genügend“ nicht mit Anwälten.<br />
Schulen, an denen den Kindern verboten wird, sich<br />
zu umarmen, so wie im Theresianum in Eisenstadt. Das<br />
ist natürlich ein Einzelfall und es gibt überall großartige<br />
Kinder und Jugendliche, aber diese Herzlichkeit,<br />
diese Dankbarkeit, das Mitgefühl und die Akzeptanz<br />
– das alles habe ich an diesen Schulen viel stärker als<br />
sonst wo erlebt. Und als mich Milan aus der 4b fragt,<br />
ob seine Schule denn eine dieser Brennpunktschulen<br />
sei, von denen alle immer reden und ob sozial schwach<br />
bedeutet, dass er und die anderen dumm sind, wird mir<br />
plötzlich ganz anders. Auch als die 13-jährige Kübra<br />
ihm erklärt, dass sozial schwach bedeute, dass sie nicht<br />
sozial sind, bin ich schockiert. Mir war nicht klar, was<br />
solche Begriffe bei den Kindern auslösen. Seitdem<br />
kläre ich diese riesengroßen Missverständnisse in jeder<br />
Klasse ganz schnell auf. Weil wenn diese Kinder und<br />
Jugendlichen etwas nicht sind, dann dumm und asozial.<br />
Tatsächlich sind sie so großartig, dass ich nach<br />
der gemeinsamen biber Newcomer-Woche mit ihnen<br />
nicht glauben mag, dass ich sie nicht mehr wiedersehe.<br />
Einmal sind sogar Tränen geflossen – bei den Schüler*innen<br />
und mir nachdem unsere gemeinsame Woche<br />
um war. Mit einigen bin ich dann durch Social-Media<br />
und telefonisch in Kontakt geblieben. Und weil ich das<br />
Schulprojekt schon seit über drei Jahren leite, bekomme<br />
ich mit, was aus vielen dieser Schülerinnen geworden<br />
ist – manche erfüllen sich ihren Traum, von dem<br />
sie mir damals erzählt haben und machen eine Lehre,<br />
andere besuchen eine weiterführende Schule, aber egal,<br />
was aus ihnen beruflich wird, eines sind sie jetzt schon:<br />
Wundervolle Persönlichkeiten, die großen Eindruck bei<br />
mir hinterlassen haben.<br />
<br />
48 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
49
almanah best practice<br />
almanah best practice<br />
best<br />
practice<br />
Daheim<br />
im<br />
Verein<br />
So geht<br />
Diversität<br />
richtig!<br />
SPIELERPASS ist ein<br />
gemeinnütziger Verein, der<br />
Menschen mit Beeinträchtigung<br />
ermöglicht, sich sportlich und<br />
gesellschaftlich auf großer<br />
Diese Unternehmen und<br />
Vereine machen es vor:<br />
Wie man Vielfalt nach innen<br />
Bühne zu präsentieren und<br />
Anschluss im Vereinsleben und<br />
in der Gesellschaft zu finden.<br />
und nach außen fördert<br />
und soziales Engagement<br />
TEXT:<br />
Nada El-Azar<br />
zeigt. Von Mehrsprachigkeit<br />
über Mentoring bis hin zur<br />
Inklusion im Beruf oder beim<br />
gemeinsamen Sport. Das sind<br />
unsere best-practice-Beispiele<br />
für gelungene Diversity-<br />
Programme!<br />
Manfred Binder, SLKphoto.at Sebastian Kreuzberger Spielerpasscup 18<br />
Im Jahr 2016 rief Nikolas Karner SPIELERPASS ins Leben, wo<br />
das Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung<br />
im Mittelpunkt steht. Karner wuchs mit einem Jungen mit<br />
Down-Syndrom auf und spielte mit ihm als Kind regelmäßig Fußball.<br />
Das trieb ihn später dazu, diesen Verein zu gründen. SPIELERPASS<br />
hat auch ein Ziel: Immer wieder werden Menschen mit Behinderung<br />
