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Almanah 2018/2019

Das Jahrbuch für Diversität

Das Jahrbuch für Diversität

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almanah<br />

<strong>2018</strong> / <strong>2019</strong> Jahrbuch für<br />

Diversität<br />

in Wirtschaft,<br />

Politik und<br />

Gesellschaft<br />

lmanah *<br />

* bosnisch/kroatisch/serbisch für »Almanach/Jahrbuch«<br />

AKTUELLE ENTWICKLUNGEN<br />

OMV-Chef über die russische Seele<br />

Lehrerinnen mit Kopftuch<br />

Schwimmheld mit Handicap<br />

SERVICE<br />

Zahlen, Daten, Fakten<br />

Unternehmen & Institutionen<br />

Best practice Beispiele<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 1


almanah<br />

Amar Rajković, Aleksandra Tulej, Simon Kravagna<br />

Marko Mestrović<br />

Liebe Leserin, lieber Leser,<br />

wie viele Weihnachtskarten haben Sie geschrieben? Vielleicht sollten<br />

Sie sich ein Beispiel an Rainer Seele nehmen. Der OMV-Chef hat rund<br />

1000 persönliche Grüße verschickt – in alle Welt. Handgeschrieben,<br />

versteht sich. Der deutsche Manager weiß um die Bedeutung persönlicher<br />

Beziehungen und interkultureller Kompetenzen, wie er<br />

im <strong>Almanah</strong> – Jahrbuch für Diversität in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft<br />

erklärt. Übrigens, der von Russlands Präsident Wladimir Putin<br />

angekündigte Freundschaftsorden wurde an den OMV-Chef bereits<br />

überreicht.<br />

VIELFALT IST UNSER PROGRAMM!<br />

EINE LEHRE MIT<br />

ZUKUNFTSPERSPEKTIVE?<br />

NASICHER<br />

nasicher.at<br />

Austro-chinesische<br />

Anwälte, Lehrerinnen<br />

mit Kopftuch &<br />

ein Paralympic-<br />

Schwimmstar: Erlesen<br />

Sie das Jahrbuch für<br />

Diversität.<br />

Vom Geschäft zum Geschlecht: Mona Eltahawy hat Tattoos, rote<br />

Haare und spricht offen über Sex. Die in Amerika lebende Ägypterin<br />

erzählt im Interview von weißen Feministinnen und warum es<br />

eine sexuelle Revolution im mittleren Osten braucht. Österreich wiederum<br />

braucht dringend „No more Bullshit: Das Handbuch gegen<br />

sexistische Stammtischweisheiten“. Einen Auszug aus dem Werk gibt<br />

es ebenfalls im vorliegenden <strong>Almanah</strong> zu lesen - so wie viele „best<br />

practice“-Beispiele, die zeigen, wie Diversität in Unternehmen und<br />

Institutionen erfolgreich gelebt werden kann.<br />

Abschließend noch eine beeindruckende Lebensgeschichte: Mit<br />

sechs Jahren verlor Andreas Onea bei einem Autounfall seinen linken<br />

Arm. Der heute 26-Jährige wuchs nicht mit dem Gedanken auf, dass<br />

er plötzlich etwas nicht mehr machen kann oder darf. Stattdessen<br />

begann er mit dem Schwimmen als Therapie. Heute kann Onea auf zig<br />

Medaillen bei Paralympic-Bewerben verweisen und sagt: „Man kann<br />

viele Dinge schaffen, wenn man fest an sich glaubt.“<br />

Simon Kravagna<br />

Herausgeber und Chefredakteur das biber<br />

Aleksandra Tulej<br />

Redaktionsleitung <strong>Almanah</strong><br />

Amar Rajković<br />

Redaktionsleitung <strong>Almanah</strong><br />

Ihre Meinung an redaktion@dasbiber.at<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 3


almanah<br />

INHALT<br />

Lehrerinnen mit<br />

Kopftuch<br />

HERKUNFT<br />

Arbnesa unterrichtet<br />

Mathe und Biologie an<br />

einer NMS. Sie dient in<br />

ihrer Schule als Vorbild<br />

für muslimische<br />

Mädchen. Aber der<br />

Bildungsminister will<br />

keine Lehrerinnen mit<br />

Kopftuch.<br />

16<br />

OMV-Chef Rainer Seele im Interview über den<br />

Freundschaftsorden, den er von Russland verliehen<br />

bekommen hat, warum er über eintausend<br />

Weihnachtskarten geschrieben hat und was er<br />

von Sebastian Kurz hält. 8<br />

Österreichs größte Anwaltskanzlei Wolf Theiss<br />

setzt auf austro-chinesische Top-JuristInnen.<br />

12<br />

Die Debatte rund ums Kopftuchverbot hat es von<br />

der Klasse ins Lehrerzimmer geschafft. Wie sieht<br />

der Alltag kopftuchtragender Lehrerinnen an<br />

Wiener NMS aus? 16<br />

Frauen, genießt<br />

euren Körper!<br />

GENDER<br />

Mona Eltahawy hat<br />

Tattoos, rote Haare und<br />

spricht offen über Sex.<br />

Die in Amerika lebende<br />

Ägypterin über weiße<br />

Feministinnen und<br />

warum es eine sexuelle<br />

Revolution im mittleren<br />

Osten braucht.<br />

22<br />

Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex:<br />

Auch so sind Musliminnen, sagt Autorin Mona<br />

Eltahawy, die weißen Feministinnen vorwirft,<br />

dass sie nur für Frauenrechte kämpfen und<br />

andere Probleme vergessen. 22<br />

Frauen an die Macht. Ein Auszug aus dem Buch<br />

„No more Bullshit – Das Handbuch gegen sexistische<br />

Stammtischweisheiten“. 26<br />

Melisa Erkurt fordert junge Frauen auf, Klassensprecherinnen<br />

zu werden! 30<br />

Gemeinsam<br />

für ein besseres Leben<br />

Wirtschaftsministerin Schramböck: Frauen<br />

Top-Ausbildung in 18 Lehrberufen<br />

Liebe NMS-Kinder<br />

Wie es wirklich in<br />

Klassenzimmern von<br />

„Brennpunktschulen“<br />

zugeht. Das Ergebnis<br />

ist überraschend. Und<br />

herzzerreißend. Und<br />

nein, es geht nicht zu<br />

wie in der Bronx. Von<br />

Melisa Erkurt.<br />

48<br />

sollen öfters das Gehalt ansprechen und Führungskräfte<br />

können auch in Teilzeit ihre Arbeit<br />

erledigen. 32<br />

INKLUSION<br />

Held mit Handicap. Andreas Onea verlor bei<br />

einem Autounfall als Kind seine linke Hand.<br />

Heute ist er einer der besten Para-Schwimmer<br />

weltweit. 40<br />

Über Initiativen und Vereine, an denen sich<br />

andere ein Beispiel nehmen sollten. 56<br />

Ivana und ihre Rolle als Mama für alles! 58<br />

Susanne Einzenberger, David Degner, Marko Mestrović<br />

Johannes Zimmerl* achtet darauf, dass unsere mehr als 1.700<br />

Lehrlinge eine Top-Ausbildung mit Zukunftschancen bekommen.<br />

Das Ergebnis: fast 43.000 MitarbeiterInnen – viele davon waren<br />

bei uns in der Lehre – kümmern sich mit viel Engagement und<br />

Know-how um unsere täglich 1,9 Mio. KundenInnen.<br />

* Johannes Zimmerl, Leiter Human Ressources, REWE International AG, mit<br />

Isabell Erian, Lennart Kühl, Therese Riegler, Sahat Benjamin, Gulbudin<br />

Rahmani und Maximilian Ludwicak stellvertretend für all unsere Lehrlinge<br />

www.rewe-group.at<br />

4<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

HERKUNFT<br />

OMV-Chef Rainer Seele wurde von Moskau ein Freundschaftsorden<br />

verliehen, Wolf Theiss setzt neuerdings auf austro-chinesische Juristen<br />

und kopftuchtragende Lehrerinnen an Wiener NMS müssen vielleicht<br />

bald um ihre Jobs fürchten.<br />

ПРОИСХОЖДЕНИЕ<br />

S. 8-11<br />

„GEHEN SIE INS ALTAI-GEBIRGE“<br />

OMV-Chef Rainer Seele über den Freundschaftsorden, den<br />

er von Russland verliehen bekommen hat, warum er über<br />

eintausend Weihnachtskarten geschrieben hat, was er von<br />

Sebastian Kurz hält und wie er die Frauenquote in der OMV<br />

erhöhen will.<br />

S. 12–13<br />

„HALLO, WIR SPRECHEN MANDARIN“<br />

Österreichs größte Anwaltskanzlei Wolf Theiss setzt auf<br />

austro-chinesische Top-JuristInnen. Über Sprache, kulturelles<br />

Gespür und darüber, warum diese Einstellung chinesischen<br />

Investoren gefällt.<br />

Russisch für Herkunft<br />

Marko Mestrović, Susanne Einzenberger<br />

S. 16–19<br />

„DU BIST JA GANZ NORMAL“<br />

Ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen scheint nur eine Frage<br />

der Zeit zu sein. Doch wie sieht der Alltag dieser Frauen aus?<br />

Zwei kopftuchtragende Wiener NMS-Lehrerinnen über ihre<br />

Vorbildfunktion, den Umgang im Lehrerzimmer und neugierige<br />

Eltern.<br />

6<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

„Meine größte<br />

Schwäche ist<br />

meine Ungeduld“<br />

OMV-Chef Rainer Seele<br />

über Russland und seinen<br />

Freundschaftsorden, warum er<br />

eintausend Weihnachtskarten<br />

geschrieben hat und die<br />

Frauenquote in der OMV.<br />

TEXT:<br />

Simon Kravagna<br />

FOTO:<br />

Susanne Einzenberger<br />

ALMANAH: Herr Seele, Sie sind in der OMV dafür<br />

bekannt, besonders viele Weihnachtskarten handschriftlich<br />

zu schreiben. Wie viele waren es denn diesmal?<br />

RAINER SEELE: So rund eintausend Karten, denke<br />

ich. Ich finde, man sollte zu bestimmten Anlässen ein<br />

persönliches Zeichen setzen. Das klingt vielleicht kitschig.<br />

Aber ein paar persönliche Worte bringen schon<br />

mehr Wertschätzung zum Ausdruck als jene Massenmails,<br />

die ich oft so vor Weihnachten bekomme.<br />

Wer bekam denn so eine Karte von Ihnen? Bundeskanzler<br />

Sebastian Kurz?<br />

Ja sicher, den schätze ich auch persönlich sehr.<br />

Und hat Russlands Präsident Putin eine Weihnachtskarte<br />

bekommen?<br />

Nein. Ich habe vor allem Geschäftspartnern geschrieben.<br />

Aber auch vielen Mitarbeitern und Freunden.<br />

Wie wichtig sind persönliche Beziehungen im internationalen<br />

Öl- und Gasgeschäft?<br />

Es gibt eine simple Erkenntnis: Vertrauen hilft enorm,<br />

nachhaltig Geschäfte zu machen. Diese Erkenntnis gilt<br />

wohl für die ganze Welt aber mit Sicherheit für Russland<br />

und den arabischen Raum. Wenn man eine gute<br />

Vertrauensbasis hat, geht man gemeinsam durch dick<br />

und dünn. Es hilft übrigens auch, sich nicht nur fürs<br />

Geschäft, sondern auch für die Kultur und die Menschen<br />

eines Landes zu interessieren.<br />

Sie gelten als Russland-Versteher. Sie sollen einmal<br />

gesagt haben: „Ein Russe spürt vom ersten Moment an,<br />

ob Sie ihm auf Augenhöhe begegnen.“ Sind Russen da<br />

besonders sensibel? Wie tickt die russische Seele?<br />

Ich bin kein Tiefenpsychologe. Aber auch in Russland<br />

hilft es, sich auf seine Gesprächspartner und das Land<br />

einzulassen.<br />

Wie machen Sie das konkret?<br />

Ich fahre nicht nur nach Russland, um Verträge zu<br />

unterzeichnen, sondern nehme mir ab und zu Zeit,<br />

Menschen zu treffen und mir das Land anzuschauen.<br />

Zurück zur Augenhöhe: Mit dominanten Modellen<br />

fahren Sie sowieso nie gut. Daher strebe ich immer<br />

gleichberechtigte Partnerschaften an – egal ob in<br />

Russland oder in Malaysien.<br />

Was gefällt Ihnen besonders gut in Russland?<br />

Da gibt es vieles. Die sprichwörtliche Gastfreundschaft<br />

und die Kultur. Aber auch die Natur. Gehen<br />

Sie mal ins Altai-Gebirge. So ein wunderschöner Teil<br />

unberührter, geschützter Natur fasziniert mich. Eines<br />

der ersten Worte, die ich in Sibirien gelernt habe, ist<br />

übrigens Komáří, das heißt Mücken auf Russisch. Im<br />

Sommer wartet in Sibirien ja eine Mückenplage ‣<br />

„Vertrauen hilft<br />

enorm, nachhaltig<br />

Geschäfte zu<br />

machen.“<br />

8<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

almanah<br />

„Ich verstehe den<br />

Orden als Zeichen der<br />

Anerkennung, weil ich<br />

mich um die Beziehung<br />

zwischen Österreich und<br />

Russland bemühe.“<br />

Seele: „In Amerika denkt man mehr mit dem Kopf, in Russland und dem arabischen Raum mehr mit dem Herzen.“<br />

auf Sie. Aber im Altai-Gebirge gibt es keine Mücken, Nach der Republik Österreich ist Abu Dhabis Staatsfonds<br />

das ist unglaublich zu erleben, wenn Sie dort sind. IPIC der nächstgrößte Eigentümer. Wie kommen Sie mit<br />

Haben Sie eigentlich schon den Freundschaftsorden den arabischen Miteigentümern zurecht?<br />

bekommen, für den Sie von Präsident Putin vorgeschlagen<br />

wurden?<br />

trauen ist einfach das wesentliche Thema. In Amerika<br />

Ich erkenne sehr große Parallelen zu Russland. Ver-<br />

Ja, im Dezember. Aber man sollte einen Orden nicht denkt man mehr mit dem Kopf, in Russland und dem<br />

überbewerten. Ich verstehe ihn als Zeichen der Anerkennung,<br />

weil ich mich um die Beziehung zwischen Emotion hat einfach in den beiden Regionen mehr<br />

arabischen Raum mehr mit dem Herzen. Das Thema<br />

Österreich und Russland bemühe. Es ist nicht mehr, Bedeutung. Aber zur Klarstellung: Geschäftlich ist die<br />

aber auch nicht weniger.<br />

OMV dort tätig, wo wir die größten wirtschaftlichen<br />

Chancen sehen und nicht dort, wo ich gerne hinfahre.<br />

Kommen wir zu den USA: Wirkt sich die „America First“-Politik<br />

von Präsident Donald Trump auf die OMV aus?<br />

Nein, nicht direkt. Wir haben aber auch keinerlei<br />

geschäftliche Tätigkeiten in den USA. Wir spüren aber<br />

Druck bei Infrastrukturprojekten, die wir gemeinsam<br />

mit Partnern betreiben. Bei der von den USA abgelehnten<br />

Nord-Stream 2 Pipeline, die russisches Gas<br />

nach Europa bringen soll, erkennen wir, dass Wirtschaftspolitik<br />

mittels Sanktionspolitik betrieben wird.<br />

Die USA würden halt lieber ihr eigenes Flüssiggas in<br />

Europa vertreiben.<br />

Zu Präsident Trump: Verstehen Sie den Mann?<br />

Ich möchte mich da raushalten. Als jemand, der in<br />

Deutschland aufgewachsen ist, bin ich grundsätzlich<br />

ein Anhänger der transatlantischen Freundschaft.<br />

Da sehe ich doch mit einem gewissen Schmerz, dass<br />

die US-Regierung derzeit andere Prioritäten hat. Das<br />

Signal von Europa ist klar: Wir möchten Freundschaft<br />

mit Amerika. Aber wie man so schön sagt: Es braucht<br />

„two to tango“. Allerdings sollten wir nie ein Land mit<br />

seiner Regierung oder seinem Präsidenten gleichsetzen.<br />

Das gilt für die USA wie für Russland übrigens.<br />

Zu ihrer Heimat Deutschland. Hat Angela Merkel als<br />

Kanzlerin Großes geleistet?<br />

Ohne jegliche politische Leistung könnte sich eine<br />

Kanzlerin in einem so großen Land wie Deutschland<br />

nicht so lange halten. Wenn ich an Angela Merkel<br />

denke, denke ich als Erstes an ihre großartige Leistung<br />

bei der Bewältigung der Finanzkrise für Europa. Beim<br />

Thema Migration ist Deutschland – wie auch viele<br />

Länder in Europa - gespalten.<br />

Apropos Frauen an der Macht: Wo sind denn die Frauen<br />

im OMV-Vorstand?<br />

Da könnte ich mich jetzt auf den Aufsichtsrat herausreden.<br />

Das will ich aber gar nicht. Grundsätzlich ist<br />

mir wichtig zu sagen, dass man sich für den Vorstand<br />

auch durch besonders viel Erfahrung qualifiziert. Wir<br />

müssen daher zuerst einmal jenen Pool an Frauen<br />

erhöhen, die für so eine Funktion in Frage kommen.<br />

Daran arbeiten wir.<br />

Im Aufsichtsrat der OMV gibt es Frauen. Vielleicht aber<br />

nur, weil ein gewisser Frauenanteil gesetzlich vorgeschrieben<br />

ist. Sind Sie Fan derartiger Quoten?<br />

Wir haben uns im Unternehmen ja bereits selbst eine<br />

Quote gegeben. Bis zum Jahr 2025 wollen wir 25 Prozent<br />

Frauen im Management haben. Derzeit sind wir<br />

bei 18 Prozent, im Jahr 2010 waren es nur fünf Prozent.<br />

Wir holen auf. Wenn ich eine große Schwäche<br />

habe, dann ist es meine Ungeduld. Wir haben immer<br />

sehr viel über das Thema gesprochen, aber es hat sich<br />

nichts getan. Jetzt gibt es Ziele, die in Zahlen gegossen<br />

sind. Damit geht was weiter.<br />

Noch zum Thema Vielfalt im Konzern. Welche Sprache<br />

spricht man im Konzern?<br />

Bei unseren Standorten gilt die Landessprache. In<br />

Englisch wird untereinander kommuniziert. Wenn<br />

wir also jemanden ins Management der „Petrom“<br />

(OMV-Tochter) nach Rumänien schicken, erwarte ich<br />

mir, dass diese Person nach ein paar Jahren auch auf<br />

Rumänisch kommunizieren kann. In Wien sprechen<br />

wir Deutsch. Vor meiner Zeit war die Unternehmenssprache<br />

auch in Wien Englisch. Damit wollte man<br />

einen internationalen Anspruch betonen. Aber wir<br />

wollen uns bewusst nicht mehr als englischsprachiger<br />

Konzern verstehen, sondern als ein Unternehmen, wo<br />

Vielfalt großgeschrieben wird – sprachlich und kulturell.<br />

<br />

„Wir sollten nie ein<br />

Land mit seiner Regierung<br />

oder seinem Präsidenten<br />

gleichsetzen.“<br />

RAINER SEELE absolvierte sein Doktorats-Studium<br />

der Chemie an der Universität<br />

Göttingen. Von 2009 bis 2015 war er Vorstandsvorsitzender<br />

des deutschen Erdöl- und Erdgasproduzenten<br />

Wintershall, seit 2015 ist er Vorstandsvorsitzender<br />

des Mineralölkonzerns OMV.<br />

Rainer Seele ist verheiratet und Vater von drei<br />

erwachsenen Kindern.<br />

10 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

11


almanah<br />

almanah<br />

Hallo, wir sprechen<br />

TEXT:<br />

Simon Kravagna<br />

F O T O :<br />

Marko Mestrović<br />

Mandarin!<br />

Österreichs größte Anwalts kanzlei Wolf Theiss setzt auf austro-chinesische<br />

