Views
1 year ago

Compendium Volume 8 German

  • Text
  • Volume
  • Compendium
  • Sammlung
  • Fotos
  • Weingut
  • Besetzt
  • Hotels
  • Foto
  • Diamanten
  • Zeit
  • Kunst
  • Welt

Die Natur hat uns alles

Die Natur hat uns alles vorgegeben. Produkte, die zur gleichen Jahreszeit wachsen, harmonieren auch auf dem Teller. Im Garten gedeihen pro Saison 20 bis 30 verschiedene Aromen – das genügt für eine spannungsreiche Küche. — Alain Passard „Meine Gärten sind mein Spielplatz“, sagt er. „Ich habe alles selbst in der Hand. Mit meinen Gärtnern entscheide ich, welches Samengut wir verwenden, wir verfolgen die geschmackliche Entwicklung einer Pflanze über die verschiedenen Reifegrade. Und wir verwenden in der Küche weniger Gewürze – wir haben ja die Kräuter.“ Erst durch die Vielfalt, die ein Garten bietet, erreicht man wahre Saisonalität in der Küche, davon ist Passard überzeugt: „Die Natur hat uns alles vorgegeben. Produkte, die zur gleichen Jahreszeit wachsen, harmonieren auch auf dem Teller. Im Garten gedeihen pro Saison 20 bis 30 verschiedene Aromen – das genügt für eine spannungsreiche Küche.“ Fleischlose Küche, in der westlichen Welt noch immer ein Novum, hat in anderen Weltgegenden lange Tradition, zum Beispiel im Mittleren Osten oder in Asien. Das wissen nicht nur Indienreisende, sondern auch Millionen Netflix-Zuschauer, seit die Serie Chef ’s Table die Arbeit der buddhistischen Nonne Jeong Kwan Seunim porträtierte. In einem südkoreanischen Tempel kocht sie für Nonnen und Mönche vegetarische High-end-Küche, ihre Philosophie inspirierte Kollegen weltweit: „Essen soll Geist und Körper beruhigen, Energie spenden, dabei nicht schwer sein.“ Und, das ist ihr ganz wichtig: „Essen ist zum Teilen da.“ Auch im mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Fu He Hui (Mandarin für „Segen, Harmonie und Weisheit“) in Shanghai orientiert sich die Küche an der Tradition fleischloser Kost in den buddhistischen Klöstern Chinas. Man speist in puristisch gestylten Private Dining Rooms, die Gerichte tragen Namen wie Lotusteich, eine Zubereitung mit Lilienzwiebeln, Guanyin-Blättern (wie sie auch für Oolong-Tee verwendet werden) und Goji-Beeren, die wie eine Lagune angerichtet sind. „Wir wollen die Zeit zurückdrehen“, sagt Gastronom Tony Lu. „Bei uns fühlt sich der Gast, als sei er in einem Privathaus mit großem Garten zum Essen eingeladen.“ Shanghais Nouveaux Riches schwören schon seit Jahren auf diese Erfahrung. Ganz gleich, ob gelebte Pflege jahrtausendealter Tradition oder zeitgeistiger Hype, fest steht: Mit der neuen Hinwendung zu allem Pflanzlichen erlebt die kulinarische Szene einen Wandel, der in seiner Tiefenwirkung mindestens mit der Nouvelle Cuisine vergleichbar ist, die in den 1970er-Jahren die französische Küche revolutionierte. Im Gegensatz zu damals aber erfährt die Plant-based-Bewegung dank der medialen Mittel des digitalen Zeitalters eine noch durchgreifendere, weltweite Verbreitung. Und wer im Eleven Madison Park pochierte, geschälte Erbsen, glasiert mit braunem Reis, an einer Sauce aus Kokosnuss, Blüten und der Minzart Nepitella serviert bekommt, der kann sich tatsächlich fühlen, als blicke er in die Zukunft der Spitzenküche. Oder wie Daniel Humm sagt: „Aus einem Gemüse ein Gericht zu entwickeln, das man nicht mehr vergisst, das ist die wahre Magie unseres Handwerks.“ 44

KRAUT UND RÜBEN GEMÜSE IN DER HAUPTROLLE 1 1 TIAN, WIEN Dass ambitionierte Veggie-Küche sich heute für höhere kulinarische Weihen empfiehlt, beweist schon seit Jahren das Restaurant Tian in Wien. Im hellen, lichten Lokal mit historischer Kuppeldecke und dunklem Holzboden erkochte sich Küchenchef Paul Ivić mit Gerichten wie Selleriesuppe mit Yuzu und Miso, Terrine von Knollensellerie oder Alba-Trüffel-Pasta mit Zitronennage einen Michelin-Stern. Gerade im fleischeslustigen Wien kam das einer kleinen Revolution gleich. Dabei liegt ihm alles Missionarische fern: „Ich will die Menschen nicht bekehren, sondern schmecken und spüren lassen, wie wunderbar vielfältig die Geschmäcker jenseits von Fisch und Fleisch sein können“, sagt Ivić. Das gelingt ihm auch mit scheinbar unprätentiösen Zutaten wie Kürbis, das Gericht besteht aus sechs verschiedenen alten Sorten, die er mit Zedernsamen und Ingwer als kleine Kostbarkeiten zubereitet. „Es lebe das Wagnis“ – so steht es auf der Speisekarte des Tian. Mit einer beeindruckenden Vielfalt an Gemüse, Wurzeln, Blättern und Blüten schafft es das junge Team spielend, auch durch ein ganzes Degustationsmenü hindurch die dramaturgische Spannung zu halten. Ein großes Anliegen ist dem Küchenchef das Engagement für biodynamische Landwirtschaft und gegen genmanipulierte Lebensmittel: „Wir brauchen das überlieferte Wissen der Bauern – das wollen wir zurück in unsere Küche holen.“ Sein Credo: „Ich will vegetarisches Essen so zubereiten, dass die Geschmacksknospen vibrieren und die Sinne in Aufruhr geraten.“ 46

CENTURION