in einem Charity-Kontext angesprochen - das ist nicht der Ansatz<br />
von SPIELERPASS. Der Verein will aus dieser Bittsteller-Rhetorik<br />
heraus und den Spielern ein Umfeld geben, das ihnen sagt: „Jeder ist<br />
willkommen.“<br />
Impulse für eine subtile Inklusion<br />
Im Jahr <strong>2018</strong> kam es zum zweiten SPIELERPASS CUP, Österreichs<br />
größtem Hallenfußballturnier für Special Needs Teams. Zwölf Teams<br />
aus vier Ländern - mit mehr als 150 Kickern – ließen ihrer Spielfreude<br />
freien Lauf. Ehemalige und aktive Profifußballer engagieren sich als<br />
Schiedsrichter und zeigen dadurch den Teams Wertschätzung. „Die<br />
Spieler können ihren Idolen, wie etwa Ex-Nationalspieler Stefan<br />
sieben erfolgreichen Projekten im Jahr <strong>2018</strong>. Auch drei Inklusionsfußballturniere<br />
wurden im Waldviertel ausgetragen. „Wir sehen uns<br />
als Impulsgeber für eine nachhaltige Inklusion“, so Karner, „Menschen,<br />
die bis dato keinen Kontakt mit Behinderten hatten, gehen ein<br />
Stück weit sensibilisierter nach Hause.“<br />
Dankbarkeit als Ansporn<br />
Für Gründer Nikolas Karner sowie seine Mitstreiter Christoph Walter-Pellarin<br />
und Philipp Vejchoda ist die Dankbarkeit, die ihnen von<br />
den Spielern und deren Angehörigen entgegengebracht wird, die<br />
größte Motivation. „Eltern kommen und bedanken sich dafür, etwa<br />
beim Weihnachtsclubbing ihre Kinder erstmals tanzen zu sehen“,<br />
erzählt Karner. Auch zu sehen, wie sich die Kicker sportlich weiterentwickeln<br />
ist ein großer Ansporn.<br />
Weitere Informationen: www.SPIELERPASS.at<br />
Maierhofer, wie Kumpels nahe sein.“ Dies war jedoch nur eines von<br />
50<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
51
almanah best practice<br />
almanah best practice<br />
Sexuelle Orientierung ansprechen – Das<br />
LGBT-Businessforum <strong>2018</strong> mit REWE und IBM<br />
Jedes Jahr organisiert IBM gemeinsam mit den Austrian<br />
Gay Professionals und den Queer Business<br />
Wiener Städtische<br />
Menschen sprachlich<br />
die Hand reichen<br />
Inklusion am<br />
Arbeits platz –<br />
Pricewaterhouse-<br />
Coopers Österreich<br />
und Specialisterne<br />
Women das LGBT-Businessforum.<br />
Bei der Wiener Städtischen sind multikulturelle Teams eine wich-<br />
Seit drei Jahren kooperiert PwC mit Specialisterne, einem däni-<br />
Unter dem Motto „Trans*formation – wie der Blick<br />
tige Ressource. Mitarbeiter aus rund 40 Nationen bringen mehr<br />
schen Unternehmen, das Menschen mit Autismus an Arbeitsplätze<br />
für Vielfalt Unternehmen bereichert“, fand es im<br />
Kreativität in Sachen Problemlösung – von A wie Albanien bis Z<br />
im IT-Bereich vermittelt. Warum passt das so gut zusammen?<br />
November zum sechsten Mal statt. Diesjährige Gast-<br />
wie Zypern. Vor allem in der Beratung bringen die Sichtweisen und<br />
Autisten können in der Regel extrem analytisch denken und haben<br />
geberin war die REWE AG, die mit di.to (different<br />
Erfahrungen der mehrsprachigen Mitarbeiter einen entscheidenden<br />
einen besseren Blick für Details als für das große Ganze. In einem<br />
together) ein Regenbogennetzwerk geschaffen hat,<br />
Vorteil mit sich – denn Kunden mit Migrationshintergrund in ihrer<br />
