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Mathematische Modellierung mit Differentialgleichungen

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<strong>Mathematische</strong> <strong>Modellierung</strong> <strong>mit</strong><br />

Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>Differentialgleichungen</strong><br />

Prof. Dr. Ansgar Jüngel<br />

Fachbereich Mathematik und Informatik<br />

Johannes Gutenberg-Universität Mainz<br />

Sommer 2003<br />

unkorrigiertes Vorlesungsskript<br />

1 Modellbildung und Asymptotik 3<br />

1.1 Grundzüge der Modellbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3<br />

1.2 Skalierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

1.3 Schwingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11<br />

1.4 Ein wenig Theorie gewöhnlicher <strong>Differentialgleichungen</strong> . . . . . . . . . . . 19<br />

1.5 Regulär und singulär gestörte Probleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

2 Dynamik 34<br />

2.1 Populationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

2.2 Ein Modell für Aids . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

2.3 Chemische Reaktionskinetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

2.4 Ein Wirtschaftsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49<br />

2.5 Elektrische Schaltkreise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55<br />

2.6 Himmelsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60<br />

2.7 Deterministisches Chaos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68<br />

3 Wellenphänomene 73<br />

3.1 Wellengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73<br />

3.2 Schrödingergleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80<br />

3.3 Computertomographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88<br />

1


4 Strömungen 93<br />

4.1 Verschmutzung eines Flusses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93<br />

4.2 Verkehrsflüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97<br />

4.3 Strömungsmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

4.4 Bluttransport durch Adern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

4.5 Strömung um einen Tragflügel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />

4.6 Hele-Shaw-Strömung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123<br />

5 Diffusion 130<br />

5.1 Diffusionsgleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130<br />

5.2 Ein globales Klimamodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />

5.3 Selbstentzündung von Kohlehaufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141<br />

5.4 Elektronenverteilung in Halbleitern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145<br />

2


1 Modellbildung und Asymptotik<br />

1.1 Grundzüge der Modellbildung<br />

Das Grundziel der mathematischen <strong>Modellierung</strong> ist die Formulierung, Lösung und ggf.<br />

Verfeinerung eines mathematischen Modells für ein reales Problem aus der Industrie,<br />

Wirtschaft oder Wissenschaft. Obwohl der Weg der mathematischen <strong>Modellierung</strong> sehr<br />

stark von dem konkreten Problem abhängt, wird er immer die folgenden sechs Schritte<br />

beinhalten (siehe Abbildung 1.1):<br />

1. Spezifikation des realen Problems,<br />

2. Formulierung eines mathematischen Modells,<br />

3. Analyse des Modells (Vereinfachungen, qualitatives Lösungsverhalten),<br />

4. Lösung des Modells (analytisch oder numerisch),<br />

5. Interpretation der Ergebnisse und Vergleich <strong>mit</strong> dem Ausgangsproblem,<br />

6. eventuell Verfeinerung des Modells.<br />

Diese Schritte können auch mehrmals durchlaufen werden, wenn das mathematische<br />

Modell keine zufriedenstellenden Ergebnisse liefert und es geändert oder verfeinert werden<br />

muß.<br />

Im folgenden erläutern wir die obigen Schritte:<br />

1. Spezifikation des Problems: Zuerst muß das reale Problem präzise spezifiziert wer-<br />

den, um die Fragestellung einzugrenzen. Der Sachverhalt sollte verdeutlicht und die rele-<br />

vanten Daten, Parameter und Variablen müssen identifiziert werden. Es ist zu erwarten,<br />

daß der Sachverhalt vereinfacht werden muß. Welches sind die wichtigsten Prozesse oder<br />

Variablen?<br />

2. <strong>Mathematische</strong> Formulierung: Das spezifizierte Problem muß nun <strong>mit</strong> Hilfe ma-<br />

thematischer Methoden formuliert werden. Welche Techniken sind angemessen? Wie lau-<br />

ten die Größenordnungen der Parameter und Variablen? Sind weitere Vereinfachungen<br />

möglich, bzw. gibt es einfache Spezialfälle?<br />

3. <strong>Mathematische</strong> Analyse: Häufig stellt sich heraus, daß eine anfangs kompliziert<br />

erscheinende Gleichung so umformuliert werden kann, daß sie eine einfachere Struktur<br />

aufweist oder in eine bekannte Klasse von Gleichungen eingeordnet werden kann, für<br />

die bereits mathematische Lösungstechniken existieren. Ist dies hier der Fall? Kann das<br />

mathematische Problem oder können Spezialfälle explizit gelöst werden? Meistens sind<br />

3


Reales<br />

Problem<br />

Spezifikation<br />

des<br />

Problems<br />

<strong>Mathematische</strong><br />

Formulierung<br />

<strong>Mathematische</strong>s<br />

Modell<br />

<strong>Mathematische</strong><br />

Analyse<br />

Lösung des<br />

Modells<br />

<strong>Mathematische</strong>s<br />

Ergebnis<br />

Interpretation<br />

der<br />

Lösung<br />

Abbildung 1.1: Der <strong>Modellierung</strong>skreislauf.<br />

ggf.<br />

Verfeinerung<br />

des Modells<br />

numerische Verfahren zur Lösung der Gleichung notwendig. Welche Verfahren sind in<br />

diesem Fall angebracht?<br />

4. Lösung des Modells: Nachdem die mathematische Struktur des Problems identifi-<br />

ziert ist, kann das Modell <strong>mit</strong> Hilfe analytischer und numerischer Methoden gelöst werden.<br />

Dafür sind für die Anwendungen geeignete Werte der Parameter zu wählen. Werden nu-<br />

merische Techniken verwendet, ist sicherzustellen, daß die numerische Lösung tatsächlich<br />

die Lösung des mathematischen Problems <strong>mit</strong> hinreichender Genauigkeit approximiert.<br />

5. Interpretation der Lösung: In diesem Schritt wird untersucht, inwiefern die mathe-<br />

matische Lösung das reale Problem approximiert. Stimmt die Größenordnung der Lösung<br />

<strong>mit</strong> der erwarteten Lösung überein? Wie groß ist der Gültigkeitsbereich der Approxima-<br />

tion? Können die Resultate durch Experimente validiert werden?<br />

6. Verfeinerung des Modells: Die mathematischen Resultate können Hinweise geben,<br />

ob eine in der <strong>Modellierung</strong> vorgenommene Vereinfachung zu einem unrealistischen Ergeb-<br />

nis führt. In diesem Fall müssen das Modell oder die mathematischen Techniken verbessert<br />

werden. Welche <strong>Modellierung</strong>sannahmen sollen abgeschwächt werden? Müssen verfeinerte<br />

numerische Methoden zur Lösung verwendet werden? Dies führt zu einer neuen Spezifi-<br />

kation des realen Problems bzw. zu einer neuen mathematischen Formulierung, und der<br />

<strong>Modellierung</strong>skreislauf beginnt von neuem, bis ein zufriedenstellendes Ergebnis erzielt<br />

wird.<br />

In den folgenden Kapiteln stellen wir einige konkrete Fragestellungen vor, die wir<br />

exemplarisch <strong>mit</strong>tels der obigen <strong>Modellierung</strong>sschritte lösen. Die Probleme repräsentie-<br />

ren einerseits typische Phänomene wie Dynamik, Wellen, Strömungen und Diffusion und<br />

andererseits Beispiele aus verschiedenen Anwendungsgebieten wie Biologie, Chemie, Geo-<br />

wissenschaften, Physik und Wirtschaftswissenschaften. Insbesondere modellieren wir<br />

den Krankheitsverlauf HIV-positiver Personen (Biologie),<br />

4


die Ausbreitung von Verschmutzungen im Trinkwasser (Chemie),<br />

den Einfluß der Sonneneinstrahlung auf das Weltklima (Geowissenschaften),<br />

den Autoverkehr bei Anwesenheit von Ampeln (Physik),<br />

die Handelsdynamik zwischen zwei Nationen (Wirtschaftswissenschaften).<br />

1.2 Skalierungen<br />

In diesem Abschnitt präsentieren wir ein einfaches Beispiel für die im vorigen Abschnitt<br />

erläuterten <strong>Modellierung</strong>sschritte. Dieses Beispiel erlaubt es uns, gleichzeitig auf einige<br />

wichtige Konzepte der Entdimensionalisierung und Skalierung einzugehen.<br />

Frage: Werfe einen Gegenstand nach oben. Nach welcher Zeit prallt er wieder auf der<br />

Erde auf?<br />

Um diese Aufgabe zu lösen, benötigen wir einige physikalische Gesetzmäßigkeiten,<br />

nämlich<br />

das Newtonsche Gesetz<br />

F = m · a,<br />

wobei m die Masse eines Gegenstands, a deren Beschleunigung (Geschwindigkeits-<br />

änderung pro Zeiteinheit) und F die auf dem Gegenstand einwirkende Kraft seien;<br />

das Gravitationsgesetz<br />

x<br />

F = Gm1m2 ,<br />

|x| 3<br />

wobei m1 und m2 die Massen zweier Gegenstände, x deren Abstandsvektor und G<br />

die universelle Gravitationskonstante seien; F ist die auf die beiden Gegenstände<br />

wirkende Gravitationskraft.<br />

Nun können wir beginnen, eine Gleichung für die Bewegung des geworfenen Gegen-<br />

stands herzuleiten (Schritt 1). Die Frage bedeutet, genauer formuliert, daß ein Gegenstand<br />

der Masse m von der Erdoberfläche <strong>mit</strong> der Anfangsgeschwindigkeit v senkrecht nach oben<br />

geworfen wird. Sei R der Erdradius und x(t) die Entfernung des Gegenstandes von der<br />

Erdoberfläche zur Zeit t (siehe Abbildung 1.2).<br />

Die mathematische Formulierung der obigen Aufgabe lautet dann: Bestimme den Auf-<br />

prallzeitpunkt T > 0, für den x(T ) = 0 gilt. Um T > 0 zu berechnen, benötigen wir eine<br />

Gleichung für x(t). Die Beschleunigung x ′′ (t) = d 2 x/dt 2 ist durch das Newtonsche Gesetz<br />

mx ′′ = F<br />

5


m<br />

M R<br />

Abbildung 1.2: Geometrie für den nach oben geworfenen Gegenstand.<br />

gegeben. Die Kraft F ist die auf den Gegenstand wirkende Gravitationskraft<br />

wobei M die Erdmasse bezeichne, so daß<br />

x(t)<br />

F = − GmM<br />

,<br />

(x(t) + R) 2<br />

mx ′′ = − GmM<br />

.<br />

(x + R) 2<br />

Nach Division durch m und Definition der Gravitationskonstanten der Erde g := GM/R 2<br />

folgt<br />

Diese Gleichung ist <strong>mit</strong> den Anfangsbedingungen<br />

x ′′ = − gR2<br />

, t > 0. (1.1)<br />

(x + R) 2<br />

x(0) = 0, x ′ (0) = v (1.2)<br />

zu vervollständigen (Schritt 2). Hierbei haben wir benutzt, daß die Geschwindigkeit x ′ (0) =<br />

dx(0)/dt zur Zeit t = 0 gleich v sein soll. Die Gleichung (1.1) ist eine gewöhnliche Diffe-<br />

rentialgleichung, und das Problem (1.1)–(1.2) ist ein Anfangswertproblem. Wir werden im<br />

Abschnitt 1.4 die Theorie gewöhnlicher <strong>Differentialgleichungen</strong> auffrischen.<br />

Das Problem (1.1)–(1.2) enthält drei physikalische Parameter: g, R und v. Um das Pro-<br />

blem zu vereinfachen, wollen wir die Gleichung in eine dimensionslose Form <strong>mit</strong> möglichst<br />

wenigen dimensionslosen Parametern umformulieren (Schritt 3). Dazu gehen wir in zwei<br />

Schritten vor. Zuerst stellen wir eine Tabelle aller Variablen und Parameter samt Ein-<br />

heiten auf (Tabelle 1.1). Wir verwenden hierbei das cgs-Einheitensystem, d.h. Zentimeter<br />

(cm), Gramm (g) und Sekunde (s).<br />

Der zweite Schritt besteht darin, für alle Variablen intrinsische Referenzgrößen zu<br />

definieren und da<strong>mit</strong> die Variablen zu skalieren. Eine Möglichkeit ist es, den Erdradius R<br />

6


Variable: x cm<br />

t s<br />

Dimension<br />

Parameter: g cm/s 2<br />

R cm<br />

v cm/s<br />

Tabelle 1.1: Auflistung aller Variablen und Parameter.<br />

als charakteristische Länge und R/v als charakteristische Zeit zu wählen. Da<strong>mit</strong> erhalten<br />

wir dimensionslose Variablen<br />

y := x<br />

R<br />

und τ := t<br />

. (1.3)<br />

R/v<br />

Wie sieht die entsprechende dimensionslose Gleichung aus? Es folgt<br />

und<br />

y ′′ = d2y =<br />

dτ 2<br />

<br />

R<br />

2 1<br />

v R<br />

d2x R<br />

= −<br />

dt2 v2 y ′ (0) = dy<br />

dτ<br />

gR 2<br />

(Ry + R)<br />

R x(0)<br />

(0) =<br />

v R<br />

= −gR<br />

2 v2 1<br />

(y + 1) 2<br />

= 1.<br />

Setzen wir ε = v 2 /gR, lautet das dimensionslose Problem<br />

εy ′ = −<br />

1<br />

(y + 1) 2 , τ > 0, y(0) = 0, y′ (0) = 1. (1.4)<br />

Bevor wir das Problem (1.4) weiter analysieren, erklären wir genauer die allgemeine Vor-<br />

gehensweise des Entdimensionalisierens von Gleichungen.<br />

Seien dazu die Parameter α1, . . . , αn gegeben, wobei αk die Einheit cm ℓkg mks tk (k =<br />

1, . . . , n) besitzen. Wir schreiben dies kürzer als<br />

[αk] = (ℓk, mk, tk).<br />

Beispielsweise gilt [g] = (1, 0, −2) und [ε] = (0, 0, 0). Sei weiter α ein dimensionsloser<br />

Parameter. Wir setzen voraus, daß mathematische Modelle von realen Problemen immer in<br />

eine dimensionslose Form gebracht werden können, indem die dimensionslosen Parameter<br />

α als Produkte von Potenzen der ursprünglichen Parameter gewählt werden. Daraus folgt,<br />

daß Zahlen b1, . . . , bn existieren, so daß<br />

α =<br />

n<br />

k=1<br />

7<br />

α bk<br />

k .


Um die Exponenten b1, . . . , bn zu bestimmen, verwenden wir<br />

(0, 0, 0) = [α] =<br />

=<br />

n<br />

k=1<br />

cm bkℓk g bkmk s bktk<br />

<br />

n<br />

bkℓk,<br />

k=1<br />

n<br />

bkmk,<br />

Dies ergibt das lineare Gleichungssystem für b1, . . . , bn <strong>mit</strong> Koeffizienten ℓk, mk und tk:<br />

n<br />

ℓkbk = 0,<br />

k=1<br />

k=1<br />

n<br />

mkbk = 0,<br />

k=1<br />

n<br />

k=1<br />

bktk<br />

<br />

.<br />

n<br />

tkbk = 0. (1.5)<br />

Nach Voraussetzung besitzt das Gleichungssystem mindestens eine nicht-triviale Lösung.<br />

Wieviele (linear unabhängige) Lösungen gibt es? Sei n ∗ die Anzahl der linear unabhängi-<br />

gen Lösungen, d.h., n∗ ist die Dimension des Kerns der Koeffizientenmatrix<br />

⎛<br />

ℓ1<br />

⎜<br />

⎝ m1<br />

· · ·<br />

· · ·<br />

⎞<br />

ℓn<br />

⎟<br />

mn ⎠ .<br />

t1 · · · tn<br />

Dann ist n ∗ die Anzahl der relevanten dimensionslosen Parameter. Sind nämlich b =<br />

(b1, . . . bn) und b = ( b1, . . . bn) zwei linear abhängige Lösungen des Gleichungssystems,<br />

d.h., b = λ b, so folgt für die entsprechenden Parameter<br />

α =<br />

n<br />

k=1<br />

α bk<br />

k und α =<br />

daß α = α λ , und wir können etwa α durch α ersetzen. Es gilt (für n ≥ 3) 0 ≤ n ∗ < n,<br />

denn n ∗ = n bedeutet, daß die Koeffizientenmatrix eine Nullmatrix sein muß, und dies<br />

k=1<br />

n<br />

k=1<br />

würde einem bereits dimensionslosen Problem entsprechen.<br />

α bk<br />

k ,<br />

Im Beispiel des geworfenen Gegenstandes haben wir die Parameter<br />

und da<strong>mit</strong> die Koeffizientenmatrix<br />

⎛<br />

[g] = (1, 0, −2), [R] = (1, 0, 0), [v] = (1, 0, −1)<br />

⎜<br />

⎝<br />

1 1 1<br />

0 0 0<br />

−2 0 −1<br />

Wegen n ∗ = 1 existiert genau ein dimensionsloser Parameter, nämlich die Lösung (−1, −1,<br />

2) von (1.5). Dies entspricht unserem Parameter<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

ε = g −1 R −1 v 2 = v2<br />

gR .<br />

8


Schritt 4 des <strong>Modellierung</strong>sprozesses ist die Lösung des Problems (1.4). Das Problem<br />

kann nicht explizit gelöst werden, so daß wir nach einer geeigneten Vereinfachung suchen.<br />

