download - Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für ...
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Vor allem: Träger <strong>der</strong> Handlungen sind nicht<br />
Einzelgestalten, son<strong>der</strong>n die Chöre mit ihrer<br />
Dramatik, ihrer Kürze, ihrem Tempo. Und nicht<br />
zuletzt mit ihrer Vielfältigkeit, Aggressivität, ihrer<br />
Herausfor<strong>der</strong>ung Jesu, vor allem <strong>der</strong> jüdischen<br />
Obrigkeit und <strong>der</strong> römischen Staatsmacht in <strong>der</strong><br />
Gestalt des Pilatus: »Lässest du Diesen los, so bist<br />
du des Kaisers Freund nicht« - eine glatte politische<br />
Provokation und Erpressungsdrohung an die<br />
Weltmacht; eine kleine Revolution - und das gefällt<br />
uns heute vielleicht mehr als früher. Beson<strong>der</strong>s,<br />
wo Bach hier alles Raffinement seiner musikalischen<br />
Kunst einsetzt: das »wun<strong>der</strong>bare<br />
Durcheinan<strong>der</strong>arbeiten« seiner Chorfugati, jenes<br />
Fliehen und Einan<strong>der</strong>-Folgen <strong>der</strong> Stimmen, die<br />
Birnbaum so treffend beschreiben konnte; jenes<br />
Schaffen und Drängen <strong>der</strong> Stimmen, »einan<strong>der</strong><br />
gleichsam zuvorkommen«. Dann diese Synkopen,<br />
die das ganze Durcheinan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Judenchöre<br />
ausdrücken, dieses revolutionäre Aus-demgeraden-Takt-Springen<br />
<strong>der</strong> Juden. Vor allem diese<br />
Chromatik aufsteigen<strong>der</strong>, alles zuspitzen<strong>der</strong> Töne,<br />
wenn sie Jesus als »Übertäter« deklarieren,<br />
und dasselbe, nur eine Quarte tiefer gesetzt,<br />
wenn sie vom »Töten« schreien.<br />
Gewiss, musikalisch gibt es das alles oft bei Bach:<br />
Fugati, Synkopen, auf- und absteigende Chromatik,<br />
versetzte Wie<strong>der</strong>holungen einer musikalischen<br />
Figur; neben vielem an<strong>der</strong>em gehört das zu<br />
Bachs musikalischer Sprache. Aber als Übersetzung<br />
<strong>der</strong> Bibelrede ins musikalische und beson<strong>der</strong>s<br />
als Übersetzung neutestamentlicher Judenrede<br />
klingt es und kann es auch objektiv hoch<br />
gefährlich wirken: spitz mit den Worten <strong>der</strong> Juden<br />
gegen die Juden gesungen.<br />
Und nach Auschwitz ist das nun auch bei uns zu<br />
Lande nicht weniger fraglich geworden. Kann<br />
man es unbefangen so weiter singen und klingen<br />
lassen? Auf dem Leipziger Kirchentag im Juni<br />
1996 hat es einen ganzen Abend über diese Judenchöre<br />
gegeben, und man war sich einig: Wir<br />
können die Bach-Passionen nur noch mit Besinnung<br />
über diese Problematik und mit Erklärung<br />
aufführen. Ungedeutet geht das nicht mehr.<br />
Ich zitiere die Arbeit zu diesem Chören <strong>der</strong> Johannespassion<br />
von Dagmar Hoffmann-Axthelm,<br />
die wissenschaftliche Mitarbeiterin an <strong>der</strong> Schola<br />
Cantorum in Basel ist und zudem eine Praxis als<br />
Psychotherapeutin betreibt: »Die Bewusstwerdung<br />
<strong>der</strong> dunklen Kehrseite dieses Werkes bereitet<br />
Schmerzen. Denn diese gewaltigen Zeugnisse<br />
protestantischer Kirchenmusik entstanden auf<br />
einem Boden, aus dem sich letztlich auch Kräfte<br />
nährten, die zur bisher größten Menschheitska-<br />
epd-Dokumentation 10/2003 61<br />
tastrophe geführt haben«; sie meint: zur Shoah,<br />
zum Holocaust, den Judenmorden <strong>der</strong> Nazis.<br />
Viele von uns empfinden es so ähnlich wie die<br />
Psychologin (in: Freiburger Rundbrief, N.F.,<br />
5. Jg. 1998, Nr. 2, S. 103-111).<br />
Es gibt keine politisch unschuldige Musik. Durch<br />
Nikolaus Harnoncourt sind wir neu auf das Phänomen<br />
<strong>der</strong> »Klangrede« gestoßen worden, die<br />
gerade in <strong>der</strong> Bachzeit und auch noch danach wie<br />
selbstverständlich eine uns längst verloren gegangene<br />
musikalische Aufführungspraxis bestimmte.<br />
Nicht <strong>der</strong> Gebrauch alter Instrumente wie ihrer<br />
an<strong>der</strong>en Stimmung und Mensur ist an <strong>der</strong> heute<br />
so genannten »historischen Aufführungspraxis«<br />
das Entscheidende, son<strong>der</strong>n ein an<strong>der</strong>es Verhältnis<br />
zu Tönen und zur musikalischen Artikulation.<br />
Nicht das Ideal <strong>der</strong> Gleichmäßigkeit und Ausgeglichenheit<br />
des einzelnen Tons o<strong>der</strong> einer Tonfolge<br />
o<strong>der</strong> des Tempos eines Satzes soll dabei gelten,<br />
son<strong>der</strong>n ein vom Atmenkönnen abhängiges<br />
Anschwellen und vor allem Abschwellen des<br />
Tones, ein Heben und Senken <strong>der</strong> Singstimme,<br />
aber auch <strong>der</strong> Instrumentalstimme, die ja auch<br />
unser Sprechen charakterisieren.<br />
Gute Musik sollte sich am wenigsten nach den<br />
Zwangskäfigen <strong>der</strong> Traktstriche (und schon gar<br />
nicht nach <strong>der</strong> Maschine des Metronoms) richten,<br />
son<strong>der</strong>n nach unseren Atemzügen und Herzschlägen.<br />
Weg mit den Regeln unserer Notenschriften,<br />
des Schriftlichen – auf in die Freiheit<br />
des Mündlichen! - In <strong>der</strong> Theologie haben wir in<br />
letzter Zeit etwas Ähnliches gelernt. Nicht die<br />
Heilige Schrift allein ist das Entscheidende, son<strong>der</strong>n<br />
das Mündliche, aus dem sie kommt und zu<br />
dem sie führt. Martin Buber, <strong>der</strong> jüdische Gelehrte,<br />
nannte das Wort Gottes »das Wort, das<br />
gesprochen wird«, nicht: die Heilige Schrift, die<br />
gelesen wird; vielleicht auch in Nachbarschaft zu<br />
Goethes west-östlichem Diwan: »Wie das Wort so<br />
wichtig dort war, weil es ein gesprochen Wort<br />
war.« Und schon Luther hatte mehrmals gesagt,<br />
es sei nicht richtig, dass das Evangelium zur<br />
Schrift gemacht worden sei, denn es sei ein<br />
»mundlich G‘schrei«, »gute neue Mär« zum »Singen<br />
und Sagen«, aber nicht zum Lesen. Da geht<br />
auf einmal in Musik und Theologie etwas Gleiches<br />
vor: Traut euch zu atmen - keine Angst vor<br />
Unausgewogenheit!<br />
Bei <strong>der</strong> Entdeckung alter Regeln <strong>der</strong> musikalischen<br />
Klangrede zu Bachs Zeiten ist nun Frau<br />
Hoffmann-Axthelm auf eine son<strong>der</strong>bare Regel<br />
gestoßen, <strong>der</strong> »fuga perfidiata«, zuerst in Frankreich<br />
so beschrieben von Sébastian de Brossard<br />
(1705), dann von Bachs Freund und Vetter Gott-