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Kinder „durchschreiten 4 Der achtjährige Moritz sitzt mit geröteten Wangen auf seinem Stuhl. Unruhig rutscht er hin und her. Er ist aufgeregt. Um ihn herum sitzen andere Kinder, die ihn aufmerksam beobach ten und ihm zuhören. Moritz erzählt von einer Auseinandersetzung mit seinem Bruder. In seiner Hand hält er einen Edelstein. Dieser berechtigt ihn in diesem Moment zum Reden. Als er die Geschichte beendet hat, gibt er den Stein an die ebenfalls achtjährige Martina weiter. Diese hat ganz andere Probleme, über die sie ihren Mitschülern berichtet: Hausaufgaben und Flötespielen strengen sie sehr an. Nach und nach erzählen alle Kinder im Stuhlkreis an diesem – wie an jedem neuen Schulmorgen in den Parzival-Schulen – von ihren Sorgen und Nöten. Parzival-Schule, was ist das? Der Name ist mit Bedacht gewählt: Parzival bedeutet „Durchschreite das Tal“ oder auch „Mitten durch“. Vereinfacht ausgedrückt heißt das, dass sich die Entwicklung von Menschen durch Krisen auf ein Lebensziel zu bewegt. Seit rund vier Jahren verwirklichen in Karlsruhe diese Schulen auf Grundlage der Waldorfpädagogik ein besonderes Erziehungskonzept: so genannte verhaltensauffällige, erziehungsschwierige und lernbehinderte Kinder aus dem Einzugsgebiet Karlsruhe, Pforzheim, Bruchsal, Bad Herrenalb, Rastatt und der Pfalz werden in einer Klasse unterrichtet. Dadurch sollen die Schüler in Kleinklassen (je rund zwölf Schüler) die Möglichkeit
erhalten, gegenseitig von ihren Stärken zu profi tieren und ihre einseitigen Be gabungen auszugleichen. „Kinder, die Auffälligkeiten im sozial-emotionalen Bereich haben, können sich dabei als sehr wertvoll erleben. Sie helfen ihren lernschwachen, oft motorisch ungeschickten Mitschülern beim Lösen von Aufgaben, Schuhe binden und anderem“, sagt Melanie Reveriego. So profi tieren die Kinder von einander, denn auf beiden Seiten werden Erfolgserlebnisse vermittelt. Melanie Reveriego weiß wovon sie spricht. Sie leitet die Freie Schule für Erziehungshilfe, die gemeinsam mit der Freien Förderschule das gesamtheitliche Konzept in Karlsruhe umsetzt. „Eigentlich wollten wir nur eine Schule gründen und die Kinder eben in dieser in einem gemeinsamen Klassenverband unterrichten. Aber das ist nach dem hiesigen Schulgesetz nicht möglich“, erläutert Bernd Ruf, Leiter der Freien Förderschule. Da in seinen Augen sich die beiden „Behinderungsarten“ aber ergänzen und es deshalb nur Sinn macht, wenn sie gekoppelt angegangen werden, wurden beide Schulen parallel ins Leben gerufen und arbeiten nun eng zusammen. Als Träger fungiert der Karlsruher Verein zur Förderung junger Menschen. Neben dem täglichen gemeinsamen Unterricht zeichnen sich die Parzival-Schulen durch jede Menge andere Besonderheiten aus. „Das A und O ist die Beziehung der Pädagogen zu den Schülern“, sagt Melanie Reveriego. Deshalb hat auch der Klassenlehrer eine besondere Stellung. Er ist nicht nur für den Unterricht zuständig, sondern hält auch privat Beziehung zu den Schülern und ihren Eltern und löst Probleme unter Umständen bei Besuchen zu Hause. Treten Unstimmigkeiten im Erziehungsbereich ein, geht das Jugendamt oder der soziale Dienst auf die Schule zu. Des weiteren sind die Gruppen, in denen die Kinder unterrichtet werden, kleiner. Dadurch können die Lehrkräfte besser auf die entsprechenden Defi zite der Schüler eingehen und sie intensiv betreuen. Auf die etwa 80 Schüler, die in sechs Klassen aufgeteilt sind, kommen 