Top-JuristInnen. Chinesischen Investoren gefällt das.<br />

CHRISTIAN MIKOSCH<br />

Wolf Theiss Partner und<br />

Co-Leiter des China Desk.<br />

JIAYAN ZHU<br />

Anwältin und Co-Leiterin<br />

des China-Desk.<br />

ANGIE WONG<br />

Business Development und<br />

Marketing und Koordinatorin<br />

des China-Desk. Ihre Eltern<br />

stammen aus Hongkong.<br />

VENUS VALENTINA WONG<br />

Anwältin und Teammitglied<br />

des China-Desk.<br />

MARTIN LASCHAN<br />

Juristischer Mitarbeiter.<br />

Seine Mutter kommt aus<br />

Taiwan und er spricht<br />

fließend chinesisch (auch den<br />

taiwanesischen Dialekt).<br />

ZAIBAA THINGNA<br />

Business Development und<br />

Marketing. Zulassung als<br />

Anwältin in Indien.<br />

‣<br />

12 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

13


almanah<br />

„Wir wollen<br />

chinesischen<br />

Wolf Theiss-Anwalt Christian Mikosch<br />

Investoren die<br />

CEE-Region<br />

näherbringen.“<br />

„Wir wollen chinesischen Investoren<br />

die CEE-Region (Central and Eastern<br />

Europe) näherbringen“, erzählt Mikosch.<br />

Damit das besser gelingt, arbeiten für<br />

wenn im Vorhinein niemand weiß, wie viel<br />

Arbeit mit dem Auftrag verbunden ist“,<br />

erklärt Wong.<br />

Es braucht also viel Erfahrung und<br />

den „China-Desk“ der Kanzlei vor allem<br />

Fingerspitzengefühl, um zu einem Deal zu<br />

hochqualifizierte Austro-Chinesen. Und die<br />

kommen. Gut wäre es auch, die berühmten<br />

kommunizieren mit ihren Mandanten in<br />

feinen Unterschiede zu beachten, erzählt<br />

Anfangs waren es nur leere Kilometer.<br />

Ein Treffen mit dem zweiten<br />

Bürgermeister einer chinesischen<br />

Provinzhauptstadt da, ein Essen mit einem<br />

der vielen China-Experten dort. „Es war<br />

frustrierend. Außer Spesen nichts gewesen“,<br />

erinnert sich Anwalt Christian Mikosch an<br />

seine ersten Versuche, mittels der üblichen<br />

Polit-Kanäle und Freundschafts-Organisationen<br />

relevante Kontakte aufzubauen.<br />

„Irgendwann haben wir aber bemerkt,<br />

dass wir am besten mit vergleichbaren<br />

China auch auf Kantonesisch oder Mandarin.<br />

Jiayan Zhu, Anwältin bei Wolf Theiss und<br />

ebenfalls auf Merger & Acquisition spezialisiert,<br />

ist mit zehn Jahren gemeinsam mit<br />

ihren Eltern nach Österreich gekommen:<br />

„Ich musste hier erst Deutsch lernen. Jetzt<br />

bewege ich mich gut zwischen den beiden<br />

Welten.“<br />

Dabei geht es nicht nur um Sprache,<br />

sondern um kulturelles Gespür. „Für Chinesen<br />

ist es eine Schande, vor Gericht zu<br />

gehen“, erklärt Wolf Theiss-Anwältin und<br />

Expertin für Schiedsverfahren und alternative<br />

Streitbeilegung Venus Valentina Wong,<br />

Wong. Bitte die Visitenkarte mit beiden<br />

w<br />

Händen überreichen und nicht irgendwo in<br />

der Hosentasche verschwinden lassen. Das<br />

würde mangelnden Respekt zeigen. Und<br />

Respekt ist wichtig fürs Geschäft.<br />

Übrigens, mit Zaibaa Thingna hat Wolf<br />

Theiss auch eine in Indien zugelassene<br />

Anwältin mit an Bord. Die Absolventin der<br />

London School of Economics hat es zwar<br />

wegen der Liebe nach Wien verschlagen,<br />

aber wer weiß, sagt Mikosch: „Vielleicht<br />

kommt nach China der Indien-Boom. Dann<br />

sind wir auch dort vorne dabei.“ <br />

mehr<br />

en<br />

zum<br />

Wirtschaftskanzleien in China können“,<br />

erzählt der Mergers & Aquisitions-Experte in<br />

Österreichs größter Anwaltskanzlei. Seitdem<br />

Mikosch gemeinsam mit Kollegin Jiayan Zhu<br />

durch viele Trips nach Shanghai, Peking und<br />

Hongkong ihr Netzwerk zu chinesischen<br />

Kollegen aufgebaut hat, ist der „China-<br />

Desk“ der Kanzlei gut beschäftigt. So war<br />

Wolf Theiss etwa bei der Übernahme des<br />

slowenischen Paradebetriebs Gorenje durch<br />

den chinesischen Haushaltsgerätehersteller<br />

Hisense als führende Anwaltskanzlei tätig.<br />

deren Eltern aus Hongkong nach Österreich<br />

kamen. Chinesen lieben die Harmonie, weiß<br />

Wong. Streit sei der unrühmliche Beweis, die<br />

Dinge nicht im Griff zu haben.<br />

Generell hat der Beruf des Anwalts in<br />

China ein schlechtes Renommee. Viele<br />

chinesische Manager stehen westlichen<br />

Anwälten daher grundsätzlich skeptisch<br />

gegenüber. Auch wegen der in China unüblichen<br />

Art, anwaltliche Leistungen nach<br />

Stunden zu verrechnen. „Das geht gar nicht.<br />

Chinesen wollen Pauschalangebote, auch<br />

„Für Chinesen<br />

ist es eine<br />

Schande,<br />

vor Gericht<br />

zu gehen.“<br />

Ihre LEBENSQUALITÄT<br />

ist unsere Aufgabe.<br />

leben.<br />

Kultur, Immobilien, Logistik und Medien:<br />

Die Wien Holding schafft Lebensqualität für unsere<br />

Stadt. 365 Tage im Jahr zu jeder Zeit an jedem Ort.<br />

Für alle Wienerinnen und Wiener.<br />

14<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

www.wienholding.at


almanah<br />

almanah<br />

„Du bist ja ganz<br />

normal“<br />

Der Kampf der Regierung gegen das<br />

Kopftuch hat nach dem Kindergarten die<br />

Schule erreicht. Selbst Lehrerinnen mit<br />

Kopftuch stehen zur Diskussion. Doch wie<br />

sieht der Alltag dieser Frauen aus? Zwei<br />

Wiener NMS-Lehrerinnen über Dauerdruck,<br />

Vorbildfunktion und neugierige Eltern.<br />

TEXT:<br />

Amar Rajkovic, Salme Taha Ali<br />

Mohamed<br />

F O T O :<br />

Marko Mestrović, Susanne<br />

Einzenberger, Christoph Liebentritt<br />

„Ich weiß, ihr seht<br />

keine Ohren, aber ich<br />

habe welche.“<br />

Hurije ist sehr verwundert. Heute ist<br />

Elternsprechtag und die Schlange<br />

vor ihrem Zimmer wird immer<br />

länger. Dabei hat sie nur wenige Eltern von<br />

Problemschülern in Mathematik eingeladen.<br />

Gekommen sind sie aber alle, um die 28-jährige<br />

Mazedonierin mit albanischen Wurzeln<br />

kennenzulernen. Der Grund: Hurije trägt<br />

Kopftuch. Und das geht als Sensation durch,<br />

zumindest in dieser Wiener NMS jenseits der<br />

Donau. Die Kinder kommen zum großen Teil<br />

aus christlich-österreichischen Familien,<br />

das politisch aufgeladene Kopftuch scheint<br />

für die Eltern ein wichtigeres Thema als<br />

der Schulfortschritt ihrer Kids zu sein. Alle<br />

wollen sie wissen, wie „sie“ tickt, die Lehrerin<br />

mit dem Kopftuch. Das Stück Stoff,<br />

das für viele stellvertretend für das muslimische<br />

Patriarchat und die Unterdrückung<br />

der Frau steht. „Kann diese Person unseren<br />

Kindern die Werte mitgeben, die wir uns in<br />

Österreich wünschen?“, fragen sich wohl<br />

viele Eltern. Und diese Angst wächst weiter,<br />

seit das Thema Kopftuch und Schule die<br />

Schlagzeilen beherrscht. Beim Kreuzzug der<br />

Regierung gegen den Hijab geht es angeblich<br />

um den Schutz junger Mädchen. Es ist<br />

nur eine Frage der Zeit, bis Kurz und Strache<br />

das Kopftuch in der Volksschule verbieten.<br />

Aber auch ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen<br />

ist für Bildungsminister Heinz Faßmann<br />

sinnvoll, denn er ist für ein „ideologisch<br />

neutrales Auftreten der Repräsentanten des<br />

öffentlichen Dienstes“, so der frühere Wissenschaftler<br />

im ORF.<br />

Zahlen und Fakten zu Pädagoginnen mit<br />

Kopftuch im öffentlichen Schulbereich gibt<br />

es nicht. Es wird keine Statistik darüber<br />

geführt, was eine Lehrerin am Kopf trägt.<br />

In die Öffentlichkeit drängt es Lehrerinnen<br />

mit Kopftuch schon gar nicht. Die meisten<br />

Frauen möchten nicht auf ihre Kopfbedeckung<br />

reduziert werden und schweigen.<br />

Direktoren fürchten Boulevardjournalisten<br />

im Schulhof und verbieten im Normallfall<br />

jeglichen Kontakt zu Medienvertretern.<br />

Anders ist nicht zu erklären, dass es in<br />

Österreich keinen einzigen Artikel gibt, der<br />

den Alltag von Lehrerinnen mit Kopftuch<br />

intensiv beleuchtet. Einige Frauen, die<br />

im Zuge der Recherche bereit waren, sich<br />

fotografieren zu lassen, machten plötzlich<br />

wieder einen Rückzug. Wovor haben diese<br />

Frauen Angst?<br />

„In Österreich habe man<br />

sich anzupassen.“<br />

„Ich kann die Angst der Lehrerinnen gut<br />

nachvollziehen, weil man Angst um seinen<br />

Job hat“, zeigt sich Hurije verständnisvoll,<br />

als wir ihr erklären, dass sie zur Minderheit<br />

in der Minderheit gehört, die ihr Gesicht<br />

in der Öffentlichkeit zeigt. Die quirlige<br />

Wahl-St. Pöltnerin ist eloquent und schlagfertig.<br />

Sie findet es wichtig, dass Lehrerinnen<br />

mit Kopftuch sichtbar werden – und<br />

zwar außerhalb des Schulbetriebs, wo relativ<br />

rasch jeder vergisst, dass sie das Stück ‣<br />

Arbnesa unterrichtet Mathe und Biologie<br />

an einer NMS. Sie dient in ihrer Schule<br />

als Vorbild für muslimische Mädchen.<br />

16 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

17


almanah<br />

almanah<br />

Hurije strahlt, wenn sie von ihren KollegInnen als normal empfunden wird.<br />

Stoff auf ihrem Kopf tragen. Sie selbst trägt man in Österrich lebt, habe man sich anzupassen“,<br />

sagte ihr mal ein 14-jähriger Knirps<br />

das Kopftuch erst seit sechs Jahren, ihre<br />

Familie ist „so wie viele andere muslimische ganz unverblümt. Zuerst war sie etwas baff,<br />

Familien am Balkan“, so Hurije. Das heißt, sie erkannte aber auch anhand des Wordings,<br />

dass der Schüler die Worte des Vaters<br />

keine Frau habe das Kopftuch zu Hause<br />

getragen, was für eine sehr liberale Auslegung<br />

des Islams spricht. Trotzdem waren das sind nicht deine Worte“, dachte sie sich.<br />

beim Abendessen nachplapperte. „Bursche,<br />

die ersten Wochen in ihrer neuen Schule mit Eine andere Schülerin kam in der Pause auf<br />

kaum muslimischen Schülern eine Herausforderung<br />

und mit vielen Ungewissheiten sehen. Die 15-Jährige fiel selbst mit ihren<br />

sie zu und zeigte Verständnis für ihr Aus-<br />

verbunden. Hurije musste anfangs in ihrer grau-blau gefärbten Haaren auf und stellte<br />

Schule vor allem als Islam-Lexikon und fest: „Frau Lehrerin, ich weiß ganz genau,<br />

Vorurteilsentkräfterin auftreten. „Najo, is wie Sie sich fühlen. Mich starren auch alle<br />

besser, wenn Sie ka Kopftüchl trogn, wenn wegen meiner Haarfarbe an, wie muss das<br />

erst für Sie als Kopftuchträgerin sein?“<br />

Hurije hat rasch gelernt mit den Blicken fertigzuwerden,<br />

die Vorurteile nahmen in der<br />

neuen Schule mit jedem Tag immer mehr ab.<br />

Dabei wäre sie um ein Haar im 10. Bezirk<br />

gelandet: „Die Schulleiterin machte mir<br />

während der Einführungstour ganz klar,<br />

dass sie keinesfalls möchte, dass ich mich<br />

mit den Kindern auf Albanisch oder Türkisch<br />

unterhalte. Dabei habe ich das gar nicht<br />

vorgehabt“, so Hurije achselzuckend. Am<br />

nächsten Tag die überraschende Absage,<br />

obwohl die Direktorin im ersten persönlichen<br />

Gespräch noch betonte, wie sehr sie<br />

unter dem Lehrermangel leiden würde.<br />

Die Absage sollte sich als Glücksgriff für<br />

Hurije herausstellen. Sie wurde einer Schule<br />

mit vorwiegend österreichischen Kindern<br />

zugewiesen. Donaustadt statt Favoriten,<br />

Vorstadtidyll statt Migrantenbezirk.<br />

Mit Kopftuch in Migrantenschule<br />

In Gegensatz zu Hurije unterrichtet Arbnesa<br />

viele SchülerInnen mit islamischem Glauben<br />

in einem stark von Migranten bewohnten<br />

Bezirk. Sie ist gerade in ein Schulbuch vertieft,<br />

als wir sie in einem Wiener Café treffen.<br />

„Ich bereite gerade die nächsten Hausaufgaben<br />

für meine SchülerInnen vor“, verrät<br />

sie uns, während sie ihren Turban zurechtzupft.<br />

Die 24-Jährige unterrichtet seit drei<br />

Jahren an einer Wiener NMS Deutsch, Biologie<br />

und Turnen. Arbnesa machte sich<br />

anfangs viele Sorgen, wie sie mit ihrem<br />

Kopftuch aufgenommen wird. In der ersten<br />

Stunde stand sie vor der Klasse und es war<br />

ganz ruhig, wie sonst nur bei Schularbeiten.<br />

Sie sah förmlich die Fragezeichen über den<br />

Köpfen der SchülerInnen. „Sind Sie nicht<br />

die Islamlehrerin?“, aber vor allem: „Wer<br />

ist diese junge Lehrerin?“, oder „Zeigen Sie<br />

uns Ihre Haare?“, waren die Fragen, die ihr<br />

gestellt wurden. Ein muslimischer Vater,<br />

dessen Tochter kein Kopftuch trägt, kam<br />

bald auf sie zu, schüttelte ihr die Hand und<br />

freute sich darüber, dass auch muslimische<br />

Lehrerinnen in der Schule arbeiten. Die ihr<br />

damals nicht bewusste Vorbildfunktion<br />

wurde durch Gespräche mit anderen Mädchen<br />

unterstrichen. Sie fragten Arbnesa,<br />

wie sie es geschafft habe, mit Kopftuch zu<br />

unterrichten. Sie lauschten mit weit auf-<br />

Chronologie: Kopftuchverbot in der EU<br />

DEUTSCHLAND:<br />

Bei unseren nördlichen<br />

Nachbarn gibt es keine<br />

einheitliche, bundesweite<br />

Regelung bezüglich<br />

des Kopftuchtragens<br />

in der Schule. In Bremen<br />

ist es erlaubt, in Berlin<br />

aufgrund des Neutralitätsgesetzes<br />

verboten, in<br />

Bayern wird es von Fall<br />

zu Fall entschieden.<br />

FRANKREICH:<br />

Verbot von allen religiösen<br />

Symbolen an Schulen<br />

am 3.Februar 2004<br />

beschlossen.<br />

gerissenen Augen ihren Erzählungen und<br />

waren stolz, von ihr unterrichtet zu werden.<br />

Arbnesa teilt diesen Stolz und betont, für alle<br />

Kinder ein Vorbild sein zu wollen, nicht nur<br />

für die muslimischen: „Ich versuche, meine<br />

Prinzipien an meine SchülerInnen weiterzugeben,<br />

egal woher sie kommen oder wie sie<br />

aussehen.“ Das Thema Islam also nur eine<br />

Randnotiz im Unterricht?<br />

„Ich wollte den Kindern zeigen, dass<br />

man als Muslima genauso fähig wie der Rest<br />

der Bevölkerung ist. Und ich wollte zeigen,<br />

dass Frauen mit Kopftuch nicht fremdbestimmt<br />

und passiv sind, sondern erfolgreich<br />

Karriere machen können“, so Arbnesa. „Ist<br />

Ihnen unter dem Kopftuch nicht heiß?“, oder<br />

„Welche Haarfarbe haben Sie eigentlich?“<br />

überdeckten die politischen Fragen, die im<br />

Schulalltag unbedeutsam zu sein scheinen.<br />

Hurije schlägt da in die gleiche Kerbe,<br />

wobei sie das Kopftuch auch mal als Witzequelle<br />

gebrauchte. „Ich schrieb etwas auf<br />

die Tafel und merkte, dass hinter meinem<br />

Rücken getuschelt wurde. Daraufhin drehte<br />

ich mich um und sagte: „Ich weiß, ihr seht<br />

keine Ohren, aber ich habe welche“, erinnert<br />

sie sich. Der angesprochene Schüler war<br />

kurz perplex, bevor Gelächter im Klassenraum<br />

ausbrach. „Ich habe versucht, sehr<br />

offen mit dem Thema umzugehen. Durch die<br />

Flucht nach vorne konnte ich relativ schnell<br />

das Vertrauen der Schüler gewinnen“,<br />

berichtet Hurije über ihr Erfolgsgeheimnis.<br />

Arbnesa konnte Mädchen mit Kopftuch<br />

BELGIEN:<br />

Kein generelles Kopftuchverbot.<br />

Schulen<br />

dürfen allerdings eines<br />

verhängen.<br />

beispielsweise gute Tipps geben, wie sie ihr<br />

Kopftuch befestigen, ohne die für Turnen<br />

gefährlichen Nadeln zu verwenden. Einmal<br />

dachten alle, ein Kind würde keine kurze<br />

Hose tragen wollen aus religiösen Gründen.<br />

Nach einem vertraulichen Gespräch mit<br />

Arbnesa stellte sich heraus, dass das Kind<br />

ein Problem mit seinem Körper hatte und die<br />

Weigerung am Turnunterricht teilzunehmen<br />

nichts mit radikaler Auslegung des Islam zu<br />

tun hatte. Diese Geschichten aus dem Schulbetrieb<br />

könnten der Beweis dafür sein, dass<br />

das Kopftuch bei Lehrkräften eine Integrationsfunktion<br />

erfüllen könnte und nicht –<br />

wie von Gegnern aus verschiedenen Lagern<br />

behauptet – das Gegenteil bewirkt.<br />

„Na super, das brauch ma a no“<br />

Dem Horrorszenario für jede Lehrerin mit<br />

Kopftuch, nämlich ein verbindliches Verbot,<br />

sehen beide Frauen mit großer Sorge entgegen.<br />

Während Arbnesa seit Jahren darüber<br />

Hurije musste<br />

anfangs in ihrer<br />

Schule vor allem als<br />

Islam-Lexikon und<br />

Vorurteils entkräfterin<br />

auftreten.<br />

HOLLAND:<br />

Kein Kopftuchverbot an<br />

öffentlichen Schulen.<br />

Private Schule dürfen<br />

eines verhängen.<br />

DÄNEMARK:<br />

Im Mai <strong>2018</strong> hat das<br />

dänische Parlament<br />

beschlossen, ein Verbot<br />

des Niqab und der Burka<br />

einzuführen.<br />

URTEIL DES EUROPÄISCHEN GERICHTSHOFS AM 14.MAI 2017<br />

Es wird entschieden, dass ein Arbeitgeber Arbeitnehmern verbieten kann, religiöse Symbole,<br />

