Steuerung sozialer Systeme - Konstantin Bähr
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Zeitvorrat, der zumindest so gross sein muss, dass das Interaktionssystem<br />
sich „schliessen“ kann. In sachlicher Hinsicht werden Interaktionssysteme<br />
Themen variabel prozessieren. Allerdings lässt sich vermuten, dass Interaktionssysteme<br />
anfällig für den Einsatz spontaner psychischer und körperlicher<br />
Gewalt sind. Funktionssysteme werden niemals so direkt auf Körper<br />
zugreifen können, wie das in Interaktionssystemen geschieht. Wenn sie das<br />
tun, dann verwenden sie dafür spezifische Organisationen (wie das Funktionssystem<br />
Recht mit Gericht, Polizei, Gefängnis).<br />
(7) Wir konnten auf der Grundlage der gerade dargestellten Ergebnisse<br />
(Pkt. 5; 6) Prognosen über das <strong>Steuerung</strong>spotenzial von Funktionssystemen<br />
aufstellen. Funktionssysteme organisieren die in ihrem Anwendungsbereich<br />
auftretende Kommunikation binär. Wenn diese Kommunikation strukturell<br />
an die psychischen <strong>Systeme</strong> der Gesellschaftsmitglieder gekoppelt ist, dann<br />
wird sie nicht nur deren Kommunikation führen, sondern auch deren Wahrnehmung<br />
raffinieren. Das ist ein wichtiges Potenzial, es wäre aber sehr unsicher,<br />
unwahrscheinlich oder höchst kontingent, ob und wie die Kommunikation<br />
ausfallen würde. Es braucht hier Kontingenzreduktionen. In diesem<br />
Zusammenhang haben wurde gezeigt, wie wichtig es, dass sich die „funktionsförmige<br />
Kommunikation“ an Organisationen koppelt, d.h. von ihnen<br />
aufgenommen wird. Einem Funktionssystemen, das nur auf Interaktionssysteme<br />
– oder auf Interaktionszusammenhänge – zugreifen könnte und zusätzlich<br />
über keine starken Medium (im Sinne symbiotischer Symbole) verfügte,<br />
müsste man somit eine negative <strong>Steuerung</strong>sprognose stellen. 74<br />
Es gibt wohl kein Funktionssystem, das sich in einem solch desolaten Zustand befindet.<br />
Auch „kleinere“ Funktionssysteme sind in einer besseren Situation. Nehmen wir als<br />
Beispiel das Funktionssystem Kunst: Es verfügt über Organisationen wie Museen, Galerien<br />
und Auktionshäuser, über Architekturbüros und Kunstwerkstätten. Das Funktionssystem<br />
Intimität verfügt zwar über wenig Organisationen (wenn man die Produktionsstätten mündlicher<br />
und schriftlicher Beratung nicht rechnen mö chte), es ist in undifferenzierten Sozia lsystemen<br />
interaktionsförmig als „Interaktionszusammenhang“ 75 organisiert, aber es verfügt<br />
über ein attraktives Medium (Liebe) und ein ebenso attraktives symbiotisches Symbol (Sexualität).<br />
Das Funktionssystem Wirtschaft ist nahezu das Gegenteil: Nicht nur binden sich<br />
weltweit vernetzte Organisationen über ihre Entscheidungsprämissen eng an Code und<br />
Rationalität, nicht nur binden diese Organisationen (Firmen) ihr Personal auch weitreichend<br />
psychisch und organisch, nicht nur sind auch Organisationen aus anderen Funktionssyste-<br />
74 MAYNTZ unterscheidet Funktionssysteme, d.h. entlang ihrer Terminologie, „Teilsysteme“<br />
nach dem Grad ihrer „Verselbstständigung“ (1997b [1988]: 62). Verselbstsständigung<br />
im Sinne einer weitgehenden Unabhängigkeit von der jeweiligen Umwelt wird<br />
dabei von „organisierter kollektiver Handlungsfähigkeit“ abhängig gemacht: „Ein verselbstständigtes<br />
Teilsystem kann ... externe Einflüsse besser abwehren oder verarbeiten<br />
als Teilsysteme, die in diesem Sinn weniger Autonomie besitzen“ (ebd.; Hervorhebungen<br />
im Original).<br />
75 Siehe KIESERLING (1999: 228): „Lediglich die Familien sind noch ganz unmittelbar als<br />
Interaktionszusammenhänge stabilisiert.“ Was heisst hier „noch“? Siehe dazu Ko mmentar<br />
bei Fussnote 37.<br />
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