Typische Werte für die Parameter sind<br />

so daß<br />

v = 10 2 . . . 10 4 cm/s,<br />

g ≈ 980 cm/s 2 ,<br />

R ≈ 6500 km = 6.5 · 10 8 cm,<br />

(10 4 ) 2<br />

ε ≈<br />

= 0.0002 ≪ 1.<br />

1000 · 5 · 108 Weil ε “sehr klein” ist, sind wir versucht, das Problem (1.4) dadurch zu vereinfachen, daß<br />

wir ε = 0 in (1.4) setzen:<br />

0 = −<br />

1<br />

(y + 1) 2 , y(0) = 0, y′ (0) = 1.<br />

Dieses Problem besitzt keine Lösung! Was ist schiefgegangen? Die Skalierung (1.3) ist<br />

nicht sinnvoll. Das skalierte (dimensionslose) Problem sollte so gewählt werden, daß die<br />

dimensionslosen Variablen die Größenordnung eins haben. Ist dies bei der Skalierung (1.3)<br />

der Fall? Wir erwarten x = 10 . . . 10 3 m und t = 1 . . . 100 s. Dann sind<br />

y = x<br />

R<br />

nicht von der Größenordnung eins.<br />

105<br />

t<br />

≈ = 0.0002, τ =<br />

5 · 108 R/v ≈<br />

102 5 · 108 = 0.002<br />

/104 Um eine sinnvolle Skalierung zu erhalten, machen wir die Annahme x ≪ R. Daraus<br />

folgt, daß die Beschleunigung x ′′ die Größenordnung<br />

|x ′′ | = gR2 gR2<br />

≈ = g<br />

(x + R) 2 R2 hat. Die typische Beschleunigung g ist gleich der Geschwindigkeit v dividiert durch die<br />

typische Zeit θ: g = v/θ oder θ = v/g. Andererseits ist die typische Beschleunigung gleich<br />

der typischen Länge L dividiert durch das Quadrat der Zeit: g = L/θ 2 oder L = gθ 2 =<br />

v 2 /g. Die Referenzzeit und -länge lauten also<br />

θ = v<br />

g<br />

104<br />

v2<br />

≈ s = 10 s, L =<br />

103 g ≈ (104 ) 2<br />

103 cm = 10 5 cm = 1 km,<br />

und die skalierten Variablen<br />

y := x<br />

,<br />

L<br />

t<br />

τ :=<br />

θ<br />

sind von der Größenordnung eins. Mit dieser Skalierung lauten die dimensionslosen Glei-<br />

chungen<br />

y ′′ = d2y θ2<br />

=<br />

dτ 2 L<br />

d2x = −1<br />

dt2 g<br />

gR 2<br />

(v 2 y/g + R)<br />

9<br />

1<br />

= − , τ > 0, (1.6)<br />

2 (εy + 1) 2


wobei ε = v 2 /gR, und<br />

y(0) = 0, y ′ (0) = θ<br />

L x′ (0) = 1. (1.7)<br />

Wegen ε ≪ 1 lösen wir das vereinfachte Problem<br />

Die Lösung lautet<br />

y ′′ = −1, τ > 0, y(0) = 0, y ′ (0) = 1.<br />

2 τ<br />

y(τ) = τ − , τ ≥ 0.<br />

2<br />

Der Aufprallzeitpunkt ist definiert durch y(τ ∗ ) = 0, τ ∗ > 0, also<br />

Dies beendet Schritt 4.<br />

τ ∗ = 2.<br />

In Schritt 5 interpretieren wir die gefundene Lösung: Dazu transformieren wir die<br />

Variablen zurück in die dimensionsbehafteten Variablen:<br />

T = θ · τ ∗ = 2v<br />

. (1.8)<br />

g<br />

Der Aufprallzeitpunkt ist also proportional zur Anfangsgeschwindigkeit. Typische Werte<br />

für T sind<br />

2 · 102<br />

T ≈<br />

103 2 · 104<br />

. . .<br />

103 s = 0.2 . . . 20 s.<br />

Wie genau ist dieses Ergebnis bzw. kann es verbessert werden (Schritt 6)? Wir können<br />

das Problem (1.6)–(1.7) zwar nicht explizit lösen, sind aber in der Lage, eine implizite<br />

Formel für die Lösung anzugeben. Dazu multiplizieren wir (1.6) <strong>mit</strong> y ′ und integrieren in<br />

(0, τ):<br />

1<br />

2 y′ (τ) 2 − 1<br />

2 =<br />

Schreiben wir<br />

so folgt<br />

τ<br />

0<br />

1<br />

2 (y′ (s) 2 ) ′ τ<br />

ds = −<br />

0<br />

y(τ) <br />

2 2<br />

− + 1<br />

ε(εy + 1) ε<br />

0<br />

y ′ (s) ds<br />

=<br />

(εy(s) + 1) 2<br />

dy<br />

dτ =<br />

<br />

2 2<br />

− + 1,<br />

ε(εy + 1) ε<br />

−1/2<br />

1<br />

ε(εy(τ) + 1)<br />

1<br />

− . (1.9)<br />

ε<br />

τ<br />

dy = dt = τ, τ ≥ 0. (1.10)<br />

Der Aufprallzeitpunkt τ ∗ ist das Doppelte des Umkehrzeitpunktes τ0, definiert durch<br />

y ′ (τ0) = 0, denn zur Zeit τ0 hat der Gegenstand seine maximale Höhe erreicht. Aus (1.9)<br />

folgt<br />

− 1<br />

2 =<br />

1 1<br />

−<br />

ε(εy(τ0) + 1) ε ,<br />

10<br />

0


also<br />

y(τ0) = 1<br />

2 − ε .<br />

Setzen wir dieses Resultat in (1.10) ein, erhalten wir eine exakte Formel für den Aufprall-<br />

zeitpunkt:<br />

τ ∗ 1/(2−ε) <br />

−1/2 2 2 − ε<br />

= 2τ0 = 2<br />

− dy.<br />

0 ε(εy + 1) ε<br />

(1.11)<br />

Diese Formel macht nur Sinn, wenn ε < 2. Was passiert, wenn ε ≥ 2? Wir haben<br />

implizit angenommen, daß der Gegenstand wieder auf der Erdoberfläche aufprallen wird.<br />

Nun bedeutet ε < 2 gerade v < √ 2gR. Ist die Anfangsgeschwindigkeit größer als √ 2gR,<br />

so wird der Gegenstand die Erde für immer verlassen. Der Grenzwert vg := √ 2gR wird<br />

daher Fluchtgeschwindigkeit genannt. Tatsächlich folgt im Fall ε = 2 aus (1.10):<br />

y(τ) <br />

2y + 1 dy = τ,<br />

0<br />

und für τ → ∞ muß das Integral divergieren, was y(τ) → ∞ impliziert, d.h., der Gegen-<br />

stand überwindet das Gravitationsfeld der Erde.<br />

Diese Bemerkung zeigt, daß die ursprüngliche Fragestellung ungenau formuliert ist.<br />

Es ist implizit angenommen, daß die Anfangsgeschwindigkeit v kleiner als die Flucht-<br />

geschwindigkeit ist. Gilt v ≪ vg, d.h. ε ≪ 1, so ist die Formel (1.8) eine akzeptable<br />

Approximation. Sie ist gegen<br />

T = 2v<br />

g<br />

1/(2−ε)<br />

0<br />

<br />

2 2 − ε<br />

−<br />

ε(εy + 1) ε<br />

auszutauschen, wenn v nicht sehr viel kleiner als vg ist.<br />

−1/2<br />

Übungsaufgabe: Berechnen Sie das Integral (1.11) numerisch für ε = 1, 1.5, 1.8, 1.9,<br />

1.95, 1.99, und vergleichen Sie die Ergebnisse <strong>mit</strong> dem approximativen Aufprallzeitpunkt<br />

τ ∗ = 2.<br />

Übungsaufgabe: Sie werfen einen Stein in einen Brunnen und hören nach t Sekunden<br />

den Aufprall. Wie tief ist der Brunnen?<br />

1.3 Schwingungen<br />

Ist die Wäsche in einer Waschmaschinentrommel nicht gleichmäßig verteilt, beginnt die<br />

Waschmaschine zu vibrieren. Ein Waschmaschinenhersteller muß sicherstellen, daß die<br />

Schwingungen nicht zu groß sind, da die Waschmaschine ansonsten die Tendenz hat, sich<br />

11<br />

dy


infolge der Vibrationen von ihrem Standort zu entfernen. Eine Möglichkeit, die Schwin-<br />

gungen zu bremsen, besteht darin, eine Dämpfung in der Schwingungsrichtung einzubau-<br />

en. Der Hersteller plant, eine größere Trommel in seine Maschinen einzubauen. Er hat<br />

Befürchtungen, daß wegen des nun möglichen höheren Befüllungsgewichtes die Vibratio-<br />

nen im Betrieb zu groß werden könnten.<br />

Frage: Wie groß muß die Dämpfungskraft in der neuen Waschmaschine sein, da<strong>mit</strong> die<br />

Schwingungen nicht stärker als in der ursprünglichen Maschine sind?<br />

Bevor wir diese Frage präzisieren und beantworten können, müssen wir uns <strong>mit</strong> dem<br />

Phänomen der Schwingung beschäftigen. Zuerst betrachten wir ein Pendel (siehe Abbil-<br />

dung 1.3). Sei θ = θ(t) die Auslenkung des Pendels in Bogenmaß von der Ruhelage. Die<br />

Pendelmasse betrage m.<br />

L<br />

θ<br />

θL<br />

L<br />

−mg<br />

F<br />

θ<br />

−mg sin θ<br />

Abbildung 1.3: Darstellung der auf ein Pendel wirkenden Kräfte.<br />

Ist das Pendel um den Betrag θL ausgelenkt, wirkt die Gravitationskraft −mg auf das<br />

Pendel, genauer gesagt nur die tangentiale Komponente −mg sin θ. Man nennt −mg sin θ<br />

auch die Rückstellkraft. Aus dem Newtonschen Gesetz folgt<br />

oder<br />

m d2<br />

θL = −mg sin θ<br />

dt2 θ ′′ + ω 2 sin θ = 0, t > 0, (1.12)<br />

wobei ω 2 := g/L. Diese gewöhnliche Differentialgleichung beschreibt die Dynamik des<br />

Pendels. Es sind noch die Anfangsbedingungen<br />

θ(0) = θ0, θ ′ (0) = v (1.13)<br />

vorzugeben. In diesem Abschnitt arbeiten wir <strong>mit</strong> unskalierten Gleichungen, da wir keine<br />

“kleinen” Parameter haben.<br />

12


Unser Ziel ist es, die Schwingungsdauer des Pendels zu finden. Wir nehmen dazu an,<br />

daß das Pendel nur wenig ausgelenkt werde, d.h. θ ≪ 1. In diesem Fall können wir<br />

sin θ ≈ θ approximieren und erhalten die Schwingungsgleichung<br />

θ ′′ + ω 2 θ = 0, t > 0.<br />

Diese Gleichung kann explizit gelöst werden, und die allgemeine Lösung lautet<br />

θ(t) = c1 sin ωt + c2 cos ωt, t ≥ 0.<br />

Die Konstanten c1, c2 ∈ R können aus den Anfangsbedingungen (1.13) bestimmt werden:<br />

θ0 = θ(0) = c2, v = θ ′ (0) = ωc1,<br />

also c1 = ω/v, c2 = θ0. Aus der Lösungsformel folgt die Schwingungsdauer<br />

T = 2π<br />

<br />

L<br />

= 2π<br />

ω g .<br />

Wie groß ist die Schwingungsdauer bei “großen” Auslenkungen? Dazu gehen wir ähn-<br />

lich wie im vorigen Abschnitt vor. Wir multiplizieren (1.12) <strong>mit</strong> θ ′ und integrieren über<br />

(0, t):<br />

und aus<br />

folgt<br />

θ(t)<br />

θ0<br />

1<br />

2 θ′ (t) 2 − 1<br />

2 v2 = ω 2 cos θ(t) − ω 2 cos θ0, (1.14)<br />

dθ<br />

dt = 2ω 2 (cos θ − cos θ0) + v 2 (1.15)<br />

t<br />

dθ<br />

= ds = t. (1.16)<br />

2ω2 (cos θ − cos θ0) + v2 0<br />

Da<strong>mit</strong> das Integral Sinn macht, muß 2ω 2 (cos θ − cos θ0) + v 2 > 0 gelten. Beginnt das<br />

Pendel zur Zeit t = 0 aus der Ruhelage heraus zu pendeln (d.h. θ0 = 0), so erreicht das<br />

Pendel nach t = T/4 die erste maximale Auslenkung θmax, für die θ ′ (T/4) = 0 gilt. Für<br />

Zeiten t > T/4 wird die Auslenkungsgeschwindigkeit negativ, und wir müssen in (1.15)<br />

ein Minuszeichen vor die Wurzel setzen. Es folgt wegen θ0 = 0<br />

und da<strong>mit</strong><br />

0 = θ ′ (T/4) = 2ω 2 (cos θmax − 1) + v 2<br />

<br />

θmax = arccos 1 − v2<br />

2ω2 <br />

.<br />

Dies macht genau dann Sinn, wenn −1 ≤ 1 − v 2 /2ω 2 ≤ 1 oder<br />

|v| ≤ √ 2ω.<br />

13


Für Anfangsgeschwindigkeiten größer als √ 2ω überschlägt sich das Pendel. Diese Situation<br />

wollen wir hier ausschließen. Setzen wir den Ausdruck für θmax in (1.16) ein, so erhalten<br />

wir eine Formel für die Schwingungsdauer:<br />

θmax<br />

dθ<br />

T = 4 <br />

2ω2 (cos θ − 1) + v2 <strong>mit</strong> θmax<br />

<br />

= arccos 1 − v2<br />

2ω2 <br />

.<br />

0<br />

Übungsaufgabe: Berechnen Sie das Integral<br />

T = 4<br />

θmax<br />

dθ<br />

√ <br />

2ω2 cos θ − 1 + v2 /2ω2 0<br />

numerisch für verschiedene Werte von v 2 /2ω 2 . Wie lautet die Schwingungsdauer, wenn<br />

v 2 /2ω 2 → 0 bzw. v 2 /2ω 2 → 1?<br />

Es gibt übrigens eine einfache physikalische Interpretation der Formel (1.14), geschrie-<br />

ben als<br />

m<br />

2 Lθ′ (t) 2 + mg(1 − cos θ(t)) = m<br />

2 Lv2 + mg(1 − cos θ0). (1.17)<br />

Der Term (m/2)Lθ ′ (t) 2 kann als eine kinetische Energie und mg(1−cos θ0) als eine poten-<br />

tielle Energie interpretiert werden. Dann bedeutet (1.17) gerade, daß die Gesamtenergie<br />

des Systems<br />

E(t) = Ekin(t) + Epot(t) = m<br />

2 Lθ′ (t) 2 + mg(1 − cos θ(t))<br />

für alle Zeiten t ≥ 0 konstant ist.<br />

Wir kehren wieder zu dem Problem der vibrierenden Waschmaschine zurück. Der Ein-<br />

fachheit halber nehmen wir an, daß sich die Waschmaschinentrommel um ihre horizontale<br />

Achse dreht und nur in vertikaler Richtung vibrieren kann. Wir modellieren die Waschma-<br />

schine als ein System, das aus einer gefüllten Waschmaschinentrommel, einer Feder und<br />

einer Dämpfung besteht (siehe Abbildung 1.4). Der Schwerpunkt der Wäsche befinde sich<br />

um die Länge R vom Trommel<strong>mit</strong>telpunkt entfernt. Wir bezeichnen <strong>mit</strong> M das Gewicht<br />

der Trommel, <strong>mit</strong> m das effektive Gewicht der Wäsche und <strong>mit</strong> ω0 die Umdrehungsfre-<br />

quenz der Trommel. Sei x(t) die Auslenkung der Trommel von ihrer Ruhelage. Nach dem<br />

Newtonschen Gesetz gilt:<br />

Mx ′′ = Rückstellkraft + Reibungskraft + Anregungskraft.<br />

Die Rückstellkraft lautet für kleine Auslenkungen x ≪ 1 gerade −kx, wobei k eine Pro-<br />

portionalitätskonstante sei. Wir nehmen an, daß die Reibungskraft proportional zur Ge-<br />

schwindigkeit der vertikalen Auslenkung ist, −rx ′ , <strong>mit</strong> einer Proportionalitätskonstanten<br />

r > 0. Die Wäsche in der Trommel werde angeregt durch die der Auslenkung R sin ω0t<br />

entsprechenden Kraft,<br />

m d2<br />

dt 2 (R sin ω0t) = −mRω 2 0 sin ω0t.<br />

14


Trommel<br />

Feder<br />

¨¥¨¥¨¥¨¥¨¥¨<br />

§¥§¥§¥§¥§¥§¥§<br />

§¥§¥§¥§¥§¥§¥§<br />

¨¥¨¥¨¥¨¥¨¥¨<br />

¨¥¨¥¨¥¨¥¨¥¨<br />

§¥§¥§¥§¥§¥§¥§<br />

¦¥¦¥¦¥¦¥¦¥¦<br />

¤¥¤¥¤¥¤¥¤¥¤¥¤<br />

¡<br />

R<br />

£ ¢<br />

©¥©¥©¥©¥©¥©¥©<br />

¥¥¥¥¥¥<br />

¥¥¥¥¥¥<br />

©¥©¥©¥©¥©¥©¥©<br />

©¥©¥©¥©¥©¥©¥©<br />

¥¥¥¥¥¥<br />

¥¥¥¥¥¥<br />

©¥©¥©¥©¥©¥©¥©<br />

¥¥¥¥¥<br />

¥¥¥¥¥<br />

Wäsche<br />

Dämpfung<br />

Abbildung 1.4: Vereinfachte Darstellung der schwingenden Waschmaschine.<br />

Da<strong>mit</strong> lautet die Bewegungsgleichung<br />

oder<br />

Mx ′′ = −kx − rx ′ − mRω 2 0 sin ω0t<br />

wobei<br />

2ϱ := r<br />

M , ω2 := k<br />

M<br />

<strong>mit</strong> den Anfangsbedingungen<br />

x ′′ + 2ϱx ′ + ω 2 x = −γω 2 0 sin ω0t, t > 0, (1.18)<br />

Der Waschmaschinenhersteller stellt uns die Daten<br />

, γ := mR<br />

M ,<br />

x(0) = 0, x ′ (0) = 0. (1.19)<br />

M = 10 kg, k = 400 N/m,<br />

m = 2 kg, r = 200 Ns/m,<br />

R = 10 cm, ω0 = 50 Hz<br />

zur Verfügung. Hierbei bezeichnet N = kg m/s 2 die Einheit Newton und Hz = 1/s die<br />

Einheit Hertz. Daraus folgt<br />

ϱ = 10 s −1 , ω 2 = 40 s −2 , γ = 2 cm. (1.20)<br />

Insbesondere hat ω die Einheit 1/s und ist daher eine Frequenz (was die Bezeichnung<br />

rechtfertigt).<br />

Der Hersteller plant, eine andere Trommel einzubauen, so daß das effektive Wäschege-<br />

wicht auf m = 3 kg steigen kann. Der Abstand des Wäscheschwerpunktes zum Trommel-<br />

<strong>mit</strong>telpunkt sei unverändert R = 10 cm. Wir können nun die zu Beginn dieses Abschnittes<br />

15


gestellte Frage präziser formulieren: Wie groß muß der Reibungswiderstand r sein, da<strong>mit</strong><br />

die maximale vertikale Auslenkung der neuen Trommel nicht größer ist als die der alten<br />

Trommel (<strong>mit</strong> m = 2 kg)?<br />

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst die maximalen Auslenkungen<br />

xmax = sup |x(t)|<br />

0 0.<br />

λ 2 + 2ϱλ + ω 2 = 0<br />

λ1/2 = −ϱ ± ϱ 2 − ω 2 .<br />

Sowohl e λ1t als auch e λ2t sind Lösungen von (1.21), also auch Linearkombinationen davon:<br />

x(t) = c1e λ1t + c2e λ2t , t ≥ 0,<br />

<strong>mit</strong> beliebigen Konstanten c1, c2 ∈ C. Man kann zeigen, daß alle Lösungen von (1.21) von<br />

dieser Form sind (siehe Abschnitt 1.4). In unserem Fall gilt ϱ 2 > ω 2 , also ist<br />

x(t) = e −ϱt (c1e δt + c2e −δt ) <strong>mit</strong> δ = ϱ 2 − ω 2 ∈ R. (1.22)<br />