also auch das Kopftuch, am Arbeitsplatz zu tragen. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass es kein<br />

spezifisches Kopftuchverbot gibt (= Diskriminierung), sondern, dass unter dem Neutralitätsprinzip<br />

alle religiösen Symbole vom Arbeitsplatz verbannt werden.<br />

nachdenkt, was sie in diesem Fall machen<br />

würde, weiß Hurije ganz genau: „Wenn der<br />

Worst-Case eintritt, müsste ich schweren<br />

Herzens mein Österreich verlassen.“ Ob<br />

das nicht zu radikal sei? „Nö, das Kopftuch<br />

gehört zu mir und wenn ich hier nicht in<br />

Ruhe leben kann, dann muss ich eben wegziehen“,<br />

sagt sie. Arbnesa tut sich jedenfalls<br />

mit dieser Entscheidung schwer, hat eine<br />

endgültige Entscheidung für den Fall der<br />

Fälle aber nicht getroffen.<br />

Zurück zum Elternsprechtag jenseits der<br />

Donau. „Hurije, bitte mach schneller, die<br />

Schlange vor der Tür wird immer länger“, so<br />

die gestresste Direktorin, die selbst über den<br />

Andrang überrascht ist. Nach zwei Jahren an<br />

der Schule ist die gebürtige Mazedonierin,<br />

die mit zwölf Jahren nach Wien übersiedelte,<br />

bestens integriert. Kollegen outeten sich an<br />

ihrem vorerst letzten Arbeitstag: „Als du<br />

damals bei uns angefangen hast, haben wir<br />

uns gedacht, na super, des brauch ma a no“,<br />

so ein Kollege. Eine andere Kollegin kam an<br />

der Küche des Lehrerzimmers vorbei, wo<br />

Hurije mit anderen Lehrerinnen herumflachste<br />

und stellte verwundert fest: „Ich<br />

wollte dir das immer schon sagen, du bist<br />

ja ganz normal.“ Hurije hält kurz inne, ihre<br />

Mundwinkel formen langsam aber sicher<br />

ein breites Grinsen. Dann stellt sie zufrieden<br />

fest: „Das ist das beste Argument, das eine<br />

Hijabi bekommen kann.“ <br />

Dieser Artikel erschien das erste Mal in der biber<br />

Winter-Ausgabe <strong>2018</strong>/19<br />

18 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

19


almanah<br />

GENDER<br />

Die ägyptische Feministin Mona Eltahawy schlägt Machos, kritisiert<br />

weiße Feministinnen und trägt rote Haare und Tattoos. Klar ist auch<br />

der Titel des Buchs „No more Bullshit: Das Handbuch gegen sexistische<br />

Stammtischweisheiten.“ Wirtschaftsministerin Margarete<br />

Schramböck glaubt nicht an typisch männliche oder weibliche Führungskräfte.<br />

S. 22–25<br />

„ICH HABE MIR DIE SCHULDGEFÜHLE<br />

RAUSGEFICKT“<br />

Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex: Auch so sind<br />

Musliminnen, sagt Autorin Mona Eltahawy, die weißen<br />

Feministinnen vorwirft, dass sie nur für Frauenrechte<br />

kämpfen und dabei andere Probleme vergessen.<br />

S. 26-29<br />

„ALLE TÜREN STEHEN EUCH OFFEN –<br />

WAS WOLLT IHR DENN NOCH?“<br />

„Stimmen die Rahmenbedingungen, steigen Frauen*<br />

sehr wohl als erfolgreiche Führungskräfte auf.“ Aus dem<br />

Buch „No more Bullshit: Das Handbuch gegen sexistische<br />

Stammtischweisheiten“.<br />

Hebräisch für Gender<br />

David Degner, Soza Almohammad<br />

S. 32-33<br />

„TEILZEIT-FÜHRUNGSKRAFT<br />

FUNKTIONIERT GUT“<br />

Wirtschaftsministerin Margarete Schramböck im Interview:<br />

Warum Frauen viel zu selten über das Gehalt reden<br />

und es Ihrer Meinung nach keine typische männliche oder<br />

weibliche Führungskraft gibt.<br />

20<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

almanah<br />

Rote Haare, Tattoos, derbe Sprache und Sex:<br />

Auch so sind Musliminnen, sagt Autorin<br />

Mona Eltahawy, die weissen Feministinnen<br />

vorwirft, dass sie nur für Frauenrechte kämpfen<br />

und dabei andere Probleme vergessen.<br />

I N T E R V I E W :<br />

Solmaz Khorsand<br />

F O T O :<br />

David Degner<br />

„Ich habe mir die<br />

Schuldgefühle<br />

rausgefickt“<br />

Eine wütende Frau sei sie, sagt Mona Eltahawy.<br />

Und sie ist stolz darauf. Die Welt gibt ihr dafür<br />

genügend Gründe. Eltahawy ist Journalistin,<br />

Aktivistin und Feministin. Geboren in Ägypten,<br />

aufgewachsen in England und Saudiarabien,<br />

lebt sie heute in New York und Kairo. Sie wurde<br />

in den Feminismus „traumatisiert“, schreibt<br />

sie in ihrem Bestseller „Headscarves and<br />

Hymens: Why the Middle East Needs a Sexual<br />

Revolution“. Darin plädiert die 50-Jährige<br />

nicht nur für eine sexuelle Revolution im Nahen<br />

Osten, sondern verarbeitet auch ihre Erfahrungen,<br />

unter anderen jene auf dem Tahrirplatz in<br />

Kairo 2011, als sie über die Proteste gegen das<br />

Mubarak-Regime berichtete und von Polizisten<br />

misshandelt wurde. Ungeschönt und plastisch<br />

schreibt, tweetet und flucht Eltahawy<br />

über Tabus, Scham und Doppelmoral. Und sie<br />

macht es dezidiert als Muslimin.<br />

Vor knapp einem Jahr startete Eltahawy<br />

den Hashtag #MosqueMeToo, nachdem eine<br />

pakistanische Frau über sexuelle Übergriffe<br />

während ihrer Pilgerreise nach Mekka auf<br />

Facebook berichtet hatte. Auch Eltahawy wurde<br />

als 15-Jährige am heiligsten Ort der Muslime<br />

begrapscht. Mit #MosqueMeToo sollten auch<br />

andere Frauen ihr Schweigen brechen. Und sie<br />

taten es. Tausende Frauen teilten ihre Erfahrungen<br />

auf den sozialen Medien. Zum ersten<br />

Mal schwappte damit die MeToo-Debatte auch<br />

in die muslimischen Communitys weltweit.<br />

Zeitgleich initiierte Mona Eltahawy einen<br />

weiteren Hashtag: #IBeatMyAssaulter (Ich<br />

schlug meinen Angreifer). Auch dieser ging<br />

viral. Daneben ein Foto mit Eltahawys Hand in<br />

einer Schale voller Eiswürfel.<br />

ALMANAH: Tut Ihnen die Hand noch weh, Frau Eltahawy?<br />

MONA ELTAHAWY: Ja schon. Jemanden zu schlagen, tut verdammt<br />

weh. Aber das war es mir wert. Ich mache bald einen Selbstverteidigungskurs,<br />

damit ich jemanden schlagen kann, ohne mich<br />

selbst dabei zu verletzen.<br />

War es das erste Mal, dass Sie einen Mann verprügelt haben?<br />

Das nicht, aber es war das erste Mal, dass ich so massiv zugehauen<br />

habe. Das hat ja eine Geschichte.<br />

Wir bitten darum.<br />

In meinen Zwanzigern habe ich angefangen, Männer anzubrüllen,<br />

die mich gegen meinen Willen angefasst haben. Später, in meinen<br />

Dreissigern und Vierzigern, habe ich sie gestossen, geschubst und<br />

angespuckt. Vor fünf Jahren habe ich zum ersten Mal zurückgeschlagen<br />

und einen Mann in Kairo dazu gebracht, dass er vor mir wegläuft.<br />

Und vor ein paar Wochen habe ich diesen Kerl in einem Club<br />

in Montreal verprügelt, der mich von hinten begrapscht hatte. Ich<br />

habe sicher 15 Mal auf ihn eingeschlagen. Es war wunderbar. Ich bin<br />

so glücklich. Es war sicher einer der stolzesten Momente in meinem<br />

Leben.<br />

Warum sind Sie stolz auf diese Prügelattacke?<br />

Ich will mit meiner Erfahrung andere Frauen nicht dazu drängen,<br />

rauszugehen und ihre Peiniger zu verprügeln. Ich weiss, wie gefährlich<br />

das als Frau sein kann. Aber in diesem Club, da fühlte ich mich<br />

sicher genug, mich selbst zu verteidigen und diesen Mann windelweich<br />

zu schlagen. Mir ist wichtig, dass Frauen wissen, dass sie ein<br />

Recht haben, jene zu schlagen, die sie verletzen.<br />

Weil uns als Mädchen immer eingebläut wurde, bloss nicht handgreiflich<br />

zu werden?<br />

Genau. Wir werden als Mädchen nicht dazu sozialisiert, zurückzuschlagen.<br />

Wir bringen Mädchen nicht bei, dass sie sich verteidigen<br />

können, wenn Männer sie verletzen. Als ich 15 Jahre alt war und<br />

begrapscht wurde, habe ich nichts getan. Ich war erstarrt. Jetzt bin<br />

ich 50 Jahre alt, und ich schlage zurück.<br />

Mit 15 Jahren wurden Sie auf Ihrer Pilgerreise nach Mekka sexuell belästigt.<br />

Zuerst in der Menge, als Sie die Kaaba, das Haus Gottes in der Heiligen<br />

Moschee, umkreist haben. Später sogar von einem Polizisten, als Sie<br />

die Kaaba küssen wollten.<br />

‣<br />

22 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

23


almanah<br />

almanah<br />

„Ich war die ganze Zeit Feministin.<br />

Ich hatte nur kein Wort dafür.“<br />

Es hat so lange gedauert, weil sexuelle Belästigung<br />

in konservativen Kulturen tabuisiert wird<br />

und mit sehr viel Scham behaftet ist. Wenn sich<br />

der Missbrauch an einem heiligen Ort ereignet,<br />

wird es umso schwieriger, darüber zu sprechen,<br />

egal ob das eine Moschee, eine Kirche oder ein<br />

Tempel ist. Ich denke, jetzt ist der Moment<br />

gekommen, dass muslimische Communitys<br />

weltweit erkennen müssen, was der Preis ist,<br />

wenn sie muslimische Frauen mundtot machen.<br />

Die Communitys schaden sich so nur selbst.<br />

Sie sagen immer, die Musliminnen sässen in der<br />

Klemme. Einerseits können sie nichts sagen, weil<br />

„Wenn ich mich<br />

zwischen der<br />

Community und den<br />

Frauen entscheiden<br />

müsste, würde ich<br />

mich immer für<br />

meine Schwestern<br />

entscheiden.“<br />

Ich war wie gelähmt. Ich hatte keine Worte. Du glaubst, dass du sie mit jeder Kritik Rechtspopulisten in ihrer Dämonisierung vom Muslim<br />

sicher bist an diesem magischen und spirituellen Ort, und da fasst als Triebtäter in die Hände spielen. Andererseits werden sie von der eigenen<br />

Community zum Schweigen gebracht, weil ihre Kritik die Muslime<br />

dir jemand an den Po und ein anderer an die Brust. Etwas ist in mir<br />

damals zerbrochen.<br />

und den Islam in ein schlechtes Licht rücken würde.<br />

Sabica Khan, eine Muslimin aus Pakistan, hat Ähnliches über ihre Pilgerreise<br />

auf Facebook berichtet, woraufhin Sie den Hashtag #MosqueMeToo aussehen lassen, nicht wir. Es geht in der MeToo-Debatte nicht<br />

Es sind die muslimischen Männer, die unsere Community schlecht<br />

ins Leben gerufen haben. Seither haben Tausende Frauen ihre Erfahrungen<br />

geteilt. Es ist die erste globale Auseinandersetzung mit dem Thema Männer? Die muslimischen Männer? Die schwarzen Männer? Nein,<br />

darum, welche Männer am schlimmsten sind. Sind es die weissen<br />

innerhalb der muslimischen Community. Warum<br />

hier geht es um das Patriarchat, und das schützt<br />

hat es so lange gedauert?<br />

die Männer, egal welcher Community sie angehören.<br />

Nur nutzt jede Community ein gewisses<br />

Extra, um ihre Frauen gleichzuschalten und<br />

zum Schweigen zu bringen. Die Weissen sagen:<br />

Stell deine Rasse über dein Geschlecht. Die Muslime<br />

sagen: Stell den Islam über dein Geschlecht.<br />

Wenn ich mich zwischen der Community und<br />

den Frauen entscheiden müsste, würde ich mich<br />

immer für meine Schwestern entscheiden.<br />

Mit 15 Jahren haben Sie niemanden von den Übergriffen<br />

in Mekka erzählt. Warum?<br />

Ich konnte es niemanden erzählen. Es war<br />

das erste Mal, dass mich ein Mann so angefasst<br />

hatte. Ab diesem Zeitpunkt betrachtete<br />

ich Männer als Triebtäter, die gefährlich waren und vor denen ich<br />

mich verstecken musste. Deswegen begann ich auch, den Hidschab<br />

zu tragen.<br />

Als Schutzschild?<br />

Einerseits wollte ich meinen Körper vor den Männern schützen,<br />

andererseits war der Hidschab meine «Abmachung» mit Gott. Ich<br />

trage das Kopftuch, dafür bewahrst du mich vor all dem Wahnsinn<br />

in dieser misogynen Atmosphäre, die mich depressiv macht. Gott hat<br />

sich nicht an seinen Teil der Abmachung gehalten.<br />

Inwiefern?<br />

Ich wurde trotzdem überall begrapscht. Wir haben damals in Saudiarabien<br />

gelebt, und obwohl alles in Saudiarabien segregiert ist –<br />

vom Kindergarten bis zur Universität –, gibt es<br />

doch öffentliche Plätze, wo Männer und Frauen<br />

aufeinandertreffen, beispielsweise Märkte. Dort<br />

wurde ich immer wieder betatscht. Der Hidschab<br />

hat mich nicht beschützt, oh Wunder!<br />

Es hat neun Jahre gedauert, bis ich ihn wieder<br />

abgelegt habe.<br />

Warum so lange?<br />

Meine Familie wollte es nicht. Hätte ich mit 15<br />

Jahren gar nicht begonnen, das Kopftuch zu<br />

tragen, wäre es kein Thema gewesen. Mir wurde<br />

beigebracht, dass es besser ist, das Kopftuch gar<br />

nicht zu tragen, als es zu tragen und dann abzulegen.<br />

Dabei war Ihre Familie sehr liberal, betonen Sie<br />

immer.<br />

In manchen Dingen war sie sehr liberal, in anderen Dingen sehr konservativ.<br />

