17.11.2013 Views

download - Semaine de la critique

download - Semaine de la critique

download - Semaine de la critique

SHOW MORE
SHOW LESS

Create successful ePaper yourself

Turn your PDF publications into a flip-book with our unique Google optimized e-Paper software.

ÕLIMÄE ÕIED (Flowers from the Mount of Olives)<br />

38<br />

«Eine sehr persönliche, intime Geschichte über das russisch-orthodoxe Kloster auf <strong>de</strong>m Ölberg und<br />

das ausseror<strong>de</strong>ntliche Schicksal einer Nonne, die bald ein Engel wer<strong>de</strong>n will.» (Heilika Pikkov)<br />

Ein <strong>la</strong>nger Weg ent<strong>la</strong>ng von Olivenbäumen und Kakteen. Eine Nonne nähert sich, sie schlägt ein Stück<br />

Holz. Einen <strong>la</strong>ngen Weg hat auch die heute 85-jährige Ksenya aus Est<strong>la</strong>nd hinter sich. Und davon erzählt<br />

die weitgereiste Frau im Film <strong>de</strong>r Estin Heilika Pikkov. Die Filmautorin traf Mutter Ksenya vor sieben<br />

Jahren und entwickelte die I<strong>de</strong>e zu diesem aussergewöhnlichen Porträt. Es habe seine Zeit, Jahre<br />

und viele Briefwechsel gebraucht, bis sie Freun<strong>de</strong> gewor<strong>de</strong>n seien, berichtet Pikkov. Er<strong>la</strong>ubnisse<br />

<strong>de</strong>s Abts, <strong>de</strong>r Priester mussten eingeholt wer<strong>de</strong>n. Dann erst war auch Mutter Ksenya für <strong>de</strong>n Film bereit.<br />

«Schliesslich suchte ich 2010 das Kloster in Jerusalem auf», sagt die Regisseurin, «allein mit Kamera<br />

und Tongerät, auch um die Intimität zu wahren. Alles in allem zogen sich die Dreharbeiten über<br />

zwei Jahre hin, und ich verbrachte zwei Monate im Kloster.»<br />

Pikkovs Film führt uns durch ein ereignisreiches Leben – anhand von Fotografien und Berichten <strong>de</strong>r<br />

Nonne, die erst als über 60-Jährige ins Kloster eintrat, in <strong>de</strong>n bekannten russisch-orthodoxen Konvent<br />

auf <strong>de</strong>m Ölberg (The Mount of Olives Convent of the Ascension of Our Lord).<br />

Mit 18 Jahren (<strong>la</strong>ut Militärpass) war sie 1934 zur Armee gestossen, obwohl sie eigentlich erst 16 war.<br />

Später musste sie aus ihrer Heimat Est<strong>la</strong>nd fliehen, was sie nicht bereut: «Ich war frei – ausgebrochen»,<br />

bekennt sie. In Deutsch<strong>la</strong>nd heiratete sie einen Amerikaner. Ksenya kramt in ihrer Fotobox, erinnert<br />

sich an ihre Jugendfreun<strong>de</strong>, an ihren ersten Ehemann Enn und <strong>de</strong>n zweiten, <strong>de</strong>r sie von <strong>de</strong>n<br />

Drogen rettete, von <strong>de</strong>nen sie nach einer Morphiumbehandlung in einem Spital abhängig gewor<strong>de</strong>n<br />

war. Sie folgte ihm nach Australien, wo er sich zu To<strong>de</strong> trank. Und ihre Lebensreise ging weiter. Ksenya<br />

studierte Medizin und Biologie, heiratete zum dritten Mal. Mit diesem Mann, mit <strong>de</strong>m sie kaum<br />

sexuellen Kontakt hatte, war sie 21 Jahre <strong>la</strong>ng verheiratet. Zuletzt erkrankte er an Alzheimer, und es<br />

dauerte viereinhalb Jahre, bis er starb. Ksenya hatte keine Kin<strong>de</strong>r, wohl aber einen afrikanischen Knaben<br />

adoptiert, von <strong>de</strong>m sie sich auf Geheiss ihres «spirituellen Vaters» lossagen musste, um ins Kloster<br />

eintreten zu dürfen.<br />

Das alles erzählt die alte Frau mit grosser Ge<strong>la</strong>ssenheit. Sie lebt heute gern allein, presst Blumen,<br />

pflegt kranke Pf<strong>la</strong>nzen und wartet auf das Grosse Schema, die Erlösung, bevor sie geht. Aber ihre Zeit<br />

sei noch nicht gekommen, sie müsse noch warten, weiss sie, müsse an<strong>de</strong>ren helfen und sie beraten.<br />

Sie schreibe jährlich 300 Karten an Leute und bete für 400 Menschen.<br />

Einmal wur<strong>de</strong> Ksenya von <strong>de</strong>r Klosterleitung zurück nach Est<strong>la</strong>nd gesandt, da war sie 83 Jahre alt. Die<br />

Filmerin begleitete sie. Die Leute wun<strong>de</strong>rten sich über ihre wun<strong>de</strong>rbare estnische Aussprache. Auf die<br />

Frage, wo ihre Heimat sei, antwortete Ksenya: Nicht Est<strong>la</strong>nd, auch nicht Australien, sie habe auf Er<strong>de</strong>n<br />

keine Heimat, sie sei Kosmopolitin. Zurück im Kloster, eine Art Babylon, betreut sie nun ihre<br />

Schildkröten und wan<strong>de</strong>lt weiter auf <strong>de</strong>m Weg <strong>de</strong>r Xenia von St. Petersburg, die ebenfalls verheiratet<br />

und eine Heilige gewor<strong>de</strong>n war. Ksenya ist eine Frau mit einem Gesicht wie ein Geschichtsbuch, eine<br />

Frau, die ihren Konflikt zwischen säku<strong>la</strong>rem und spirituellem Leben mit sich selber austrägt. In einfachen,<br />

eindrücklichen Bil<strong>de</strong>rn hat Heilika Pikkov Ksenyas Leben dokumentiert, die noch immer auf<br />

<strong>de</strong>m Ölberg ihre Aufgaben erfüllt, mit Schildkröten spielt und ihrer Erfüllung harrt. (Rolf Breiner)<br />

Heilika Pikkov<br />

Geboren 1982, studierte Heilika Pikkov Regie für Film und Fernsehen an <strong>de</strong>r Tallinn Universität und absolvierte<br />

ein Semester an <strong>de</strong>r University of Central Lancashire (GB). 2005 arbeitete sie für einige Monate<br />

bei einer kleinen Fernsehstation in Israel und realisierte ihren ersten Dokumentarfilm, Cherub’s<br />

Revolt, vom estnischen Fernsehen ausgestrahlt und an verschie<strong>de</strong>nen Festivals aufgeführt. Heilika<br />

Pikkov lebt in Est<strong>la</strong>nd und hat zwei Kin<strong>de</strong>r. Ihr Mann ist ebenfalls Filmemacher und am Filmfestival Locarno<br />

2013 präsent.<br />

Filmauswahl: Normal (2010, Dokumentarfilm); A Letter From Ruhnu (2010, Kurzdokumentarfilm);<br />

Cherub’s Revolt (2006, Dokumentarfilm); Windows (2004, Experimentalfilm).

Hooray! Your file is uploaded and ready to be published.

Saved successfully!

Ooh no, something went wrong!