Ist die Reibung so klein, daß ϱ 2 < ω 2 , so folgt<br />

x(t) = e −ϱt (c1e iDt + c2e −iDt ) <strong>mit</strong> D = ω 2 − ϱ 2 ∈ R.<br />

Da wir nur an reellwertigen Lösungen interessiert sind, können wir den Real- und Ima-<br />

ginärteil dieses Ausdruckes linear kombinieren und erhalten<br />

x(t) = e −ϱt (c3 sin Dt + c4 cos Dt), c3, c4 ∈ R.<br />

Eine einfache Rechnung zeigt, daß dies wirklich eine Lösung von (1.21) ist. Die Theorie<br />

gewöhnlicher <strong>Differentialgleichungen</strong> zeigt, daß alle (reellwertigen) Lösungen diese Gestalt<br />

haben.<br />

16


Übungsaufgabe: Bestimmen Sie alle Lösungen von<br />

(a) x ′′ + 4x ′ + 3x = 0, t > 0;<br />

(b) x ′′ + 4x ′ + 4x = 0, t > 0;<br />

Hinweis für (b): Versuchen Sie auch die Funktion x(t) = te −2t .<br />

Wir lösen nun die inhomogene Gleichung (1.18). Wir rechnen da<strong>mit</strong>, daß nach dem<br />

Einschwingvorgang die Trommel gezwungen wird, <strong>mit</strong> der Frequenz ω0 zu schwingen.<br />

Daher scheint der Ansatz<br />

sinnvoll. Setzen wir ihn in (1.18) ein, erhalten wir<br />

x(t) = a sin ω0t + b cos ω0t, a, b ∈ R, (1.23)<br />

0 = (−aω 2 0 − 2bϱω0 + aω 2 + γω 2 0) sin ω0t + (−bω 2 0 + 2aϱω0 + bω 2 ) cos ω0t, t > 0.<br />

Wählen wir zuerst t = π/2ω0 und dann t = 0, folgt<br />

(ω 2 − ω 2 0) · a − 2ϱω0 · b = −γω 2 0, (1.24)<br />

2ϱω0 · a + (ω 2 − ω 2 0) · b = 0. (1.25)<br />

Dies ist ein lineares Gleichungssystem für a und b, das genau dann eine eindeutige Lösung<br />

besitzt, wenn<br />

det<br />

<br />

ω2 − ω2 0 −2ϱω0<br />

2ϱω0 ω2 − ω2 0<br />

<br />

= (ω 2 − ω 2 0) 2 + 4ϱ 2 ω 2 0 = 0.<br />

Das ist der Fall, wenn ϱ > 0 und ω0 > 0. Wir schließen, daß der Ansatz (1.23) tatsächlich<br />

eine Lösung von (1.18) ist.<br />

Die Summe aus der allgemeinen Lösung (1.22) der homogenen Gleichung und der<br />

(speziellen) Lösung (1.23) der inhomogenen Gleichung ist wieder eine Lösung von (1.18):<br />

x(t) = e −ϱt (c1e δt + c2e −δt ) + a sin ω0t + b cos ω0t, (1.26)<br />

wobei (a, b) die Lösung von (1.24)–(1.25) ist und (c1, c2) aus den Anfangsbedingungen<br />

(1.19) bestimmt werden kann.<br />

Übungsaufgabe: Berechnen Sie c1, c2, a und b.<br />

Welchen Wert hat nun xmax = sup t |x(t)|? Obwohl wir die Lösung x(t) explizit berech-<br />

net haben, ist die Frage anhand der Lösungformel nicht einfach zu beantworten. Wir geben<br />

eine numerische Antwort. In Abbildung 1.5 ist die Lösung (1.26) <strong>mit</strong> den Daten (1.20)<br />

17


Auslenkung in cm<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

−1<br />

−2<br />

0 0.5 1 1.5 2<br />

Zeit in sec.<br />

Abbildung 1.5: Lösung von (1.18)–(1.19) <strong>mit</strong> ϱ = 10 s −1 , ω 2 = 40 s −2 , γ = 2 cm.<br />

illustriert. Die maximale Auslenkung beträgt xmax ≈ 5.9 cm. Mit der neuen Trommel folgt<br />

m = 3 kg und γ = 3 cm <strong>mit</strong> maximaler Auslenkung xmax ≈ 8.4 cm (Abbildung 1.6). Die<br />

Dämpfung muß auf r = 380 Ns/m bzw. ϱ = 19 s −1 erhöht werden, da<strong>mit</strong> die Auslenkung<br />

den ursprünglichen Wert von xmax = 5.9 cm nicht überschreitet (Abbildung 1.7).<br />

Die Lösung (1.26) besteht aus zwei Anteilen: dem Einschwinganteil e −ϱt (c1e δt +c2e −δt )<br />

und der dauerhaften Schwingung a sin ω0t + b cos ω0t. Zuweilen ist nicht nur die maximale<br />

Auslenkung für alle t ≥ 0 von Bedeutung, sondern auch die größte Auslenkung x im<br />

dauerhaften Betrieb der Trommel. Da der Einschwinganteil für t → ∞ abklingt, folgt<br />

x = sup |a sin ω0t + b cos ω0t|<br />

t<br />

= sup<br />

t<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

a<br />

·<br />

b<br />

≤ √ a 2 + b 2 .<br />

<br />

sin ω0t <br />

cos ω0t<br />

Eine einfache Rechnung zeigt, daß<br />

<br />

a<br />

γω<br />

=<br />

b<br />

2 0<br />

(ω2 − ω2 0) 2 + (2ϱω0) 2<br />

<br />

2 2 −(ω − ω0) 2ω0<br />

und da<strong>mit</strong><br />

x ≤ γω2 0((ω 2 − ω 2 0) 2 + (2ϱω0) 2 ) 1/2<br />

(ω 2 − ω 2 0) 2 + (2ϱω0) 2<br />

18


Auslenkung in cm<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

−2<br />

−4<br />

0 0.5 1 1.5 2<br />

Zeit in sec.<br />

Abbildung 1.6: Lösung von (1.18)–(1.19) <strong>mit</strong> ϱ = 10 s −1 , ω 2 = 40 s −2 , γ = 3 cm.<br />

=<br />

γω 2 0<br />

((ω 2 − ω 2 0) 2 + (2ϱω0) 2 ) 1/2<br />

≤ γω0<br />

2ϱ .<br />

Für die alte Waschmaschinentrommel gilt x = 5 cm. Um den gleichen Wert für die neue<br />

Trommel zu erhalten, genügt es, eine Dämpfung <strong>mit</strong> ϱ = 15 s −1 bzw. r = 300 Ns/m<br />

zu wählen. Beachte, daß der maximale Wert für x nur für ω = ω0 erreicht wird. Dies<br />

bedeutet, daß die Eigenschwingungsfrequenz ω, die aus der Rückstellkraft resultiert und<br />

die eine intrinsische Konstante der Waschmaschine ist, gleich der von außen aufgeprägten<br />

Anregungsfrequenz ist. Dieser Fall wird Resonanz genannt. Im Falle verschwindender Rei-<br />

bung ϱ = 0 folgt im Resonanzfall ω → ω0, daß a → ∞ und b → ∞ und so<strong>mit</strong> x → ∞.<br />

Die maximale Auslenkung wächst also über alle Maßen. Dieses Verhalten wird Resonanz-<br />

katastrophe genannt.<br />

1.4 Ein wenig Theorie gewöhnlicher <strong>Differentialgleichungen</strong><br />

Die <strong>Modellierung</strong> dynamischer Prozesse geschieht häufig – wie in den beiden vorigen<br />

Abschnitten – <strong>mit</strong> Hilfe von gewöhnlichen <strong>Differentialgleichungen</strong>. In diesem Abschnitt<br />

geben wir einige Resultate aus der Theorie der <strong>Differentialgleichungen</strong> an.<br />

Definition 1.1 Sei f : R n × R → R eine Funktion und seien t0, x1, . . . , xn ∈ R. Dann<br />

heißt<br />

x (n) = f(x (n−1) , . . . , x ′ , x, t), t ∈ R, (1.27)<br />

19


Auslenkung in cm<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

−1<br />

−2<br />

0 0.5 1 1.5 2<br />

Zeit in sec.<br />

Abbildung 1.7: Lösung von (1.18)–(1.19) <strong>mit</strong> ϱ = 19 s −1 , ω 2 = 40 s −2 , γ = 3 cm.<br />

(explizite) gewöhnliche Differentialgleichunge n-ter Ordnung, und<br />

x(t0) = x1, x ′ (t0) = x2, . . . , x (n−1) (t0) = xn (1.28)<br />

heißen Anfangswerte für (1.27), wobei x (i) die i-te Ableitung von x bezeichne. Wir nennen<br />

x : I → R eine Lösung von (1.27)–(1.28), wenn I ein offenes Intervall ist, das t0 enthält,<br />

u ∈ C n (I), und u löst (1.27)–(1.28). Das Problem (1.27)–(1.28) bezeichnen wir auch als<br />

ein Anfangswertproblem.<br />

Jede Differentialgleichung n-ter Ordnung kann in ein System von Differentialgleichun-<br />

gen 1. Ordnung umformuliert werden. Definiere dazu die Funktionen<br />

Dann sind (1.27)–(1.28) äquivalent zu<br />

wobei<br />

u =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

u1<br />

.<br />

un<br />

⎞<br />

u1 := x, u2 := x ′ , . . . , un := x (n−1) .<br />

u ′ = F (u, t), t ∈ R, u(t0) = u0, (1.29)<br />

⎟<br />

⎠ , F (u, t) =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

u1<br />

.<br />

un<br />

f(un, . . . , u1, t)<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ , u0<br />

⎛<br />

⎜<br />

= ⎝<br />

Es genügt also im folgenden, das Anfangswertproblem (1.29) zu untersuchen.<br />

Die Existenz und Eindeutigkeit von Lösungen von (1.29) ist unter den folgenden Be-<br />

dingungen sichergestellt.<br />

20<br />

x1<br />

.<br />

xn<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .


Satz 1.2 Seien U ⊂ R n eine offene Menge, F : U ×R → R n eine Funktion und (u0, t0) ∈<br />

U × R. Dann gilt:<br />

(1) Ist F stetig, so existiert eine lokale Lösung u von (1.29), d.h., es existiert δ > 0, so<br />

daß u ∈ C 1 (t0 − δ, t0 + δ) eine Lösung von (1.29) ist.<br />

(2) Ist F lokal Lipschitzstetig bezüglich u gleichmäßig in t, so existiert eine eindeutige<br />

lokale Lösung von (1.29).<br />

(3) Ist F global Lipschitzstetig bezüglich u gleichmäßig in t, so eistiert eine eindeutige<br />

Lösung von (1.29), die für alle t ∈ R definiert ist.<br />

Für einen Beweis verweisen wir auf [4].<br />

Beispiel 1.3 Das Problem<br />

u ′ = √ u, u ≥ 0, t ∈ R, u(0) = 0,<br />

besitzt unendlich viele Lösungen, nämlich<br />

<br />

0 : −∞ < t ≤ t0<br />

u(t) =<br />

1<br />

4 (t − t0) 2 : t ≥ t0.<br />

Beachte, daß die Funktion F (u) = √ u, u ≥ 0, nicht Lipschitzstetig auf U = [0, ∞) ist.<br />

Allerdings ist F (u) = √ u, definiert für u ∈ [u0, ∞), u0 > 0, Lipschitzstetig, und das<br />

entsprechende Anfangswertproblem<br />

u ′ = √ u, u ≥ u0, t ∈ R, u(0) = u0,<br />

besitzt die eindeutige Lösung u(t) = (t/2 + √ u0) 2 , t ≥ −2 √ u0. <br />

Von besonderem Interesse sind Systeme linearer <strong>Differentialgleichungen</strong><br />

u ′ = Au, u ∈ R n , t ∈ R, u(0) = u0, (1.30)<br />

<strong>mit</strong> A ∈ R n×n . Diese besitzen immer eine eindeutige Lösung für alle t ∈ R, da F (u) = Au<br />

global Lipschitzstetig ist. Wieviele Lösungen hat<br />

Wir behaupten, daß der Lösungsraum<br />

u ′ = Au, u ∈ R n , t ∈ R?<br />

U = {u ∈ C 1 (R; R n ) : u ′ = Au}<br />

21


ein linearer Raum der Dimension n ist. Für den Beweis definieren wir eine Abbildung<br />

H : U → R n durch H(u) = u(0). Die Funktion H ist linear (da die Differentialgleichung<br />

linear ist), injektiv (da die Differentialgleichung eindeutig lösbar ist) und surjektiv (da die<br />

Gleichung eine globale Lösung besitzt). Da<strong>mit</strong> ist H ein Isomorphismus zwischen U und<br />

R n , und es folgt dim U = dim R n = n.<br />

Wie sehen die Lösungen von (1.30) aus? Die Matrix A kann durch eine Ähnlichkeit-<br />

stransformation in die Jordansche Normalenform<br />

⎛<br />

λk<br />

⎜<br />

J = diag(B1, . . . , Bm) <strong>mit</strong> Bk = ⎜<br />

⎝<br />

1<br />

λk 1<br />

...<br />

0<br />

1<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

0 λk<br />

gebracht werden, d.h., es existiert eine invertierbare Matrix Q <strong>mit</strong> A = Q −1 JQ. Sei nun<br />

u eine Lösung von u ′ = Au und v := Qu. Dann löst v<br />

v ′ = Qu ′ = QAu = QAQ −1 v = Jv. (1.31)<br />

Dieses System kann einfach rekursiv für jeden Block Bk gelöst werden. Aus<br />

⎛<br />

vk1<br />

d ⎜<br />

⎝ .<br />

dt<br />

vkN<br />

⎛<br />

⎞ λk<br />

⎜<br />

⎟ ⎜<br />

⎠ = ⎜<br />

⎝<br />

0<br />

1<br />

λk 1<br />

...<br />

⎞<br />

0 ⎛<br />

⎟ vk1<br />

⎟ ⎜<br />

⎟ ⎝ .<br />

1 ⎠<br />

vkN<br />

λk<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

folgt<br />

v ′ kN = λkvkN, also vkN(t) = e λkt ,<br />

v ′ k,N−1 = λkvk,N−1 + e λkt , also vk,N−1(t) = te λkt ,<br />

v ′ k,N−2 = λkvk,N−2 + te λkt , also vk,N−2(t) = t2<br />

2 eλkt usw.<br />

Die allgemeine Lösung von (1.31) hat die Struktur<br />

v(t) = <br />

i,k<br />

t i<br />

i! eλkt .<br />

Folglich hat die Lösung u von u ′ = Au die Lösungsstruktur<br />

u(t) = Q −1 v(t) = <br />

qikt i e λkt<br />

,<br />

wobei qik die Matrixelemente von Q −1 sind. Sind die Eigenwerte λk komplex, suchen<br />

wir jedoch reellwertige Lösungen, und u enthält dann wegen e λt = e Reλ·t (cos(Imλ · t) +<br />

i sin(Imλ · t)) die Terme<br />

t i e λkt und t i e Reλk·t (ak cos(Imλk · t) + bk sin(Imλk · t)).<br />

22<br />

i,k


Die Lösung von (1.30) kann auch kompakt als<br />

geschrieben werden, wobei<br />

u(t) = e At u0, t ∈ R,<br />

e At :=<br />

∞<br />

k=0<br />

1<br />

k! tk A k .<br />

Man kann zeigen, daß diese unendliche Reihe (in der Matrixnorm) konvergiert.<br />

Als nächsten Schritt betrachten wir die inhomogene lineare Gleichung<br />

Die Lösung lautet<br />

u ′ = Au + f(t), t ∈ R, u(0) = u0. (1.32)<br />

u(t) = e At t<br />

u0 + e A(t−s) f(s) ds.<br />

Übungsaufgabe: Verifizieren Sie, daß diese Funktion eine Lösung von (1.32) ist.<br />

0<br />

Häufig ist das Langzeitverhalten der Lösung u von u ′ = Au von Interesse. Da u(t) eine<br />

Linearkombination von Termen der Form t k e λt ist und<br />

gilt, erhalten wir die folgende Aussage.<br />

|t k e λt | = |t| k e Reλ·t<br />

Satz 1.4 Sei u eine Lösung von u ′ = Au, t > 0.<br />

(1) Gilt für alle Eigenwerte λ von A, daß Reλ < 0, so folgt u(t) → 0 für t → ∞.<br />

(2) Existiert ein Eigenwert λ von A, <strong>mit</strong> Reλ > 0, so folgt |u(t)| → ∞ für t → ∞.<br />

Dieses Resultat kann für nichtlineare Gleichungen von der Form<br />

in folgender Weise verallgemeinert werden.<br />

u ′ = f(u), u ∈ U, t > 0, u(0) = u0,<br />

Satz 1.5 Sei U ⊂ R n offen und f : U → R n Lipschitzstetig. Sei weiter u∞ ∈ U <strong>mit</strong><br />

f(u∞) = 0 und sei f in einer Umgebung von u∞ stetig differenzierbar. Dann gilt:<br />

(1) Gilt für alle Eigenwerte λ von f ′ (u∞), daß Reλ < 0, so ist u∞ asymptotisch stabil,<br />

d.h., es gibt eine Umgebung W von w0, so daß für alle u0 ∈ W gilt<br />

|u(t) − u∞| → 0 (t → ∞). (1.33)<br />

23


(2) Gibt es einen Eigenwert λ von f ′ (u∞) <strong>mit</strong> Reλ > 0, so ist u∞ instabil, d.h., u∞ ist<br />

nicht stabil.<br />

Wir nennen einen stationären Punkt u∞ (d.h. u∞ ∈ U <strong>mit</strong> f(u∞) = 0) stabil, wenn es für<br />

alle offenen Mengen W ⊂ U <strong>mit</strong> u∞ ∈ W eine offene Menge V ⊂ W <strong>mit</strong> u∞ ∈ V gibt, so<br />

daß<br />

u0 ∈ W =⇒ u(t) ∈ W für alle t ≥ 0<br />

(siehe Abbildung 1.8). Präsize definiert bedeutet asymptotische Stabilität eines stati-<br />

u 8<br />

¡ ¢¡¢<br />

¢¡¢ ¡<br />

u 0<br />

¤ u(t)<br />

£¡£<br />

V W<br />

Abbildung 1.8: Zur Stabilität eines stationären Punktes u∞.<br />

onären Punktes u∞, daß u∞ stabil ist und (1.33) gilt.<br />

Als Beispiel betrachten wir die Schwingungsgleichung ohne anregende Kraft aus dem<br />

vorigen Abschnitt:<br />

x ′′ + 2ϱx ′ + ω 2 x = 0, t > 0,<br />

wobei ϱ im wesentlichen eine Reibungskonstante darstellt. Die Matrix des Systems erster<br />

