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KURZGESCHICHTE<br />
Ein Nachtrag der Gefühle<br />
Lulgjin Spanca<br />
Meine Hand berührt das kalte Metall der Türklinke. Der<br />
schwere Rucksack zieht an meiner Schulter, als wolle<br />
er mich zurückhalten. Meine ausgelatschten All-Stars sehen<br />
erbärmlicher aus als die Toiletten der Londoner U-Bahn. Ich<br />
weiss, dass mein Leben sich in wenigen Sekunden verändern<br />
wird.<br />
Jeden Morgen dasselbe: Mein verfluchter Mickey Mouse-Wecker<br />
ist wie immer pünktlich. Ich schlurfe ins Bad und spritze<br />
mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich starre mein Spiegelbild an<br />
– ich würde nur in einem zerbrochenen Spiegel gut aussehen.<br />
Die Küchenfliegen schwirren um die kalte Pizza, die ich gestern<br />
bestellt habe. Kurzum: Mein Leben ist scheisse und das<br />
hat seine Gründe.<br />
Mein Vater ist nie zu Hause. Ich weiss nicht mal, wie er seine<br />
Brötchen verdient. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe,<br />
war an Weihnachten. Und das ist auch alles, was ich von meinem<br />
Vater weiss.<br />
Ich liebe meine Mutter, weil sie die einzige Person ist, die ich<br />
jeden Tag zu Gesicht bekomme. Andererseits verabscheue<br />
ich sie, weil sie Kris mehr Liebe zeigt als mir. Kris ist ein alter<br />
Freund meiner Mutter. Er ist jeden zweiten Tag bei uns. Nach<br />
einem der Besuche habe ich meine Mutter gefragt, was die beiden<br />
immer im Schlafzimmer machen. Daraufhin hat sie mit einem<br />
Lächeln im Gesicht zu mir gesagt, dass sie die vergangene<br />
Zeit wiedergutmachen wolle. Was das bloss zu bedeuten hat?<br />
Ich stosse die Tür auf und nehme einen tiefen Atemzug in dieser<br />
kalten Londoner Nacht. Ich will mein altes Leben hinter<br />
mir lassen, wie einen alten Pullover, der mir zu kurz ist. Jeder<br />
Befreiungsakt ist wie das Abwerfen einer alten Haut.<br />
Meine Reise hat angefangen. Ich bin schon immer ein launisches,<br />
aber auch ein abenteuerlustiges Kind gewesen, das sei-<br />
ne Träume verwirklichen will. Mein grösster Traum ist es, nach<br />
Paris zu reisen. Also mache ich mich auf den Weg zur Station<br />
Victoria Street. Die schmutzige Fahrtafel, die kaum erkennbar<br />
ist, weist darauf hin, dass der nächste Zug nach Paris in zehn<br />
Minuten auf Gleis sechs abfahren wird.<br />
Mit ohrenbetäubendem Lärm rast der Zug an mir vorbei und<br />
die letzten Zugtüren stoppen vor meiner Nase. Ich suche mir<br />
ein leeres Plätzchen am Fenster und der Zug fährt los. Mein<br />
altes Sparschwein, das ich zertrümmert habe, zählt läppische<br />
fünfzehn Pounds. Das Geld reicht nicht aus, um nach Paris zu<br />
reisen. So muss ich Risiken eingehen.<br />
Ich suche hastig die Toilette. Erst als ich unter dem Lavabo sitze,<br />
wird mir bewusst, was gerade geschieht. Mein Herz pocht<br />
bis in den Hals. Ich atme in unregelmässigen Zügen. Alles stolpert,<br />
setzt aus oder macht Zusatzschläge. Urplötzlich fängt der<br />
Zug an, sich zu bewegen. Das Rumoren unter meinen Füssen<br />
macht mich schläfrig und ich döse ein.<br />
Das heftige Klopfen an der Tür weckt mich auf. Ich bin auf<br />
einen Schlag hellwach und hoffe inbrünstig, dass es nicht der<br />
Kontrolleur ist. Meine zittrige Hand wandert zur blankpolierten<br />
Türklinke. Ich weiss, dass jetzt alles vorbei ist. Langsam<br />
öffne ich die Tür und erblicke zum Glück nicht die Uniform<br />
eines Kontrolleurs, sondern eines Kochs. Mit einer abgehetzten<br />
Entschuldigung schlängele ich mich flink zwischen seinen<br />
Beinen hindurch. Ich stehe jetzt im Gang des Wagons und höre<br />
eine weibliche Stimme aus den alten, beigen Lautsprechern<br />
sagen: „We arrived in Paris.“ Schon will ich mich nach dem<br />
Elfenbeinturm umsehen, als ein schriller, immer lauter werdender<br />
Ton mich stört.<br />
Der gottverdammte Mickey Mouse-Wecker, der mit dem Metallstäbchen<br />
den Staub aufwirbelt, weckt mich.<br />
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04.<strong>2018</strong><br />
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