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Cały numer 21 w jednym pliku PDF - Pro Libris - Wojewódzka i ...

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dazu, dass er gleichsam alleine auf dem Gipfel eines unzugänglichen Eisbergs saß. Er konnte niemanden<br />

zu sich auf diesen Gipfel hinaufziehen, er konnte auch nicht von diesem Gipfel herunterkommen,<br />

um zu erkennen, was sich unter der Meeresoberfläche befindet.<br />

Wer war dieser Richard Recknagel? War er ein Meister der Zerstörung? Weshalb wurde er<br />

Sprengmeister in einem Steinbruch und übte seinen ursprünglichen Beruf nicht aus? Er war doch<br />

Bauingenieur. Die Gegenüberstellung seines erlernten und seines ausgeübten Berufes bleibt rätselhaft.<br />

Er wollte offenbar nicht bauen. Er zerstörte. Er zersprengte Felsen und sah zu, wie sie im Knall<br />

zerplatzten, wie Steinblöcke zu Boden stürzten. Perfektionist und Chaot. Seine Pedanterie praktizierte<br />

er perfekt sowohl beim Sprengen der Felsen, als auch dann, wenn er in einem Segelflugzeug<br />

hoch über der Erde schwebte.<br />

Während ich das Buch von Rainer Wochele gelesen habe, habe ich gar nicht bemerkt, wie ich in<br />

seine eigenartige Erzählweise hineingezogen wurde, wie ich mich in den Verlauf der Erzählung, des<br />

Wahrnehmens und Prüfens der Fakten einschalten musste. Es ist kein Buch, das man liest, und bei<br />

dem man nach der Lektüre sagt „ach ja”, und es dann auf das Regal des Vergessens legt. Dieses<br />

Buch wird stets in der Erinnerung jenes Lesers bleiben, der eine Antwort auf die Frage sucht, die<br />

am Ende des Textes steht: „Was wissen wir voneinander?” Was für eine Herausforderung<br />

des Autors, der uns mit seiner, den Roman abschließenden Frage, ein so brennendes <strong>Pro</strong>blem aufbürdet.<br />

Was wissen wir über uns?<br />

Was wissen wir über andere?<br />

Was wissen andere über uns?<br />

Ich schlage den „Desperat” schon zum wiederholten Male auf. Richard Recknagel, siebenundfünfzig<br />

Jahre alt. Ein Kind des Krieges, am Anfang in einem Lebensbornheim, später von der Mutter<br />

und der Großmutter aufgezogen – Tochter und Frau eines reichen Bremer Reeders, der sein Leben<br />

für den Führer gegeben hat. Gerade in solche eine gute deutsche Familie wurde Richard hineingeboren.<br />

Melse nannte ihn „Prinzchen” oder „Feiner”. Nicht Mama, sondern Melse nannte Richard die<br />

Mutter. Eine Zusammenfügung der ersten Buchstaben aus dem Wort Mama mit dem Vornamen<br />

Else. Es wäre interessant zu wissen, ob über diese drei Menschen geklatscht und getratscht worden<br />

ist. Sind sie ins Gerede geraten im Chiemgau, in dem kleinen Ort, wohin die zwei Frauen aus dem<br />

bombardierten Bremen geflohen sind und wohin später der Junge aus dem Lebensborn kam? Kleine<br />

Sticheleien können oft unbarmherzig sein.<br />

Ich erinnere mich an ein kleines polnisches Städtchen, in dem Kinder einem Janek Pawlak nachliefen<br />

und ihm nachriefen: „Kapitan, Kapitan!” Janek war gleichfalls ein Kind des Krieges gewesen.<br />

Ein russischer Soldat, auf dem Weg nach Berlin, hatte eine junge Frau vergewaltigt, und als das Kind<br />

zur Welt kam, hatten die Menschen des Ortes ihm sofort als Namen den militärischen Rang des<br />

Vaters gegeben.<br />

Wie war es mit Recknagel? Warum hat er sich während seines ganzen Lebens nicht mit einer<br />

Frau verbunden, und warum hat er stattdessen die Einsamkeit gewählt? Es ist schwer hierauf eine<br />

klare Antwort zu geben, und ob auf seine diesbezügliche Entscheidung diese oder jene Dinge<br />

Einfluss hatten. Sowohl die Freiheit Richards, als auch unsere Freiheit bewegen sich jeweils zwischen<br />

zwei Polen. Einerseits ist wahr, dass wir etwas stets ganz bewusst wählen. Aber es ist ebenso<br />

zutreffend, dass uns beim zweiten Pol eine spezifische Entscheidung verborgen bleiben kann, deren<br />

Konsequenzen für uns unbekannt und unkontrollierbar bleiben.<br />

„Was weiß man denn voneinander, wenn es ernst wird? Wenn man zutreibt aufs Helle oder<br />

Dunkle? (...) Dann merkte Recknagel, dass er seine Stimme nicht mehr im Zaum halten konnte. Die<br />

machte sich selbständig. Gab sonderbare Laute von sich. Wenn es seine Stimme war, die er da<br />

hörte. Jaullaute waren das. Die er nicht bändigen konnte, die einfach heraussprangen aus ihm. Diese<br />

Jaul- und Heullaute.”<br />

Hat der Held in diesem Moment die Entscheidung für den Selbstmord getroffen? In einem<br />

Augenblick, als er mit sich selbst schon keinen Dialog mehr führen konnte? „Als habe da jemand<br />

von außen über die Scheibe seines Bewusstseins gewischt mit einem Schwamm, und dieser<br />

Schwamm habe auf seiner Bewusstseinsglasscheibe lauter Schlieren und Eintrübungen hinterlassen.<br />

Sodass man nie und nimmermehr durch die Glasscheibe seines Bewusstseins würde hinausschauen<br />

können…”

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