20 Lehrer. Auch das Umfeld der Schule ist ungewöhnlich gestaltet. „Farben und Formen können sich lernfördernd auswirken“, weiß Bernd Ruf. Außerdem fühlen sich die kleinen Kinder in runden und in warmen Farben gehaltenen Räumen geborgener als in eckigen. Und nicht zuletzt ist das ausgebaute Therapiean- das Tal“ gebot entscheidend für die ungewöhnliche Erfolgsgeschichte der Parzival-Schulen: Besondere Zuwendung erfahren die Kinder in Mal-, Bewegungs-, Musik- und Sprachtherapien, im Tonunterricht oder im dynamischen Zeichnen. Die Klassenlehrer begleiten die Kinder bis zur neunten Klasse. Die Fächer werden in Form von Epochen unterrichtet. Das heißt, dass beispielsweise rund vier Wochen lang jeden Morgen in Mathematik Bruchrechnen an der Reihe ist. „Es ist eine Frage der Konzentration auf eine Sache. Die intensive Begegnungsmöglichkeit mit dem Lernstoff ermöglicht den Kindern einen leichteren Zugang“, erläutert Melanie Reveriego. Diese Art des Lernens ist nicht neu. Sie wurde wie bereits gesagt von der Waldorfpädagogik übernommen, der Lehrplan wird auf deren Grundlage erstellt. Bisher haben in Karlsruhe die Parzival-Schulen nicht nur die gleichen Inhalte wie die hiesige Waldorfschule, sie sind auch in den gleichen Räumen untergebracht. Wieso? „Das war eine Frage der Organisation. Wir haben einen Platz für unsere Schulen gesucht und die Waldorfschule hatte diesen. Sie war zweizügig geplant, der zweite Zug war aber noch nicht so weit, sodass Kapazitäten frei waren“, berichtet Bernd Ruf. Den Initiatoren der Parzival-Schulen kam das gerade Recht. Jetzt allerdings stehen sie vor einem Problem: Die Waldorfschule benötigt den von ihnen genutzten Raum, sodass sie eine neue Bleibe suchen müssen. „Wir sind bereits seit langem mit der Stadt in Verhandlung und haben jetzt einen geeigneten Platz für einen Neubau gefunden“, so Ruf. Dieser liegt im Hagsfelder Gewann „Auf der Grub“. Dort soll im Sommer mit dem Bau des neuen Gebäudes für die Parzival-Schulen begonnen werden. „Wir freuen uns sehr darauf“, sind sich die beiden engagierten Schulleiter einig, die bis dahin allerdings noch einige Steine und Probleme in Bezug auf Finanzierung und Organisation aus dem Weg räumen müssen. Ihre Pläne für die Zukunft stehen aber bereits heute fest - und sie sind groß: Diese beinhalten einen Hort und eine Tagesgruppe, sowie ein Konzept für die Oberstufe, ein Berufsvorbereitungsjahr, die berufl iche Ausbildung in Form von Praktika und einen Förderlehrgang. Auch eine Schule für seelenpfl egebedürftige Kinder, also solche mit geistigen Behinderungen, ist geplant. Außerdem soll der Neubau den Hagsfelder Bürgern zu Gute kommen. „Uns schwebt eine Aula vor, in der das Gemeinschaftsleben gefördert werden kann, indem dort Bälle oder sonstige Feste stattfi nden“ erläutert Melanie Reveriego. So wollen die Verantwortlichen eine Brücke zwischen den Anwohnern und den Schülern schlagen. „Uns ist schon klar, dass viele Menschen unseren Schülern skeptisch gegenüberstehen. Das verstehen wir auch. Aber letztlich sind es Kinder und haben eine Chance verdient“, verteidigen sie den lernbehinderten und erziehungsschweren Nachwuchs, für den sie selbst sich nicht nur berufl ich, sondern auch in ihrer Freizeit stark einsetzen. Abb. o. li.: geplanter Bauabschnitt (rot) Abb. o. re.: Auf der Grüb, Hagsfeld Parzival-Schulen Karlsruhe Königsbergerstr. 35a 76139 Karlsruhe Tel: 0721-352536-3 Fax: 0721-352536-4 5
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