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Spectrum #2 2018

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KURZGESCHICHTE<br />

Ein Nachtrag der Gefühle<br />

Lulgjin Spanca<br />

Meine Hand berührt das kalte Metall der Türklinke. Der<br />

schwere Rucksack zieht an meiner Schulter, als wolle<br />

er mich zurückhalten. Meine ausgelatschten All-Stars sehen<br />

erbärmlicher aus als die Toiletten der Londoner U-Bahn. Ich<br />

weiss, dass mein Leben sich in wenigen Sekunden verändern<br />

wird.<br />

Jeden Morgen dasselbe: Mein verfluchter Mickey Mouse-Wecker<br />

ist wie immer pünktlich. Ich schlurfe ins Bad und spritze<br />

mir kaltes Wasser ins Gesicht. Ich starre mein Spiegelbild an<br />

– ich würde nur in einem zerbrochenen Spiegel gut aussehen.<br />

Die Küchenfliegen schwirren um die kalte Pizza, die ich gestern<br />

bestellt habe. Kurzum: Mein Leben ist scheisse und das<br />

hat seine Gründe.<br />

Mein Vater ist nie zu Hause. Ich weiss nicht mal, wie er seine<br />

Brötchen verdient. Das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe,<br />

war an Weihnachten. Und das ist auch alles, was ich von meinem<br />

Vater weiss.<br />

Ich liebe meine Mutter, weil sie die einzige Person ist, die ich<br />

jeden Tag zu Gesicht bekomme. Andererseits verabscheue<br />

ich sie, weil sie Kris mehr Liebe zeigt als mir. Kris ist ein alter<br />

Freund meiner Mutter. Er ist jeden zweiten Tag bei uns. Nach<br />

einem der Besuche habe ich meine Mutter gefragt, was die beiden<br />

immer im Schlafzimmer machen. Daraufhin hat sie mit einem<br />

Lächeln im Gesicht zu mir gesagt, dass sie die vergangene<br />

Zeit wiedergutmachen wolle. Was das bloss zu bedeuten hat?<br />

Ich stosse die Tür auf und nehme einen tiefen Atemzug in dieser<br />

kalten Londoner Nacht. Ich will mein altes Leben hinter<br />

mir lassen, wie einen alten Pullover, der mir zu kurz ist. Jeder<br />

Befreiungsakt ist wie das Abwerfen einer alten Haut.<br />

Meine Reise hat angefangen. Ich bin schon immer ein launisches,<br />

aber auch ein abenteuerlustiges Kind gewesen, das sei-<br />

ne Träume verwirklichen will. Mein grösster Traum ist es, nach<br />

Paris zu reisen. Also mache ich mich auf den Weg zur Station<br />

Victoria Street. Die schmutzige Fahrtafel, die kaum erkennbar<br />

ist, weist darauf hin, dass der nächste Zug nach Paris in zehn<br />

Minuten auf Gleis sechs abfahren wird.<br />

Mit ohrenbetäubendem Lärm rast der Zug an mir vorbei und<br />

die letzten Zugtüren stoppen vor meiner Nase. Ich suche mir<br />

ein leeres Plätzchen am Fenster und der Zug fährt los. Mein<br />

altes Sparschwein, das ich zertrümmert habe, zählt läppische<br />

fünfzehn Pounds. Das Geld reicht nicht aus, um nach Paris zu<br />

reisen. So muss ich Risiken eingehen.<br />

Ich suche hastig die Toilette. Erst als ich unter dem Lavabo sitze,<br />

wird mir bewusst, was gerade geschieht. Mein Herz pocht<br />

bis in den Hals. Ich atme in unregelmässigen Zügen. Alles stolpert,<br />

setzt aus oder macht Zusatzschläge. Urplötzlich fängt der<br />

Zug an, sich zu bewegen. Das Rumoren unter meinen Füssen<br />

macht mich schläfrig und ich döse ein.<br />

Das heftige Klopfen an der Tür weckt mich auf. Ich bin auf<br />

einen Schlag hellwach und hoffe inbrünstig, dass es nicht der<br />

Kontrolleur ist. Meine zittrige Hand wandert zur blankpolierten<br />

Türklinke. Ich weiss, dass jetzt alles vorbei ist. Langsam<br />

öffne ich die Tür und erblicke zum Glück nicht die Uniform<br />

eines Kontrolleurs, sondern eines Kochs. Mit einer abgehetzten<br />

Entschuldigung schlängele ich mich flink zwischen seinen<br />

Beinen hindurch. Ich stehe jetzt im Gang des Wagons und höre<br />

eine weibliche Stimme aus den alten, beigen Lautsprechern<br />

sagen: „We arrived in Paris.“ Schon will ich mich nach dem<br />

Elfenbeinturm umsehen, als ein schriller, immer lauter werdender<br />

Ton mich stört.<br />

Der gottverdammte Mickey Mouse-Wecker, der mit dem Metallstäbchen<br />

den Staub aufwirbelt, weckt mich.<br />

Hast du selbst eine Kurzgeschichte, die veröffentlicht werden sollte?<br />

Dann sende deinen Text (max. 5'000 Zeichen inkl. Leerzeichen) an: redaction@spectrum-unifr.ch<br />

04.<strong>2018</strong><br />

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