Wirtschaftsprüfungsunternehmen wie PwC können Mitarbeiter wie<br />
das für mehr Toleranz am Arbeitsplatz kämpft. „Ich<br />
Muttersprache anzusprechen beugt Unklarheiten vor und verbessert<br />
Philipp (im Bild mit blauem Hemd) dieses Potenzial ausschöpfen.<br />
freue mich, dass wir seit gut einem Jahr mit di.to pro-<br />
so die Kundenbeziehungen. Damit kann man den Kunden sprachlich<br />
Seit August <strong>2018</strong> arbeitet er im Team von PwC. Specialisterne betreut<br />
aktiv auch den Fokus auf das Thema LGBTI legen. Das<br />
die Hand reichen, und ihnen auf dieser Grundlage Wertschätzung<br />
seine Schützlinge an ihren neuen Arbeitsplätzen und bietet nicht nur<br />
ist eine klare Frage der Akzeptanz und des Respekts“,<br />
so Direktor des REWE-Konzernpersonalwesens<br />
Johannes Zimmerl. <strong>2019</strong> wird REWE nicht nur wieder<br />
mit di.to bei der Europride sein, sondern den Regenbogenball<br />
mitsponsern.<br />
Besonders die Rolle der „Straight Allies“ – also der<br />
heterosexuellen Verbündeten – wurde thematisiert.<br />
„Vielfältigkeit zu leben ist ein wichtiger Erfolgsfaktor<br />
für IBM - und Diversity ist daher auch eine wichtige<br />
Grundvoraussetzung für unsere Innovation“, erklärt<br />
Gerhard Zakrajšek, HR-Manager von IBM Österreich.<br />
REWE Group, Verena Moser<br />
Wiener Städtische, PwC Österreich/Janek Batek<br />
und Akzeptanz zeigen.<br />
Plus:<br />
Durch die Kooperation mit connecting people werden seit mittlerweile<br />
zwei Jahren jungen Frauen zwischen 16 und 22 Jahren Lernpatenschaften<br />
angeboten. Bisher wurden rund 15 Schützlinge aus<br />
Syrien, Somalia und Afghanistan bei ihrem Neustart in Österreich<br />
unterstützt. Ziel der Lernpatenschaften ist der Aufbau von längerfristigen,<br />
vertrauensvollen Beziehungen zwischen Paten und den<br />
Mädchen, in denen beide voneinander profitieren und lernen.<br />
Sensibilisierungsworkshops für alle nicht-autistischen Mitarbeiter<br />
an, sondern auch ein offenes Ohr für seine Mentés außerhalb des<br />
Unternehmens.<br />
52<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 53
almanah best practice<br />
BEZAHLTE ANZEIGE<br />
Fördern und Fordern als Devise<br />
gelungener Integrationsarbeit<br />
Allianz<br />
Familie und Beruf unter<br />
einen Hut bringen<br />
Bei der Allianz wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf großgeschrieben.<br />
Mitarbeiter haben seit April 2014 die Möglichkeit,<br />
ihre Kleinsten im Alter von einem Jahr bis kurz vor Schuleintritt<br />
im zweisprachigen Betriebskindergarten „Allianz Zauberwald“<br />
betreuen zu lassen. Auch für Kinder bis 14 Jahre gibt es eine Ferienbetreuung<br />
in den Ferien und an Fenstertagen – denn wer weiß,<br />
dass es der Familie gut geht, kann im Beruf sein Bestes geben.<br />
Angehende und frischgebackene Eltern können zudem für die bestmögliche<br />
Work-Life-Balance aus ganzen 70 familienfreundlichen<br />
Teilzeitkonzepten wählen.<br />
Henkel<br />
Miteinander<br />
füreinander<br />
Digitalisierung ist ein großes Thema, quer durch alle Unternehmensbranchen.<br />
In Wien produziert das Unternehmen Henkel seit<br />
1927. Neue Innovationen werden seit <strong>2018</strong> in einem sogenannten<br />