Ordnung <strong>mit</strong> u1 := x, u2 := x ′<br />

besitzt die Eigenwerte<br />

′<br />

u1<br />

u2<br />

=<br />

<br />

0 1<br />

−ω 2 −2ϱ<br />

u1<br />

u2<br />

λ1,2 = −ϱ ± ϱ 2 − ω 2 ,<br />

<br />

, t > 0,<br />

also Reλ1,2 < 0 genau dann, wenn ϱ < 0. Da<strong>mit</strong> ist u∞ = 0 asymptotisch stabil und<br />

u(t) → 0 für t → ∞. Dies ist physikalisch plausibel, da die Reibung der Schwingung<br />

so lange Energie entzieht, bis sie zur Ruhe kommt. Im Falle negativer Reibung ϱ < 0<br />

dagegen gilt Reλ1,2 > 0, und die Lösung ist instabil. Es ist sogar |u(t)| → ∞ für t → ∞.<br />

Ohne Reibung ϱ = 0 erhalten wir die allgemeine Lösung x(t) = a sin ωt + b cos ωt, die<br />

ebenfalls instabil ist. Allerdings stellt diese Lösung einen periodischen Orbit dar. Für<br />

weitere Informationen verweisen wir auf [4].<br />

24


1.5 Regulär und singulär gestörte Probleme<br />

In Abschnitt 1.2 haben wir den Aufprallzeitpunkt eines senkrecht nach oben geworfenen<br />

Gegenstandes aus der Lösung des Anfangswertproblems<br />

x ′′ 1<br />

= −<br />

(εx + 1) 2 , t > 0, x(0) = 0, x′ (0) = 1 (1.34)<br />

bestimmt, indem wir das Problem für ε = 0 explizit gelöst haben. In diesem Abschnitt<br />

untersuchen wir, inwiefern die Lösung des Problems für ε = 0 die Lösung des vollen<br />

Problems approximiert und wie bessere Näherungslösungen gefunden werden können.<br />

Wir machen für das Problem (1.34) den Ansatz<br />

x(t) = x0(t) + εx1(t) + O(ε 2 ) (ε → 0).<br />

Einsetzen in (1.34) und Taylorentwicklung um y = 0 von<br />

liefert<br />

−1<br />

(1 + y) 2 = −1 + 2y + O(y2 ) (y → 0)<br />

x ′′<br />

0 + εx ′′<br />

1 + O(ε 2 ) =<br />

x0(0) + εx1(0) + O(ε 2 ) = 0,<br />

x ′ 0(0) + εx ′ 1(0) + O(ε 2 ) = 1.<br />

Ein Koeffizientenvergleich ergibt dann für<br />

ε 0<br />

ε 1<br />

−1<br />

(1 + εx0 + O(ε 2 )) 2 = −1 + 2εx0 + O(ε 2 ),<br />

: x ′′<br />

0 = −1, x0(0) = 0, x ′ 0(0) = 1, (1.35)<br />

: x ′′<br />

1 = 2x0, x1(0) = 0, x ′ 1(0) = 0. (1.36)<br />

Das Problem (1.35) entspricht gerade unserem Problem (1.34) für ε = 0 und besitzt die<br />

Lösung x0(t) = t−t 2 /2. Setzen wir dies in (1.36) ein, folgt x1(t) = t 3 /3−t 4 /12 und da<strong>mit</strong><br />

die verbesserte Näherungslösung<br />

<br />

x(t) = t 1 − t<br />

<br />

2<br />

+ ε t3<br />

<br />

3<br />

1 − t<br />

4<br />

<br />

+ O(ε 2 ).<br />

Es ist sogar möglich, die Approximation für x(t) durch den allgemeinen Ansatz<br />

x(t) =<br />

n<br />

k=0<br />

ε k xk(t) + O(ε n+1 )<br />

zu verbessern. Der Faktor εx in der Gleichung (1.34) stört die Lösung also nur um Terme<br />

von der Größenordnung O(ε). Solche Probleme nennen wir regulär gestört.<br />

25


Für eine präzisere Definition betrachten wir eine Abbildung F : B1 × [0, 1] → B2,<br />

wobei (B1, · 1) und (B2, · 2) zwei Banachräume seien. Wir suchen Näherungen des<br />

Problems<br />

F (xε, ε) = 0. (1.37)<br />

Es ist naheliegend, eine Lösung x0 des sogenannten reduzierten Problems<br />

F (x0, 0) = 0<br />

als eine Näherung von xε zu verwenden. Um eine bessere Approximation zu finden, kann<br />

man versuchen, den Ansatz<br />

xε,n :=<br />

n<br />

k=0<br />

in (1.37) einzusetzen, die linke Seite nach Potenzen von ε zu entwickeln und einen Koef-<br />

ε k xk<br />

fizientenvergleich für ε k durchzuführen. Kann man<br />

entwickeln, so folgt<br />

also für<br />

n<br />

0 = F<br />

=<br />

k=0<br />

F (x, ε) =<br />

n<br />

j=0<br />

ε k xk + O(ε n+1 <br />

), ε =<br />

Fj(x)ε j + O(ε n+1 ) (ε → 0)<br />

n<br />

j=0<br />

Fj<br />

n <br />

k=0<br />

n <br />

Fj(x0) + F ′ j(x0)εx1 + . . . ε j + O(ε n+1 ),<br />

j=0<br />

ε 0<br />

ε 1<br />

: F0(x0) = 0,<br />

: F ′ 0(x0)x1 + F1(x0) = 0 usw.<br />

ε k xk + O(ε n+1 <br />

) ε j + O(ε n+1 )<br />

Wir nennen nun die Näherung xε,n konsistent, wenn das Residuum rε := F (xε,n, ε) für<br />

ε → 0 gegen Null konvergiert:<br />

F (xε,n, ε)2 → 0 (ε → 0).<br />

Ist es möglich, die Näherungen x0, . . . , xn zu berechnen, und ist xε,n konsistent, so nennen<br />

wir xε,n eine formal asymptotische Entwicklung der Ordnung n von xε, und das Problem<br />

(1.34) heißt regulär gestört, wenn für alle n ∈ N eine formal asymptotische Entwicklung<br />

existiert. Anderenfalls nennen wir das Problem singulär gestört.<br />

Was geschieht bei singular gestörten Problemen? Dazu betrachten wir zwei Beispiele.<br />

26


Beispiel 1.6 Die Schwingungen gewisser selbsterregter Systeme werden durch die Van-<br />

der-Pol-Gleichung<br />

x ′′ + ε(x 2 − 1)x ′ + x = 0, t > 0, x(0) = x, x ′ (0) = 0, (1.38)<br />

beschrieben. Hierbei ist ε > 0 ein im allgemeinen “kleiner” Parameter im Sinne von ε ≪ 1.<br />

Für |x| > 1 wird das System gedämpft, für |x| < 1 angeregt (negative Dämpfung). Wir<br />

sind an dem Verhalten der Lösung für Zeiten t → ∞ interessiert. Die Gleichung (1.38) ist<br />

nichtlinear und kann nicht explizit gelöst werden. Wir lösen zuerst das reduzierte Problem<br />

x ′′<br />

0 + x0 = 0, x(0) = x, x ′ 0(0) = 0.<br />

Die Lösung x0(t) = x cos t, t ≥ 0, ist konsistent, denn für das Residuum rε gilt<br />

und da<strong>mit</strong><br />

rε = x ′′<br />

0 + ε(x 2 0 − 1)x ′ 0 + x0 = ε(x 2 0 − 1)x ′ 0<br />

rε∞ := sup |rε(t)| ≤ εx(x<br />

0


Was ist schiefgegangen? Dazu nehmen wir an, daß x 2 ≈ 1+ε <strong>mit</strong> ε > 0 und betrachten<br />

das Näherungsproblem<br />

<strong>mit</strong> der Lösung<br />

x ′′ + ε 2 x ′ + x = 0, x(0) = x, x ′ (0) = 0,<br />

x(t) = xe −ε2 t/2 cos( 1 − ε 2 /4 t), t ≥ 0.<br />

Diese Funktion hat zwei Zeitskalen: eine Skala einer “langsamen Zeit” der Größenordnung<br />

O(1/ε 2 ) durch den Term e −ε2 t/2 und eine Skala einer “schnellen Zeit” der Größenordnung<br />

O(1) wegen des Terms cos( 1 − ε 2 /4 t). Es ist naheliegend zu vermuten, daß auch die<br />

Van-der-Pol-Gleichung (1.38) zwei Zeitskalen besitzt. Wir machen daher den Ansatz<br />

x(t) = x0(t0, t1) + εx1(t0) + O(ε 2 ) <strong>mit</strong> t0 = t0(t) = t, t1 = t1(t) = εt.<br />

Mit der Kettenregel folgt<br />

dx0<br />

dt<br />

∂x0 dt0 ∂x0 dt1<br />

= +<br />

∂t0 dt ∂t1 dt<br />

d2x0 dt2 = ∂2x0 ∂t2 + 2ε<br />

0<br />

∂2x0 ∂t0t1<br />

= ∂x0<br />

∂t0<br />

+ ε 2 ∂2x0 ∂t2 .<br />

1<br />

Wir setzen den obigen Ansatz in (1.38) ein und erhalten<br />

und<br />

0 = x ′′ + ε(x 2 − 1)x ′ + x<br />

= ∂2 x0<br />

∂t 2 0<br />

+ ε ∂x0<br />

,<br />

∂t1<br />

+ 2ε ∂2x0 + ε<br />

∂t0∂t1<br />

d2x1 dt2 + ε(x<br />

0<br />

2 0 − 1) ∂x0<br />

+ x0 + εx1 + O(ε<br />

∂t0<br />

2 )<br />

x = x(0) = x0(0, 0) + εx1(0) + O(ε 2 ),<br />

0 = x ′ (0) = ∂x0<br />

∂t0<br />

Ein Koeffizientenvergleich impliziert<br />

ε 0<br />

ε 1<br />

: ∂2 x0<br />

∂t 2 0<br />

: d2 x1<br />

dt 2 0<br />

x1(0) = 0,<br />

Die Lösung von (1.39) lautet<br />

(0, 0) + ε ∂x0<br />

∂t1<br />

+ x0 = 0, x0(0, 0) = x,<br />

+ x1 = −2 ∂2 x0<br />

∂t0∂t1<br />

dx1<br />

dt0<br />

(0, 0) + ε dx1<br />

(0) + O(ε<br />

dt0<br />

2 ).<br />

∂ 2 x0<br />

∂t0<br />

(0, 0) = 0, (1.39)<br />

− (x 2 0 − 1) ∂x0<br />

, (1.40)<br />

∂t0<br />

(0) = − ∂x0<br />

(0, 0).<br />

∂t1<br />

x0(t0, t1) = a(t1) cos(t0 + b(t1)),<br />

28


wobei a und b beliebige (differenzierbare) Funktionen <strong>mit</strong> a(0) = x, b(0) = 0 sind. Setzen<br />

wir diese Lösung in (1.40) ein, so folgt nach etwas Rechnung<br />

d2x1 dt2 0<br />

+ x1 =<br />

<br />

2 da<br />

− a +<br />

dt1<br />

a3<br />

<br />

sin(t0 + b(t1))<br />

4<br />

+2a<br />

(1.41)<br />

db<br />

cos(t0 + b(t1)) +<br />

dt1<br />

a3<br />

4 sin 3(t0 + b(t1)).<br />

In Abschnitt 1.2 haben wir gesehen, daß die Schwingungsgleichung<br />

x ′′ + x = sin t oder x ′′ + x = cos t (1.42)<br />

Resonanz erzeugt, d.h., die anregende Kraft schaukelt die Schwingungen immer stärker<br />

auf. Mathematisch bedeutet dies, daß die Lösungen von (1.42) unbeschränkt sind. Solche<br />

Lösungen schließen wir aus, da wir ja da<strong>mit</strong> rechnen, daß Lösungen <strong>mit</strong> |x| > 1 gedämpft<br />

werden. Wir erhalten genau dann keine Resonanz, wenn die Koeffizienten vor den sin-<br />

und cos-Termen in (1.42) verschwinden. Dies führt auf die folgenden Gleichungen für die<br />

Funktionen a und b:<br />

<strong>mit</strong> Lösungen<br />

Da<strong>mit</strong> folgt<br />

a(t1) =<br />

da<br />

dt1<br />

db<br />

dt1<br />

= a<br />

<br />

1 −<br />

2<br />

a2<br />

<br />

, a(0) = x,<br />

4<br />

= 0, b(0) = 0,<br />

2x<br />

, b(t1) = 0, t1 ≥ 0.<br />

2 2 −t1<br />

x − (x − 4)e<br />

x0(t, εt) =<br />

2x cos t<br />

, t ≥ 0.<br />

2 2 x − (x − 4)e−εt Dies ist sicherlich eine bessere Approximation als die Lösung u0(t) = x cos t des reduzierten<br />

Problems. Insbesondere folgt<br />

und folglich<br />

|x0(t, εt) 2 − 4 cos2 t| = 4|x2 − 4|e−εt cos2 t<br />

x2 − (x2 → 0 (t → ∞)<br />

− 4)e−εt u0(t, εt) − 2 cos t → 0 (t → ∞).<br />

Da<strong>mit</strong> ist das Verhalten der Näherungslösung u0(t, εt) der Van-der-Pol-Gleichung geklärt.<br />

Man nennt übrigens 2 cos t auch Grenzzykel, da sich die Lösung für t → ∞ dem Graphen<br />

von 2 cos t annähert. Dies gilt auch für die Lösung des vollen Problems (1.38).<br />

29


Beispiel 1.7 Wir betrachten<br />

−εu ′′ + u ′ + u = 0, x ∈ (0, 1), u(0) = 1, u(1) = 0. (1.43)<br />

Da wir die Randwerte der gesuchten Funktion u(x) vorgegeben haben, nennt man (1.43)<br />

ein Randwertproblem. Das reduzierte Problem<br />

u ′ + u = 0, x ∈ (0, 1), u(0) = 1, u(1) = 0<br />

hat keine Lösung, da die allgemeine Lösung von u ′ + u = 0, nämlich u(x) = ce −x <strong>mit</strong><br />

c ∈ R, nicht beide Randbedingungen gleichzeitig erfüllen kann. Es gibt also nicht einmal<br />

eine formale asymptotische Näherung der Ordnung null. Das Problem (1.43) ist folglich<br />

singulär gestört. Wir erwarten, daß sich eine asymptotische Näherung im Innern von (0, 1)<br />

wie ce −x verhält, aber in der Nähe von x = 0 bzw. x = 1 eine Grenzschicht aufweist, um<br />

die Randbedingungen erfüllen zu können. Um das Verhalten in der Nähe der Grenzschicht<br />

analysieren zu können, verwenden wir eine Art “mathematische Lupe”, genauer eine Va-<br />

riablentransformation, etwa<br />

ξ = x<br />

,<br />

εα α > 0,<br />

in der Nähe von x = 0. Wir nennen ξ eine Grenzschichtvariable. Die Funktion v(ξ) =<br />

u(x/ε α ) erfüllt wegen v ′ = ε α u ′ die Gleichung<br />

−ε 1−2α v ′′ + ε −α v ′ + v = 0, ξ ∈ (0, ε −α ). (1.44)<br />

Beachte, daß u ′ = du/dx, aber v ′ = dv/dξ. Die Frage ist nun, welches α zu wählen<br />

ist. Wir wollen ein α auswählen, so daß (1.44) im Grenzwert ε → 0 die “maximale”<br />

Information enthält. Wir gehen heuristisch vor, da das Auffinden von Grenzschichten nur<br />

schwer formalisiert werden kann. Die Vorgehensweise ist wie folgt. Wir setzen je zwei<br />

Exponenten in (1.44) gleich und setzen voraus, daß die übrigen Exponenten nicht kleiner<br />

sind:<br />

−α = 0 ≤ 1 − 2α impliziert α = 0 : das ist uninteressant;<br />

1 − 2α = 0 ≤ −α impliziert α ≤ 0 und α = 1<br />

2<br />

1 − 2α = −α ≤ 0 impliziert α ≥ 0 und α = 1.<br />

Der letzte Fall erscheint sinnvoll, so daß wir α = 1 wählen.<br />

: Widerspruch;<br />

Die Grenzschichtvariable an x = 0 lautet ξ = x/ε. Analog erhalten wir für die Grenz-<br />

schichtvariable η an x = 1 die Beziehung η = (1 − x)/ε. Wir wissen allerdings noch nicht,<br />

ob es eine Grenzschicht nur an x = 0 oder nur an x = 1 oder ob es zwei Grenzschichten<br />

gibt. Um dies herauszufinden, machen wir den Ansatz<br />

uasym(x) = u(x) + u0(ξ) + u1(η)<br />

30


für die asymptotische Näherung uasym der Lösung von u von (1.43). Wir setzen voraus,<br />

daß die Funktionen u0 und u1 außerhalb der Grenzschicht verschwinden, genauer<br />

lim<br />

ξ→∞<br />

dku0 (ξ) = 0 und lim<br />

dξk η→∞<br />

Wie lauten die Gleichungen für u, u0 und u1?<br />

Wir fordern<br />

0 =<br />

<br />

lim<br />

ε→0<br />

<br />

= lim<br />

ε→0<br />

<br />

du<br />

= lim<br />

ε→0 dx<br />

− εu ′′<br />

asym + u ′ <br />

asym + uasym<br />

− ε d2u du<br />

+<br />

dx2 dx<br />

+ u − 1<br />

ε<br />

d 2 u0<br />

dξ<br />

+ u − 1<br />

ε<br />

1<br />

+ 2 ε<br />

d 2 u0<br />

dξ<br />

du0<br />

dξ<br />

dku1 (η) = 0 für alle k ≥ 0.<br />

dηk 1 du0<br />

+ 2 ε dξ + u0 − 1<br />

ε<br />

1 d<br />

−<br />

ε<br />

2u1 1<br />

<br />

du1<br />

− ,<br />

dη2 ε dη<br />

d 2 u1<br />

dη<br />

1<br />

− 2 ε<br />

denn u0(ξ) = u0(x/ε) → 0 für ε → 0 bzw. ξ → ∞ (x > 0) und analog u1(η) → 0 für<br />

ε → 0 bzw. η → ∞ (x > 0). Die obige Gleichung ist erfüllt, wenn<br />

und<br />

d2u0 du0<br />

−<br />

dξ2 dξ<br />

du1<br />

dη<br />

+ u1<br />

du<br />

+ u = 0 (1.45)<br />

dx<br />

= 0,<br />

d2u1 du1<br />

−<br />

dη2 dη<br />

= 0 (1.46)<br />

gelten. Die allgemeine Lösung von (1.45) lautet u(x) = c1e −x ; dies ist wie erwartet die<br />

Lösung im “Innern” von (0, 1). Die allgemeinen Lösungen von (1.46) lauten<br />

u0(ξ) = c2 + c3e ξ<br />

und u1(η) = c4 + c5e −η .<br />

Wegen u0(ξ) → 0 für ξ → ∞ muß c2 = c3 = 0 gelten. Die Forderung u1(η) → 0 für<br />

η → ∞ impliziert c4 = 0. Wir erhalten also nur eine Grenzschicht an x = 1. Die Lösung<br />

lautet nun<br />

uasym(x) = c1e −x + c5e −(1−x)/ε .<br />

Die Konstanten c1 und c5 können aus den Randbedingungen uasym(0) = 1 und uasym(1) = 0<br />

berechnet werden; das Resultat ist<br />

uasym(x) = e−x − e −1+(x−1)/ε<br />

1 − e −(1+1/ε) , x ∈ [0, 1]. (1.47)<br />

Die Funktion uasym ist in Abbildung 1.9 dargestellt; die Grenzschicht in der Nähe von<br />

x = 1 ist deutlich erkennbar.<br />

Ist die Näherung von uasym konsistent? Dazu berechnen wir das Residuum<br />

rε(x) = −εu ′′<br />

asym + u ′ asym + uasym = − εe−x + e −1+(x−1)/ε<br />

31<br />

1 − e −(1+1/ε)<br />

.


u(x)<br />

1<br />

0.8<br />

0.6<br />

0.4<br />

0.2<br />

0<br />

0 0.2 0.4 0.6 0.8 1<br />

x<br />

Abbildung 1.9: Plot der Funktion uasym aus (1.47) für ε = 0.01.<br />

Es gilt rε(x) → 0 für ε → 0, wenn x ∈ [0, 1), aber<br />

rε(1) = − εe−1 + e−1 → −1 , für ε → 0.<br />

1 − e−(1+1/ε) e<br />

Dies bedeutet, daß uasym nicht in der Supremumsnorm konsistent ist. Allerdings ist uasym<br />

in der sogenannten L 2 -Norm · 2 konsistent, wobei<br />

In der Tat, wir berechnen<br />

1<br />

0<br />

rε(x) 2 dx =<br />

u2 :=<br />

1<br />

0<br />

1<br />

(1 − e −(1+1/ε) ) 2<br />

u(x) 2 dx<br />

1/2<br />

1<br />

(εe<br />

0<br />

−x + e −1+(x−1)/ε ) 2 dx<br />

= ε2<br />

2 (1 − e−1 ) + ε<br />

2 e−2 (1 − e −2/ε ) + 2ε 2 −2 1 − e−1/ε+1<br />

e<br />

1 − ε<br />

≤ const. ε → 0 (ε → 0).<br />

Für weitere Informationen über das Verhalten von Lösungen von Differentialgleichun-<br />

gen <strong>mit</strong> kleinen Parameters verweisen wir auf [1, 7].<br />

Übungsaufgabe: Ist das Problem<br />

x ′′ + x = εx, t > 0, x(0) = x, x ′ (0) = 0,<br />

regulär oder singulär gestört auf t ∈ (0, ∞)?<br />

32<br />

.


