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Leseprobe_Wirbel

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1<br />

S<br />

chon zwei Jahrzehnte hatte er auf dem Balkon<br />

mit der niedrigen Balustrade gestanden, ohne<br />

unsicher oder schwindlig zu werden, sei es während<br />

einer Arbeitspause, sei es zusammen mit<br />

seiner Frau. En passant hatte er von hoch oben<br />

verfolgt, wie auf der gegenüberliegenden Seite<br />

die Bäume wuchsen, die jetzt fast ganz die Wohnhäuser<br />

verdeckten und mit ihren himmelwärts<br />

strebenden Zweigen den Blick weit über die Stadt<br />

hinaus lenkten. Genauso wie er stillschweigend<br />

damit gerechnet hatte, dass die Bäume wuchsen,<br />

ging er die ganze Zeit auch davon aus, dass seine<br />

noch junge, ganz persönliche Sonne für immer<br />

über ihm leuchten würde. Das erkannte er aber<br />

erst, als es dunkel geworden war. Da stand ihr liebes<br />

Gesicht schon zwischen Blumen und Kerzen<br />

auf der Kommode hinter ihm.<br />

Die ersten Jahre nach ihrem Verschwinden hatte<br />

er allen verkündet, dass er zu alt sei, um noch<br />

einmal zu heiraten. Er war Realist. Doch da nach<br />

seiner Pensionierung die Kontakte zu Kollegen,<br />

Doktoranden und befreundeten Wissenschaftlern<br />

immer seltener wurden, hatten nicht viele<br />

dieses scheinbar unerschütterliche Statement vernommen.<br />

Und als man ihn zu seinem siebzigsten<br />

9

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