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32 10/2003 epd-Dokumentation<br />
schen Germanisierung und »Entjudung« des<br />
Christentums. Gerade Chamberlains Werk schuf<br />
um die Jahrhun<strong>der</strong>twende die literarische Voraussetzung<br />
<strong>für</strong> das Vordringen rassischen und<br />
antisemitischen Denkens in weite Kreise <strong>der</strong><br />
deutschen Gesellschaft. Spätestens mit <strong>der</strong> Radikalisierung<br />
des Nationalismus und dem Aufstieg<br />
<strong>der</strong> neuen Rechten in den letzten Jahren vor Ausbruch<br />
des Ersten Weltkriegs wurde die Macht<br />
dieser Gestalt <strong>der</strong> Judenfeindschaft unübersehbar.<br />
In den Krisenjahren <strong>der</strong> Weimarer Zeit wurde das<br />
verbreitete Bekenntnis zum Antisemitismus, wie<br />
die Historikerin Shulamit Volkov festhielt, »zu<br />
einem Signum kultureller Identität, <strong>der</strong> Zugehörigkeit<br />
zu einem spezifischen kulturellen Lager.« 22<br />
So verstanden, richtete sich <strong>der</strong> Antisemitismus -<br />
als übergreifen<strong>der</strong> »kultureller Code« eines antiemanzipatorischen<br />
und antipluralistischen Affektes<br />
- gegen jene mit den Stichworten Demokratie,<br />
Aufklärung und Humanität bezeichneten<br />
»Ideen von 1789«, denen die Juden ihre Emanzipation<br />
verdankten und von <strong>der</strong>en Fortwirken<br />
o<strong>der</strong> Scheitern <strong>der</strong> Erfolg ihrer bürgerlichen Integration<br />
abhing.<br />
Man muss aber nur die sich<br />
steigernde Geschichte <strong>der</strong><br />
Verfolgungen, Vertreibungen und Pogrome<br />
im Mittelalter betrachten, um zu sehen,<br />
dass auch <strong>der</strong> traditionelle Antijudaismus<br />
keineswegs eine harmlose Erscheinung war,<br />
eine bloß theoretische Haltung, son<strong>der</strong>n<br />
dass er eine furchtbare Gewaltgeschichte<br />
hervorbrachte, in <strong>der</strong>en Verlauf jüdische<br />
Menschen immer stärker dämonisiert wurden.<br />
Die Deutungen, die sich auf die Wirkung <strong>der</strong><br />
tradierten Judenbil<strong>der</strong> konzentrieren, gehen<br />
selbstverständlich nicht von einer stets gleich<br />
bleibenden judenfeindlichen Tradition aus, son<strong>der</strong>n<br />
beschreiben ihre Verwandlung in unterschiedlichen<br />
historischen Zusammenhängen.<br />
Daher benennt auch die mentalitätsgeschichtliche<br />
Forschung, so sehr sie die religiöse Tradition des<br />
Antijudaismus als bleibende Grundlage <strong>der</strong> sich<br />
wandelnden Formen <strong>der</strong> Judenfeindschaft betont,<br />
wichtige Unterschiede zwischen dem religiösen<br />
Antijudaismus und dem Antisemitismus. Sie sind<br />
insbeson<strong>der</strong>e dann sinnvoll, wenn mit diesen<br />
Differenzen zugleich auch die Grenzen <strong>der</strong> Unterscheidung<br />
sichtbar bleiben:<br />
1) Im Kontext des mo<strong>der</strong>nen Antisemitismus in<br />
Deutschland konnten die religiösen Mythen ihre<br />
Wirkmächtigkeit deshalb bewahren, weil sie mo<strong>der</strong>nisiert<br />
wurden und in neuem Gewand auftra-<br />
ten. So wurde aus <strong>der</strong> Ritualmordbeschuldigung<br />
im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t das Bild vom jüdischen<br />
»Mammonismus«, Materialismus und <strong>der</strong> jüdischen<br />
»Blutsaugerei« (Kapitalismus), aus dem<br />
»Gottesmord« die gefährliche Fremdheit und das<br />
Dämonische des Judentums, das zu allen Verbrechen<br />
gegen die nichtjüdische Gesellschaft fähig<br />
sei. Dieser »rationale« Antisemitismus war insgesamt<br />
gefährlicher und konsequenter als die traditionelle<br />
christliche Judenfeindschaft, weil die<br />
»Judenfrage« auf irgendeine Weise »gelöst« werden<br />
musste. Nach <strong>der</strong> christlichen Lehre bestimmt<br />
Gottes Vorsehung den Geschichtsprozess:<br />
<strong>Der</strong> einzelne Christ kennt den göttlichen Geschichtsplan<br />
nicht und kann deshalb auch Wi<strong>der</strong>sprüchliches,<br />
also etwa die Fortexistenz des Judentums<br />
trotz seiner »Verwerfung« ertragen o<strong>der</strong><br />
die Lösung des Wi<strong>der</strong>spruchs auf das Ende <strong>der</strong><br />
Geschichte vertagen. Vielfach galt die Existenz<br />
<strong>der</strong> Juden - in augustinischer Tradition - bis zum<br />
Ende <strong>der</strong> Geschichte antijudaistischem Denken<br />
nicht nur als Beweis <strong>für</strong> die Wahrheit des Christentums,<br />
son<strong>der</strong>n als heilsnotwendig: Am Ende<br />
<strong>der</strong> Geschichte werde ihre Bekehrung erfolgen, ja<br />
ihre Bekehrung sei ein Zeichen des Kommens des<br />
Reiches Gottes. Im Grunde zielte dies sogar auf<br />
den Schutz <strong>der</strong> jüdischen Min<strong>der</strong>heit, insofern es<br />
so etwas wie Hoffnung <strong>für</strong> sie gab. In den neuen<br />
säkularen Ideologien wurde die »Lösung <strong>der</strong> Judenfrage«<br />
dagegen zu einer menschlichen Aufgabe:<br />
Außer <strong>der</strong> Ausgrenzung o<strong>der</strong> <strong>der</strong> im Verschwinden<br />
ethnisch-religiöser Identität mündenden<br />
völligen Assimilation kamen damit auch die<br />
Entrechtung und Vertreibung, in völkischer Zuspitzung<br />
sogar die Vernichtung als Möglichkeit in<br />
den Blick. 23 Man muss aber nur die sich steigernde<br />
Geschichte <strong>der</strong> Verfolgungen, Vertreibungen<br />
und Pogrome im Mittelalter betrachten, um zu<br />
sehen, dass auch <strong>der</strong> traditionelle Antijudaismus<br />
keineswegs eine harmlose Erscheinung war, eine<br />
bloß theoretische Haltung, son<strong>der</strong>n dass er eine<br />
furchtbare Gewaltgeschichte hervorbrachte, in<br />
<strong>der</strong>en Verlauf jüdische Menschen immer stärker<br />
dämonisiert wurden.<br />
2) Nach traditionellem christlichem Selbstverständnis<br />
konnte ein Jude durch Bekehrung zum<br />
Mitglied <strong>der</strong> christlichen Gemeinschaft werden.<br />
Gerade die Vertreter <strong>der</strong> kirchlichen Judenmission<br />
gehörten deshalb trotz ihrer oft ausgeprägten<br />
antijudaistischen Neigungen vielfach zu den Gegnern<br />
des rassischen Antisemitismus. Die Judenmission<br />
wurde von den Nationalsozialisten<br />
schließlich verboten, einmal weil sie <strong>für</strong> den<br />
Schutz <strong>der</strong> Juden eintrat, vor allem aber, weil sie<br />
aus rassischer Sicht das Eindringen »jüdischen<br />
Blutes« in die deutsche Volksgemeinschaft för-