Meine Familie ist das perfekte Beispiel, wofür meine Arbeit<br />

heute steht: Wir Muslime sind kein monolithischer Block. In ein und<br />

derselben Familie haben Sie jemanden wie mich, der offen über Sex,<br />

Sexualität, Queer- und LGTB-Themen spricht, und andere Familienmitglieder,<br />

die Homosexualität als Sünde begreifen.<br />

Wie stark haben Ihre Eltern Sie geprägt?<br />

Meine Mutter ist ein grosses feministisches Vorbild für mich. Meine<br />

Eltern haben sich in Kairo auf der Medizinuniversität kennengelernt.<br />

Es war eine Liebesheirat, keine arrangierte Ehe wie bei anderen.<br />

Später haben meine Eltern von der ägyptischen Regierung ein<br />

Stipendium bekommen, um in London ihren PhD, ihren Doktor,<br />

zu machen. Beide wohlgemerkt. 1975 zogen wir dann wegen ihrer<br />

Jobs nach Saudiarabien. Und ich konnte sehen, was dieses Land aus<br />

meiner Mutter, dieser starken, selbstbestimmten und unabhängigen<br />

Frau, gemacht hat. Da haben Sie eine Frau mit einem Doktortitel<br />

in Medizin, und sie darf nicht Auto fahren und kann nirgendwohin<br />

ohne ihren Ehemann. Sie selbst hat damals gesagt: Ich fühle mich so,<br />

als hätten sie mir die Beine abgeschnitten.<br />

Hat Sie das Leben in Saudiarabien zur Feministin gemacht?<br />

Saudiarabien hat mich zur Frau gemacht, die ich heute bin. Ich war<br />

die ganze Zeit Feministin. Ich hatte nur kein Wort dafür. Das Wort<br />

«Feminismus» habe ich mit 19 Jahren entdeckt. Und das ausgerechnet<br />

in einer Universitätsbibliothek in Saudiarabien. Da waren<br />

„Wenn ich zu<br />

meinem jüngeren<br />

Selbst sprechen<br />

könnte, würde<br />

ich sagen:<br />

Geniess deinen<br />

Körper.“<br />

die Werke von Fatima Mernissi und Huda Shaarawi, Frauen, die mit<br />

denselben Erfahrungen und demselben Zwiespalt zu kämpfen hatten<br />

wie ich: zwischen dem, was sie sein wollten, und den Erwartungen<br />

der Gesellschaft an eine muslimische Frau.<br />

Die muslimische Frau werde auf zwei Dinge reduziert: das Kopftuch und<br />

ihr Jungfernhäutchen. Auf das, was sie auf dem Kopf trägt und was zwischen<br />

ihren Beinen ist, schreiben Sie in Ihrem Buch «Headscarves and<br />

Hymens».<br />

Ich benutze diesen Ausdruck «Headscarves and Hymens» seit zehn<br />

Jahren, weil diese zwei Dinge das Leben von muslimischen Frauen<br />

dermassen bestimmen. Ich hasse das Konzept «Jungfräulichkeit»<br />

und «Jungfernhäutchen». Das sind Ketten, die uns Frauen nicht nur<br />

physisch, sondern auch emotional und mental<br />

fesseln.<br />

Sie selbst bedauern, dass Sie lange gebraucht<br />

haben, um Ihre eigenen Ketten zu sprengen. Sie<br />

waren 29 Jahre alt, als Sie das erste Mal Sex hatten.<br />

Das macht mich bis heute traurig. Wenn ich<br />

zu meinem jüngeren Selbst sprechen könnte,<br />

würde ich sagen: Geniess deinen Körper. Es hat<br />

lange gedauert, bis ich darüber sprechen konnte.<br />

Und es hat lange gedauert, bis ich schliesslich<br />

Sex ausserhalb der Ehe haben konnte. Ich wurde<br />

wie viele andere Musliminnen so erzogen: Du<br />

darfst nur Sex haben, wenn du verheiratet bist.<br />

Meine Eltern haben mich nie dazu gedrängt zu<br />

heiraten, aber es war irgendwie immer latent<br />

klar, dass ich einmal heiraten werde. Doch ich<br />

wollte nicht heiraten, weil ich wusste, dass ich in dieser patriarchalen<br />

Welt, in der ich lebte, meine hart erkämpfte Freiheit mit der Ehe<br />

hätte aufgeben müssen.<br />

Sie hatten trotzdem Sex – ohne zu heiraten.<br />

Und wie! Ich sage den Leuten immer: Ich habe mir die Schuldgefühle<br />

rausgefickt. Ich bin absichtlich derb hier, denn ich will nicht, dass<br />

mich irgendwer wegen meiner Geschichte bemitleidet. Und ich hatte<br />

sehr viel Sex seit diesem ersten Mal. Meine Botschaft an alle Frauen<br />

ist: Egal aus welcher Kultur, Religion oder Erziehung ihr kommt,<br />

findet heraus wie, wann und mit wem ihr euren Körper geniessen<br />

wollt, weil ihr jedes Recht dazu habt, das so zu tun, wie es euch<br />

gefällt, selbstbestimmt und einvernehmlich. <br />

Solmaz Khorsand (33) ist Redakteurin<br />

beim Schweizer Online Magazin Republik<br />

(republik.ch). Sie schreibt u.a. über<br />

österreichische Scheuklappen, Schweizer<br />

Patriotismus und vermeintliche NormabweichlerInnen<br />

aus aller Welt.<br />

Das Interview in der Gesamtlänge findest du auf<br />

www.republik.ch<br />

24 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

25


almanah<br />

almanah<br />

„Alle Türen stehen<br />

euch offen – was<br />

wollt ihr denn noch?”<br />

Aus dem Buch: No more<br />

Bullshit: Das Handbuch<br />

gegen sexistische<br />

Stammtischweisheiten<br />

TEXT:<br />

Fränzi Kühne<br />

MITARBEIT:<br />

Ana-Marija Cvitić<br />

ILLUSTRATIONEN:<br />

Lana Lauren<br />

Starre Unternehmenskulturen, traditionelle<br />

Karrieremodelle, überholte<br />

Geschlechterrollen, flexible Start-<br />

Up-Modelle, digitaler Kapitalismus, Rabenmütter<br />

und neue Väter – und obendrüber<br />

und drumherum der Staat: Die deutschsprachige<br />

Gleichstellungsdebatte sucht gerne<br />

den ganz großen Diskurs und liebt dann<br />

doch die flachen Positionen. Immer wieder<br />

begegnet einem etwa die Frau* – also zum<br />

Beispiel ich – als defizitäres Wesen. Ob es<br />

um die Verweigerung von Quotenregelungen<br />

geht oder um die doch wohlmeinende Förderung<br />

weiblicher Fachkräfte: Die Frau* ist es,<br />

die nicht genug ist. Nicht laut, nicht mutig,<br />

nicht aggressiv oder dominant genug, keine<br />

gute Netzwerkerin – oder sie will einfach<br />

nicht Karriere machen.<br />

Den Abbau dieses Defizits sollen „Frauenförderungsmaßnahmen“<br />

wie Mentoringund<br />

Karriereprogramme herbeiführen. Dazu<br />

schreibt Journalistin Anna-Lena Scholz in<br />

der deutschen Wochenzeitung DIE ZEIT:<br />

„Pflichtschuldig werden Köpfe gezählt:<br />

null Frauen, eine Frau*, zwei Frauen*, drei<br />

Frauen*. Dazu noch paar Kinderbetreuungsplätze,<br />

ein Mentoring-Programm und<br />

ein Plakat von Lise Meitner im Flur. Diese<br />

hochglanzpolierte Gleichstellungspolitik<br />

– so wichtig sie ist – hat einen doppelt<br />

perfiden Effekt.“ Frauen* werde nämlich<br />

damit nahegelegt, ihnen stünden sämtliche<br />

Türen offen und Chancenungleichheit am<br />

Arbeitsmarkt gehöre der Vergangenheit an.<br />

Sie müssten nur wollen.<br />

Der Rahmen muss stimmen<br />

Nur ein Bruchteil der Führungspositionen<br />

im deutschsprachigen Raum ist von Frauen*<br />

besetzt. Diese wenigen Frauen* sind mit<br />

großer Sicherheit nicht schon alle, die<br />

führen wollten und könnten. Nur ein Wertewandel<br />

auf der Chef-Etage kann Veränderungen<br />

bringen. Zugleich stehen Frauen*<br />

wie Männer* gleichermaßen in der Verantwortung,<br />

jetzige Führungsbilder zu hinterfragen<br />

und zeitgemäßer auszugestalten. Aus<br />

persönlicher Erfahrung als Geschäftsführerin<br />

einer Agentur für Digital Business, als<br />

Aufsichtsrätin und Mutter* einer zweijährigen<br />

Tochter kann ich sagen: Stimmen die<br />

Rahmenbedingungen, steigen Frauen* sehr<br />

wohl als erfolgreiche Führungskräfte auf. An<br />

ihrem Willen scheitert es nicht.<br />

In Deutschland sind 74 Prozent aller<br />

Frauen* berufstätig, in Österreich liegt die<br />

Erwerbsfrequenz bei rund 68 Prozent und<br />

in der Schweiz bei rund 79 Prozent, wie die<br />

statistischen Ämter der jeweiligen Länder<br />

zeigen. Zudem waren Frauen* noch nie<br />

so gut ausgebildet wie heute. Mehr als 50<br />

Prozent der Hochschulabsolvent*innen<br />

26 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

27


almanah<br />

almanah<br />

sind weiblich, in Deutschland streben rund<br />

unser Team darum bittet, dass nicht die<br />

position als solche dem gesellschaftli-<br />

dass sich das Führen oder Beurteilen von<br />

sich auf einen neuen Wertekanon zu einigen.<br />

stellen und flexible Arbeitsmodelle möglich<br />

45 Prozent der Absolventinnen* sogar<br />

erfahrene Consulting-Chefin, sondern<br />

chen Wandel angepasst hätte. Eine Familie<br />

Mitarbeiter*innen bei reduzierter Arbeits-<br />

Das Ziel von Unternehmen sollte sein,<br />

zu machen. Die Lösungen sind individu-<br />

eine Promotion an. Und doch liegt der<br />

der männliche Praktikant die Strategie-<br />

mit zwei berufstätigen Elternteilen ist in<br />

zeit oder im Home-Office zuverlässig erfül-<br />

eine nachhaltige Unternehmenskultur zu<br />

ell, doch eint sie ein Grundprinzip: Teilzeit<br />

Frauen*anteil in den Vorständen der 30<br />

präsentation vor dem Vorstand hält, dann<br />

der DACH-Region nicht mehr die Abwei-<br />

len lasse; Wochen mit einem Arbeitspensum<br />

schaffen, die sich an den Bedürfnissen der<br />

heißt nicht Teilkarriere oder Teilverantwor-<br />

größten deutschen Börsenunternehmen<br />

werden diese sehr greifbar. Und natürlich<br />

chung, sondern die Norm. Bei zwei Vollzeit<br />

von 70 Stunden sind keine Seltenheit. Auch<br />

Mitarbeiter beiderlei Geschlechts und ihrer<br />

tung. Niemand ist als reine Zeitressource bei<br />

nur bei 12 Prozent, in den Aufsichtsräten<br />

gibt es dazu kein Wort der Erklärung, keine<br />

arbeitenden Eltern stellt eine Familie dem<br />

die Führungskräfte selbst reproduzieren<br />

Familiensituation orientiert. Das würde<br />

uns. Es wäre dumm, sich Fähigkeiten, Ideen,<br />

sind es immerhin 33 Prozent. Den Unter-<br />

Geste der Entschuldigung, kein sichtbares<br />

Arbeitsmarkt heute über 80 Stunden pro<br />

die Erwartungshaltung, in ihrer Position<br />

automatisch jene Hindernisse beseitigen, die<br />

professionelle Erfahrung oder spannende<br />

schied macht hier wohl die 2015 eingeführte<br />

Bewusstsein für eine Grenzüberschreitung<br />

Woche zur Verfügung. Gleichzeitig sind<br />

überdurchschnittlich viel Zeit investieren<br />

Frauen* von einer Bewerbung für Führungs-<br />

Perspektiven entgehen zu lassen, nur weil<br />

30-Prozent-Quote für Aufsichtsräte. Dass<br />

– es ist halt, wie es ist.<br />

es noch immer primär die Frauen, die der<br />

zu müssen. Wenn Frauen* diesen Zustand<br />

positionen abhalten. Der Schlüssel für das<br />

man Führung streng mit Vollzeit gleichsetzt.<br />

dort, wo angeblich keine fähigen Frauen*<br />

Jahrhundertelang rechtfertigten Vorur-<br />

familiären Fürsorgepflicht nachkommen,<br />

kritisieren, wird ihnen vorgeworfen, dass<br />

Ausschöpfen des vorhandenen weiblichen<br />

Ein flexibles Arbeitszeitmodell bedeutet vor<br />

sind, plötzlich doch welche gefunden werden<br />

teile über binäre, festgelegte Unter-<br />

selbst wenn der Trend zu mehr Partner-<br />

der Fehler an ihnen liege und sie eben<br />

– wie männlichen – Führungspotenzials der<br />

allem eine Konzentration auf Kernaufgaben<br />

können, belegt den Bedarf an gesetzlicher<br />

schiede zwischen den Geschlechtern eine<br />

schaftlichkeit und geteilter Familienarbeit<br />

nicht für Führungspositionen geschaffen<br />

jungen Generation sind alternative Arbeits-<br />

und essenzielle Fähigkeiten – und gutes<br />

Quotierung. Einen Wertewandel in Konzer-<br />

Ungleichbehandlung von Männern* und<br />

geht.<br />

seien. Dabei wird diese Erwartungshaltung<br />

modelle wie reduzierte Vollzeit, mobiles<br />

Zeitmanagement. Qualität statt Quantität,<br />

nen bewirkt sie aber nicht: Studien, etwa der<br />

Frauen*, im Arbeits- wie im Privatleben.<br />

an Leadership, die mit Vollzeiteinsatz und<br />

Arbeiten oder Jobsharing. Es überrascht,<br />

darum geht es doch, auch auf der Seite der<br />

AllBright Stiftung, zeigen, dass die Quote<br />

Dieser sogenannte Gender-Essenzialismus<br />

Berufswelt wird Lebensrealitäten nicht<br />

Präsenzkultur gekoppelt ist, der heutigen<br />

dass in der DACH-Region trotz Digitalisie-<br />

Familie. Dass heute bei uns in der Agen-<br />

kaum Einfluss auf darüber hinausgehenden<br />

sorgte dafür, dass der klassische Mann*<br />

mehr gerecht<br />

Lebenswelt von Berufstätigen nicht gerecht<br />

rung, fortschreitender Globalisierung und<br />

tur 55 Prozent der Führungspositionen von<br />

Frauen*anteil im aktiven Top-Management<br />

als aggressiv, individualistisch und ratio-<br />

Auch heute noch gehört zu einer Füh-<br />

– und zwar weder jener von Frauen* noch<br />

Fachkräftemangel innovative Arbeitszeit-<br />

Frauen* besetzt sind, ist nicht das Resul-<br />

hat.<br />

nal galt; die klassische Frau* als passiv<br />

rungskarriere eine hohe Leistungsbereit-<br />

von Männern*. Um noch einen Schritt wei-<br />

modelle so wenig Akzeptanz im Unterneh-<br />

tat einer Quotierung. Zu solchen Werten<br />

Dabei sind Frauen* aber nicht nur Leidt-<br />

und emotional. Darauf aufbauend entstand<br />

schaft, die mit langer Anwesenheit, hohem<br />

terzugehen: Das Festhalten an diesem tra-<br />

mensumfeld finden.<br />

kommt, wer sich von Anfang an vielseitig<br />

ragende eines maroden Recruiting-Sys-<br />

das Bild der Führungspersönlichkeit par<br />

Arbeitspensum und Mobilität gleichgesetzt<br />

ditionellen, klischeebasierten Führungsbild<br />

aufstellt und gezielt Talente fördert, unab-<br />

tems sich sehr ähnlicher Führungskräfte im<br />

excellence – männlich, dominant, rational<br />

wird. „Führungskräfte haben vor Ort zu<br />

ist weltfremd, ungesund und gefährlich für<br />

Frühestmögliche Talenteförderung<br />

hängig von Geschlecht und Lebensentwurf.<br />

Top-Management, die nur auf Ihresgleichen<br />

und mit einer Leistungsbereitschaft, die<br />

sein, Leitungskultur heißt Präsenzkultur“,<br />

Führungskräfte, für Unternehmen und die<br />

Ich bin seit zehn Jahren Chefin einer Agentur<br />

Gelingt uns der Wertewandel, der einer-<br />

zählen. Tatsächlich bestätigen Studien, wie<br />

Karriere allem anderen überordnete. Dieses<br />

erläutert die Initiative Chefsache, ein Netz-<br />

Gesellschaft. Denn dieses System kann sich<br />

fürs digitale Geschäft und seit zwei Jahren<br />

seits weibliches Potenzial auf Führungsebene<br />

etwa des Instituts der Deutschen Wirtschaft,<br />

Führungsbild stammt aus einer Zeit, in der<br />

werk zur Förderung eines ausgewogenen<br />

am Ende nur immer wieder selbst replizie-<br />

Mutter. Meine Position ist relativ luxuriös,<br />

und andererseits eine Unternehmenskultur<br />

dass der Anteil an weiblichen Bewerberin-<br />

Männer* die Alleinverdiener waren und eine<br />

Verhältnisses von Frauen* und Männern*<br />

ren – und das bei stark veränderten Arbeits-<br />

aber dieser Luxus ist auch ein Auftrag: Ich<br />

zulässt, die den Menschen in den Vorder-<br />

nen* für Schlüsselpositionen nicht mehr<br />

Familie dem Arbeitsmarkt im Durchschnitt<br />

in Führungspositionen. Eine qualitative<br />

welten. Wir haben es hier mit dem Gegenteil<br />

möchte ihn mit den Kolleg*innen, die Fami-<br />

grund stellt, werden wir sehr wohl in naher<br />

als 30 Prozent ausmacht, unabhängig von<br />

45 Stunden pro Woche zur Verfügung stellte.<br />

Befragung von 220 weiblichen und männ-<br />

eines evolutionären Prozesses zu tun, auf<br />

lien haben, teilen. Gerade in der Phase der<br />

Zukunft auf viele erfolgreiche Frauen im<br />

der Qualifikation oder Ausbildung. Es sind<br />

Da die Frau* die gesamte Kindererziehung<br />

lichen Führungskräften ergab, dass sich<br />

Veränderungen folgt keine Weiterentwick-<br />

Rückkehr in den Beruf heißt das für mich<br />

Top-Management treffen.<br />

<br />

also auch Frauen* selbst, die auf Führungs-<br />

und Familienarbeit übernahm, konnte der<br />

die Betroffenen unter extremem Erwar-<br />

lung.<br />

als Arbeitgeberin, Zeit zur Verfügung zu<br />

positionen verzichten und sich tradierten<br />

Mann* beruflich eingesetzt werden, wie<br />

tungsdruck sehen, viel und<br />

Führungsstrukturen entziehen.<br />

es die Beschäftigungssituation gerade<br />

lange zu arbeiten und<br />

Familien mitdenken<br />

verlangte. Diese Beschäftigungssi-<br />

immer erreich-<br />

Ein wesentlicher Weg, dem entgegenzu-<br />

Der Praktikant als Über-Chefin<br />

tuation hat sich jedoch in den<br />

bar zu sein.<br />

wirken, ist die Veränderung von unten. Die<br />

Der Blick durch die gläserne Decke offen-<br />

50 Jahren radikal geändert<br />

Es<br />

wird<br />

weiblichen Führungskräfte von morgen<br />

bart nun einmal nicht nur Erstrebenswertes,<br />

– ohne dass sich die<br />

bezwei-<br />

müssen heute schon eingestellt, ausgebil-<br />

sondern zeigt auch die auf höchster Füh-<br />

Führungs-<br />

felt,<br />

det, gehört und verstanden werden – und<br />

rungsebene replizierten Reste traditionel-<br />

zwar als Teil eines vielfältigen, vielseitigen<br />

ler Führungsbilder, die nicht ohne<br />

Männlich-Weiblich-Klischees<br />

auskommen. Das<br />

zeigen nicht nur Statistiken:<br />

Wenn<br />

der Kunde<br />

Teams. Notfalls geschieht dies mit einer<br />

Quote im mittleren Management, notfalls<br />

mit einer Quote im Top-Management,<br />

unbedingt mit Veränderungen von Recruiting-<br />

und HR-Prinzipien – nicht jedoch mit<br />

isolierten „Frauenförderungsmaßnahmen“.<br />