Reverse-Mentoring Programm von und für MitarbeiterInnen vermittelt.<br />
Zweimal jährlich haben MitarbeiterInnen die Möglichkeit,<br />
sich als Mentor oder Mentee zu melden. Das Programm birgt zwei<br />
entscheidende Vorteile: Es bietet eine gute Networking-Möglichkeit<br />
innerhalb des Unternehmens und schließt dabei die Generationenlücke.<br />
So können junge KollegInnen Wissen am Smartphone oder<br />
Tablet austauschen, und dabei Erfahrungen als MentorIn sammeln.<br />
Weibliche Flüchtlinge und Zuwanderinnen werden durch unterschiedliche Maßnahmen dabei unterstützt, ihre Chancen in Österreich zu<br />
erkennen und aktiv wahrzunehmen. Photocredit: ÖIF<br />
Die Integration von MigrantInnen und<br />
mit verbundenen Deutschkursmaßnahmen,<br />
wie die Einhaltung der Rechte von Frauen.<br />
ÖBB<br />
Sprachen als<br />
großes Plus<br />
Flüchtlingen ist für den gesellschaftlichen<br />
Zusammenhalt Österreichs von großer Bedeutung.<br />
Nicht nur deshalb, weil Österreich<br />
im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten<br />
in den vergangenen Jahren überproportional<br />
viele Asyl- und Subsidiär Schutzberechtigte<br />
aufgenommen hat, sondern weil gelun-<br />
sowie den verpflichtenden Werte- und Orientierungskursen<br />
sind wir einen großen<br />
Schritt vorangekommen und haben die<br />
Grundlage für einen Dialog auf Augenhöhe<br />
mit MigrantInnen geschaffen.<br />
Der Integrationsprozess basiert auf Engagement<br />
der MigrantInnen, aber auch auf<br />
Wertevermittlung trägt ganz bewusst<br />
zur Gleichberechtigung von Frauen bei. Vor<br />
allem die Bewusstseinsbildung über und der<br />
Schutz von Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung<br />
sind ein großes Anliegen der<br />
österreichischen Integrationspolitik. Frauen<br />
sind außerdem wichtige Multiplikatorinnen<br />
Bei den ÖBB zählt die Mehrsprachigkeit ihrer Mitarbeiter als Riesenplus<br />
im Unternehmenswettbewerb. Mitarbeiter aus 70 Nationen<br />
machen die Bundesbahnen bunt. In den nächsten Jahren sollen<br />
intensiv tausende neue, gerne mehrsprachige, Mitarbeiter rekrutiert<br />
werden und ein umfangreiches Kultur- und Werteprogramm umgesetzt<br />
werden. ÖBB Diversity-Beauftragte Traude Kogoj weiß: “Multikulturelle<br />
Mitarbeiter sind für alle Bereiche des Unternehmens gut.<br />
In der Marktbearbeitung helfen ihre Kompetenzen, die über eine<br />
Sprache hinausgehen.”<br />
Allianz Elementar Vers. AG, Marek Knopp<br />
gene Integration mehr als das Erlernen der<br />
deutschen Sprache oder die Teilnahme am<br />
Arbeitsmarkt bedeutet. Sie umfasst auch<br />
emotionale Zugehörigkeit. Akzeptanz und<br />
Identifikation mit österreichischen und europäischen<br />
Werten, die für alle in Österreich<br />
lebenden Menschen gleichermaßen gelten,<br />
sind weitere Eckpunkte gelungener Integration.<br />
Mit dem Integrationsgesetz 2017, den da-<br />
jenem der Aufnahmegesellschaft. Deshalb<br />
arbeiten wir im Integrationsministerium<br />
weiterhin intensiv gemäß dem Integrationsgrundsatz<br />
„Fördern und Fordern“ an der Umsetzung<br />
der gesetzlichen Verpflichtungen.<br />
Wir legen ergänzend einen besonderen Fokus<br />
auf die Förderung einer gemeinsamen<br />
österreichischen Identität, das Verhindern<br />