Übungsaufgabe: Wir sagen, eine Funktionenfolge uε : U → R, ε > 0, hat ein Grenz-<br />

schichtverhalten an x0 ∈ U genau dann, wenn der Grenzwert limε→0 uε in der Supremums-<br />

norm über jede Menge V <strong>mit</strong> V ⊂ U\{x0} existiert, aber nicht in der Supremumsnorm<br />

über U.<br />

(1) Hat die Lösung u von<br />

ein Grenzschichtverhalten?<br />

εu ′ = −u + x + ε, x > 0, u(0) = 1,<br />

(2) Hat die Funktion uasym aus (1.47) ein Grenzschichtverhalten?<br />

33


2 Dynamik<br />

In diesem Kapitel betrachten wir zeitabhängige Prozesse, die das dynamische Verhalten<br />

einer oder mehrerer Variablen beschreiben und die zumeist auf Anfangswertprobleme für<br />

<strong>Differentialgleichungen</strong> führen.<br />

2.1 Populationsmodelle<br />

Kulturpflanzen werden zum Großteil unter kontrollierten Bedingungen in Gewächshäusern<br />

gezogen. Leider sind dies auch ideale Bedingungen für die Vermehrung von Schädlingen,<br />

wie etwa der gemeinen Spinnmilbe. Wird eine Pflanze von zu vielen Spinnmilben befallen,<br />

stirbt sie ab. Das Ziel ist also, die Anzahl der Spinnmilben möglichst gering zu halten.<br />

Prinzipiell kann dies durch den Einsatz von Insektiziden geschehen. Dies hat jedoch einige<br />

entscheidende Nachteile: Insektizide wirken im allgemeinen nur für kurze Zeit, die behan-<br />

delten Pflanzen dürfen für einige Zeit nicht abgeerntet werden, und Insektizide haben<br />

negative Auswirkungen auf die Umwelt. Eine sinnvolle, ökologisch vertretbare Alternati-<br />

ve ist das Aussetzen von natürlichen Feinden, etwa der Raubmilbe. Hierbei stellt sich die<br />

folgende Frage:<br />

Frage: Wieviel Raubmilben müssen ausgesetzt werden, da<strong>mit</strong> die Anzahl der Spinnmil-<br />

ben unter eine vorgegebene Grenze sinkt?<br />

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns etwas eingehender <strong>mit</strong> Populations-<br />

modellen befassen. Sei x(t) ≥ 0 die Anzahl der Spinnmilben (etwa pro Pflanze) zur Zeit<br />

t. Die zeitliche Änderung der Spinnmilbenpopulation ist gegeben durch<br />

x ′ = (g − s)x, t > 0, x(0) = x0, (2.1)<br />

wobei g ≥ 0 die Geburtsrate und s ≥ 0 die Sterberate ist. Die Lösung lautet x(t) =<br />

x0e (g−s)t . Ist die Geburtsrate größer als die Sterberate, so wächst die Spinnmilbenpopula-<br />

tion unbegrenzt. Das ist unrealistisch, da das begrenzte Nahrungsangebot nicht berück-<br />

sichtigt wird. Ein Vorschlag ist, die Sterberate<br />

s = s(x) = s0 + ax<br />

zu wählen, wobei s0 ≥ 0 die natürliche Sterberate und a ≥ 0 ist. Ist die Population sehr<br />

groß, so wächst auch die Sterberate, und wir erwarten, daß sich die Population auf einen<br />

gewissen Wert einpendelt. Aus (2.1) ergibt sich <strong>mit</strong> b = g − s0 die sogenannte logistische<br />

Differentialgleichung (oder das Verhulst-Modell)<br />

x ′ = x(b − ax), t > 0, x(0) = x0.<br />

34


Durch Integration<br />

t =<br />

t x(t)<br />

dx<br />

dτ =<br />

0<br />

x(0) x(b − ax) =<br />

=<br />

x(t) <br />

1 1 a<br />

+ dx<br />

x0 b x b − ax<br />

1<br />

<br />

ln<br />

b<br />

x(t)<br />

<br />

b − ax0<br />

+ a ln<br />

b − ax(t)<br />

und Auflösen nach x(t) erhalten wir die Lösung<br />

Für t → ∞ folgt<br />

x0<br />

x(t) =<br />

bx0<br />

, t ≥ 0.<br />

ax0 + (b − ax0)e−bt x(t) −→<br />

<br />

b/a : b > 0,<br />

0 : b < 0.<br />

Ist also die natürliche Sterberate mindestens so groß wie die Geburtsrate, sterben die<br />

Spinnmilben aus, andernfalls wächst die Population monoton gegen den Grenzwert b/a.<br />

Der Wert b/a kann als Aufnahmekapazität der Umgebung interpretiert werden.<br />

Wie kann die Raubmilbenpopulation modelliert werden? Sei y(t) die Anzahl der Raub-<br />

milben (pro Pflanze) zur Zeit t. Wir können für die zeitliche Entwicklung der Raubmil-<br />

benpopulation einen ähnlichen Ansatz wie oben machen:<br />

y ′ = y(d − cy), t > 0, y(0) = y0,<br />

wobei c ≥ 0. Die Zuwachsrate d sollte aber nun von der Anzahl der Spinnmilben abhängen.<br />

Ist nämlich nicht genügend Beute vorhanden, werden die Raubmilben aussterben:<br />

d = d(x) = −d1 + d2x <strong>mit</strong> d1, d2 ≥ 0.<br />

Entsprechend müssen wir die Evolutionsgleichung für die Spinnmilben ändern: Die Zu-<br />

wachsrate b vermindert sich um den Anteil gefressener Spinnmilben, der proportional zur<br />

Anzahl der Raubmilben ist:<br />

b = b(y) = b1 − b2y <strong>mit</strong> b1, b2 ≥ 0.<br />

Da<strong>mit</strong> erhalten wir das Lotka-Volterrasche Populationsmodell<br />

x ′ = x(b1 − b2y − ax), t > 0, x(0) = x0, (2.2)<br />

y ′ = y(−d1 + d2x − cy), t > 0, y(0) = y0. (2.3)<br />

Wir wollen verstehen, wie sich die Lösungen verhalten. Zuerst betrachten wir den Fall,<br />

daß die Koeffizienten a und c vernachlässigbar sind. Dies ist das Volterrasche Modell<br />

x ′ = x(b1 − b2y), t > 0, x(0) = x0, (2.4)<br />

y ′ = y(−d1 + d2x), t > 0, y(0) = y0. (2.5)<br />

35


Es besitzt die beiden stationären Punkte<br />

<br />

x1 0<br />

= und<br />

0<br />

y1<br />

x2<br />

y2<br />

<br />

d1/d2<br />

= .<br />

b1/b2<br />

Um herauszufinden, ob diese Punkte (asymptotisch) stabil oder instabil sind, berechnen<br />

wir die Ableitung der Funktion<br />

in diesen Punkten:<br />

F ′ (0, 0) =<br />

F (x, y) =<br />

<br />

b1 0<br />

0 −d1<br />

<br />

x(b1 − b2y)<br />

, x, y ≥ 0,<br />

y(−d1 + d2x)<br />

<br />

, F ′<br />

d1<br />

d2<br />

, b1<br />

<br />

<br />

=<br />

b2<br />

0 b1<br />

d1 0<br />

Folglich ist (0, 0) ⊤ nicht stabil, wenn b1 > 0. Der Punkt (x2, y2) ist instabil, da die Eigen-<br />

werte von F ′ (x2, y2) gerade λ1/2 = ± √ b1d1 lauten. Wir können das Verhalten der Lösung<br />

in der Nähe dieses Punktes allerdings genauer wie folgt beschrieben.<br />

bzw.<br />

Dafür schreiben wir (2.4)–(2.5) in der Form<br />

dx<br />

dy<br />

= dx/dt<br />

dy/dt<br />

= x′<br />

y ′ = x(b1 − b2y)<br />

y(−d1 + d2x)<br />

− ln x d1<br />

<br />

−d1 + d2x b1 − b2y<br />

+ d2x =<br />

dx =<br />

dy = ln y<br />

x<br />

y<br />

b1 − b2y − α,<br />

wobei α ∈ R eine Integrationskonstante ist. Daher erfüllen alle Lösungen (x(t), y(t)) die<br />

implizite Lösungsformel<br />

ln x(t) d1 + ln y(t) b1 − d2x(t) − b2y(t) = α ∀ t ≥ 0. (2.6)<br />

Die Integrationskonstante kann aus den Anfangswerten (x0, y0) berechnet werden:<br />

α = ln x d1<br />

0 + ln y b1<br />

0 − d2x0 − b2y0.<br />

Wir behaupten, daß die Menge aller (x(t), y(t)), die (2.6) erfüllen, eine geschlossene<br />

Kurve darstellt. Wir zeigen allerdings ein etwas schwächeres Resultat: In einer Umgebung<br />

von (x2, y2) können wir (x(t), y(t)) näherungsweise durch<br />

x(t) = d1<br />

+ ε sin ωt, y(t) = b1<br />

+ δ cos ωt<br />

d2<br />

<strong>mit</strong> 0 < ε, δ ≪ 1 und ω > 0 darstellen. Insbesondere ist für t = 0<br />

α = d1 ln d1<br />

<br />

b1<br />

+ b1 ln<br />

<br />

+ δ − d1 − b1 − b2δ<br />

d2<br />

= d1 ln d1<br />

+ b1 ln<br />

d2<br />

b1<br />

b2<br />

b2<br />

b2<br />

<br />

− d1 − b1 + O(δ) (δ → 0).<br />

36<br />

.


Wir setzen den Ansatz für (x(t), y(t)) in (2.6) ein und approximieren um b1/b2 bzw. d1/d2:<br />

d1 ln x(t) + b1 ln y(t) − d2x(t) − b2y(t)<br />

= d1 ln d1<br />

d2<br />

+ d2ε sin ωt + b1 ln b1<br />

b2<br />

+ b2δ cos ωt + d22 ε<br />

2d1<br />

2 sin 2 ωt + b22 δ<br />

2b1<br />

2 cos 2 ωt<br />

− d1 − d2ε sin ωt − b1 − b2ε cos ωt + O(ε 3 + δ 3 )<br />

= d1 ln d1<br />

+ b1 ln<br />

d2<br />

b1<br />

b2<br />

= α + O(ε 2 ),<br />

− d1 − b1 + d22ε 2<br />

sin 2 ωt + b22δ 2<br />

2d1<br />

2b1<br />

cos 2 ωt + O(ε 3 + δ 3 )<br />

wenn wir<br />

d2 2ε2 2d1<br />

= b22δ 2<br />

2b1<br />

wählen. Wir schließen, daß (x(t), y(t)) die implizite Lösungsformel (2.6) bis auf einen Feh-<br />

ler der Ordnung O(ε 2 ) löst. Die Trajektorien {(x(t), y(t)) : t ≥ 0} sind also näherungsweise<br />

Ellipsen um (x2, y2).<br />

Das Resultat können wir folgendermaßen interpretieren: Starten wir bei einem An-<br />

fangswert x0 ≫ y0, so können sich die Spinnmilben so lange vermehren, bis genügend<br />

Raubmilben herangewachsen sind, die die Spinnmilbenpopulation verringern. Ist die An-<br />

zahl der Spinnmilben zu gering geworden, haben die Raubmilben zu wenig Nahrung und<br />

ihre Population schrumpft. Diese Reduktion erlaubt es den Spinnmilben, sich ungehindert<br />

zu vermehren, und der Kreislauf beginnt von vorne.<br />

Im Volterra-Modell kann also die Spinnmilbenpopulation nicht dauerhaft dezimiert<br />

werden. Allerdings setzt das Modell ein unbegrenztes Wachstum voraus, was nicht reali-<br />

stisch ist. Wir betrachten also im folgenden das Lotka-Volterra-Modell (2.2)–(2.3). Wir<br />

berechnen zuerst die stationären Punkte:<br />

<br />

x1 0 x2<br />

= , =<br />

0<br />

y1<br />

y2<br />

<br />

0<br />

,<br />

−d1/c<br />

x3<br />

y3<br />

<br />

b1/a<br />

= ,<br />

0<br />

und (x4, y4) ⊤ ist die Lösung des linearen Gleichungssystems<br />

<br />

a<br />

d2<br />

x4<br />

<br />

b2<br />

b1<br />

= .<br />

−c<br />

(2.7)<br />

Da wir x, y ≥ 0 fordern, ist (x2, y2) ⊤ kein biologisch sinnvoller stationärer Punkt. Aus<br />

F ′ <br />

<br />

(x, y) =<br />

b1 − b2y − 2ax<br />

d2y<br />

−b2x<br />

−d1 + d2x − 2cy<br />

und Satz 1.5 schließen wir, daß (x1, y1) instabil ist. Der Punkt (x3, y3) ist instabil, wenn<br />

d1/d2 < b1/a, und asymptotisch stabil, wenn d1/d2 > b1/a. Da b1/a gerade die asym-<br />

ptotische Anzahl der Spinnmilben im Verhulst-Modell ist, bedeutet d1/d2 > b1/a, daß<br />

37<br />

y4<br />

d1


die Sterberate der Raubmilben zu groß ist, um durch das vorhandene Nahrungsangebot<br />

kompensiert zu werden; die Raubmilben sterben aus.<br />

Das lineare Gleichungssystem (2.7) besitzt die Lösung<br />

<br />

<br />

x4 1 b1c + b2d1<br />

=<br />

,<br />

y4 ac + b2d2 b1d2 − ad1<br />

die genau dann im ersten Quadranten x, y ≥ 0 liegt, wenn d1/d2 < b1/a. Die Eigenwerte<br />

von F ′ (x4, y4) lauten<br />

λ1,2 = − 1<br />

(aA + cB) ±<br />

2<br />

1<br />

4 (aA + cB)2 − (b2d2 + ac)AB,<br />

wobei A = b1c + b2d1 > 0 und B = b1d2 − ad1 > 0. Wegen Reλ1,2 < 0 ist der stationäre<br />

Punkt (x4, y4) asymptotisch stabil, d.h. (x(t), y(t)) → (x4, y4) für t → ∞. Selbst wenn<br />

wir eine große Anzahl von Raubmilben aussetzen, wird die Anzahl der Spinnmilben nach<br />

hinreichend langer Zeit<br />

betragen. Wir fassen zusammen:<br />

d1<br />

d2<br />

d1<br />

d2<br />

> b1<br />

a<br />

< b1<br />

a<br />

: x(t) → b1<br />

a<br />

: x(t) → b1c + b2d1<br />

ac + b2d2<br />

x4 = b1c + b2d1<br />

ac + b2d2<br />

und y(t) → 0 für t → ∞;<br />

und y(t) → b1d2 − ad1<br />

ac + b2d2<br />

für t → ∞.<br />

Übungsaufgabe: Lösen Sie das Lotka-Volterra-Modell numerisch für verschiedene Pa-<br />

rameterwerte. Wie läßt sich die maximale Spinnmilbenanzahl effektiv begrenzen?<br />

Läßt sich das obige Modell verbessern? Wir haben angenommen, daß die Zuwachsrate<br />

durch b(y) = b1 − b2y modelliert wird. Die Spinnmilben werden also von den Raubmilben<br />

dezimiert, wenn b(y) < 0 bzw. y > b1/b2 gilt. Nun kann man argumentieren, daß die<br />

Zuwachsrate zusätzlich von der Spinnmilbenpopulation abhängen sollte: Sind sehr viele<br />

Spinnmilben vorhanden, muß die Anzahl der Raubmilben deutlich größer als b1/b2 sein,<br />

um die Spinnmilben auffressen zu können. Wir fordern also b2 = b2(x). Eine mögliche<br />

Wahl ist<br />

b2(x) = β0<br />

,<br />

x + β1<br />

β0, β1 > 0.<br />

Ist die Anzahl der Spinnmilben x deutlich größer als β1, werden nur wenige Spinnmilben<br />

gefressen, da<br />

b2(x)xy = β0y<br />

1 + β1/x ≈ β0y für x ≫ β1;<br />

falls die Spinnmilbenpopulation den Wert β1 deutlich unterschreitet, erhalten wir den<br />