Begleiten muss diesen Prozess ein Umdenken<br />

auf höchsten Ebenen.<br />

Wann diesen Wertewandel anstoßen,<br />

wenn nicht jetzt? Unsere Gesellschaft<br />

befindet sich im Wandel von einer Industriegesellschaft<br />

zu einer Wissens- und<br />

Aus dem Buch:<br />

No more Bullshit: Das<br />

Handbuch gegen sexistische<br />

Stammtischweisheiten<br />

<strong>2018</strong><br />

Verlag Kremayr&Scheriau<br />

GmbH&Co. KG; Wien<br />

Herausgeberin:<br />

Sorority – Verein zur<br />

branchenübergreifenden<br />

Vernetzung<br />

Informationsgesellschaft. Das stellt für<br />

die Arbeitswelt eine enorme Chance dar,<br />

verkrustete Strukturen aufzuweichen und<br />

28 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

29


almanah<br />

almanah<br />

„Das ist nichts für mich“<br />

W24.at<br />

facebook.com/W24TV<br />

Melisa Erkurt möchte junge Mädchen in den<br />

Schulen stärken - ohne die Burschen dadurch<br />

zu schwächen.<br />

Mathe), bringen die Hausaufgaben verlässlicher,<br />

machen weniger Ärger und trotzdem oder gerade<br />

deshalb gehen sie irgendwie irgendwann unter. Die<br />

Mädchen zeigen brav auf, die Burschen schreien<br />

einfach raus – wie bei den Erwachsenen. Eine Lehrerin<br />

hat mir neulich erzählt, dass sie in ihrer Klasse die<br />

letzten zehn Minuten einer Stunde „Mädchen-Zeit“<br />

Wieso hat keine von euch als Klassensprecherin<br />

kandidiert?“, frage ich die Mädchen<br />

der siebten Klasse einer Wiener<br />

nennt, da dürfen nur Mädchen etwas sagen, weil sie die<br />

ganze Stunde über von den Burschen übertönt werden.<br />

Ob das nicht den Burschen gegenüber ungerecht wäre,<br />

AHS. „Das geht sich alles nicht mit den Schularbei-<br />

will ich wissen. „Die sind froh, wenn sie sich mal nicht<br />

ten, Tests und Hausübungen aus“, antwortet mir eine<br />

beweisen müssen und eine Pause machen können“,<br />

Schülerin. „Musa hat sich aufstellen lassen und er ist<br />

erklärt sie mir. Denn Mädchen zu stärken heißt auf<br />

ein Freund von mir. Also habe ich lieber ihn gewählt,<br />

keinen Fall die Burschen zu schwächen. Das Ziel ist,<br />

als seine Konkurrentin zu sein“, sagt eine andere.<br />

sie alle ins selbe Boot zu holen. Als ich kürzlich einer<br />

„Es wäre mir so peinlich, wenn ich verlieren würde“,<br />

Klasse voll mit 13-Jährigen erklärt habe, was gendern<br />

Melisa Erkurt ist drei<br />

Jahre lang mit dem biber<br />

Schulprojekt „Newcomer“<br />

durch Wiener Schulklassen<br />

getourt und hat mit über<br />

500 Schüler*innen über<br />

Rollenbilder, Vorurteile<br />

und alles, was die<br />

Jugendlichen sonst so<br />

beschäftigt, gesprochen.<br />

TEXT:<br />

Melisa Erkurt<br />

„Ich weiß nicht, ob ich das kann“, „Das ist nichts<br />

für mich“. 30 Schüler*innen sitzen in der Klasse, die<br />

Hälfte davon Mädchen – ihr Klassensprecher und<br />

sein Stellvertreter sind beide Burschen. Die Situation<br />

kommt mir bekannt vor, genauso wie die Argumente<br />

der Mädchen. Frauen machen die Hälfte der Bevölkerung<br />

aus und trotzdem wird unsere Welt von Männern<br />

regiert. Österreich hatte noch nie eine Bundeskanzlerin<br />

oder eine Bundespräsidentin. Wieso sollte es in<br />

den Klassenzimmern anders sein? „Dafür haben wir<br />

uns als Schülerbibliothekarinnen beworben“, sagen<br />

mir ein paar der Mädchen rechtfertigend. Als Schülerbibliothekar*innen<br />

werden in der Regel besonders<br />

fleißige und vertrauensvolle Jugendliche ausgewählt,<br />

meistens Mädchen. Ansehen und Macht gibt es dafür<br />

kaum, dafür wird man von den Lehrer*innen gelobt.<br />

Die Schule als Mikrokosmos, sie spiegelt die Realität<br />

wieder. Die Mädchen schreiben oft die besseren<br />

Noten (außer in den Naturwissenschaften und in<br />

bedeutet, waren sie alle ganz begeistert davon. „Es<br />

ist unhöflich, andere zu ignorieren“, fasste einer<br />

der Buben zusammen, wieso ihm gendern logisch<br />

erscheint. Sie hatten davor nichts von gendersensibler<br />

Sprache gehört und plötzlich sprachen sie von<br />

Schülern und Schülerinnen als wäre es das Selbstverständlichste<br />

auf der Welt – Moment, das ist es ja<br />

auch. Denn die Wahrheit ist, die nächste Generation<br />

ist Gleichberechtigung gegenüber vollkommen offen,<br />

sie braucht nur Vorgänger*innen, die ihnen den Weg<br />

ebnen, sie gelegentlich an der Hand nehmen und<br />

empowern. Ob das nun eine „Mädchen-Zeit“ oder eine<br />

Unterrichtstunde darüber ist, was Klassensprecherinnen<br />

und Feminismus miteinander zu tun haben. Ein<br />

paar Wochen später habe ich übrigens erfahren, dass<br />

eines der Mädchen, das sich nicht als Klassensprecherin<br />

aufgestellt hat, zur Schulsprecherin gewählt wurde<br />

– dann kann es ja auch nicht mehr lange dauern, bis<br />

Österreich seine erste Kanzlerin bekommt. <br />

Marko Mestrović<br />

1,2 MILLIONEN MAL SCHAUEN UNS DIE<br />

WIENERINNEN UND WIENER SCHON MONATLICH.<br />

DAS KANN SICH SEHEN LASSEN.<br />

Impressum<br />

Medieninhaber:<br />

biber Verlagsgesellschaft m.b.H.<br />

Herausgeber und Chefredakteur:<br />

Simon Kravagna<br />

Redaktionelle Leitung:<br />

Amar Rajković, Aleksandra Tulej<br />

Kolumnistin:<br />

Ivana Cucujkić<br />

Gastautorinnen:<br />

Solmaz Khorsand (republik.ch)<br />

Fränzi Kühne<br />

AD & Grafik:<br />

Dieter Auracher<br />

Fotoredaktion:<br />

Marko Mestrović<br />

Projektkoordination:<br />

Katja Trost & Aida Durić<br />

Lektorat:<br />

Birgit Hohlbrugger<br />

Druck:<br />

Druckerei Berger Horn<br />

Auflage:<br />

45.000<br />

Kontakt:<br />

biber Verlagsgesellschaft m.b.H.<br />

Museumsplatz 1, E-1.4, 1070 Wien<br />

redaktion@dasbiber.at<br />

+43 1 95 77 528<br />

© <strong>2018</strong> biber<br />

UID ATU 6369 3346 - FN 297923y<br />

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UPC, A1 TV, Kabelplus, SimpliTV, R9-Satellit<br />

und in unserer Online-Mediathek auf W24.at<br />

TÄGLICH<br />

0-24 UHR<br />

30 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

31<br />

auf


almanah<br />

almanah<br />

„Öfter das Thema<br />

Gehalt ansprechen“<br />

Wirtschaftsministerin<br />

Margarete Schramböck<br />

(ÖVP) will keine Frauenquote<br />

in Vorstandsetagen.<br />

Firmen sollten aber endlich<br />

den „gender pay gap“<br />

schließen.<br />

INTERVIEW:<br />

Simon Kravagna<br />

F O T O :<br />

Soza Almohammad<br />

ALMANAH: Kann man als Teilzeitkraft eine<br />

Führungskraft sein?<br />

MARGARETE SCHRAMBÖCK: Ich habe oft<br />

erlebt, dass dies gut funktioniert – etwa<br />

wenn sich zwei Frauen eine Führungsfunktion<br />

teilen. Wir sollten uns an neue Formen<br />

der Arbeit gewöhnen. Bevor ich hier im<br />

Ministerium angefangen habe, war Telearbeit<br />

für Führungskräfte verboten. Das habe<br />

ich ermöglicht.<br />

Warum?<br />

Manchmal ist es effizienter von zu Hause<br />

zu arbeiten. Ich habe gute Erfahrung damit<br />

gemacht. Man muss nicht immer physisch<br />

anwesend sein. Ich habe Aufsichtsratssitzungen<br />

geleitet, da waren wir nur per<br />

Video-Konferenz miteinander verbunden.<br />

Die Technik ermöglicht uns neue Formen<br />

des Arbeitens.<br />

Apropos Aufsichtsrat: Es gibt mehr Frauen<br />

in Aufsichtsräten von großen Unternehmen<br />

seit dort eine Frauenquote eingeführt wurde.<br />

Warum keine Quote für die Vorstände?<br />

Da bin ich dagegen. Es wäre ein zu großer<br />

Eingriff in die Autonomie von Unternehmen.<br />

Aber warum? Man sieht bei den Aufsichtsräten,<br />

dass es gut funktioniert?<br />

Es engt Unternehmen zu sehr ein. Als<br />

nächstes kommen dann weitere Forderungen,<br />

die der Vorstand erfüllen muss: Etwa,<br />

dass dort jüngere Leute sitzen müssen oder<br />

einen bestimmten ethnischen Background<br />

aufweisen sollten. Da bin ich dagegen. Klar<br />

ist, und Studien bestätigen das: Firmen mit<br />

einem diversen Aufsichtsrat sind in der<br />

Regel erfolgreicher.<br />

Was tun Sie selbst im Bereich Frauenförderung?<br />

Wir erhöhen den Anteil von Frauen in<br />

Management- und Aufsichtsratspositionen<br />

durch unsere Initiative „Zukunft.Frauen“.<br />

Durch dieses Programm gehen hunderte<br />

Frauen, um dann die nächsten Karriereschritte<br />

gehen zu können.<br />

Warum verdienen Frauen nach wie vor weniger<br />

als Männer?<br />

Weil Firmen hier viel zu wenig tun. Es braucht<br />

mehr Sensibilität und konkrete Maßnahmen,<br />

um den „gender pay gap“ zu schließen.<br />

Frauen kann ich zudem nur empfehlen,<br />

öfters das Thema Gehalt anzusprechen. Aus<br />

eigener Erfahrung weiß ich, dass Männer<br />

dies gerne tun - während Frauen warten,<br />

dass ihre Leistungen gesehen werden.<br />

Gibt es eigentlich so etwas wie weibliche Führung?<br />

Nein, glaube ich nicht. Ich erlebe, dass sich<br />

der Führungsstil generell ändert. Es wird<br />

teamorientierter als früher geführt, weniger<br />

autoritär und hierarchisch. Aber das ist eine<br />

Frage der Generation, nicht des Geschlechts.<br />

Viele Firmen klagen über die überzogenen<br />

Erwartungen heutiger Jobeinsteiger. Die sogenannten<br />

„Millennials“ wollen oft mehr als nur<br />

einen Job. Ihre Erfahrung?<br />

Es ist eine absolute Führungsaufgabe, die besten Talente zu gewinnen.<br />

Wer auf diese neue Generation nicht eingeht,<br />

der bekommt auch nicht die besten Talente.<br />

Neben der Aufgabe, zu erklären, warum es<br />

eine Firma oder Institution überhaupt gibt,<br />

sehe ich es als eine absolute Führungsaufgabe,<br />

die besten Talente zu gewinnen.<br />

Junge Leute wollen heute halt eine coole und<br />

sinnstiftende Aufgabe und nicht nur einen<br />

Nine-to-five-Job. Wer ihnen das nicht gibt,<br />

der bekommt sie nicht.<br />

Margarete Schramböck ist Bundesministerin<br />

für Wirtschaftsstandort<br />

und Digitalisierung. Zuvor war die gebürtige<br />

Tirolerin Chief Executive Officer<br />

der A1 Telekom Austria. Schramböck<br />

promovierte an der WU Wien und erwarb<br />

einen MBA an der Universität Lyon. Sie ist<br />

Mitglied des Landesparteivorstands der<br />

Tiroler Volkspartei und des Wirtschaftsbundes.<br />

32 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

33


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Seifen mit<br />

Sozialeffekt<br />

Mit ihrem Sozialunternehmen Uganics stellt Joan (Mitte) Seifen her, die die Übertragung von Malaria verhindern.<br />

Die Sozialunternehmerin Joan aus Uganda kämpft mit<br />

Seifen gegen Malaria. Auch die Ärmsten sollen davon<br />

profitieren. Mit ihrem Engagement ist Joan nicht<br />

allein. In Uganda setzen sich immer mehr Start-ups<br />

für gesellschaftlichen Wandel ein.<br />

„AM WICHTIGSTEN IST es, die Menschen einzubinden.<br />

Erst wenn man mit den Leuten redet, versteht<br />

man ihre Situation wirklich“, erklärt Joan. Die junge<br />

Frau ist im ländlichen Uganda aufgewachsen und will<br />

die Malaria bekämpfen.<br />

KINDER BESONDERS BETROFFEN<br />

Die Tropenkrankheit trifft Kinder unter fünf Jahren<br />

besonders häufig. Denn die Mütter wissen oft nicht, wie<br />

sie die Übertragung verhindern können. Für die teuren<br />

Insektensprays fehlt ihnen das Geld. Die Regierung verteilt<br />

zwar Moskitonetze, diese halten die Parasiten aber<br />

nicht gänzlich ab.<br />

„Ich wollte etwas finden, das sich die Mütter leisten<br />

können. Etwas, das natürlich hergestellt wird. Gleichzeitig<br />

wusste ich, dass ich einen Weg finden musste, wie<br />

die Menschen an die nötigen Informationen kommen“,<br />

erzählt Joan.<br />

EINE GUTE IDEE …<br />

So entstand Uganics. Das Sozialunternehmen stellt Seifen<br />

her. Die darin enthaltenen ätherischen Öle schützen<br />

nachweislich gegen Gelsen und verhindern so Malaria.<br />

Uganics verkauft auch an Hotels sowie an Touristinnen<br />

ADA<br />

und Touristen. Diese Querfinanzierung bewirkt, dass<br />

das Produkt für Einheimische günstiger wird. Selbst die<br />

armen Bevölkerungsschichten können es sich leisten.<br />

Joan möchte ihre Verkaufszahlen verdoppeln. Das rentiert<br />

sich nicht nur für ihre Kundinnen und Kunden, auch<br />

neue Arbeitsplätze entstehen.<br />

… MIT SOZIALER WIRKUNG<br />

Die Jungunternehmerin ist eine von immer mehr jungen<br />

Menschen in Uganda, die Sozialunternehmen gründen.<br />

Mit innovativen, sozialen Geschäftsmodellen gehen sie<br />

nachhaltig gegen gesellschaftliche Missstände vor.<br />

Unterstützung bekommen sie von der Social Innovation<br />

Academy. „Das Tolle an der Akademie ist, dass wir neue<br />

Ideen und Ansätze kennenlernen“, erzählt Joseph. Er<br />

geht mit seinem Team an Schulen. Das Ziel: die Selbstmordrate<br />

unter ugandischen Jugendlichen senken. Konkret<br />

bietet er Bewusstseinsbildungsmaßnahmen und<br />

Trainings an.<br />

Auch Christine ist überzeugt, dass man aus den eigenen<br />

Ideen etwas machen kann. Sie arbeitet mithilfe<br />

der Social Innovation Academy gerade daran, dass die<br />

Menschen in Uganda online wählen können. So können<br />

sie sich die oft weiten Wege zum Wahllokal sparen.<br />

„Man darf sich nicht von Leuten einschüchtern lassen,<br />

die sagen, dass man nichts kann. Je mehr man scheitert,<br />

desto mehr lernt man“, ist Christine überzeugt.<br />

„Uganda ist seit 1992 ein Schwerpunktland der Österreichischen<br />

Entwicklungszusammenarbeit. Das Land<br />

im Herzen Afrikas hat in den letzten Jahren viel erreicht.<br />

Doch noch immer bleibt einiges zu tun, um die<br />

Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern. Junges<br />

Sozial-Unternehmertum leistet hier einen wichtigen<br />

Beitrag,“ so Martin Ledolter, Geschäftsführer der Austrian<br />

Development Agency (ADA).<br />

GEMEINSCHAFTLICHE IDEENSCHMIEDE<br />

Die Social Innovation Academy (SINA) liegt knapp 30 km außerhalb der ugandischen<br />

Hauptstadt Kampala. In einer selbstorganisierten Umgebung entwickeln<br />

benachteiligte Jugendliche und junge Erwachsene gemeinsam mit<br />

Mentorinnen und Mentoren neue Perspektiven. Sie tauschen sich mit Sozialunternehmerinnen<br />

und -unternehmern aus und bekommen Hilfe, damit sie ihr<br />

eigenes Start-up aufbauen können.<br />

Die Austrian Development Agency (ADA) unterstützt SINA über eine Wirtschaftspartnerschaft<br />

mit dem österreichischen Projektpartner Karmalaya<br />

Heart Work & Soul Travel. Karmalaya vermittelt Führungskräfte aus Österreich,<br />

Deutschland und der Schweiz als virtuelle Mentorinnen und Mentoren. Treffen<br />

in Uganda verstärken die Lernpartnerschaft.<br />

Mithilfe der Social Innovation Academy verfolgt Joseph (re.) sein Ziel die Selbstmordrate<br />

unter ugandischen Jugendlichen zu senken. Durch Bewusstseinsbildungsmaßnamen<br />

verhilft er ihnen zu mehr Selbstwertgefühl.<br />

Christine (Mitte) engagiert sich dafür, dass die Menschen in Uganda online wählen<br />

können.<br />

34 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

35


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WAS DIE ADA MACHT:<br />

Die Austrian Development Agency, die<br />

Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit,<br />

unterstützt Länder<br />

in Afrika, Asien, Südost- und Osteuropa bei<br />

ihrer nachhaltigen Entwicklung. Gemeinsam<br />

mit öffentlichen Einrichtungen, Nichtregierungsorganisationen<br />

und Unternehmen setzt<br />

die ADA derzeit Projekte und Programme<br />

mit einem Gesamtvolumen von 500 Millionen<br />

Euro um.<br />

Näher Infos unter:<br />

www.entwicklung.at<br />

austriandevelopmentagency<br />

@austriandev<br />

Ivana Stjepanovic produziert hochwertige Heil- und Gewürzkräuter für ganz Europa.<br />

Kräuter gegen<br />

ehemalige Ackerflächen liegen daher seit<br />

dem Krieg brach.<br />

Gemeinde Derventa im Norden Bosnien und<br />

Herzegowinas. „Menschen, die vorher Krieg<br />

gegeneinander geführt haben, kommen durch<br />

BESTER BIO-BODEN<br />

das Projekt wieder zusammen. Während sie<br />

Kriegswunden<br />

Das möchte Ivana Stjepanovic mit Bosnia<br />

grows Organic ändern. Das junge Unternehmen<br />

setzt brachliegendes und verwucher-<br />

gemeinsam arbeiten, singen und lachen sie.<br />

Das heilt auch die seelischen Kriegswunden<br />

ein wenig,“ erzählt Ivana Stjepanovic.<br />

tes Ackerland wieder instand und produziert<br />

qualitativ hochwertige, bio-zertifizierte<br />

STARKE FRAU IN MÄNNERWELT<br />

Martin Ledolter, ADA-Geschäftsführer<br />

Auch mehr als 20 Jahre<br />

nach dem Krieg erholt sich<br />

Bosnien und Herzegowina<br />

nur langsam. Seit Kurzem<br />

gibt dort das junge<br />

Start-up Bosnia grows<br />

Organic den Menschen eine<br />

Zukunftsperspektive.<br />

„DA GEHT ES zu wie auf dem Balkan!“<br />

Diese Aussage kennt Ivana Stjepanovic aus<br />

ihrer Kindheit in Wien. Dorthin war sie mit<br />

ihrer Familie vor dem Krieg aus Bosnien und<br />

Herzegowina geflüchtet. Heute verbindet sie<br />

den Satz mit ihrem eigenen Start-up, das sie<br />

in ihrem Geburtsland aufgebaut hat.<br />

„Bei uns geht es tatsächlich zu wie auf<br />

dem Balkan. Das Spektrum unserer Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter ist groß und bunt.<br />