des Entstehens von Parallelgesellschaften,<br />
den Kampf gegen den politischen Islam, so-<br />
und zumeist Bildungsverantwortliche für<br />
ihre Kinder. Im Sinne einer gemeinsamen<br />
gesellschaftlichen Identität gilt es daher,<br />
Frauen in ihrem Integrationsverlauf ganz<br />
besonders zu unterstützen.<br />
54 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
55
almanah best practice<br />
almanah<br />
„Wer andere ausgrenzt,<br />
grenzt sich selbst aus“<br />
Walter Ruck, Präsident der Wiener<br />
Wirtschaftskammer, über die „Charta<br />
der Vielfalt“ und warum eine offene<br />
Unternehmenskultur sich auch<br />
wirtschaftlich lohnt.<br />
Frauen vor den Vorhang<br />
Die 40-jährige Mahboobeh Bayat kommt<br />
ursprünglich aus dem Iran und arbeitet<br />
im Industrie- und Anlagensektor als<br />
Key- Account-Managerin bei Siemens.<br />
Sie will jungen Frauen zeigen, dass es<br />
keine Grenzen gibt – auch in einer von<br />
Männern dominierten Branche.<br />
WER SORGT FÜR<br />
GERECHTIGKEIT?<br />
ALMANAH: Was ist das Ziel der<br />
Initiative „Charta der Vielfalt“?<br />
ALMANAH: Warum glauben<br />
WALTER RUCK: Die „Charta<br />
Sie persönlich, dass sich weniger<br />
der Vielfalt“ ist eine Initiative zur<br />
Frauen als Männer für technische<br />
Förderung der Wertschätzung<br />
Berufe entscheiden?<br />
gegenüber allen Mitgliedern der<br />
MAHBOOBEH BAYAT: Es gibt<br />
Gesellschaft – unabhängig von<br />
noch zu wenige weibliche Vor-<br />
Geschlecht, Lebensalter, Her-<br />
bilder in technischen Berufen für<br />
kunft und Hautfarbe, sexueller<br />
junge Mädchen – deshalb ist es<br />
Orientierung, Religion und Wel-<br />
so wichtig, Technikerinnen vor<br />
tanschauung sowie körperlicher<br />
den Vorhang zu holen. Beste-<br />
oder geistiger Behinderung. Im<br />
hende Systeme zu verändern ist<br />
Jahr 2010 wurde die österrei-<br />
nicht leicht, aber möglich.<br />
chische Charta der Vielfalt als<br />
Siemens will ja Frauen für techni-<br />
gemeinsame Initiative von der<br />
sche Berufe begeistern. Beispiels-<br />
Wirtschaftskammer Österreich<br />
weise durch die Teilnahme am<br />
und der Wirtschaftskammer Wien gegründet. Die Charta wächst und<br />
„Töchtertag“. Wo sehen Sie außer-<br />
soll weiter wachsen. Mittlerweile zählen bereits 227 Betriebe, darun-<br />
dem Anknüpfungspunkte, wie man Frauen für technische Berufe moti-<br />
ter renommierte Großunternehmen zur Familie.<br />
vieren kann?<br />
Inwiefern wirkt sich Vielfalt in der Unternehmenskultur positiv auf den<br />
Man könnte beispielweise bei Podiumsdiskussionen noch mehr<br />
wirtschaftlichen Erfolg aus?<br />
Frauen miteinbeziehen oder sie bei Events in den Vordergrund<br />
Vielfalt muss sich nicht, kann sich aber auf den wirtschaftlichen<br />
rücken. So schafft man Vorbilder für die nächsten Generationen und<br />
Erfolg auswirken. Denn eine offene, vielfältige und wertschätzende<br />
zeigt jungen Mädchen, dass man es auch als Frau, egal mit welchem<br />
Unternehmenskultur begünstigt ein gutes Betriebsklima. Und das ist<br />
Hintergrund, bis ganz nach oben schaffen kann.<br />
die Basis für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Zudem macht es<br />
