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DOSSIER

Text Alyna Reading

Foto Pexels und Pixabay

Wie der Aberglaube nach

China kam

Was ist Aberglaube? Wie unterscheidet er sich von Religion?

Ein Überblick über hundert Jahre chinesische Religionspolitik.

n der dritten Klasse fragte mich ein Klassenkamerad,

ob meine Familie protestan-

I

tisch sei. Als ich verneinte, rief er erschrocken:

«Bist du denn abergläubisch?» Für ihn

existierten nur zwei Möglichkeiten: protestantischer

Glaube oder Aberglaube. Der

Aberglaube bildet das dunkle Gegenstück

zur Religion. Auch in China wurde er als gefährlich

und rückständig dargestellt. Wenn

er nicht verboten wurde, dann stark eingeschränkt.

Doch wie kommt es, dass mein

alter Klassenkamerad und Mao Tse-tung ein

ähnliches Konzept von Aberglauben hatten?

Das Erbe der Opiumkriege

Die Geschichte des Aberglaubens in China

beginnt in der Kaiserzeit. Das Qing-Kaiserhaus

stand dem Konfuzianismus nahe, doch

die Bevölkerung beteiligte sich an unterschiedlichen

religiösen Praktiken. Diese

mussten sich nicht ausschliessen, sondern

konnten sich auch ergänzen. Dabei reichte

das Angebot von buddhistischen Beerdigungsritualen

über Kampfsporttechniken

bis hin zu Ahnenkulten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

öffnete sich China nach langer Isolation.

Das Kaiserreich hatte die beiden Opiumkriege

gegen Grossbritannien und andere

europäische Mächte verloren. Die Sieger

verlangten nun von China neben der wirtschaftlichen

Öffnung auch mehr kulturellen

Austausch. Katholische und protestantische

Missionar*innen erhielten die Erlaubnis zu

predigen. Es verbreitete sich westliches

Gedankengut. China begann sich von alten

Traditionen abzuwenden, um mit dem «modernen»

Westen mitzuhalten.

Tabula Rasa

Dadaismus blühte schnell auf und starb auch

f«Moderne bedeutet, tabula rasa zu machen:

Die Tradition muss Platz machen für Neues»,

so beschreibt es Professor François

Gauthier. Er unterrichtet Religionswissen-

schaften an der Universität Freiburg und

forscht unter anderem zu chinesischer Religion.

Wie er beschreibt, beginnen Ende des

19. Jahrhunderts erste Reformprojekte, um

China zu modernisieren. So werden zum

Beispiel Tempel in Schulen umfunktioniert.

Traditionelle chinesische Religion wie der

Konfuzianismus galt als veraltet. Tempel

waren einst Orte lokaler Politik und Tradition,

erst der Kontakt zum Westen verwandelte

sie in religiöse Institutionen.

Das europäische Konzept der Religion mit

Dogmen und formalisierten Riten fand seinen

Weg nach China. Und mit der Religion

(zhonjiao) wurde der Aberglaube (mixie)

geboren.

Kampfkunst und Traditionelle Chinesische

Medizin

Nach der Überwerfung des Kaiserhauses

entstand 1912 die Republik China. Sie trieb

die Modernisierung weiter voran. Für die

Religionen bedeutete dies, dass sie nationale

Vereinigungen bilden mussten, um als

fortschrittlich zu gelten. Das Vorbild für

solche Vereinigungen waren christliche

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