Wie die Natur in Bosnien und Herzegowina“,<br />

erzählt sie stolz. Die Vielfalt der Natur nutzt<br />

Norden des Landes sieht man immer noch<br />

zerschossene Häuser, unbewohnt und ohne<br />

Dächer. Im Volksmund auch „Cabrios“ genannt.<br />

Schwer vorstellbar an einem Ort, der<br />

nur sechs Autostunden von der österreichischen<br />

Hauptstadt Wien entfernt ist.<br />

Auch die Infrastruktur ist großteils zerstört.<br />

Ganze Ortschaften sind nach wie vor<br />

ohne Strom und fließendes Wasser. Zentralheizungen<br />

gibt es nicht, die Menschen heizen<br />

mit Holz. Das ist reichlich vorhanden, denn<br />

die, denen die vielen privaten Wälder einst<br />

Heil- und Gewürzkräuter für ganz Europa.<br />

Auch die Trocknung der Kräuter und die Aufbereitung<br />

für den Weiterverkauf erfolgt vor<br />

Ort. Finanzielle Unterstützung kommt aus<br />

Österreich, über eine Wirtschaftspartnerschaft<br />

mit der Austrian Development Agency<br />

(ADA), der Agentur der Österreichischen<br />

Entwicklungszusammenarbeit. „Das Projekt<br />

unterstützt auch die Wiederansiedlung von<br />

Flüchtlingsfamilien und sichert Arbeitsplätze<br />

vor Ort. In Summe werden mehr als 1.000<br />

Personen einen Nutzen aus dem Projekt ha-<br />

Leicht hat sie es nicht immer. Das Umfeld ist<br />

von Männern dominiert und von ethnischen<br />

Spannungen gezeichnet. „Ich kämpfe täglich<br />

gegen Diskriminierung, Ungerechtigkeit<br />

und Korruption, aber auch dafür, dass meine<br />

Bio-Heilpflanzen gedeihen und überleben.“<br />

Damit die natürliche und menschliche Vielfalt<br />

Bosnien und Herzegowinas langfristig erhalten<br />

bleibt.<br />

www.bosniagrowsorganic.com<br />

sie, damit die lokale Bevölkerung zu Hause<br />

gehörten, sind längst weg. Geflüchtet ins<br />

ben,“ ist ADA-Geschäftsführer Martin Ledolter<br />

eine Zukunft hat.<br />

Ausland.<br />

überzeugt.<br />

Auf die unberührte Natur und die sauberen<br />

GESCHUNDENES LAND<br />

Böden und Gewässer könnten die Bos-<br />

NEUE LEBENSGRUNDLAGEN<br />

Perspektiven sind bitter nötig, denn der<br />

nierinnen und Bosnier stolz sein. Doch sie<br />

Das Projekt schafft neue Lebensgrundlagen<br />

Krieg hat Wunden hinterlassen. Vor allem im<br />

kämpfen mit existenziellen Problemen. Viele<br />

ADA<br />

und bringt Hoffnung für die Menschen der<br />

36 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

37


almanah<br />

INKLUSION<br />

Ein Schwimmer mit nur einem Arm gewinnt Medaillen, die Erste Group<br />

gründet ein LGBTIQ-Netzwerk und Wiener „Brennpunktschulen“ erweisen<br />

sich als Orte der Herzlichkeit statt Hetze.<br />

S. 40-41<br />

HELD MIT HANDICAP<br />

Andreas Onea verliert bei einem Autounfall als Kind seine<br />

linke Hand. Danach beginnt er mit dem Schwimmen als<br />

Therapiesport. Heute gewinnt der österreichische Schwimmer<br />

Medaillen in der Sportspitze.<br />

S. 42-45<br />

DIE DIVERSITÄTS-LOBBYISTIN<br />

LGBTIQ-Netzwerke im Unternehmen? Wer braucht das?<br />

Was genau bedeutet das? Diese Fragen beantwortet Julia<br />

Valsky, die Sprecherin von ErsteColours. Sie blickt auf zwei<br />

Jahre Diversitätsarbeit in der Erste Group zurück.<br />

Thailändisch für Inklusion<br />

Soza Almohammad, Marko Mestrović<br />

S. 48-49<br />

ÜBER SOZIAL STARKE KINDER<br />

Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“ gehe es<br />

zu wie in der Bronx. Die Wahrheit ist aber: Nirgends sonst<br />

findet man so viel Herzlichkeit, Zusammenhalt und Vertrauen<br />

wie bei SchülerInnen mancher Wiener NMS.<br />

38<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

almanah<br />

Held mit<br />

Handicap<br />

Als Sechsjähriger<br />

verliert er bei einem<br />

Autounfall seinen linken<br />

Arm. Heute gewinnt<br />

der österreichische<br />

Schwimmer Andreas Onea<br />

eine Medaille nach der<br />

anderen.<br />

TEXT:<br />

Nada El-Azar<br />

3. Mai 1998. Der Tag, den Andreas Onea<br />

niemals vergessen wird. Der Tag, der<br />

das Leben des 26-Jährigen Schwimmers<br />

für immer verändert hat. Der Tag, den<br />

er auch als Startschuss in sein „neues Leben“<br />

bezeichnet. Das ist der folgenschwere Tag,<br />

an dem er als knapp sechsjähriger Bub bei<br />

einem Autounfall seinen linken Arm verlor.<br />

„Wenn ich träume, sehe ich mich mit<br />

einem Arm“<br />

Andreas‘ Vater verlor die Kontrolle über den<br />

Wagen, der von der Fahrbahn schlitterte<br />

und sich mehrfach überschlug. Die Mutter<br />

erlitt einen Unterschenkelbruch, der Vater<br />

war mit schweren Verletzungen in der Fahrerseite<br />

eingeklemmt und musste später<br />

von den Rettungskräften aus der Karosserie<br />

herausgeschnitten werden. Andreas’ beide<br />

Brüder blieben unverletzt. Der Großvater<br />

erlag drei Wochen später den Folgen des<br />

Unfalls. Andreas selbst landete einige Meter<br />

vom Wagen entfernt in einer Schlammlacke<br />

– ohne seinen linken Arm. „Ich hätte eigentlich<br />

am Blutverlust sterben müssen, aber<br />

der Schlamm verschloss die Wunde“, so der<br />

Spitzensportler. Wenn der heute 26-Jährige<br />

noch so detailliert über die Geschehnisse<br />

vom 3. Mai 1998 erzählt, scheint er kaum<br />

einen Anflug von Trauer zu zeigen. Vielmehr<br />

strotzt Andreas vor Dankbarkeit dafür,<br />

heute vielen Menschen von diesem Erlebnis<br />

überhaupt erzählen zu können und ihnen<br />

Mut zu machen. „Dass ich überlebt habe, ist<br />

ein großes Wunder“, glaubt der gebürtige<br />

Zwettler fest.<br />

Aus seinem früheren, zweiarmigen Leben<br />

habe er nur einige vage Erinnerungen. „Wenn<br />

ich von mir träume, sehe ich mich immer<br />

mit nur einem Arm“, so Andreas. Einen Arm<br />

zu haben ist seine Realität und ganz normal<br />

für ihn – genau wie für sein Umfeld. „Meine<br />

Eltern haben mich niemals anders behandelt<br />

als meine Brüder, das war für mich sehr<br />

wichtig“, sagt er. Andreas wuchs nicht mit<br />

dem Gedanken auf, dass er plötzlich etwas<br />

nicht mehr machen kann oder darf. Stattdessen<br />

lernte er, dass er gewisse Dinge einfach<br />

anders machen müsse, um zu seinem Ziel<br />

zu kommen. Mit dem Schwimmen begann<br />

Andreas als Therapie. Vor dem Unfall war er<br />

übrigens Nichtschwimmer.<br />

„Ich habe nicht mehr in den Tag hineingedacht,<br />

sondern an große Ziele“<br />

Mit zwölf Jahren wurde er Staatsmeister<br />

über 100 Meter Brustschwimmen. Für<br />

Andreas war dieser Sieg ein großer Ansporn,<br />

sich komplett dem Schwimmsport zu<br />

widmen. Nach seinem Wechsel in den Leistungssport<br />

begann er mehrmals die Woche<br />

mit Nicht-Behinderten in einem regulären<br />

Schwimmverein zu trainieren. „Plötzlich<br />

hatte ich eine Passion. Ich habe nicht mehr<br />

in den Tag hineingedacht, sondern an große<br />

Ziele.“ Diszipliniertes Training, die richtige<br />

Ernährung und die Angst vor Verletzungen<br />

wurden Bestandteil seines Lebens. Mit 16<br />

Jahren qualifizierte er sich für die Paralympics<br />

in Peking – landete allerdings auf Platz<br />

6. „Ich hatte damals den Traum, irgendwann<br />

eine paralympische Medaille zu gewinnen<br />

und auf dem Podest zu stehen“, so Andreas.<br />

2008 hielt Onea den Weltrekord über 50<br />

Meter Brust.<br />

„Behinderte müssen den Zugang zum<br />

Arbeitsmarkt finden“<br />

In seiner Schwimmkarriere erlebte Onea<br />

viele Rückschläge, die ihn mit dem Gedanken<br />

spielen ließen, dem Schwimmsport den<br />

Rücken zu kehren. Bei den Paralympischen<br />

Spielen 2012 in London verpasste er um 0,26<br />

Sekunden die Bronzemedaille. „Ich war am<br />

Boden zerstört. Aber dann fiel mir wieder<br />

ein, wie viel mir das bedeutet und ich trainiere<br />

härter weiter.“ Fünf Bronze- und zwei<br />

Silbermedaillen hat er sich bereits bei Weltund<br />

Europameisterschaften erschwommen.<br />

Freizeit hat Andreas aufgrund seines<br />

intensiven Trainings nicht viel. Gerade zieht<br />

er zweimal täglich à zwei Stunden seine<br />

Bahnen, um sich auf die Weltmeisterschaften<br />

im Para-Schwimmen vorzubereiten, die<br />

im Juli <strong>2019</strong> in Malaysia stattfinden werden.<br />

„Ich möchte niemals etwas nicht geschafft<br />

haben, ohne es probiert zu haben“, so der<br />

Spitzensportler. Zum Thema Behindertenrechte<br />

positioniert er sich klar: „Behinderte<br />

müssen in unserer Gesellschaft sichtbarer<br />

werden und vor allem Zugang auf den<br />

Arbeitsmarkt finden.“ Seine persönliche<br />

Geschichte wird er wieder und wieder erzählen,<br />

um zu zeigen, dass man Dinge schaffen<br />

kann, wenn man sie sich fest vornimmt. <br />

F O T O :<br />

Soza Almohammad<br />

40 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

41


almanah<br />

almanah<br />

Die<br />

Diversitäts-<br />

Lobbyistin<br />

LGBTIQ-Netzwerke<br />

im Unternehmen? Wer<br />

braucht das? Was genau<br />

bedeutet das? Diese<br />

Fragen beantwortet Julia<br />

Valsky, die Sprecherin<br />

von ErsteColours. Sie<br />

blickt auf zwei Jahre<br />

Diversitätsarbeit in der<br />

Erste Group zurück.<br />

TEXT:<br />

Emir Dizdarević<br />

Bei der Förderung von LGBTIQ taucht häufiger<br />

der Vorwurf der "Homolobby" auf.<br />

Mussten Sie sich das anhören? Oder wäre<br />

das sogar ein Kompliment?<br />

Nein, also der Vorwurf ist noch nie gefallen.<br />

Der Terminus Lobbying ist ja generell etwas<br />

negativ besetzt, wäre das aber der Vorwurf:<br />

Ich mache Lobbying für Diversität. Damit<br />

habe ich kein Problem, weil ich wirklich<br />

davon überzeugt bin, dass es das Unternehmen<br />

als Ganzes weiterbringt.<br />

Welchen konkreten Nutzen haben die Mitarbeiter<br />

von „ErsteColours?“<br />

Aktuelles Beispiel: Ich habe einen neuen<br />

Kollegen, der davor bei der Royal Bank of<br />

Scotland gearbeitet hat. Der ist zum ersten<br />

Mal in seinem Leben in Wien, er kennt keine<br />

Möglichkeiten, wo man weggeht und weiß<br />

noch nicht, wie man ein gleichgesinntes<br />

Netzwerk hier findet. Er hat dann gesehen,<br />

dass es „ErsteColours“ gibt, uns geschrieben<br />

und wir haben uns dann getroffen. Für<br />

ihn waren wir die erste Anlaufstelle.<br />

Und was haben die Kunden von dem<br />

Engagement dieses Netzwerks?<br />

Wir haben uns anlässlich der Pride angeschaut,<br />

wie viele Personen sich als LGBTIQ<br />

identifizieren. Konservativen Schätzungen<br />

nach sind das sechs Prozent der Bevölkerung,<br />

rechnet man Familie und Freunde<br />

dazu, ist das Thema in etwa für 15 Prozent<br />

relevant, die dem offen gegenüberstehen.<br />

Dazu zählen eben auch unsere Kunden. Wir<br />

haben das aber nicht als Verkaufsstrategie<br />

oder Ähnliches genutzt, wir legen den Fokus<br />

klar auf Sensibilisierung.<br />

Geht es aber um Arbeitsrecht, braucht es<br />

diese Netzwerke nicht wirklich. Im Gegensatz<br />

zum Privatrecht können Menschen im<br />

Arbeitsrecht sich relativ gut gegen Diskriminierung<br />

wehren.<br />

Das Arbeitsrecht entscheidet nicht darüber,<br />

ob ich mich in einem Unternehmen outen<br />

kann. Das ist völlig irrelevant. Hier ist die<br />

Unternehmenskultur entscheidend, also<br />

ob sich jemand unterstützt, gleichgestellt<br />

und willkommen fühlt. Das kann man nicht<br />

rechtlich angehen, sondern braucht andere<br />

Methoden.<br />

Die ErsteColours ist eine "Business Ressource<br />

Group" im Unternehmen. Was ist<br />

das?<br />

Das ist eine Gruppe, die von Mitarbeitern<br />

freiwillig geleitet und geführt wird. Sie soll<br />

eine Anlaufstelle, ein Service für Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter sein und einen<br />