Es ist ja oft sehr schwer, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bekom-<br />
die Erschließung neuer Märkte und den Zugriff auf interdimensional<br />
men. Unterstützt Sie Siemens dabei?<br />
vielfältiges Know-How einfacher. Betriebe mit einem open mindset<br />
haben eine breitere Expertise, mehr Innovationskraft und stärkere<br />
Kreativität<br />
Meine männlichen Kollegen bzw. Kunden fragen mich oft: „Wie<br />
machen Sie das mit einem Vollzeitjob und Kindern?“ Ich antworte<br />
dann gerne: „Und wie machen Sie das?“ Bei solchen Aussagen wird<br />
FRAG UNS.<br />
Welche positiven Auswirkungen erhoffen Sie sich von der „Charta der<br />
Vielfalt“ mit Blick auf die Zukunft?<br />
Die „Charta der Vielfalt“ wird weiter wachsen in Österreich, aber<br />
auch in anderen Ländern. Als internationale Initiative kann sie Brücken<br />
zwischen Kulturen und Gesellschaften bauen. Das ist natürlich<br />
für eine Exportnation wie Österreich sehr interessant. Ich wünsche<br />
mir jedenfalls, dass wir mit der Initiative in Österreich noch viel<br />
Positives erreichen werden.<br />
mir immer wieder bewusst, dass gegenüber karriereorientierten<br />
Müttern immer noch Vorurteile bestehen. Ich habe das Glück, dass<br />
Siemens mir durch extrem flexible Arbeitszeiten, Home Office und<br />
Kinderbetreuung im Unternehmen entgegen kommt. Natürlich verlangt<br />
es einiges an Organisation ab, aber durch solche Angebote ist es<br />
viel einfacher, das alles zu schaffen.<br />
WKW, Soza Almohammad<br />
Die AK App mit dem Lexikon des Arbeitsrechts,<br />
mit Banken rechner, Brutto-Netto-Rechner,<br />
Zeitspeicher, Urlaubsplaner, AK-Cartoons und mehr.<br />
Kostenlos erhältlich im App Store und Google Play.<br />
w.ak.at/app<br />
GERECHTIGKEIT MUSS SEIN<br />
56<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 57
almanah<br />
Foto: Igor Minić<br />
JOBS MIT AUSSICHTEN<br />
Ivanas Welt<br />
Fragst du<br />
Frau Mag.istrat!<br />
In jeder Balkan-Familie gibt es sie. Diese<br />
eine Person mit akademischem Titel.<br />
Die sich mit allem auskennen muss. Mit<br />
Finanzamt, AMS, Krediten. In meiner<br />
Familie bin ich das. Leider.<br />
Es ist<br />
einfach<br />
immer<br />
Ivana,<br />
die mit<br />
diversen<br />
Anfragen<br />
zwangsbeglückt<br />
wird.<br />
Mietverträge kündigen, AMS-Anträge ausfüllen,<br />
Lebensläufe verfassen. Das gehört<br />
nicht etwa zu meiner Jobdescription. Das<br />
sind Dinge, die ich für meine Verwandten erledige.<br />
Wieso? Weil ich studiert habe. Was? Egal.<br />
Mit einem Uniabschluss hat man in einer Großfamilie<br />
so ziemlich die Arschkarte gezogen. Meine<br />
mittlerweile verstorbene Oma hatte schon recht, als<br />
sie irrtümlich über mich als „Frau Magistrat“ statt<br />
„Frau Magistra“ sprach. So viel Unterschied ist da<br />
nicht. Also für meine Verwandtschaft nicht. Titel<br />
verpflichtet, die absolvierte Studienrichtung ist dabei<br />
egal. Ich müsse doch wissen, welche Unterlagen für<br />
die Rot-Weiß-Rot-Karte vorzulegen sind, wann das<br />
Boarding für den Venedig-Flug beginnt, von wo der<br />
nächste Bus nach Serbien fährt und welche Bank grad<br />
die besten Wohnfinanzierungen anbietet.<br />
Diplomierte Alleswisserin<br />
Denn ich hab ja studiert! In den Augen meiner Eltern,<br />
