Spectrum_05_2022
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DOSSIER
Text Alyna Reading
Foto Pexels und Pixabay
Wie der Aberglaube nach
China kam
Was ist Aberglaube? Wie unterscheidet er sich von Religion?
Ein Überblick über hundert Jahre chinesische Religionspolitik.
n der dritten Klasse fragte mich ein Klassenkamerad,
ob meine Familie protestan-
I
tisch sei. Als ich verneinte, rief er erschrocken:
«Bist du denn abergläubisch?» Für ihn
existierten nur zwei Möglichkeiten: protestantischer
Glaube oder Aberglaube. Der
Aberglaube bildet das dunkle Gegenstück
zur Religion. Auch in China wurde er als gefährlich
und rückständig dargestellt. Wenn
er nicht verboten wurde, dann stark eingeschränkt.
Doch wie kommt es, dass mein
alter Klassenkamerad und Mao Tse-tung ein
ähnliches Konzept von Aberglauben hatten?
Das Erbe der Opiumkriege
Die Geschichte des Aberglaubens in China
beginnt in der Kaiserzeit. Das Qing-Kaiserhaus
stand dem Konfuzianismus nahe, doch
die Bevölkerung beteiligte sich an unterschiedlichen
religiösen Praktiken. Diese
mussten sich nicht ausschliessen, sondern
konnten sich auch ergänzen. Dabei reichte
das Angebot von buddhistischen Beerdigungsritualen
über Kampfsporttechniken
bis hin zu Ahnenkulten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
öffnete sich China nach langer Isolation.
Das Kaiserreich hatte die beiden Opiumkriege
gegen Grossbritannien und andere
europäische Mächte verloren. Die Sieger
verlangten nun von China neben der wirtschaftlichen
Öffnung auch mehr kulturellen
Austausch. Katholische und protestantische
Missionar*innen erhielten die Erlaubnis zu
predigen. Es verbreitete sich westliches
Gedankengut. China begann sich von alten
Traditionen abzuwenden, um mit dem «modernen»
Westen mitzuhalten.
Tabula Rasa
Dadaismus blühte schnell auf und starb auch
f«Moderne bedeutet, tabula rasa zu machen:
Die Tradition muss Platz machen für Neues»,
so beschreibt es Professor François
Gauthier. Er unterrichtet Religionswissen-
schaften an der Universität Freiburg und
forscht unter anderem zu chinesischer Religion.
Wie er beschreibt, beginnen Ende des
19. Jahrhunderts erste Reformprojekte, um
China zu modernisieren. So werden zum
Beispiel Tempel in Schulen umfunktioniert.
Traditionelle chinesische Religion wie der
Konfuzianismus galt als veraltet. Tempel
waren einst Orte lokaler Politik und Tradition,
erst der Kontakt zum Westen verwandelte
sie in religiöse Institutionen.
Das europäische Konzept der Religion mit
Dogmen und formalisierten Riten fand seinen
Weg nach China. Und mit der Religion
(zhonjiao) wurde der Aberglaube (mixie)
geboren.
Kampfkunst und Traditionelle Chinesische
Medizin
Nach der Überwerfung des Kaiserhauses
entstand 1912 die Republik China. Sie trieb
die Modernisierung weiter voran. Für die
Religionen bedeutete dies, dass sie nationale
Vereinigungen bilden mussten, um als
fortschrittlich zu gelten. Das Vorbild für
solche Vereinigungen waren christliche
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