Mehrwert fürs Unternehmen schaffen. Da<br />

ist in den letzten zwei Jahren wirklich viel<br />

passiert zum Thema Diversity-Management.<br />

Neben ErsteColours gibt es in unserem<br />

Unternehmen noch die Erste Women's Hub,<br />

ein erfolgreiches Frauennetzwerk.<br />

Wann ist Diversity-Management in einem<br />

Unternehmen erfolgreich?<br />

Ein wichtiger Erfolgsfaktor ist, dass Diversity-Management<br />

auch die Unterstützung von<br />

oben hat. Das sagt die Literatur dazu, und<br />

das ist auch bei uns der Fall. Unser Sponsor<br />

ist unser Chief Financial Officer, Gernot Mittendorfer.<br />

Nächste Woche zum Beispiel gibt<br />

es auf unserem Areal einen Charity-Punschstand<br />

von ErsteColours, bei dem er ausschenkt.<br />

Jetzt kann man natürlich sagen,<br />

dass sowas nicht die Welt bewegt, aber es<br />

hat eine große Wirkung auf das Unternehmen<br />

und zeigt, dass Diversität hier mehr als<br />

nur ein Lippenbekenntnis ist.<br />

Wo merken Sie noch, dass es hier um mehr<br />

geht als um ein bloßes Lippenbekenntnis?<br />

Wie Sie wissen, gab es im Sommer das Urteil<br />

des Verfassungsgerichtshofes zum dritten<br />

Geschlecht. Mein Kollege hat nach dem<br />

Urteil sofort unternehmensintern Gespräche<br />

aufgenommen, weil es eben auch bedeutet,<br />

dass man Formulare ändert. Es war sofort<br />

möglich, das Gespräch mit unserer Personalabteilung<br />

zu führen, weil wir viele Formulare<br />

haben, wo nach dem Geschlecht<br />

gefragt wird. Die Kollegen waren demgegenüber<br />

sofort offen und momentan warten wir<br />

nur noch auf eine gute technische Lösung.<br />

Aber der Prozess ist voll im Gange.<br />

Das Hauptinteresse eines Unternehmens<br />

ist der Profit, Diversität hingegen ist<br />

ein gesellschaftspolitisches Phänomen.<br />

Betreibt ein Unternehmen mit Diversity-Management<br />

nicht irgendwie Politik?<br />

Natürlich sind wir ein Unternehmen, das<br />

Gewinn machen will und das auch sehr<br />

erfolgreich tut. Aber wir sehen unseren<br />

Zweck darin, Prosperität zu schaffen, Wohlstand<br />

und Wachstum. Und das auch persönlich.<br />

Daher ist unser Anspruch auch,<br />

Menschen dabei zu unterstützen, an sich<br />

selbst zu glauben. Ich denke schon, dass man<br />

da im Unternehmen selbst damit anfangen<br />

muss, um glaubwürdig zu sein.<br />

Laut der aktuellen Studie der Arbeiterkammer<br />

zu dem Thema Unternehmen und<br />

LGBTIQ haben Trans-Personen die meisten<br />

Probleme am Arbeitsmarkt. Gab es hier<br />

von ErsteColours Überlegungen, wie man<br />

solche Personen unterstützen kann?<br />

Bei uns gab es bisher einen Fall, der ein gutes<br />

Beispiel dafür ist, wie wichtig Sichtbarkeit<br />

ist und wie wichtig es ist, Anlaufstelle zu<br />

sein. Die Person ist zu uns gekommen und<br />

hat uns erklärt, dass sie sich im Prozess der<br />

Transition befindet und gefragt, wie wir sie<br />

dabei unterstützen können. In erster Linie<br />

ging es für sie einfach darum zu wissen, dass<br />

da jemand ist, der sie unterstützt und vermittelt.<br />

Diese Person hat jetzt kein konkretes<br />

Problem, aber sie wollte wissen, wie und<br />

mit wem man sich austauschen kann.<br />

In der Zielsetzung von ErsteColours steht<br />

unter anderem, dass man mit dieser<br />

Gruppe auch neue Geschäftsmöglichkeiten<br />

schaffen möchte. Was wären solche?<br />

Ehrlicherweise haben wir uns in den ersten<br />

beiden Jahren darauf konzentriert, uns zu<br />

positionieren. Innerhalb des Unternehmens<br />

als Anlaufstelle und auch innerhalb<br />

der Zivilgesellschaft. Konkrete Geschäftsmöglichkeiten<br />

oder gar Produkte werden für<br />

diese Zielgruppe nicht geschaffen. Es steht,<br />

wie schon gesagt, die Sensibilisierung im<br />

Vordergrund.<br />

Neben Österreich hat die Erste Bank noch<br />

sechs weitere Töchterfirmen in Osteuropa.<br />

Wie sind da die Erfahrungen?<br />

In der Slowakei überlegt man gerade, nach<br />

dem Vorbild von ErsteColours ein ähnliches<br />

Netzwerk zu gründen. Pro Land gibt es auch<br />

einen Diversity-Manager oder eine Diversity-Managerin.<br />

In Kroatien gab es einen Spot<br />

von uns unter dem Slogan #glaubandich, wo<br />

wir eine Zehntelsekunde zwei Männer im<br />

Bild hatten, deren Hände sich berühren. Das<br />

war ein riesiges Thema. Es war dann so, dass<br />

unser CEO einen offenen Brief geschrieben<br />

hat, warum es aus seiner Sicht wichtig<br />

ist, solche Themen zu kommunizieren und<br />

warum das Sinn macht. Da haben wir Haltung<br />

gezeigt. Das meine ich mit Glaubwürdigkeit.<br />

<br />

F O T O :<br />

Soza Almohammed<br />

42 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

43


almanah<br />

almanah<br />

GASTKOMMENTAR<br />

Renate Anderl<br />

Arbeiterkammerpräsidentin<br />

#LOYAL<br />

Was ist schon<br />

„normal“?<br />

Zurück haltung. Sechs von zehn Befragen<br />

geben ihre sexuelle Orientierung bzw.<br />

Identität am Arbeitsplatz zwar nicht von<br />

sich aus an, reden aber auf Nachfrage offen<br />

darüber. Zwei von zehn sind offensiver und<br />

sprechen in der Arbeit bewusst darüber.<br />

Die anderen lassen ihre KollegInnen<br />

#PERSÖNLICH<br />

entweder im falschen Glauben oder halten<br />

ihre sexuelle Orientierung bzw. Identität<br />

komplett geheim.<br />

Das ist nicht unbegründet. Unsere Studie<br />

#KREATIV<br />

hat gezeigt, dass es doch ein beträchtliches<br />

Ausmaß an negativen Erfahrungen gibt.<br />

Rund 40 Prozent haben schon Tuscheln<br />

bzw. böse Gerüchte in ihrem derzeitigen<br />

Betrieb erlebt, genauso wie dumme Witze.<br />

Jede/r Dritte ist schon einmal gegen seinen<br />

Willen geoutet worden. Ebenfalls fast ein<br />

#DIVERSITÄT<br />

Drittel hat schon einmal berufliche Benachteiligungen<br />

erfahren.<br />

Als Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer<br />

verbringt man viel Zeit am Arbeitsplatz<br />

und ist nie nur Arbeitskraft, sondern immer<br />

auch Mensch. Mir ist es daher wirklich ein<br />

#WIRSINDANDERS<br />

AK-Chefin Renate Ander<br />

großes Anliegen, dass sich niemand dafür<br />

verstecken muss, wer er oder sie ist oder<br />

Schwul oder lesbisch am<br />

Arbeitsplatz: AK-Präsidentin<br />

Renate Anderl ist<br />

für eine faire Arbeitswelt,<br />

in der Diskriminierungen<br />

keinen Platz haben.<br />

Hört man die Worte schwul oder lesbisch<br />

denkt man schnell an „Minderheit“.<br />

Tatsächlich gibt es in<br />

Österreich aber bis zu 300.000 Beschäftigte,<br />

die in ihrer sexuellen Orientierung oder<br />

Identität von der „Norm“ abweichen. Wie es<br />

ihnen am Arbeitsplatz geht, hat die Arbeiterkammer<br />

erstmals in einer Studie erhoben.<br />

„Privates hat am Arbeitsplatz nichts<br />

verloren“. Diese Meinung wird immer dann<br />

wen man liebt.<br />

Wer erzählt nicht manchmal vom<br />

Wochenende mit der Familie, wer hat nicht<br />

gerne Fotos auf dem Schreibtisch oder redet<br />

über Erlebnisse im Urlaub? Das macht uns<br />

nicht nur als Menschen aus, das ist es auch,<br />

was unsere Beziehung zu den Kolleginnen<br />

und Kollegen bereichert und für ein gutes<br />

Arbeitsklima sorgt. Nur so können sich<br />

Menschen mit Freude und Engagement<br />

Wir könnten Euch jetzt erzählen, was für eine große, tolle Anwaltskanzlei<br />

wir sind und wie oft wir bereits ausgezeichnet wurden – doch damit<br />

wollen wir Euch nicht langweilen.<br />

Wir sind anders. Wir leben Diversität nach innen und nach außen.<br />

Und bei uns haben nicht nur Männer die Hosen an.<br />

besonders lautstark vertreten, wenn es um<br />

ihrer Aufgabe widmen und müssen ihre<br />

die sexuelle Orientierung von Beschäftigten<br />

geht. In vielen Betrieben wird noch immer<br />

ganz selbstverständlich davon ausgegangen,<br />

dass Frauen sich nur für Männer und<br />

Männer sich ausschließlich für Frauen<br />

Energie nicht für Verstecken oder Abwehrkämpfe<br />

vergeuden.<br />

Für Unternehmen ist es deswegen<br />

wichtig, darauf zu schauen, dass im Betrieb<br />

Offenheit und Respekt herrschen. Für eine<br />

Hanita Veljan<br />

Rechtsanwältin und<br />

gebürtige Bosnierin<br />

interessieren. Für LSBTI-Personen stellt<br />

sich daher stets die Frage, ob sie mit ihrer<br />

„anderen“ Orientierung offen umgehen<br />

oder sie doch lieber verheimlichen sollten.<br />

Viele lösen das Problem mit<br />

faire Arbeitswelt, in der Diskriminierungen<br />

keinen Platz haben, hat die Arbeiterkammer<br />

schon immer gekämpft und wird das auch<br />

weiterhin tun. Dafür stehe ich als AK-Präsidentin.<br />

<br />

Sebastian Philipp<br />

Ihr habt Fragen an uns?<br />

Kontaktiert uns auf<br />

www.phh.at / veljan@phh.at<br />

44 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

45


almanah<br />

almanah<br />

Mit dem Orient Express<br />

Name des Kretaviertels ist eine Anspielung<br />

auf blutige Unruhen auf der griechischen<br />

Insel, die um 1900 zur Zeit seiner Entste-<br />

Mit Teamwork zum Genuss<br />

„Das Kochen ist der kleinste gemeinsame<br />

Nenner für alle und die Küche ist ein<br />

hung stattfanden. Heute ist das Grätzl nicht<br />

geschützter Raum zum Reden“, so Prak-<br />

zum Dinner nach Kreta<br />

mehr brandgefährlich, aber dennoch sozial<br />

schwach. Alte Arbeitereinfamilienhäuser<br />

und Gemeindebauten aus den Achtzigerjah-<br />

tikantin Martina Winkler. Sie schätzt den<br />

sozialen und kulturellen Austausch an den<br />

Kochrunden sehr. Viele der Köchinnen und<br />

ren säumen nebst türkischen Supermärkten<br />

Köche arbeiten ihre Fluchterfahrungen<br />

jüngeren Datums die „Ankergründe“ um<br />

auf und finden in der Gemeinschaftsküche<br />

In der alten Ankerbrotfabrik<br />

brutzelt’s und<br />

brodelt’s jeden Dienstag,<br />

wenn Menschen aus<br />

die Fabrik. Die wöchentlichen Kochrunden<br />

sollen das Areal öffnen und den Austausch<br />

fördern.<br />

Dienstags ab 17 Uhr finden sich vor<br />

allem arabischsprachige Teilnehmer in der<br />

Küche ein, von denen viele noch keine fünf<br />

Anschluss an ein neues soziales Umfeld.<br />

„Es gab bereits türkische, polnische, afghanische<br />

und viele andere Abende. Einmal<br />

wollten die Teilnehmer unbedingt österreichische<br />

Küche probieren. Also machten wir<br />

Paprikahendl, Knödel und Palatschinken mit<br />

verschiedenen Kulturen<br />

beim Kochen und Essen<br />

zusammenkommen. Ein<br />

Jahre in Österreich leben. Bekannte und<br />

neue Gesichter finden sich lachend ein und<br />

reichen sich die Hand zur Begrüßung. Vom<br />

Mann-Frau-Gefälle keine Spur. Jede Woche<br />

Marillen- und Powidlfüllung“, erzählt die<br />

39-Jährige. Um 20 Uhr werden die Tische<br />

gedeckt und das Essen serviert. Um uns<br />

herum gibt es viel Gelächter und aufwen-<br />

Lokalaugenschein.<br />

treffen sich zwischen 30 und 40 Köchinnen<br />

und Köche im Objekt 19, wo früher kein<br />

dig gestylte Damen wollen unbedingt von<br />

meiner Kollegin Soza fotografiert werden.<br />

Dutzend zustande kam. Teammember Salwa<br />

sind hier so viel besser als in meiner Heimat-<br />

Das Ergebnis der mexikanischen<br />

TEXT:<br />

Nada El-Azar<br />

F O T O S :<br />

Soza Almohammad<br />

Salib und Diätologin Elisabeth Saathen<br />

geben bekannt: „Heute wird mexikanisch<br />

gekocht. Es gibt Tortillas, vegetarisch und<br />

stadt Toronto.“ Natasha besuchte schon<br />

in Kanada und den Niederlanden solche<br />

Community Cookings und wurde im Internet<br />

Kochrunde ist etwas unkonventionell: Statt<br />

gefüllter Tortillas gibt es eine Art Gemüseund<br />

Fleischauflauf mit kleinen Brotstücken.<br />

mit Fleischfüllung.“ Beim Wort Tortilla<br />

auf die Kochrunden im Objekt 19 aufmerk-<br />

Auch wenn die arabische Interpretation<br />

sehen sich viele Freiwillige fragend an.<br />

sam. „Die Menschen hier sind wirklich sehr<br />

etwas vom Plan abweicht: Schmecken tut’s<br />

Einige von ihnen haben noch nie von Tortil-<br />

nett, ich werde bestimmt öfter mitmachen“,<br />

fantastisch und alle sind zufrieden.<br />

<br />

las gehört, geschweige denn mexikanisch<br />

sagt die gebürtige Kanadierin mit indischen<br />

gegessen.<br />

und afrikanischen Wurzeln.<br />

Die alte Ankerbrotfabrik ist eines<br />

der Wahrzeichen von Wien-Favoriten.<br />

In den 1920er Jahren<br />

größter Arbeitgeber der Stadt, war sie<br />

Zentrum gewerkschaftlich organisierter<br />

Arbeiter im Widerstand gegen die Nazis.<br />

Die geschichtsträchtige Großbäckerei aus<br />

rotbraunem Sichtziegel liegt am Fuße der<br />

„Kreta-Insel“ östlich der Absberggasse.<br />

Die Gegend galt als besonders unsicher. Den<br />

„Kretabuam“, die schon Gerhard Bronner<br />

in seinem Favoriten-Lied besang, ging man<br />

lieber aus dem Weg. Den einzigen Anschluss<br />

an das öffentliche Verkehrssystem bildet<br />

nach wie vor die Straßenbahnlinie 6 –<br />

von jungen Favoritnern liebevoll „Orient<br />

Express“ genannt. Brot wird heute nur mehr<br />

in einem kleinen Teil der Fabrik gebacken,<br />

die restlichen Räume wurden durch einen<br />

Investor zu hippen Galerien, Ateliers und<br />

Showrooms umfunktioniert.<br />

Frischer Wind für die Kreta<br />

Die Caritas Wien hat das Objekt 19 der<br />

Brotfabrik zu einer neuen Begegnungszone<br />

für das Grätzl gemacht. Im Jahr 2014 wurde<br />

das Community Cooking ins Leben gerufen.<br />

Ein Projekt, bei dem Menschen regelmäßig<br />

ihr Abendessen gemeinsam zubereiten.<br />

„Das Projekt wurde einerseits zur Stärkung<br />

von Ernährungskompetenzen gestartet und<br />

andererseits zur Involvierung von Menschen,<br />

die erst seit Kurzem in Wien leben“,<br />

sagt Lisa Plattner von der Caritas Wien. Der<br />

Nicht verzagen, Smartphone fragen!<br />

Langsam beginnt an den drei Kochstationen<br />

das Schneiden, das Würzen, das Braten<br />

und das Rühren. Wasan kommt ursprünglich<br />

aus dem Irak und ist vor zweieinhalb Jahren<br />

der Liebe wegen aus Schweden nach Wien<br />

gezogen. „Ich bin über Freunde zur Caritas<br />

gekommen und besuche seit einem Jahr die<br />

Kochrunden, um besser Deutsch zu lernen“,<br />

sagt sie. „Manchmal dolmetsche ich sogar<br />

für andere.“ Die Frohnatur beweist Führungstalent<br />

in der Gruppe – die Fleischfüllung<br />

der Tortillas nimmt Gestalt an.<br />

An der nächsten Station knetet Natasha<br />

den Teig für die frischen Tortillas. „Ich<br />

habe keine Ahnung, was ich hier mache“,<br />

lacht sie. Die 29-Jährige hat es nach ihrem<br />

Masterstudium der Kartographie nach Wien<br />

verschlagen und sie ist gerade auf Jobsuche.<br />

„Ich habe bereits ein Semester hier studiert.<br />

Die Lebensqualität und die Infrastruktur<br />

46 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

47


almanah<br />

almanah<br />

Die Klasse auf diesem Foto ist<br />

nicht diejenige, die im Text<br />

behandelt wird.<br />

Über sozial<br />

starke Kinder<br />

Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“<br />

gehe es zu wie in der<br />

Bronx. Die Wahrheit ist aber: Ich habe<br />

nirgends so herzliche, liebevolle Kinder<br />

kennengelernt wie an diesen Schulen.<br />

TEXT:<br />

Melisa Erkurt<br />

F O T O :<br />

Marko Mestrovic<br />

Melisa Erkurt tourt<br />

mit dem biber-Projekt<br />

„Newcomer“ seit drei<br />

Jahren durch Wiener<br />

Schulklassen und<br />

berichtet regelmäßig<br />

über ihre Erfahrungen<br />

aus den Schulen.<br />

Neulich stand ich nach einem schlechten<br />

Morgen in einer Klasse. Ich versuchte alles,<br />

damit die Kids meine Laune nicht bemerken.<br />

Sie waren so lieb in der Stunde, arbeiteten fleißig mit,<br />

fragten, was ich am Wochenende vorhabe und brachten<br />

mich mit Erzählungen von ihrem letzten Wochenende<br />

zum Lachen. Am Ende der Stunde sagte ein<br />

Schüler aus der ersten Reihe ganz leise zu mir: „Heute<br />

waren Sie traurig. Geht’s Ihnen schon besser?“ Ich<br />

war gerührt, was waren das bloß für empathische<br />

Kinder. Aber das dachte ich mir nicht zum ersten Mal.<br />

Immer, wenn mich die aktuelle Debatte rund um die<br />

Bildungspolitik frustriert, ich den Glauben daran<br />

verliere, dass wir dieses Zwei-Klassen-Schulsystem<br />

jemals überwinden werden, gibt mir die Arbeit<br />

mit Kindern und Jugendlichen Hoffnung. Denn an all<br />

diesen sozioökonomisch schwächeren Schulen, auch<br />

Brennpunktschulen genannt, habe ich Kinder und<br />

Jugendliche mit den größten Herzen und tollsten Charakteren<br />

kennengelernt. Kinder, die mir in der Pause<br />

ihre Jause angeboten haben. Kinder, die mir Baklava<br />

mitgebracht haben („Die hat meine Mama für Sie<br />

gemacht, nachdem ich ihr von Ihnen erzählt habe“).<br />

Kinder, die sich nicht wegen Äußerlichkeiten über den<br />

anderen lustig gemacht haben. Oftmals waren Kinder<br />

dabei, bei denen ich wusste, so traurig es klingt, dass<br />

sie in einer anderen Schule beispielsweise wegen ihrer<br />

Kleidung gemobbt werden würden. Oder Mario, der<br />

zwei Köpfe kleiner als alle anderen war, er wurde von<br />

keinem seiner Schulkollegen aufgrund seiner Größe<br />

gehänselt, im Gegenteil, er wurde von seinen Mitschülern<br />

im Park „beschützt“. „Normal, er ist unser<br />

Bruder.“ Kinder, die noch Ärmeren ihr Jausengeld<br />

schenken. Kinder, die vor Freude weinen, weil sie sich<br />

so für ihre Freundin freuen, deren Mutter nach drei<br />

Jahren in Syrien endlich nach Österreich nachkommen<br />

darf. Kinder, die sich bei schlechten Noten trösten, die<br />

einander beim Elternabend nicht auslachen, weil der<br />

Papa nicht so gut Deutsch spricht, sondern füreinander<br />

dolmetschen. Kinder, die sich vor den anderen<br />

nicht schämen zuzugeben, dass sie gerade kein Geld<br />

fürs Kino haben, weil sie wissen, keiner wird sie deshalb<br />

schief anschauen.<br />

„Heißt das, dass wir dumm und asozial sind?“<br />

Ich weiß von vielen Lehrer*innen, dass sie aufgrund<br />

dieser Herzlichkeit der Kinder und deren Eltern viel<br />

lieber an solchen Schulen unterrichten, als an Schulen,<br />

an denen die Kinder auf sie herabsehen, weil sie „nur“<br />

Lehrer sind und die eigenen Eltern etwas viel Besseres.<br />

Sie werden von den Eltern nicht in Frage gestellt,<br />

sie sprechen ihnen nicht ihre Kompetenzen ab und<br />

drohen bei einem „Nicht Genügend“ nicht mit Anwälten.<br />

Schulen, an denen den Kindern verboten wird, sich<br />

zu umarmen, so wie im Theresianum in Eisenstadt. Das<br />

ist natürlich ein Einzelfall und es gibt überall großartige<br />

Kinder und Jugendliche, aber diese Herzlichkeit,<br />

diese Dankbarkeit, das Mitgefühl und die Akzeptanz<br />

– das alles habe ich an diesen Schulen viel stärker als<br />

sonst wo erlebt. Und als mich Milan aus der 4b fragt,<br />

ob seine Schule denn eine dieser Brennpunktschulen<br />

sei, von denen alle immer reden und ob sozial schwach<br />

bedeutet, dass er und die anderen dumm sind, wird mir<br />

plötzlich ganz anders. Auch als die 13-jährige Kübra<br />

ihm erklärt, dass sozial schwach bedeute, dass sie nicht<br />

sozial sind, bin ich schockiert. Mir war nicht klar, was<br />

solche Begriffe bei den Kindern auslösen. Seitdem<br />

kläre ich diese riesengroßen Missverständnisse in jeder<br />

Klasse ganz schnell auf. Weil wenn diese Kinder und<br />

Jugendlichen etwas nicht sind, dann dumm und asozial.<br />

Tatsächlich sind sie so großartig, dass ich nach<br />

der gemeinsamen biber Newcomer-Woche mit ihnen<br />

nicht glauben mag, dass ich sie nicht mehr wiedersehe.<br />

Einmal sind sogar Tränen geflossen – bei den Schüler*innen<br />

und mir nachdem unsere gemeinsame Woche<br />

um war. Mit einigen bin ich dann durch Social-Media<br />

und telefonisch in Kontakt geblieben. Und weil ich das<br />

Schulprojekt schon seit über drei Jahren leite, bekomme<br />

ich mit, was aus vielen dieser Schülerinnen geworden<br />

ist – manche erfüllen sich ihren Traum, von dem<br />

sie mir damals erzählt haben und machen eine Lehre,<br />

andere besuchen eine weiterführende Schule, aber egal,<br />

was aus ihnen beruflich wird, eines sind sie jetzt schon:<br />

Wundervolle Persönlichkeiten, die großen Eindruck bei<br />

mir hinterlassen haben.<br />

<br />

48 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

49


almanah best practice<br />

almanah best practice<br />

best<br />

practice<br />

Daheim<br />

im<br />

Verein<br />

So geht<br />

Diversität<br />

richtig!<br />

SPIELERPASS ist ein<br />

gemeinnütziger Verein, der<br />

Menschen mit Beeinträchtigung<br />

ermöglicht, sich sportlich und<br />

gesellschaftlich auf großer<br />

Diese Unternehmen und<br />

Vereine machen es vor:<br />

Wie man Vielfalt nach innen<br />

Bühne zu präsentieren und<br />

Anschluss im Vereinsleben und<br />

in der Gesellschaft zu finden.<br />

und nach außen fördert<br />

und soziales Engagement<br />

TEXT:<br />

Nada El-Azar<br />

zeigt. Von Mehrsprachigkeit<br />

über Mentoring bis hin zur<br />

Inklusion im Beruf oder beim<br />

gemeinsamen Sport. Das sind<br />

unsere best-practice-Beispiele<br />

für gelungene Diversity-<br />

Programme!<br />

Manfred Binder, SLKphoto.at Sebastian Kreuzberger Spielerpasscup 18<br />

Im Jahr 2016 rief Nikolas Karner SPIELERPASS ins Leben, wo<br />

das Miteinander von Menschen mit und ohne Beeinträchtigung<br />

im Mittelpunkt steht. Karner wuchs mit einem Jungen mit<br />

Down-Syndrom auf und spielte mit ihm als Kind regelmäßig Fußball.<br />

Das trieb ihn später dazu, diesen Verein zu gründen. SPIELERPASS<br />

hat auch ein Ziel: Immer wieder werden Menschen mit Behinderung<br />

in einem Charity-Kontext angesprochen - das ist nicht der Ansatz<br />

von SPIELERPASS. Der Verein will aus dieser Bittsteller-Rhetorik<br />

heraus und den Spielern ein Umfeld geben, das ihnen sagt: „Jeder ist<br />

willkommen.“<br />

Impulse für eine subtile Inklusion<br />

Im Jahr <strong>2018</strong> kam es zum zweiten SPIELERPASS CUP, Österreichs<br />

größtem Hallenfußballturnier für Special Needs Teams. Zwölf Teams<br />

aus vier Ländern - mit mehr als 150 Kickern – ließen ihrer Spielfreude<br />

freien Lauf. Ehemalige und aktive Profifußballer engagieren sich als<br />

Schiedsrichter und zeigen dadurch den Teams Wertschätzung. „Die<br />

Spieler können ihren Idolen, wie etwa Ex-Nationalspieler Stefan<br />

sieben erfolgreichen Projekten im Jahr <strong>2018</strong>. Auch drei Inklusionsfußballturniere<br />

wurden im Waldviertel ausgetragen. „Wir sehen uns<br />

als Impulsgeber für eine nachhaltige Inklusion“, so Karner, „Menschen,<br />

die bis dato keinen Kontakt mit Behinderten hatten, gehen ein<br />

Stück weit sensibilisierter nach Hause.“<br />

Dankbarkeit als Ansporn<br />

Für Gründer Nikolas Karner sowie seine Mitstreiter Christoph Walter-Pellarin<br />

und Philipp Vejchoda ist die Dankbarkeit, die ihnen von<br />

den Spielern und deren Angehörigen entgegengebracht wird, die<br />

größte Motivation. „Eltern kommen und bedanken sich dafür, etwa<br />

beim Weihnachtsclubbing ihre Kinder erstmals tanzen zu sehen“,<br />

erzählt Karner. Auch zu sehen, wie sich die Kicker sportlich weiterentwickeln<br />

ist ein großer Ansporn.<br />

Weitere Informationen: www.SPIELERPASS.at<br />

Maierhofer, wie Kumpels nahe sein.“ Dies war jedoch nur eines von<br />

50<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

51


almanah best practice<br />

almanah best practice<br />

Sexuelle Orientierung ansprechen – Das<br />

LGBT-Businessforum <strong>2018</strong> mit REWE und IBM<br />

Jedes Jahr organisiert IBM gemeinsam mit den Austrian<br />

Gay Professionals und den Queer Business<br />

Wiener Städtische<br />

Menschen sprachlich<br />

die Hand reichen<br />

Inklusion am<br />

Arbeits platz –<br />

Pricewaterhouse-<br />

Coopers Österreich<br />

und Specialisterne<br />

Women das LGBT-Businessforum.<br />

Bei der Wiener Städtischen sind multikulturelle Teams eine wich-<br />

Seit drei Jahren kooperiert PwC mit Specialisterne, einem däni-<br />

Unter dem Motto „Trans*formation – wie der Blick<br />

tige Ressource. Mitarbeiter aus rund 40 Nationen bringen mehr<br />

schen Unternehmen, das Menschen mit Autismus an Arbeitsplätze<br />

für Vielfalt Unternehmen bereichert“, fand es im<br />

Kreativität in Sachen Problemlösung – von A wie Albanien bis Z<br />

im IT-Bereich vermittelt. Warum passt das so gut zusammen?<br />

November zum sechsten Mal statt. Diesjährige Gast-<br />

wie Zypern. Vor allem in der Beratung bringen die Sichtweisen und<br />

Autisten können in der Regel extrem analytisch denken und haben<br />

geberin war die REWE AG, die mit di.to (different<br />

Erfahrungen der mehrsprachigen Mitarbeiter einen entscheidenden<br />

einen besseren Blick für Details als für das große Ganze. In einem<br />

together) ein Regenbogennetzwerk geschaffen hat,<br />

Vorteil mit sich – denn Kunden mit Migrationshintergrund in ihrer<br />

Wirtschaftsprüfungsunternehmen wie PwC können Mitarbeiter wie<br />

das für mehr Toleranz am Arbeitsplatz kämpft. „Ich<br />

Muttersprache anzusprechen beugt Unklarheiten vor und verbessert<br />

Philipp (im Bild mit blauem Hemd) dieses Potenzial ausschöpfen.<br />

freue mich, dass wir seit gut einem Jahr mit di.to pro-<br />

so die Kundenbeziehungen. Damit kann man den Kunden sprachlich<br />

Seit August <strong>2018</strong> arbeitet er im Team von PwC. Specialisterne betreut<br />

aktiv auch den Fokus auf das Thema LGBTI legen. Das<br />

die Hand reichen, und ihnen auf dieser Grundlage Wertschätzung<br />

seine Schützlinge an ihren neuen Arbeitsplätzen und bietet nicht nur<br />

ist eine klare Frage der Akzeptanz und des Respekts“,<br />

so Direktor des REWE-Konzernpersonalwesens<br />

Johannes Zimmerl. <strong>2019</strong> wird REWE nicht nur wieder<br />

mit di.to bei der Europride sein, sondern den Regenbogenball<br />

mitsponsern.<br />

Besonders die Rolle der „Straight Allies“ – also der<br />

heterosexuellen Verbündeten – wurde thematisiert.<br />

„Vielfältigkeit zu leben ist ein wichtiger Erfolgsfaktor<br />

für IBM - und Diversity ist daher auch eine wichtige<br />

Grundvoraussetzung für unsere Innovation“, erklärt<br />

Gerhard Zakrajšek, HR-Manager von IBM Österreich.<br />

REWE Group, Verena Moser<br />

Wiener Städtische, PwC Österreich/Janek Batek<br />

und Akzeptanz zeigen.<br />

Plus:<br />

Durch die Kooperation mit connecting people werden seit mittlerweile<br />

zwei Jahren jungen Frauen zwischen 16 und 22 Jahren Lernpatenschaften<br />

angeboten. Bisher wurden rund 15 Schützlinge aus<br />

Syrien, Somalia und Afghanistan bei ihrem Neustart in Österreich<br />

unterstützt. Ziel der Lernpatenschaften ist der Aufbau von längerfristigen,<br />

vertrauensvollen Beziehungen zwischen Paten und den<br />

Mädchen, in denen beide voneinander profitieren und lernen.<br />

Sensibilisierungsworkshops für alle nicht-autistischen Mitarbeiter<br />

an, sondern auch ein offenes Ohr für seine Mentés außerhalb des<br />

Unternehmens.<br />

52<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 53


almanah best practice<br />

BEZAHLTE ANZEIGE<br />

Fördern und Fordern als Devise<br />

gelungener Integrationsarbeit<br />

Allianz<br />

Familie und Beruf unter<br />

einen Hut bringen<br />

Bei der Allianz wird die Vereinbarkeit von Familie und Beruf großgeschrieben.<br />

Mitarbeiter haben seit April 2014 die Möglichkeit,<br />

ihre Kleinsten im Alter von einem Jahr bis kurz vor Schuleintritt<br />

im zweisprachigen Betriebskindergarten „Allianz Zauberwald“<br />

betreuen zu lassen. Auch für Kinder bis 14 Jahre gibt es eine Ferienbetreuung<br />

in den Ferien und an Fenstertagen – denn wer weiß,<br />

dass es der Familie gut geht, kann im Beruf sein Bestes geben.<br />

Angehende und frischgebackene Eltern können zudem für die bestmögliche<br />

Work-Life-Balance aus ganzen 70 familienfreundlichen<br />

Teilzeitkonzepten wählen.<br />

Henkel<br />

Miteinander<br />

füreinander<br />

Digitalisierung ist ein großes Thema, quer durch alle Unternehmensbranchen.<br />

In Wien produziert das Unternehmen Henkel seit<br />

1927. Neue Innovationen werden seit <strong>2018</strong> in einem sogenannten<br />

Reverse-Mentoring Programm von und für MitarbeiterInnen vermittelt.<br />

Zweimal jährlich haben MitarbeiterInnen die Möglichkeit,<br />

sich als Mentor oder Mentee zu melden. Das Programm birgt zwei<br />

entscheidende Vorteile: Es bietet eine gute Networking-Möglichkeit<br />

innerhalb des Unternehmens und schließt dabei die Generationenlücke.<br />

So können junge KollegInnen Wissen am Smartphone oder<br />

Tablet austauschen, und dabei Erfahrungen als MentorIn sammeln.<br />

Weibliche Flüchtlinge und Zuwanderinnen werden durch unterschiedliche Maßnahmen dabei unterstützt, ihre Chancen in Österreich zu<br />

erkennen und aktiv wahrzunehmen. Photocredit: ÖIF<br />

Die Integration von MigrantInnen und<br />

mit verbundenen Deutschkursmaßnahmen,<br />

wie die Einhaltung der Rechte von Frauen.<br />

ÖBB<br />

Sprachen als<br />

großes Plus<br />

Flüchtlingen ist für den gesellschaftlichen<br />

Zusammenhalt Österreichs von großer Bedeutung.<br />

Nicht nur deshalb, weil Österreich<br />

im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten<br />

in den vergangenen Jahren überproportional<br />

viele Asyl- und Subsidiär Schutzberechtigte<br />

aufgenommen hat, sondern weil gelun-<br />

sowie den verpflichtenden Werte- und Orientierungskursen<br />

sind wir einen großen<br />

Schritt vorangekommen und haben die<br />

Grundlage für einen Dialog auf Augenhöhe<br />

mit MigrantInnen geschaffen.<br />

Der Integrationsprozess basiert auf Engagement<br />

der MigrantInnen, aber auch auf<br />

Wertevermittlung trägt ganz bewusst<br />

zur Gleichberechtigung von Frauen bei. Vor<br />

allem die Bewusstseinsbildung über und der<br />

Schutz von Mädchen und Frauen vor Genitalverstümmelung<br />

sind ein großes Anliegen der<br />

österreichischen Integrationspolitik. Frauen<br />

sind außerdem wichtige Multiplikatorinnen<br />

Bei den ÖBB zählt die Mehrsprachigkeit ihrer Mitarbeiter als Riesenplus<br />

im Unternehmenswettbewerb. Mitarbeiter aus 70 Nationen<br />

machen die Bundesbahnen bunt. In den nächsten Jahren sollen<br />

intensiv tausende neue, gerne mehrsprachige, Mitarbeiter rekrutiert<br />

werden und ein umfangreiches Kultur- und Werteprogramm umgesetzt<br />

werden. ÖBB Diversity-Beauftragte Traude Kogoj weiß: “Multikulturelle<br />

Mitarbeiter sind für alle Bereiche des Unternehmens gut.<br />

In der Marktbearbeitung helfen ihre Kompetenzen, die über eine<br />

Sprache hinausgehen.”<br />

Allianz Elementar Vers. AG, Marek Knopp<br />

gene Integration mehr als das Erlernen der<br />

deutschen Sprache oder die Teilnahme am<br />

Arbeitsmarkt bedeutet. Sie umfasst auch<br />

emotionale Zugehörigkeit. Akzeptanz und<br />

Identifikation mit österreichischen und europäischen<br />

Werten, die für alle in Österreich<br />

lebenden Menschen gleichermaßen gelten,<br />

sind weitere Eckpunkte gelungener Integration.<br />

Mit dem Integrationsgesetz 2017, den da-<br />

jenem der Aufnahmegesellschaft. Deshalb<br />

arbeiten wir im Integrationsministerium<br />

weiterhin intensiv gemäß dem Integrationsgrundsatz<br />

„Fördern und Fordern“ an der Umsetzung<br />

der gesetzlichen Verpflichtungen.<br />

Wir legen ergänzend einen besonderen Fokus<br />

auf die Förderung einer gemeinsamen<br />

österreichischen Identität, das Verhindern<br />

des Entstehens von Parallelgesellschaften,<br />

den Kampf gegen den politischen Islam, so-<br />

und zumeist Bildungsverantwortliche für<br />

ihre Kinder. Im Sinne einer gemeinsamen<br />

gesellschaftlichen Identität gilt es daher,<br />

Frauen in ihrem Integrationsverlauf ganz<br />

besonders zu unterstützen.<br />

54 JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

55


almanah best practice<br />

almanah<br />

„Wer andere ausgrenzt,<br />

grenzt sich selbst aus“<br />

Walter Ruck, Präsident der Wiener<br />

Wirtschaftskammer, über die „Charta<br />

der Vielfalt“ und warum eine offene<br />

Unternehmenskultur sich auch<br />

wirtschaftlich lohnt.<br />

Frauen vor den Vorhang<br />

Die 40-jährige Mahboobeh Bayat kommt<br />

ursprünglich aus dem Iran und arbeitet<br />

im Industrie- und Anlagensektor als<br />

Key- Account-Managerin bei Siemens.<br />

Sie will jungen Frauen zeigen, dass es<br />

keine Grenzen gibt – auch in einer von<br />

Männern dominierten Branche.<br />

WER SORGT FÜR<br />

GERECHTIGKEIT?<br />

ALMANAH: Was ist das Ziel der<br />

Initiative „Charta der Vielfalt“?<br />

ALMANAH: Warum glauben<br />

WALTER RUCK: Die „Charta<br />

Sie persönlich, dass sich weniger<br />

der Vielfalt“ ist eine Initiative zur<br />

Frauen als Männer für technische<br />

Förderung der Wertschätzung<br />

Berufe entscheiden?<br />

gegenüber allen Mitgliedern der<br />

MAHBOOBEH BAYAT: Es gibt<br />

Gesellschaft – unabhängig von<br />

noch zu wenige weibliche Vor-<br />

Geschlecht, Lebensalter, Her-<br />

bilder in technischen Berufen für<br />

kunft und Hautfarbe, sexueller<br />

junge Mädchen – deshalb ist es<br />

Orientierung, Religion und Wel-<br />

so wichtig, Technikerinnen vor<br />

tanschauung sowie körperlicher<br />

den Vorhang zu holen. Beste-<br />

oder geistiger Behinderung. Im<br />

hende Systeme zu verändern ist<br />

Jahr 2010 wurde die österrei-<br />

nicht leicht, aber möglich.<br />

chische Charta der Vielfalt als<br />

Siemens will ja Frauen für techni-<br />

gemeinsame Initiative von der<br />

sche Berufe begeistern. Beispiels-<br />

Wirtschaftskammer Österreich<br />

weise durch die Teilnahme am<br />

und der Wirtschaftskammer Wien gegründet. Die Charta wächst und<br />

„Töchtertag“. Wo sehen Sie außer-<br />

soll weiter wachsen. Mittlerweile zählen bereits 227 Betriebe, darun-<br />

dem Anknüpfungspunkte, wie man Frauen für technische Berufe moti-<br />

ter renommierte Großunternehmen zur Familie.<br />

vieren kann?<br />

Inwiefern wirkt sich Vielfalt in der Unternehmenskultur positiv auf den<br />

Man könnte beispielweise bei Podiumsdiskussionen noch mehr<br />

wirtschaftlichen Erfolg aus?<br />

Frauen miteinbeziehen oder sie bei Events in den Vordergrund<br />

Vielfalt muss sich nicht, kann sich aber auf den wirtschaftlichen<br />

rücken. So schafft man Vorbilder für die nächsten Generationen und<br />

Erfolg auswirken. Denn eine offene, vielfältige und wertschätzende<br />

zeigt jungen Mädchen, dass man es auch als Frau, egal mit welchem<br />

Unternehmenskultur begünstigt ein gutes Betriebsklima. Und das ist<br />

Hintergrund, bis ganz nach oben schaffen kann.<br />

die Basis für nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg. Zudem macht es<br />

Es ist ja oft sehr schwer, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bekom-<br />

die Erschließung neuer Märkte und den Zugriff auf interdimensional<br />

men. Unterstützt Sie Siemens dabei?<br />

vielfältiges Know-How einfacher. Betriebe mit einem open mindset<br />

haben eine breitere Expertise, mehr Innovationskraft und stärkere<br />

Kreativität<br />

Meine männlichen Kollegen bzw. Kunden fragen mich oft: „Wie<br />

machen Sie das mit einem Vollzeitjob und Kindern?“ Ich antworte<br />

dann gerne: „Und wie machen Sie das?“ Bei solchen Aussagen wird<br />

FRAG UNS.<br />

Welche positiven Auswirkungen erhoffen Sie sich von der „Charta der<br />

Vielfalt“ mit Blick auf die Zukunft?<br />

Die „Charta der Vielfalt“ wird weiter wachsen in Österreich, aber<br />

auch in anderen Ländern. Als internationale Initiative kann sie Brücken<br />

zwischen Kulturen und Gesellschaften bauen. Das ist natürlich<br />

für eine Exportnation wie Österreich sehr interessant. Ich wünsche<br />

mir jedenfalls, dass wir mit der Initiative in Österreich noch viel<br />

Positives erreichen werden.<br />

mir immer wieder bewusst, dass gegenüber karriereorientierten<br />

Müttern immer noch Vorurteile bestehen. Ich habe das Glück, dass<br />

Siemens mir durch extrem flexible Arbeitszeiten, Home Office und<br />

Kinderbetreuung im Unternehmen entgegen kommt. Natürlich verlangt<br />

es einiges an Organisation ab, aber durch solche Angebote ist es<br />

viel einfacher, das alles zu schaffen.<br />

WKW, Soza Almohammad<br />

Die AK App mit dem Lexikon des Arbeitsrechts,<br />

mit Banken rechner, Brutto-Netto-Rechner,<br />

Zeitspeicher, Urlaubsplaner, AK-Cartoons und mehr.<br />

Kostenlos erhältlich im App Store und Google Play.<br />

w.ak.at/app<br />

GERECHTIGKEIT MUSS SEIN<br />

56<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT 57


almanah<br />

Foto: Igor Minić<br />

JOBS MIT AUSSICHTEN<br />

Ivanas Welt<br />

Fragst du<br />

Frau Mag.istrat!<br />

In jeder Balkan-Familie gibt es sie. Diese<br />

eine Person mit akademischem Titel.<br />

Die sich mit allem auskennen muss. Mit<br />

Finanzamt, AMS, Krediten. In meiner<br />

Familie bin ich das. Leider.<br />

Es ist<br />

einfach<br />

immer<br />

Ivana,<br />

die mit<br />

diversen<br />

Anfragen<br />

zwangsbeglückt<br />

wird.<br />

Mietverträge kündigen, AMS-Anträge ausfüllen,<br />

Lebensläufe verfassen. Das gehört<br />

nicht etwa zu meiner Jobdescription. Das<br />

sind Dinge, die ich für meine Verwandten erledige.<br />

Wieso? Weil ich studiert habe. Was? Egal.<br />

Mit einem Uniabschluss hat man in einer Großfamilie<br />

so ziemlich die Arschkarte gezogen. Meine<br />

mittlerweile verstorbene Oma hatte schon recht, als<br />

sie irrtümlich über mich als „Frau Magistrat“ statt<br />

„Frau Magistra“ sprach. So viel Unterschied ist da<br />

nicht. Also für meine Verwandtschaft nicht. Titel<br />

verpflichtet, die absolvierte Studienrichtung ist dabei<br />

egal. Ich müsse doch wissen, welche Unterlagen für<br />

die Rot-Weiß-Rot-Karte vorzulegen sind, wann das<br />

Boarding für den Venedig-Flug beginnt, von wo der<br />

nächste Bus nach Serbien fährt und welche Bank grad<br />

die besten Wohnfinanzierungen anbietet.<br />

Diplomierte Alleswisserin<br />

Denn ich hab ja studiert! In den Augen meiner Eltern,<br />

Tanten und Cousins qualifiziert mich das somit wohl<br />

zur Lösung der großen Weltprobleme. Voll krass, aber<br />

ich kann als vermeintlich diplomierte Alleswisserin<br />

manchmal auch nicht weiterhelfen. Kenne keinen<br />

Griechisch-Dolmetscher oder die Liste der Notare im<br />

21. Bezirk auswendig. Voll krass auch das blanke Entsetzen<br />

darüber, dass sie sich um ihren Kram manchmal<br />

selber kümmern müssen.<br />

Als Mag.istrat für alle Fragen rund um alles habe<br />

ich mir mittlerweile so viele Skills angeeignet, dass<br />

ich sofort als Buchhalterin, Bewerbungscoach oder<br />

AMS-Referentin anheuern könnte. Diese familiären<br />

Fremderledigungen nehmen in Arbeitsstunden<br />

teilweise Ausmaße eines Teilzeitjobs an. In den USA<br />

gibt es sogar eine eigene Berufsbezeichnung dafür:<br />

den Personal Family Assistant. Mit meiner lebenslangen<br />

Berufserfahrung könnte ich dort eine steile Karriere<br />

hinlegen.<br />

Frag Ale…Ivana!<br />

Oh, es ist nicht etwa so, dass ich mit einer überirdischen<br />

Begabung im Informationen-in-Erfahrung-Bringen<br />

gesegnet oder im 30-köpfigen<br />

Jugo-Clan als einzige der deutschen Sprache mächtig<br />

und mit einem Heim-PC ausgestattet bin.<br />

Na.<br />

Es ist einfach immer Ivana, die mit diversen Anfragen<br />

zwangsbeglückt wird.<br />

Lange vor Amazons virtueller Sprachassistentin<br />

ALEXA benutzten meine Verwandten IVANA. Ich<br />

bin quasi der Balkan-Prototyp von Alexa. Vielleicht<br />

sollte ich eine „Frag-Ivana“-App entwickeln für<br />

meine Family. Dann wären meine To-Dos zumindest<br />

einigermaßen übersichtlich und ich könnte zu sowas<br />

wie einer Life-Balance zurückfinden. Denn momentan<br />

scheitere ich kläglich am eigenen Zeitmanagement.<br />

Was aktuell mit einem acht Monate alten Baby eh<br />

nicht existiert. Also verschiebe ich meine persönlichen<br />

Angelegenheiten auf die Nacht: Nahrungsaufnahme,<br />

Körperpflege. Und diesen Text hier. Morgen kein<br />

Parteienverkehr! Frau Mag.istrat out of office. <br />

In Ivanas WELT berichtet die biber-Redakteurin<br />

Ivana Cucujkić über ihr daily life.<br />

JOBS MIT<br />

LEHRLINGE<br />

GESUCHT!<br />

„Ich zeig, was ich kann.<br />

Als Lehrling bei SPAR!“<br />

SPAR als 100% österreichisches Unternehmen ist nicht nur einer der letzten großen<br />

heimischen Arbeitgeber, sondern auch Österreichs größter privater Lehrlingsausbildner.<br />

Jedes Jahr beginnen rund 900 junge Menschen ihre Karriere bei SPAR in 20 spannenden<br />

Lehrberufen und nützen die vielfältigen Ausbildungsangebote, die ihnen den Weg<br />

zu einer zukünftigen Karriere ebnen. Wer Freude am Kontakt mit Menschen hat und<br />

offen für Neues ist, ist bei SPAR genau richtig. Prämien und Aufstiegschancen nach der<br />

Lehre gibt’s genug.<br />

SPAR Jobcenter Wien<br />

Josefstädterstraße 64 | 1080 Wien<br />

E-Mail: jobcenter@spar.at<br />

Besuche uns auf www.spar.at/lehre<br />

ÖSTERREICH DRIN.<br />

58<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT


almanah<br />

ZIB 2 AM SONNTAG<br />

MIT MARTIN THÜR<br />

AB 13. JÄN 21:50<br />

DIREKT DANACH:<br />

IM ZENTRUM<br />

MIT CLAUDIA REITERER<br />

60<br />

JAHRBUCH FÜR DIVERSITÄT

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