Tanten und Cousins qualifiziert mich das somit wohl<br />
zur Lösung der großen Weltprobleme. Voll krass, aber<br />
ich kann als vermeintlich diplomierte Alleswisserin<br />
manchmal auch nicht weiterhelfen. Kenne keinen<br />
Griechisch-Dolmetscher oder die Liste der Notare im<br />
21. Bezirk auswendig. Voll krass auch das blanke Entsetzen<br />
darüber, dass sie sich um ihren Kram manchmal<br />
selber kümmern müssen.<br />
Als Mag.istrat für alle Fragen rund um alles habe<br />
ich mir mittlerweile so viele Skills angeeignet, dass<br />
ich sofort als Buchhalterin, Bewerbungscoach oder<br />
AMS-Referentin anheuern könnte. Diese familiären<br />
Fremderledigungen nehmen in Arbeitsstunden<br />
teilweise Ausmaße eines Teilzeitjobs an. In den USA<br />
gibt es sogar eine eigene Berufsbezeichnung dafür:<br />
den Personal Family Assistant. Mit meiner lebenslangen<br />
Berufserfahrung könnte ich dort eine steile Karriere<br />
hinlegen.<br />
Frag Ale…Ivana!<br />
Oh, es ist nicht etwa so, dass ich mit einer überirdischen<br />
Begabung im Informationen-in-Erfahrung-Bringen<br />
gesegnet oder im 30-köpfigen<br />
Jugo-Clan als einzige der deutschen Sprache mächtig<br />
und mit einem Heim-PC ausgestattet bin.<br />
Na.<br />
Es ist einfach immer Ivana, die mit diversen Anfragen<br />
zwangsbeglückt wird.<br />
Lange vor Amazons virtueller Sprachassistentin<br />
ALEXA benutzten meine Verwandten IVANA. Ich<br />
bin quasi der Balkan-Prototyp von Alexa. Vielleicht<br />
sollte ich eine „Frag-Ivana“-App entwickeln für<br />
meine Family. Dann wären meine To-Dos zumindest<br />
einigermaßen übersichtlich und ich könnte zu sowas<br />
wie einer Life-Balance zurückfinden. Denn momentan<br />
scheitere ich kläglich am eigenen Zeitmanagement.<br />
Was aktuell mit einem acht Monate alten Baby eh<br />
nicht existiert. Also verschiebe ich meine persönlichen<br />
Angelegenheiten auf die Nacht: Nahrungsaufnahme,<br />
Körperpflege. Und diesen Text hier. Morgen kein<br />
Parteienverkehr! Frau Mag.istrat out of office. <br />
In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin<br />
Ivana Cucujkić über ihr daily life.<br />
JOBS MIT<br />
LEHRLINGE<br />
GESUCHT!<br />
„Ich zeig, was ich kann.<br />
Als Lehrling bei SPAR!“<br />
SPAR als 100% österreichisches Unternehmen ist nicht nur einer der letzten großen<br />
heimischen Arbeitgeber, sondern auch Österreichs größter privater Lehrlingsausbildner.<br />
Jedes Jahr beginnen rund 900 junge Menschen ihre Karriere bei SPAR in 20 spannenden<br />
Lehrberufen und nützen die vielfältigen Ausbildungsangebote, die ihnen den Weg<br />
zu einer zukünftigen Karriere ebnen. Wer Freude am Kontakt mit Menschen hat und<br />
offen für Neues ist, ist bei SPAR genau richtig. Prämien und Aufstiegschancen nach der<br />
Lehre gibt’s genug.<br />
SPAR Jobcenter Wien<br />
Josefstädterstraße 64 | 1080 Wien<br />
E-Mail: jobcenter@spar.at<br />
Besuche uns auf www.spar.at/lehre<br />
ÖSTERREICH DRIN.<br />
58<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT
almanah<br />
ZIB 2 AM SONNTAG<br />
MIT MARTIN THÜR<br />
AB 13. JÄN 21:50<br />
DIREKT DANACH:<br />
IM ZENTRUM<br />
MIT CLAUDIA REITERER<br />
60<br />
JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT