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60 10/2003 epd-Dokumentation<br />
Die Juden in Bachs Johannes-Passion<br />
Von Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt<br />
Vortrag in <strong>der</strong> St.-Annen-Kirche, Berlin-<br />
Dahlem, 13. 3. 1998<br />
Er führte die Singstimmen oft wie Instrumentalstimmen.<br />
Das hat ihm schon zu Lebzeiten viel<br />
Kritik eingetragen, z. B. des Joh. Adolf Scheibe,<br />
<strong>der</strong> in <strong>der</strong> damals maßgebenden Hamburger Zeitschrift<br />
»Critischer Musicus« eine fulminate Bach-<br />
Kritik veröffentlichte (1737), in <strong>der</strong> er Bachs einzigartige<br />
Virtuosität und Behändigkeit im Orgelspiel<br />
lobte, ihn als Komponisten aber heruntermachte.<br />
Durch »schwülstiges und verworrenes<br />
Wesen« seiner Schreibart entzöge er <strong>der</strong> Musik<br />
»das Natürliche«, durch »allzu große Kunst« verdunkele<br />
er ihre Schönheit. Woran liegt das? »Weil<br />
er nach seinen Fingern urteilt, so sind seine Stücke<br />
überaus schwer zu spielen; denn er verlangt,<br />
die Sänger und Instrumentalisten sollen durch<br />
ihre Kehle und Instrumente eben das machen,<br />
was er auf dem Klaviere spielen kann. Dieses ist<br />
aber unmöglich.«<br />
Also Protest gegen die Instrumentenlastigkeit<br />
auch <strong>der</strong> Singeweise bei Bach, aber auch gegen<br />
die Klavierlastigkeit <strong>der</strong> Instrumentenführung.<br />
Das gab in den folgenden Jahren ein großes Hin<br />
und Her <strong>der</strong> Fachleute darüber. Scheibe sprach<br />
schon als Vertreter einer neuen Musik, die etwas<br />
an<strong>der</strong>es wollte. Bach wurde verteidigt von seinem<br />
Leipziger Freund, Magister J. A. Birnbaum, Rhetoriker<br />
an <strong>der</strong> Universität, <strong>der</strong> genau ausdrücken<br />
konnte, was Bachs Kompositionsstil ausmachte:<br />
»erstaunte Menge seltener und wohlausgeführter<br />
Einfälle«; »Durchführung eines einzigen Satzes<br />
durch die thone (= Tonarten), mit den angenehmsten<br />
Verän<strong>der</strong>ungen«; ganz beson<strong>der</strong>e geschicklichkeit<br />
auch bey <strong>der</strong> grösten geschwindigkeit«;<br />
»ungemeine fertigkeit aus den schwersten<br />
thonen, mit gleicher geschwindigkeit und accuratesse,<br />
als aus dem leichtesten zu spielen«. Ferner:<br />
»da? Die stimmen in den stücken... in <strong>der</strong><br />
Music wun<strong>der</strong>sam durcheinan<strong>der</strong> arbeiten: allein<br />
alles ohne die geringste verwirrung. Sie gehen mit<br />
einan<strong>der</strong> und wie<strong>der</strong>einan<strong>der</strong>; beydes wo es<br />
nöthig ist. Sie verlassen einan<strong>der</strong> und finden sich<br />
doch alle zu rechter zeit wie<strong>der</strong> zusammen. Jede<br />
Stimme macht sich vor <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en durch eine<br />
beson<strong>der</strong>e verän<strong>der</strong>ung kenntbar, ob sie gleich<br />
öfftersmals einan<strong>der</strong> nachahmen. Sie fliehen und<br />
folgen einan<strong>der</strong>, ohne daß man bey ihren beschäfftigungen,<br />
einan<strong>der</strong> gleichsam zuvorkommen,<br />
die geringste unregelmäßigkeit bemerkt.«<br />
Besser, scheint es mir, lässt sich nicht ausdrücken,<br />
was sich in Bachs Musik ereignet. Für die<br />
Judenchöre wollten wir uns vor allem Birnbaums<br />
Ausdruck vom »Mit- und Wi<strong>der</strong>einan<strong>der</strong>« in <strong>der</strong><br />
Bachschen Töne-Setzung merken.<br />
In Israel mochte man Bachs Passionen lange nicht<br />
hören - so wenig wie Opern vom Judenfeind Richard<br />
Wagner mochte man Bach nicht: Einmal,<br />
weil das Christliche im Staat <strong>der</strong> Juden sowieso in<br />
schlechter feindlicher Erinnerung ist. Sodann,<br />
weil gerade in den Passionen Judenfeindschaft<br />
durch Bachs Musik so »schön gezieret« scheint.<br />
Wir müssen wissen: Schon lange vor Auschwitz<br />
war die Stunde nach dem Karfreitagsgottesdienst<br />
nach vieler Christen Sitte eine Stunde von Angriffen<br />
auf jüdische Häuser und Familien des<br />
Ortes, nicht nur in Europa, auch bei uns in<br />
Deutschland, nicht nur im finsteren Mittelalter,<br />
auch noch im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, mitten im Zeitalter<br />
<strong>der</strong> Aufklärung.<br />
Mit dem wütenden Schlachtruf »Hep, Hep«<br />
stürmten von Gottesdienst und Predigt aufgehetzte<br />
christliche Massen jüdische Wohnungen.<br />
Hep-Hep ist die Abkürzung <strong>der</strong> lateinischen Formel:<br />
»Hierosolyma est perdita«: Jerusalem ist<br />
verloren, mit Jerusalem ist es aus und soll auch<br />
hier bei uns Schluss sein - zum letzten Mal vor<br />
<strong>der</strong> Nazizeit geschehen und zu hören gewesen<br />
am Karfreitag 1819 in Frankfurt a. M., fast hun<strong>der</strong>t<br />
Jahre nach jenem Karfreitag 1724, an dem in<br />
Leipzig zum erstenmal Bachs Johannespassion zu<br />
hören war. - Wer von uns kann also Bach davor<br />
schützen, als Anstifter zu einem Hep-Hep-Pogrom<br />
aufgefasst zu werden? Was läuft in uns ab, wenn<br />
wir diese ungeheuren Chöre hören: »Wäre dieser<br />
nicht ein Übeltäter...«; »Sei gegrüßet, lieber Judenkönig«;<br />
»Wir haben ein Gesetz, und nach dem<br />
Gesetz muss er sterben«; o<strong>der</strong> auch nur die<br />
Schreie: »Jesum von Nazareth« o<strong>der</strong> »Nicht diesen,<br />
diesen nicht, nicht diesen, son<strong>der</strong>n Barrabam«?<br />
Es gibt viele Liebhaber Bachs, die <strong>der</strong> Johannespassion<br />
den Vorzug vor <strong>der</strong> späteren und längeren<br />
Matthäuspassion geben. Sie scheint zügiger.<br />
»Da ist mehr los«, das gibt es nicht so viele verinnerlichte<br />
Meditationsarien, also auch nicht so<br />
viele Wie<strong>der</strong>holungen, die manche Hörer ermüden.