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Steuerung sozialer Systeme - Konstantin Bähr

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verschiedener Bücher in der Bibliothek also, wohl aber das laute Vorlesen vor kleinerem<br />

oder grösserem Publikum kann man als Interaktion begreifen. (1999: 26; 27). (...). In Extremfällen<br />

von Kürze, wenn es etwa nur darum geht, eine Kinokarte zu kaufen, ist es schon<br />

unklar, ob es sich überhaupt um eine Interaktion handelt. Die Grenze zwischen blossem<br />

Mitvollzug der Gesellschaft und ausdifferenzierter Interaktionsrealität kann hier nicht eindeutig<br />

gezogen werden. Interaktionen brauchen also ein Minimum an Zeit, um sich als<br />

<strong>Systeme</strong> zu schliessen, und noch mehr Zeit ist erforderlich, wenn die darin angelegte Chance<br />

zur Distanzierung von Gesellschaft genutzt werden soll. (ebd.: 101)<br />

Die Grenzziehung ist in der Tat nicht eindeutig. Über Telefonieren kann für<br />

KIESERLING ein Interaktionssystem entstehen, obwohl die Personen körperlich<br />

abwesend, aber – als Festnetztelefonierer zumindest – körperlich lokalisierbar<br />

sind (1999: 125); 61 auf der anderen Seite wird von ihm das Grüssen<br />

von Personen, insofern es nur Routine ist, als Mitvollzug der Gesellschaft,<br />

also Kommunikation, gedeutet, auch wenn die Personen körperlich an-<br />

wesend sind.<br />

Diese Uneindeutigkeiten erzeugen Theorieprobleme gerade dann, wenn man Verbindungen<br />

zwischen den Formen <strong>sozialer</strong> <strong>Systeme</strong> steuerungstheoretisch angehen will. Gehen wir von<br />

Handlungen aus, die wir nahezu täglich vornehmen. Wir kaufen ein und bezahlen die Lebensmittel<br />

bei der Kassiererin. Ist hier ein Interaktionssystem entstanden? Wir fahren Auto,<br />

ein Polizist regelt den Verkehr, er gibt ein Zeichen, wir bleiben stehen. Ist das schon ein<br />

Interaktionssystem, oder entsteht es erst dann, wenn er pfeift, den Block zückt, wir die<br />

Scheibe runterdrehen und nach Ausreden suchen? Wir erhalten von unserer Partnerin einen<br />

Kuss. Entstand so ein Interaktionssystem, oder haben wir (nur) das Funktionssystem Intimität<br />

mitvollzogen? – Es spricht viel dafür, bei den beiden Beispielen (Kasse, Verkehrsregelung)<br />

tatsächlich von einem Mitvollzug des jeweiligen Funktionssystems auszugehen<br />

(Wirtschaft, Recht). Zunehmend verschwinden auch die Situationen, die wir gerade diskutierten:<br />

Kassiererinnen werden durch Kreditkartenautomaten ersetzt, sogar im Supermarkt,<br />

62 Polizei regelt den Verkehr sowieso nur noch in Ausnahmefällen. – Beim pfeifenden<br />

Polizisten und dem Dialog an der Autoscheibe wird es sich mit aller Wahrscheinlichkeit<br />

um eine organisationsförmige Interaktion handeln. Er wird uns nicht zum Sinn des<br />

Lebens befragen, sondern wir werden den Führerschein zeigen müssen und die Fahrzeugpapiere,<br />

und dann hören wir, wo wir vom rechten Pfad abgewichen sind. Bei der Analyse<br />

des Kusses der Partnerin haben wir es leichter, aber auch schwerer. Wir haben es leichter,<br />

denn wir haben schon mal zwei Anwesende, die sich gegenseitig wahrnehmen, die sich<br />

ausgewählt haben, die füreinander signifikant sind, eine gemeinsame Geschichte besitzen,<br />

gemeinsame Themen, vielleicht auch gemeinsame Kinder. Der Kuss wird ein Symbol für<br />

61<br />

Hier sieht man bereits den Zeitindex der Aussage. Mittlerweile werden auch Festnetzapparate<br />

variabel umgeleitet, es gibt Nummernportabilitäten etc.<br />

62<br />

Wen dies erstaunen mag, dem sei empfohlen, Supermärkte in den Vereinigten Staaten<br />

aufzusuchen. Dort haben sich Selbstbedienungskassen bereits eingebürgert: Kunden<br />

und Kundinnen flitzen mit ihren Artikeln selbst über Bar-Code-Leser und bezahlen mit<br />

der Karte. Dem Problem des Diebstahls wird begegnet, indem vor je drei SB-Kassen<br />

eine Beobachterin (vermutlich Kundenberaterin genannt) vor ihrem desk mit Kontrollmonitor<br />

steht und (mehr oder weniger) aufpasst, ähnlich wie früher die Kunden, als<br />

sie beobachteten, wie die Kassiererin kassiert und wo die Spannung bei jedem<br />

Schnäppchen, dass sie in die Hand nahm, stieg, ob sie auch den Preisabschlag berücksichtigen<br />

würde.<br />

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