Lotka-Volterra-Term<br />

b2(x)xy ≈ β0<br />

xy für x ≪ β1.<br />

β1<br />

38


Eine andere Variante des Modells ist die verfeinerte Annahme, daß die maximal mögli-<br />

che Raubmilbenpopulation von der Anzahl der Spinnmilben abhängt: je größer das Nah-<br />

rungsangebot für die Raubmilben ist, desto stärker können sich diese vermehren. Anderer-<br />

seits ist die Spinnmilbenanzahl durch die Menge der Pflanzen im Gewächshaus begrenzt:<br />

a = const., c = c(x).<br />

Ein möglicher Ansatz ist c = c0/x. Für x → 0 geht dann auch die maximal mögliche Raub-<br />

milbenpopulation gegen Null. In diesem Fall genügt es, die Zuwachsrate d als konstant<br />

anzunehmen. Wir erhalten das Modell<br />

x ′ =<br />

<br />

x b1 − β0y<br />

y<br />

<br />

− ax ,<br />

x + β1<br />

t > 0, x(0) = x0,<br />

′ =<br />

<br />

y d − c0<br />

x y<br />

<br />

, t > 0, y(0) = y0.<br />

Übungsaufgabe: Bestimmen Sie die stationären Punkte und klassifizieren Sie diese<br />

(instabil oder asymptotisch stabil). Lösen Sie das System numerisch. Unterschied zum<br />

Lotka-Volterra-Modell?<br />

2.2 Ein Modell für Aids<br />

Populationsmodelle können auch für die <strong>Modellierung</strong> und Simulation der körpereigenen<br />

Abwehrreaktionen nach einer Infektion <strong>mit</strong> dem HIV-Virus eingesetzt werden. In diesem<br />

Abschnitt stellen wir ein einfaches Modell vor. Es sollte erwähnt werden, daß die ver-<br />

schiedenen Mechanismen der Immunreaktion im menschlichen Körper derzeit noch nicht<br />

vollständig verstanden sind, so daß jedes Modell für Aids nur einen kleinen Ausschnitt<br />

aus der Realität darstellen kann.<br />

Für die <strong>Modellierung</strong> benötigen wir allerlei Kenntnisse über das Immunsystem. Ein<br />

zentraler Bestandteil sind die sogenannten T-Zellen, die laufend von der Thymusdrüse<br />

abgeschieden werden und die eine endliche Lebensdauer besitzen. Dringen Fremdkörper<br />

oder Viren in den Organismus ein, vermehren sich die T-Zellen durch Zellteilung, um die<br />

Eindringlinge abzuwehren. Genauer gesagt gibt es zwei Typen von T-Zellen: die CD4 +<br />

und die CD8 + T-Zellen. Werden Eindringliche erkannt, aktivieren die CD4 + T-Zellen die<br />

Produktion von CD8 + T-Zellen, die von einem Virus befallene Zellen oder den Virus<br />

direkt unschädlich machen. Außerdem aktivieren die CD4 + T-Zellen sogenannte B-Zellen<br />

(Blutzellen), die Antikörper produzieren können. Die Antikörper wiederum sind in der<br />

Lage, den Virus zu vernichten. Im folgenden vernachlässigen wir den Einfluß von B-Zellen.<br />

Wie wirkt sich eine HIV-Infektion aus? Der HIV-Virus dringt in CD4 + T-Zellen (aber<br />

nicht in CD8 + T-Zellen) ein und wird dann innerhalb der Zelle reproduziert. Bei dem Ver-<br />

such, sich zu teilen, platzen die infizierten CD4 + T-Zellen, und alle zwischenzeitlich pro-<br />

39


duzierten Viren gelangen auf diese Weise in den Blutkreislauf. Der Virus kann auch Thy-<br />

mozyten (eine Vorstufe der T-Lympozyten, die die Infektabwehr durch Abtöten infizierter<br />

Zellen unterstützen) und Makrophasen (Blutabwehrzellen, die Viren und geschädigte Zel-<br />

len zerstören) befallen. Das Zusammenspiel des HIV-Virus, der CD4 + und CD8 + T-Zellen<br />

ist in Abbildung 2.1 zusammengefaßt.<br />

kranke CD4 +<br />

+<br />

gesunde CD4<br />

zerfällt<br />

HIV<br />

infiziert<br />

zerstört<br />

stimuliert Produktion<br />

zerstört<br />

CD8 +<br />

Abbildung 2.1: Interaktionen zwischen dem HIV-Virus und den CD4 + und CD8 + T-Zellen.<br />

Die HIV-Erkrankung kann in vier Stadien unterteilt werden:<br />

Der Virus dringt in den Körper ein.<br />

Die Virus- und T-Zellenpopulationen wachsen an.<br />

Eine große Anzahl von Viren und T-Zellen interagieren <strong>mit</strong>einander. Dieser Zustand<br />

kann einen langen Zeitraum umfassen.<br />

Die Anzahl der T-Zellen geht gegen Null, während sich die Viren ungehindert ver-<br />

mehren. Die körpereigenen Abwehrkräfte schwinden zusehens, und der Patient stirbt<br />

an einem ansonsten harmlosen Infekt. Dies ist das Aids-Stadium.<br />

Zur Zeit gibt es keine Therapie, die Aids heilt. Allerdings sind Medikamente wie AZT<br />

(Azidothymidine) entwickelt worden, die die Vermehrung des Virus verhindern und da-<br />

<strong>mit</strong> die Erkrankung verzögern. Der Gewinn an Lebenszeit wird allerdings durch starke<br />

Nebenwirkungen (Blutarmut, Verminderung der weißen Blutkörperchen, Übelkeit, Erbre-<br />

chen usw.) erkauft. Soll das Medikament eingesetzt werden, so stellt sich die folgende<br />

Frage:<br />

Frage: In welchem Stadium der Erkrankung und über welchen Zeitraum führt die Medi-<br />

kamentation von AZT bei Aids-Kranken zu einer möglichst optimalen Lebensverlängerung<br />

(bei gleichzeitiger Minimierung der Zeit, in der AZT verabreicht wird)?<br />

Die Aids-Erkrankung ist zu komplex, um diese Frage zufriedenstellend beantworten zu<br />

können. Wir wollen ein einfaches Modell aufstellen und die Frage anhand dieses Modells<br />

40


untersuchen. Es ist klar, daß wir ein dynamisches Modell für die HIV-Viren, die gesunden<br />

und kranken CD4 + T-Zellen und die CD8 + T-Zellen aufstellen müssen. Wir wählen die<br />

folgenden Variablen:<br />

x(t) = Anzahl der gesunden CD4 + und der CD8 + T-Zellen (pro Milliliter Blut)<br />

zur Zeit t,<br />

y(t) = Anzahl der kranken CD4 + T-Zellen zur Zeit t,<br />

v(t) = Anzahl der HIV-Viren zur Zeit t.<br />

Die zeitliche Änderung x ′ (t) der gesunden CD4 + und der CD8 + T-Zellen wird modelliert<br />

durch<br />

eine Quelle neuer T-Zellen vom Thymus, etwa a > 0 (eigentlich hängt a von v(t)<br />

ab, da der Virus Thymozyten infizieren kann);<br />

einen natürlichen Sterbeterm −s1x <strong>mit</strong> der durchschnittlichen Lebenserwartung<br />

1/s1 einer T-Zelle;<br />

eine Stimulation von T-Zellen durch Zellteilung <strong>mit</strong>tels eines Terms, der <strong>mit</strong> der<br />

Anzahl der HIV-Viren wächst, aber insgesamt beschränkt bleibt, rxv/(v+D), wobei<br />

D die Virenzahl angibt, für die die Zellteilungsrate halb so groß wie die Maximalrate<br />

ist;<br />

eine Reduktion von T-Zellen durch Infektion, −bxv.<br />

Die Änderung y ′ (t) der kranken CD4 + T-Zellen beschreiben wir durch<br />

den Zuwachsterm bxv infolge Infektionen <strong>mit</strong> dem HIV-Virus;<br />

einen Verlustterm, der die endliche Lebenserwartung der T-Zellen modelliert, −s2y,<br />

und der das Zerplatzen der T-Zellen beschreibt, −ryv/(v + D).<br />

Die Änderung v ′ (t) der Virenzahl sei schließlich gegeben durch<br />

das Freisetzen von N Viren infolge einer geplatzten T-Zelle, Nryv/(v + D);<br />

einen Verlustterm, der die Vernichtung der Viren durch CD8 + T-Zellen modelliert,<br />

−dxv;<br />

die Vermehrung des Virus von anderen Zellen (z.B. Thymozyten und Mikrophagen),<br />

gv/(v + C), die pro Zeiteinheit beschränkt bleibt.<br />

41


Wir nehmen an, daß alle auftretenden Konstanten positiv sind.<br />

Mit diesen <strong>Modellierung</strong>sannahmen lautet unser System von <strong>Differentialgleichungen</strong><br />

wie folgt:<br />

Als Anfangswerte wählen wir<br />

Anzahl<br />

10 5<br />

10 4<br />

10 3<br />

10 2<br />

10 1<br />

x ′ = a − s1x + rxv<br />

− bxv, (2.8)<br />

v + D<br />

y ′ = bxv − s2y − ryv<br />

, (2.9)<br />

v + D<br />

v ′ = N ryv<br />

gv<br />

− dxv + , t > 0. (2.10)<br />

v + D v + C<br />

x(0) = x0, y(0) = 0, v(0) = v0. (2.11)<br />

Gesunde T−Zellen<br />

Infizierte T−Zellen<br />

HIV−Viren<br />

10<br />

0 2 4 6 8 10 12<br />

0<br />

Zeit in Jahren<br />

Abbildung 2.2: Simulierter Verlauf einer Aids-Infektion <strong>mit</strong> b = 2.4 · 10 −5 .<br />

Das System (2.8)–(2.11) ist nicht so einfach zu analysieren wie die Populationsmo-<br />

delle aus dem vorigen Abschnitt. Wir präsentieren hier nur numerische Lösungen für die<br />

Parameter<br />

a = 10, s2 = 0.265,<br />

s1 = 0.01, N = 1000,<br />

r = 0.01, d = 7.64 · 10 −4 ,<br />

D = 100, g = 20,<br />

b = 2.4 · 10 −5 , C = 1.<br />

In Abbildung 2.2 sehen wir den zeitlichen Verlauf der Aids-Erkrankung <strong>mit</strong> x0 = 1000,<br />

v0 = 10. Der Virus verharrt nach der Infektion über Jahre hinweg im Körper des HIV-<br />

positiven Patienten, bevor schließlich nach mehreren Jahren die Immunschwächekrankheit<br />

42


Aids ausbricht. Innerhalb relativ kurzer Zeit (in einem Zeitraum von etwa einem Jahr)<br />

nimmt die Anzahl der gesunden T-Zellen rapide ab; der Patient verfügt schließlich über<br />

keine nennenswerte Immunabwehr und stirbt.<br />

Anzahl<br />

10 5<br />

10 4<br />

10 3<br />

10 2<br />

10 1<br />

Gesunde T−Zellen<br />

Infizierte T−Zellen<br />

HIV−Viren<br />

10<br />

0 5 10 15<br />

0<br />

Zeit in Jahren<br />

Abbildung 2.3: Simulierter Verlauf einer Aids-Infektion bei Medikamentengabe nach 5<br />

Jahren für 200 Tage (B(t) = 0.4b für 1825 ≤ t ≤ 2025 Tage).<br />

Um die eingangs gestellt Frage zu erörtern, simulieren wir den Verlauf der Krankheit<br />

bei einmaliger Gabe eines Medikaments, das die Vermehrung des Virus bzw. die Infektions-<br />

rate mindert. Wir nehmen an, daß in dieser Zeit die Infektionsrate b durch B(t) = 0.4 · b<br />

ersetzt werden kann. In Abbildung 2.3 erkennen wir, daß nach der Medikamentengabe<br />

die Virenzahl rapide abnimmt, aber nach dem Absetzen des Medikaments schnell wieder<br />

den alten Wert erreicht. Allerdings ist der Ausbruch der Aids-Erkrankung um mehrere<br />

Jahre verschoben worden. Der Effekt der Medikamentation ist noch größer, wenn das<br />

Medikament erst im 7. Jahr kurz vor Ausbruch der Erkrankung verabreicht wird (siehe<br />

Abbildung 2.4). Die Krankheit bricht erst nach einem etwa doppelt so langen Zeitraum<br />

wie ohne Medikament aus.<br />

Wenngleich dieses Modell das qualitative Verhalten der Aids-Krankheit frappierend<br />

genau widerspiegelt, ist es weit von der Realität entfernt. Es ist etwa die Sterberate<br />

der Viren, die zwischen zwei bis fünf pro Tag liegt, zu berücksichtigen. Wir haben die<br />

Halbwertszeit des Medikaments im Körper vernachlässigt. Die Nebenwirkungen des Me-<br />

dikaments und da<strong>mit</strong> die Lebensqualität – im Gegensatz zur puren Lebensverlängerung<br />

– sind nicht modelliert worden.<br />

Übungsaufgabe: Lösen Sie das Modell (2.8)–(2.11) numerisch und untersuchen Sie<br />

43


Anzahl<br />

10 5<br />

10 4<br />

10 3<br />

10 2<br />

10 1<br />

Gesunde T−Zellen<br />

Infizierte T−Zellen<br />

HIV−Viren<br />

10<br />

0 5 10 15 20<br />

0<br />

Zeit in Jahren<br />

Abbildung 2.4: Simulierter Verlauf einer Aids-Infektion bei Medikamentengabe nach 7<br />

Jahren für 200 Tage (B(t) = 0.4b für 2555 ≤ t ≤ 2755 Tage).<br />

den Einfluß der Länge des Medikamentationszeitraums auf den Beginn des Aids-Stadiums.<br />

Sind mehrere kurze Behandlungen einer einzigen längeren vorzuziehen oder abzulehnen?<br />

2.3 Chemische Reaktionskinetik<br />

Ein Chemiekonzern hat eine Methode gefunden, ein Molekül A in ein Modekül C um-<br />

zuwandeln. Als Zwischenprodukt wird das Molekül B erzeugt, das allerdings am Ende<br />

der Umwandlung nicht mehr auftritt. Da das Molekül B sehr aggressiv <strong>mit</strong> der Wand<br />

des Reaktors, in dem die Umwandlung stattfindet, reagiert, ist das Unternehmen an dem<br />

Wert der maximalen Konzentration von B interessiert, um einen geeigneten Schutz der<br />

Reaktorwand vornehmen zu können. Das Reaktionsschema sei wie folgt:<br />

B + C<br />

A α<br />

−→ B,<br />

2B β<br />

−→ B + C, (2.12)<br />

γ<br />

−→ A + C,<br />

wobei die Buchstaben über den Pfeilen die Reaktionskoeffizienten, die proportional zu den<br />

Reaktionsgeschwindigkeiten sind, darstellen. Sie seien gegeben durch α = 0.04, β = 3·10 7 ,<br />

γ = 10 4 . Während das Molekül A nur relativ langsam in die Zwischenform B übergeht,<br />

wirkt die Existenz von B katalytisch für eine weitere, sehr schnelle Transformation von<br />

B nach C. Daneben findet in Anwesenheit von C eine Rücktransformation von B nach<br />

A statt. Da die Substanz B sehr schnell reagiert, ist zu erwarten, daß sie nur einen<br />

44


elativ kleinen Anteil im Molekülgemisch ausmacht. Dieser ist jedoch entscheidend, um<br />

die Weiterreaktion zu C in Gang zu halten. Die zu beantwortende Frage lautet nun:<br />

Frage: Wie groß wird die Konzentration der Substanz B im Verlauf der obigen Reaktion<br />

höchstens?<br />

Um zu verstehen, wie wir das obige Reaktionsschema modellieren können, betrachten<br />

wir zunächst ein einfacheres Beispiel: Ein Molekül A verwandelt sich in Anwesenheit eines<br />

Moleküls B in ein zweites Molekül B <strong>mit</strong> Reaktionskoeffizienten α:<br />

A + B α<br />

−→ 2B.<br />

Zu Beginn der Reaktion betrage die Konzentration von A gerade c0 ∈ [0, 1], und die<br />

Konzentration von B sei 1−c0. Wir erwarten, daß die Konzentration von A stetig abnimmt<br />

und die von B zunimmt, bis keine Moleküle von A in dem Gemisch vorhanden sind. Wie<br />

schnell findet die Reaktion statt?<br />

Seien CA(t) und CB(t) die Konzentrationen von A und B zur Zeit t. Wie groß sind die<br />

Reaktionsgeschwindigkeiten C ′ A bzw. C′ B ? Nach dem sogenannten Massenwirkungsgesetz<br />

ist sie (bei konstantem Druck, Volumen und Temperatur) proportional zu der Wahr-<br />

scheinlichkeit, daß zwei Moleküle der entsprechenden Reaktion aufeinander treffen, also<br />

proportional zu dem Produkt der Konzentrationen von A und B. Die Proportionalitäts-<br />

konstante ist der Reaktionskoeffizient α > 0. Folglich ist<br />

<strong>mit</strong> Anfangskonzentrationen<br />

C ′ A = −αCACB, C ′ B = αCACB, t > 0, (2.13)<br />

CA(0) = c0, CB(0) = 1 − c0. (2.14)<br />

Wir sind in der Lage, das Verhalten der Lösungen des Systems (2.13)–(2.14) präzise<br />

zu beschreiben, ohne das Problem explizit lösen zu müssen. Zuerst bemerken wir, daß<br />

wegen<br />

(CA + CB) ′ = 0, (CA + CB)(0) = 1<br />

die Summe der Konzentrationen stets gleich Eins ist. Außerdem ist wie erwartet CA<br />

monoton fallend und CB monton wachsend. Die stationären Punkte sind durch<br />

CA = 1, CB = 0 und CA = 0, CB = 1<br />

gegeben. Die Eigenwerte der Ableitung der Abbildung (CA, CB) ↦→ (−αCACB, αCACB)<br />

lauten λ1 = 0, λ2 = α im Punkt (1, 0) und λ1 = −α, λ2 = 0 im Punkt (0, 1). Der stationäre<br />

Punkt (1, 0) ist also instabil nach Satz 1.5; über den anderen ist keine Aussage möglich.<br />

45


Wir behaupten, daß er asymptotisch stabil ist. Um dies einzusehen, multiplizieren wir<br />

die erste Gleichung in (2.13) <strong>mit</strong> CA und die zweite Gleichung <strong>mit</strong> CB − 1. Wir erhalten<br />

wegen CA + CB = 1:<br />

1 d<br />

2 dt (C2 A + (CB − 1) 2 ) = C ′ ACA + C ′ B(CB − 1)<br />

= αCACB(−CA + CB − 1)<br />

= −2αC 2 ACB.<br />

Nun ist CB monoton wachsend, also CB(t) ≥ CB(0) = 1 − c0. Dies impliziert<br />

Integration von 0 bis t führt auf<br />

d<br />

dt (C2 A + (CB − 1) 2 ) ≤ −4α(1 − c0)C 2 A.<br />

CA(t) 2 ≤ CA(t) 2 + (CB(t) − 1) 2 ≤ 2c 2 0 − 4α(1 − c0)<br />

Wir benutzen nun die Ungleichung von Gronwall:<br />

t<br />

CA(s) 2 ds.<br />

Lemma 2.1 Seien α ≥ 0, β ∈ R und f ∈ C 0 ([a, b]; [0, ∞)), und es gelte<br />

x<br />

f(x) ≤ α + β f(s) ds für alle a ≤ x ≤ b.<br />

Dann folgt<br />

0<br />

f(x) ≤ αe βx<br />

Übungsaufgabe: Beweisen Sie Lemma 2.1.<br />

Es folgt (wenn CA ≥ 0)<br />

und<br />

Wie erwartet gilt<br />

für alle a ≤ x ≤ b.<br />

CA(t) ≤ √ 2c0e −2(1−c0)αt<br />

0<br />

(2.15)<br />

CB(t) = 1 − CA(t) ≥ 1 − √ 2c0e −2(1−c0)αt , t > 0. (2.16)<br />

CA(t) → 0, CB(t) → 1 (t → ∞),<br />

und die Konvergenz ist exponentiall schnell <strong>mit</strong> Konvergenzrate −2(1 − c0)α. (Wir be-<br />

merken, daß die Abschätzungen (2.15)–(2.16), insbesondere für t = 0, nicht optimal sind.)<br />

Übungsaufgabe: Lösen Sie das Anfangswertproblem (2.13)–(2.14) analytisch, indem<br />

Sie die Variablentransformation x = CA − CB, y = CA + CB durchführen.<br />

46


Wir kehren nun zu dem Reaktionsschema (2.12) zurück. Seien CA(t), CB(t) bzw. CC(t)<br />

die Konzentrationen der Substanzen A, B bzw. C zur Zeit t. Die Reaktionsgeschwindigkeit<br />

C ′ A<br />

von A ist zum einen proportional zur Konzentration von A (<strong>mit</strong> Reaktionskoeffizient<br />

−α) und zum anderen proportional zum Produkt der Konzentrationen von B und C (<strong>mit</strong><br />

Koeffizient +γ). Analog können die Reaktionsgeschwindigkeiten von B und C bestimmt<br />

werden. Das Resultat ist ein System gewöhnlicher <strong>Differentialgleichungen</strong> für CA, CB und<br />

CC:<br />

Als Anfangswerte wählen wir<br />

C ′ A = −αCA + γCBCC,<br />

C ′ B = αCA − γCBCC − βC 2 B, (2.17)<br />

C ′ C = βC 2 B, t > 0.<br />

CA(0) = 1, CB(0) = CC(0) = 0. (2.18)<br />

Aus (2.17) können wir ablesen, daß CC während der Reaktion monoton wächst. Ad-<br />

dition der drei Gleichungen ergibt (CA + CB + CC) ′ = 0, also ist die Summe der Konzen-<br />

trationen konstant:<br />

CA(t) + CB(t) + CC(t) = 1 für alle t ≥ 0.<br />

Wir bestimmen nun die stationären Punkte. Aus<br />

−αCA + γCBCC = 0,<br />

αCA − γCBCC − βC 2 B = 0,<br />

βC 2 B = 0<br />

folgt, daß CB = 0, also CA = 0 und wegen CA + CB + CC = 1 daher CC = 1 die einzige<br />

Lösung dieses Gleichungssystems ist. Bezeichnen wir <strong>mit</strong> F (CA, CB, CC) den Vektor der<br />

rechten Seiten von (2.17), so lautet die Ableitung von F im Punkt (0, 0, 1):<br />

F ′ ⎛<br />

−α<br />

⎜<br />

(0, 0, 1) = ⎝ α<br />

γ<br />

−γ<br />

⎞<br />

0<br />

⎟<br />

0 ⎠ ,<br />

0 0 0<br />

und die Eigenwerte sind λ1/2 = 0 und λ3 = −(α + γ). Satz 1.5 erlaubt wieder keine<br />

Aussage. Auch die Technik, die oben zum exponentiellen Abklingen geführt hat, kann<br />

hier nicht verwendet werden. Der Grund ist, daß die Konzentrationen nicht alle monoton<br />

sind. In der Tat: Zur Zeit t = 0 ist kein Molekül der Substanz B vorhanden; es wird im<br />

Verlauf der Reaktionen gebildet und schließlich wieder abgebaut. Wir rechnen da<strong>mit</strong>, daß<br />

47


es einen Zeitpunkt gibt, an dem C ′ B = 0 gilt. Zu dieser Zeit ist die Konzentration von B<br />

maximal. Aus (2.17) folgt<br />

Die (positive) Lösung lautet<br />

C 2 B + γCC<br />

β CB − αCA<br />

β<br />

CB,max = −γCC<br />

2β +<br />

γCC<br />

2β<br />

= 0.<br />

2<br />

+ αCA<br />

. (2.19)<br />

β<br />

Nehmen wir nun an, daß die Konzentration CA und CC stets kleiner oder gleich Eins sind,<br />

erhalten wir die Abschätzung<br />

<br />

2 γ<br />

CB,max ≤ +<br />

2β<br />

α<br />

β =<br />

<br />

10−6 4<br />

+<br />

36 3 10−9 ≈ 1.71 · 10 −4 .<br />

Konzentration<br />

1<br />

0.8<br />

0.6<br />

0.4<br />

0.2<br />

Substanz A<br />

Substanz C<br />

0<br />

0 2000 4000 6000 8000 10000<br />

Zeit<br />

Konzentration<br />

x 10−5<br />

3.8<br />

3.7<br />

3.6<br />

3.5<br />

3.4<br />

3.3<br />

3.2<br />

3.1<br />

Substanz B<br />

0 0.02 0.04 0.06 0.08 0.1<br />

Zeit<br />

Abbildung 2.5: Simulation des Reaktionsverlaufs der Substanzen A, C (links) und B<br />

(rechts) als Funktion der Zeit.<br />

Diese Schranke ist viel zu groß. Um dies zu sehen, lösen wir das Problem (2.17)–(2.18)<br />

numerisch. In Abbildung 2.5 sind die drei Konzentrationen als Funktion der Zeit dar-<br />

gestellt. Die Konzentration von B wächst zunächst sehr schnell und nimmt dann sehr<br />

langsam ab. Der Umschlagpunkt, an dem C ′ B = 0 gilt, wird zu einer Zeit erreicht, zu der<br />

die Konzentration CA nahezu Eins und die Konzentration CC kaum größer als Null ist.<br />

Dies führt in (2.19) zu einer verbesserten Abschätzung<br />

CB,max ≈<br />

4<br />

3 10−9 ≈ 3.65 · 10 −5 .<br />

Da<strong>mit</strong> haben wir die eingangs gestellte Frage beantwortet. Die maximale Konzentration<br />

der Substanz C in dem Gemisch beträgt etwa 0.0365<br />

48<br />

.


Übungsaufgabe: Die chemische Reaktion A + B → C gehorche dem Massenwirkungs-<br />

gesetz <strong>mit</strong> Reaktionskoeffizient α > 0. Seien CA, CB bzw. CC die Konzentrationen der<br />

Substanzen A, B, bzw. C. Zur Zeit t = 0 gelte CA(0) = a > 0, CB(0) = 1 − a > 0 und<br />

CC(0) = 0. Zeigen Sie, daß CA(t) und CB(t) exponentiell schnell für t → ∞ gegen Null<br />

konvergieren. Folgern Sie den Wert für limt→∞ CC(t).<br />

2.4 Ein Wirtschaftsmodell<br />

Wir betrachten eine Nation A, die sehr enge wirtschaftliche Verbindungen zu einer Nation<br />

B pflegt. Die Nation A exportiere selbst hergestellte Waren an B und importiere dafür<br />

von B hergestellte Waren aus dem Erzeugerland. Wir wollen die folgende Frage erörtern:<br />

Frage: Wie wirkt sich die Änderung der Importrate der Nation A auf die “Zufriedenheit”<br />

der Nation aus, und wie beeinflußt dies die Dynamik der Warenproduktion?<br />

Diese Frage enthält den Begriff “Zufriedenheit”, den wir definieren müssen. Um die Situa-<br />

tion zu vereinfachen, nehmen wir an, daß die beiden Nationen ausschließlich <strong>mit</strong>einander<br />

Handel treiben. Es seien<br />

x = Wert der von Nation A hergestellten Waren,<br />

y = Wert der von Nation B hergestellten Waren.<br />

Der Wert sei berechnet in Einheiten geleisteter Arbeitsstunden und sei diesen propor-<br />

tional; d.h., eine Ware sei doppelt soviel wert wie eine andere, wenn sie zur Produktion<br />

doppelt so viele Arbeitsstunden benötigt. Es gelte x ≥ 0, y ≥ 0. Weiter nehmen wir an,<br />

daß der Anteil der exportierten Waren für beide Nationen gleich groß ist. Wir definieren<br />

dann:<br />

p = Anteil der selbst verbrauchten Waren,<br />

1 − p = Anteil der exportierten Waren.<br />

Um die “Zufriedenheit” oder “Nutzen” (im Englischen utility) einer Nation zu model-<br />

lieren, machen wir die folgenden Annahmen:<br />

Annahme A: “Je mehr Waren der einen Sorte man hat, umso schwächer steigt<br />

der Nutzen, wenn man neue Waren derselben Sorte erhält.” Mit anderen Worten:<br />

Erhält man eine Ware erstmalig, erhöht dies die Zufriedenheit sehr; hat man bereits<br />

viele Waren derselben Sorte und bekommt dann eine weitere dazu, erhöht dies den<br />

Nutzen nur geringfügig.<br />

49


Annahme B: “Zuviel Arbeit ist unbefriedigend.” Das heißt, die Zufriedenheit<br />

nimmt bei zunehmender Arbeit (die proportional zu dem erzeugten Warenwert ist)<br />

ab.<br />

Annahme C: “Die Warenproduktion steigt <strong>mit</strong> zunehmender Zufriedenheit.”<br />

Im folgenden setzen wir diese umgangssprachlichen Aussagen in mathematische For-<br />

meln um.<br />

Annahme A: Sei U(g) die Funktion, die den Nutzen bzw. die Zufriedenheit einer<br />

Nation in Abhängigkeit des Warenwerts g modelliert. Die Aussage A bedeutet, daß die<br />

Änderung des Nutzens dU kleiner bei fester Änderung des Warenwerts dg wird, je größer<br />

der Warenwert g selbst wird:<br />

dU<br />

dg<br />

= f(g) und f ist monoton fallend.<br />

Eine Möglichkeit ist die Wahl f(g) = k/g <strong>mit</strong> einer Konstanten k > 0. Sind keine Waren<br />

vorhanden (g = 0), so ist der Nutzen Null (U = 0). Wir müssen also das Anfangswert-<br />

problem<br />

dU<br />

dg<br />

k<br />

= , g > 0, U(0) = 0,<br />

g<br />

lösen. Die allgemeine Lösung der Differentialgleichung lautet U(g) = k ln g + c <strong>mit</strong> c ∈ R,<br />

doch ist U(0) nicht definiert! Es existiert also keine Lösung. Der Grund ist, daß das Modell<br />

unrealistisch ist: Besitzt man anfangs keine Waren (U = 0), so ist die Nutzenänderung<br />

U ′ (0) unendlich. Wir nehmen an, daß die Nutzenänderung proportional zur Änderung<br />

des Warenwertes dg ist, wenn g = 0, d.h. U ′ (0) = (dU/dg)(0) = k > 0. Wir machen den<br />

Ansatz f(g) = k/(1 + g) und lösen das Problem<br />

Die Lösung lautet<br />

dU<br />

dg<br />

k<br />

= , g > 0, U(0) = 0.<br />

1 + g<br />

U(g) = k ln(1 + g), g ≥ 0.<br />

Für die betrachteten Nationen setzt sich der Warenwert aus den Anteilen der Werte<br />

der selbst verbrauchten Waren und der importierten Waren zusammen:<br />

Nation A: g = px + (1 − p)y,<br />

Nation B: g = py + (1 − p)x.<br />

Folglich sind die Nutzenfunktionen UA der Nation A und UB der Nation B gegeben durch<br />

UA(x, y) = k ln(1 + px + (1 − p)y),<br />

UB(x, y) = k ln(1 + (1 − p)x + py), x, y ≥ 0,<br />

50


wobei wir angenommen haben, daß der Proportionalitätsfaktor k für beide Nationen gleich<br />

ist.<br />

Annahme B: Die Zufriedenheit wäre maximal, gäbe es keine Arbeit, und nimmt<br />

ansonsten um einen Faktor ab, der von der geleisteten Arbeit und da<strong>mit</strong> von dem pro-<br />

duzierten Warenwert abhängt. Unterstellen wir auch hier Proportionalität, werden die<br />

Funktionen UA und UB um den Wert ax bzw. ay vermindert. Da<strong>mit</strong> haben die Nutzen-<br />

funktionen die Gestalt<br />

UA(x, y) = k ln(1 + px + (1 − p)y) − ax,<br />

UB(x, y) = k ln(1 + (1 − p)x + py) − ay.<br />

Dieses Modell berücksichtigt, daß zuviel Arbeit zu einem negativen Nutzen führt. Bei<br />

festem y ≥ 0 existiert nämlich ein x0, so daß UA(x, y0) ≤ 0 für x ≥ x0 (interpretiert als<br />

“zuviel Arbeit”). Werden überhaupt keine Waren produziert (x = 0, “keine Arbeit”), so<br />

hängt die Zufriedenheit ausschließlich von dem Warenwert der importierten Waren ab.<br />

Auf lange Sicht ist diese Situation natürlich unrealistisch, da die Importe nicht bezahlt<br />

werden können, wenn kein Geld durch Warenproduktion erwirtschaftet wird.<br />

Annahme C: Bei wachsender Zufriedenheit ∂UA/∂x > 0 steigt die Warenproduktion,<br />

d.h., x(t) wächst monoton: dx/dt > 0. Wir nehmen an, daß die zeitliche Änderung x ′ (t)<br />

der Warenproduktion proportional zur Änderung der Zufriedenheit ist:<br />

x ′ = c ∂UA<br />

∂x =<br />

ckp<br />

− ca;<br />

1 + px + (1 − p)y<br />

analog erhalten wir (<strong>mit</strong> derselben Proportionalitätskonstanten c > 0)<br />

y ′ = c ∂UB<br />

∂y =<br />

ckp<br />

− ca.<br />

1 + (1 − p)x + py<br />

Wir haben vier Parameter (c, k, a und p). Durch Einführung einer neuen Zeit t ′ = ckt<br />

und eines Parameters r = a/k läßt sich die Anzahl der Parameter auf zwei begrenzen:<br />

dx<br />

dt ′ =<br />

1<br />

ck<br />

dx<br />

dt =<br />

p<br />

− r,<br />

1 + px + (1 − p)y<br />

dy<br />

dt ′ =<br />

1<br />

ck<br />

dy<br />

dt =<br />

p<br />

− r.<br />

1 + (1 − p)x + py<br />

Im folgenden schreiben wir wieder t anstatt t ′ ; das zu lösende Problem lautet<br />

x ′ =<br />

y ′ =<br />

p<br />

1 + px + (1 − p)y − r, t > 0, x(0) = x0, (2.20)<br />

p<br />

1 + px + (1 − p)y − r, t > 0, y(0) = y0, (2.21)<br />

51


Wir bestimmen zuerst die stationären Punkte von (2.20)–(2.21) und untersuchen das<br />

System auf Stabilität bzw. Instabilität. Aus<br />

folgt<br />

und da<strong>mit</strong><br />

Wir untersuchen zwei Fälle:<br />

p<br />

− r =<br />

1 + px + (1 − p)y<br />

1 + px + (1 − p)y = p<br />

r<br />

1. Fall: p = 1.<br />

Es folgt x = y und<br />

2<br />

p<br />

− r = 0<br />

1 + (1 − p)x + py<br />

(2p − 1)(x − y) = 0.<br />

1 + px + (1 − p)x = p<br />

r<br />

Es gibt genau einen stationären Punkt<br />

x0 = y0 = p<br />

− 1,<br />

r<br />

= 1 + (1 − p)x + py<br />

p<br />

=⇒ x = − 1.<br />

r<br />

sofern p ≥ r. Falls p < r, existieren keine stationären Punkte (in x, y ≥ 0).<br />

2. Fall: p = 1.<br />

Dies impliziert<br />

2<br />

und daher die folgenden Fälle:<br />

r > 1<br />

2<br />

r = 1<br />

2<br />

1 + 1 1 1<br />

x + y =<br />

2 2 2r<br />

: Es gibt keine stationären Punkte.<br />

1<br />

=⇒ x + y = − 2<br />

r<br />

: Es existiert genau ein stationärer Punkt (0, 0).<br />

r < 1<br />

2 : Es gibt unendlich viele stationäre Punkte (x1, y1), gegeben durch<br />

x1 + y1 = 1/r − 2 > 0.<br />

Sind die stationären Punkte stabil oder instabil? Sei zuerst p = 1<br />

2<br />

Die Eigenwerte von<br />

F (x, y) =<br />

F ′ (x0, y0) = −p(1 + px0 + (1 − p)y0) −2<br />

lauten<br />

−1 p(1 + px + (1 − p)y) − r<br />

p(1 + (1 − p)x + py) −1 <br />

, x, y ≥ 0.<br />

− r<br />

<br />

p 1 − p<br />

1 − p p<br />

<br />

λ1 = −r 2 /p, λ2 = r 2 (1 − 2p)/p.<br />

52<br />

= − r2<br />

p<br />

<br />

und definiere<br />

p 1 − p<br />

1 − p p


Folglich erhalten wir asymptotische Stabilität, wenn p > 1,<br />

d.h., wenn die Nation die<br />

2<br />

produzierten Waren eher selbst verbraucht, als sie zu exportieren.<br />

lauten<br />

Im Fall p = 1<br />

2 gilt 1 + px1 + (1 − p)y1 = 1/2r. Die Eigenwerte der Matrix<br />

Der Satz 1.5 erlaubt keine Aussage.<br />

Der Fall p = 1<br />

2<br />

F ′ (x1, y1) = −r 2<br />

<br />

1 1<br />

1 1<br />

λ1 = 0, λ2 = −2r 2 .<br />

läßt sich dennoch vollständig behandeln. Addition und Subtraktion<br />

von (2.20) und (2.21) liefert die Gleichungen<br />

Die erste Gleichung impliziert<br />

(x − y) ′ = 0, (x + y) ′ =<br />

<br />

2<br />

− 2r.<br />

2 + x + y<br />

x(t) − y(t) = const. = x0 − y0,<br />

und nach Einsetzen in die zweite Gleichung folgt<br />

y ′ =<br />

1<br />

2 + x0 − y0 + 2y<br />

wobei α := 2 + x0 − y0. Integration ergibt<br />

t y(t)<br />

y(t)<br />

α + 2y 1<br />

t = dt =<br />

dy =<br />

1 − rα − 2ry r<br />

0<br />

y0<br />

1 − rα − 2ry<br />

− r = , t > 0, y(0) = y0,<br />

α + 2y<br />

y0<br />

<br />

<br />

1<br />

−1 +<br />

dy.<br />

1 − rα − 2ry<br />

Sei zuerst 1−rα−2ry0 > 0. Dann ist, zumindest für kleine Zeiten, auch 1−rα−2ry(t) > 0,<br />

und wir erhalten<br />

rt = y0 − y(t) − 1<br />

1<br />

ln(1 − rα − 2ry(t)) +<br />

2r 2r ln(1 − rα − 2ry0), t > 0.<br />

Für t → ∞ strebt die linke Seite gegen unendlich, also muß − ln(1 − rα − 2ry(t)) → ∞<br />

folgen, da wir y(t) ≥ 0 vorausgesetzt haben. Dies impliziert 1 − rα − 2ry(t) → 0 oder<br />

und da<strong>mit</strong><br />

y(t) →<br />

rα − 1<br />

2r<br />

= 1 + 1<br />

2 (x0 − y0) − 1<br />

2r<br />

x(t) = x0 − y0 + y(t) → 1 + 3<br />

2 (x0 − y0) − 1<br />

2r<br />

53<br />

für t → ∞.


Wenn rα − 1 < 0 (oder x0 − y0 < −1/r), wird y(t) nach endlicher Zeit negativ werden,<br />

was wir ausgeschlossen haben. Also existiert in diesem Fall eine Lösung nur auf einem<br />

endlichen Zeitintervall, etwa auf [0, t0] und y(t0) = 0.<br />

Sei nun 1 − rα − 2ry0 < 0. Dann folgt, zumindest für kleine Zeiten,<br />

rt =<br />

y(t)<br />

y0<br />

<br />

<br />

1<br />

−1 −<br />

dy<br />

rα − 1 + 2ry<br />

= y0 − y(t) − 1<br />

1<br />

ln(rα − 1 + 2ry(t)) + ln(rα − 1 + 2ry0).<br />

2r 2r<br />

Mit demselben Argument wie oben folgt rα − 1 + 2ry(t) → 0 für t → ∞ oder<br />

y(t) →<br />

1 − rα<br />

2r<br />

1 1<br />

= − 1 −<br />

2r 2 (x0 − y0),<br />

x(t) → 1 1<br />

− 1 +<br />

2r 2 (x0 − y0) für t → ∞.<br />

Wenn 1 − rα < 0 gilt, existiert die Lösung wieder nur auf einem endlichen Zeitintervall.<br />

Notwendige Bedingungen für globale Lösungen (d.h. nichtnegative Lösungen, die für alle<br />

t ≥ 0 existieren) sind also die Ungleichungen<br />

oder<br />

1 − rα − 2ry0 > 0 und rα − 1 > 0<br />

1 − rα − 2ry0 < 0 und rα − 1 < 0.<br />

Zusammengefaßt erhalten wir Lösungen, die nur auf einem endlichen Zeitintervall<br />

existieren, wenn<br />

oder wenn<br />

gelten. Dies ist äquivalent zu<br />

Dies bedeutet, daß im Falle p = 1<br />

2<br />

1 − rα − 2ry0 > 0 und rα − 1 < 0<br />

1 − rα − 2ry0 < 0 und rα − 1 > 0<br />

x0 − y0 < 1<br />

r − 2 oder x0 − y0 > 1<br />

− 2.<br />

r<br />

die Warenproduktion einer der beiden Nationen zum<br />

Erliegen kommt, wenn x0 − y0 = 1/r − 2. Falls x0 − y0 = 1/r − 2, existiert eine globale<br />

Lösung, nämlich x(t) = x0, y(t) = y0 für t > 0.<br />

Wir kommen nun auf die eingangs gestellte Frage zurück: Welchen Einfluß hat die<br />

Änderung der Importrate auf den Nutzen? Wir nehmen an, daß die Importrate der Nation<br />

A von p auf p − s <strong>mit</strong> 0 < s < p fällt. Wir setzen weiterhin voraus, daß p − s ≥ r gilt<br />

und daß die Änderung der Importrate zu einem Zeitpunkt stattfindet, in der sich die<br />

54


Wirtschaft beider Nationen in einem stationären Zustand befindet. Wegen p > r lautet<br />

dieser stationäre Zustand<br />

x2 = y2 = p<br />

− 1.<br />

r<br />

Nach längerer Zeit nach der Änderung bewegt sich die Warenproduktion auf einen neuen<br />

stationären Zustand<br />

p − s<br />

x3 = y3 = − 1<br />

r<br />

zu. Hier haben wir Gebrauch von der Voraussetzung p − s ≥ r gemacht. Es muß nun die<br />

Frage beantwortet werden, ob der “neue” Nutzen UA(x2, y2) größer oder kleiner als der<br />

vorherige Nutzen UA(x3, y3) ist. Wegen<br />

UA(p/r − 1, p/r − 1) = k ln kp<br />

a<br />

− kp + a<br />

ist die Monotonie der Funktion p ↦→ UA(p/r − 1, p/r − 1) zu untersuchen. Sie hat genau<br />

ein Maximum bei p = 1 und ist monoton wachsend für p ≤ 1. Folglich gilt<br />

UA(x2, y2) > UA(x3, y3).<br />

Die Zufriedenheit der Nation A sinkt also bei Abfallen der Importrate (sofern p − s ≥ r =<br />

a/k).<br />

Übungsaufgabe: Wie ändert sich die Zufriedenheit der Nation A, wenn die Importrate<br />

von p ≥ a/k auf p − s <strong>mit</strong> s > p − a/k fällt?<br />

2.5 Elektrische Schaltkreise<br />

Für die Entwicklung moderner Computerbauteile (Halbleiterprozessoren, Mobilfunkbau-<br />

teile etc.) ist die Simulation elektrischer Schaltkreise <strong>mit</strong> einer sehr großen Anzahl von<br />

Bauteilen (Widerstände, Transistoren etc.) notwendig. In diesem Abschnitt betrachten wir<br />

eine sogenannte E<strong>mit</strong>terschaltung, die eine gängige Verstärkerstufe für eine Eingangswech-<br />

selspannung US <strong>mit</strong> Hilfe eines Transistors darstellt (Abbildung 2.6). Ziel dieses Abschnit-<br />

tes ist es, das zeitliche Verhalten der elektrischen Spannung innerhalb des Schaltkreises<br />

zu modellieren. Dazu benötigen wir einige Grundbegriffe aus der Elektrotechnik.<br />

Der Schaltkreis enthält die Widerstände R1, R2, RC, RE und RL, die Kondensatoren<br />

C1, C2 und CE und einen Transistor im Zentrum der Schaltung. Im allgemeinen unter-<br />

scheidet man u.a. die folgenden Bauteile in elektrischen Schaltkreisen:<br />

Widerstände: Dies sind Bauteile (z.B. auch Drähte), an denen eine Spannung UR<br />

abfällt. Nach dem Ohmschen Gesetz ist der durch einen Widerstand fließende Strom<br />

IR proportional zur Spannung UR:<br />

UR = R · IR.<br />

55


U (t)<br />

s<br />

ο<br />

ο<br />

C 1<br />

R 1<br />

R 2<br />

B<br />

<<br />

R E<br />

Abbildung 2.6: Eine Verstärker-Grundschaltung.<br />

Die Proportionalitätskonstante nennt man Widerstand.<br />

R C<br />

Kondensatoren: Sie speichern elektrische Ladungen. Der elektrische Strom IC<br />

durch einen Kondensator ist proportional zu Spannungsänderungen:<br />

IC = C dUC<br />

dt ,<br />

wobei die Proportionalitätskonstante Kapazität genannt wird.<br />

Spulen: Sie speichern Energie in ihren magnetischen Feldern. Hier ist die abfallende<br />

Spannung UL proportional zu den Stromänderungen<br />

UL = L dIL<br />

dt<br />

<strong>mit</strong> der Induktivität als Proportionalitätskonstante. Die Verstärkerschaltung 2.6<br />

enthält keine Spulen.<br />

Transistoren: Sie können als Verstärker genutzt werden. Sie sind über die Ein-<br />

gangskennlinien an der Basis B<br />

C<br />

E<br />

C E<br />

C 2<br />

U 0<br />

IB = IB(UB − UE, UC − UE)<br />

und die Ausgangskennlinien am Kollektor C<br />

IC = IC(UC − UE, IB)<br />

definiert, wobei IB bzw. IC die Ströme durch die Basis bzw. den Kollektor und<br />

UB − UE bzw. UC − UE die Spannungsdifferenzen zwischen Basis und E<strong>mit</strong>ter bzw.<br />

Kollektor und E<strong>mit</strong>ter sind. Die Funktionen IB und IC betrachten wir als gegeben<br />

(Abbildung 2.7).<br />

56<br />

U L<br />

L<br />

R L


I B<br />

U − U<br />

C E<br />

U − U<br />

B E<br />

I C<br />

I B<br />

U − U<br />

C E<br />

Abbildung 2.7: Kennlinien eines Transistors für verschiedene Werte von UC − UE (links)<br />

bzw. IB (rechts).<br />

Die Ströme und Spannungen an den einzelnen Bauteilen in einem Schaltkreis werden<br />

durch die Kirchhoffschen Gesetze in Zusammenhang gebracht:<br />

Knotenregel für Ströme: Die Summe der an einem Knoten zusammentreffenden<br />

Ströme durch die entsprechenden Leiter ist Null (Abbildung 2.8 links):<br />

<br />

Ik = 0.<br />

k<br />

Maschenregel für Spannungen: Die Summe der zu einer Masche gehörenden Span-<br />

nungen ist Null (Abbildung 2.8 rechts):<br />

I<br />

4<br />

I 1<br />

I<br />

2<br />

I<br />

3<br />

<br />

Uk = 0.<br />

k<br />

U 1<br />

U 2<br />

U 4<br />

Abbildung 2.8: Zur Knoten- und Maschenregel.<br />

Als Beispiel betrachten wir einen RLC-Schaltkreis, bestehend aus einem Widerstand<br />

R, einer Induktivität L und einer Kapazität C in Reihe <strong>mit</strong> angelegter Spannung U =<br />

U(t) (Abbildung 2.9). Nach der Maschenregel gilt für die über die Bauteile abfallenden<br />

Spannungen:<br />

U 3<br />

U = UR + UL + UC. (2.22)<br />

Nach der Knotenregel fließt durch jedes der drei Bauteile der gleiche Strom<br />

I := IR = IL = IC.<br />

57


U(t)<br />

ο<br />

ο<br />

Abbildung 2.9: Ein RLC-Schaltkreis.<br />

Setzen wir UR = RI und UL = LI ′ in (2.22) ein, leiten die Gleichung einmal ab und<br />

verwenden U ′ C<br />

= I/C, so folgt<br />

I ′′ + R<br />

L I′ + 1<br />

LC I = U ′ (t).<br />

Dies ist eine Differentialgleichung für eine erschwungene Schwingung <strong>mit</strong> Eigenfrequenz<br />

1/ √ LC und “Reibungskonstante” R/L. Die Lösung I dieser Gleichung liefert den unbe-<br />

kannten Strom durch das Bauteil.<br />

R<br />

Bei der Verstärkerschaltung aus Abbildung 2.6 sind die Gleichspannung U0 und die<br />

Wechselspannung US(t) gegeben, und die Ausgangsspannung UL(t) ist gesucht. Wir er-<br />

warten, daß die Eingangsspannung US verstärkt wird. Genauer gesagt wollen wir die un-<br />

bekannten Spannungen UB, UC, UE und UL an den vier Knoten B, C, E und L bestimmen.<br />

Dazu benutzen wir die Knotenregel:<br />

Knoten B: 0 = IR1 + IC1 + IR2 + IB<br />

= R −1<br />

1 (UB − U0) + C1(U ′ B − U ′ S ) + R−1 2 UB + IB,<br />

Knoten C: 0 = IRC + IC2 + IC<br />

= R −1<br />

C (UC − U0) + C2(U ′ C − U ′ L ) + IC,<br />

Knoten E: 0 = IRE + ICE + IE = R −1<br />

E UE + CEU ′ E<br />

Knoten L: 0 = IRL + IC2 = R −1<br />

L UL + C2(U ′ L − U ′ C ).<br />

Den E<strong>mit</strong>terstrom können wir durch die Knotenregel<br />

C<br />

IE + IB + IC = 0<br />

L<br />

+ IE,<br />

durch die Basis- und Kollektorströme ersetzen. Wir erhalten das folgende (nichtlineare)<br />

System<br />

<strong>mit</strong><br />

⎛<br />

⎞ ⎛<br />

C1 0 0 0<br />

⎜ 0 C2 0<br />

⎟ ⎜<br />

−C2 ⎟ ⎜<br />

A = ⎜<br />

⎟ , x = ⎜<br />

⎝ 0 0 CE 0 ⎠ ⎝<br />

0 −C2 0 C2<br />

Ax ′ = b · x + f(x) (2.23)<br />

58<br />

UB<br />

UC<br />

UE<br />

UL<br />

⎞<br />

⎛<br />

⎟<br />

⎜<br />

⎟<br />

⎜<br />

⎟ , b = − ⎜<br />

⎠ ⎝<br />

R −1<br />

1 + R −1<br />

2<br />

R −1<br />

C<br />

R −1<br />

E<br />

R −1<br />

L<br />

⎞<br />

⎟<br />


und<br />

⎛<br />

⎜<br />

f(x) = ⎜<br />

⎝<br />

R −1<br />

1 (U0 − UB) + C −1<br />

1 U ′ S − IB(UB − UE, UC − UE)<br />

R −1<br />

C U0 − IC(UC − UE, IB)<br />

IB + IC<br />

0<br />

Die Matrix A ist singulär. Dies ist nicht erstaunlich, da wir das Ohmsche Gesetz verwendet<br />

haben, das keine Differentialgleichung ist. Allerdings kann das System (2.23) so nicht<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

gelöst werden. Wir führen zuerst die folgende Variablentransformation durch<br />

y1 = UB, y2 = UC − UL, y3 = UE, z = UC − UB,<br />

<strong>mit</strong> der wir die vierte Zeile von (2.23) umschreiben können. Addition der Gleichungen am<br />

Knoten C und L ergibt eine algebraische Gleichung:<br />

0 = R −1<br />

C (UC − U0) + IC + R −1<br />

L UL = (R −1<br />

C + R−1<br />

L )UC − R −1<br />

L (UC − UL) + IC − R −1<br />

C U0<br />

= (R −1<br />

C<br />

+ R−1<br />

L )(y1 + z) − R −1<br />

L y2 + IC − R −1<br />

C U0.<br />

Die ersten drei Zeilen von (2.23) und die algebraische Gleichung fassen wir dann wie folgt<br />

zusammen:<br />

<strong>mit</strong> y = (y1, y2, y3) ⊤ ,<br />

⎛<br />

und<br />

f(y, z) =<br />

⎜<br />

⎝<br />

y ′ = f(y, z), 0 = g(y, z), t > 0, (2.24)<br />

−[(C1R2) −1 + (C1R1) −1 ]y1 − C −1<br />

1 IB + (C1R1) −1 U0 + U ′ S<br />

−(C2RC) −1 (y1 + z) − C −1<br />

2 IC + (C2RC) −1 U0<br />

−(CERE) −1 y3 + C −1<br />

E (IB + IC)<br />

g(y, z) = (R −1<br />

C<br />

+ R−1<br />

L )(y1 + z) − R −1<br />

L y2 + IC − R −1<br />

C U0.<br />

Unter welchen Bedingungen ist das System (2.24), zusammen <strong>mit</strong> den Anfangsbedin-<br />

gungen<br />

y(0) = y0, z(0) = z0<br />

lösbar? Zum einen müssen die Anfangswerte <strong>mit</strong> der zweiten Gleichung in (2.24) konsistent<br />

sein, d.h., es muß g(y0, z0) = 0 gelten. Gilt zum anderen, daß (∂g/∂z)(y0, z0) invertier-<br />

bar ist, so existiert nach dem Satz über implizite Funktionen eine eindeutig bestimmte<br />

Funktion ψ : U → R in einer Umgebung U ⊂ R 3 von y0 <strong>mit</strong><br />

ψ(y0) = z0 und g(y, ψ(y)) = 0.<br />

Mit Hilfe dieser Funktion kann (2.24) in das äquivalente System<br />

y ′ = f(y, ψ(y)), t > 0, y(0) = y0, z = ψ(y),<br />

59<br />

⎞<br />

⎟<br />


überführt werden, dessen Lösbarkeit (unter geeigneten Voraussetzungen an f bzw. IB und<br />

IC) durch Satz 1.2 garantiert ist. Die Frage, ob ∂g/∂z invertiert werden kann, hängt von<br />

der speziellen Struktur der Funktionen IB und IC ab. Eine hinreichende Bedingung ist<br />

0 < ∂g<br />

∂z (y0, z0) = ∂<br />

∂z IC(z + y1 − y3), IB(y1 − y3, z + y1 − y3))<br />

=<br />

∂IC ∂IC ∂IB<br />

+<br />

∂(UC − UE) ∂IB ∂(UC − UE) , ausgewertet an (y0, z0).<br />

In der Praxis ist diese Bedingung erfüllt.<br />

Ein gekoppeltes Problem aus gewöhnlichen <strong>Differentialgleichungen</strong> und algebraischen<br />

Gleichungen nennt man übrigens ein differential-algebraisches Problem. Ist (∂g/∂z)(y0, z0)<br />

invertierbar, so nennt man das System <strong>mit</strong> Index Eins, andernfalls <strong>mit</strong> Index größer Eins.<br />

Das differential-algebraische System (2.24) kann nur numerisch gelöst werden. Zum<br />

Glück ist die Transformation ψ(y) = z nicht zur Lösung notwendig. Eine andere Idee<br />

besteht darin, das Problem<br />

y ′ = f(y, z), t > 0, y(0) = y0,<br />

εz ′ = g(y, z), t > 0, z(0) = z0,<br />

numerisch zu diskretisieren und dann ε → 0 streben zu lassen. Wir verweisen für Details<br />

auf die Bücher [2, 3].<br />

2.6 Himmelsmechanik<br />

Wir wollen die folgende Frage beantworten:<br />

Frage: Wie stabil ist unser Sonnensystem gegenüber Störungen?<br />

Unser Sonnensystem besteht aus n Körpern <strong>mit</strong> Massen m1, . . . , mn, die sich entlang<br />

gewisser Bahnen r1(t), . . . , rn(t) ∈ R 3 im Raum bewegen. Die Bewegung der Körper wird<br />

durch das Newtonsche Gesetz<br />

mir ′′<br />

i = Fi, i = 1, . . . , n, (2.25)<br />

beschrieben, wobei Fi die auf den i-ten Körper wirkenden Gravitationskräfte aller anderen<br />

Körper ist. In Abschnitt 1.2 hatten wir bereits die Gravitationskraft verwendet; sie lautet<br />

zwischen zwei Körpern (siehe Abbildung 2.10):<br />

F1 = − Gm1m2<br />

|r1 − r2| 3 (r1 − r2), F2 = − Gm1m2<br />

|r2 − r1| 3 (r2 − r1) (2.26)<br />

wobei G = 6.7 · 10 −11 m 3 /s 2 kg die Gravitationskonstante sei.<br />

60


F 1<br />

m<br />

1<br />

m<br />

2<br />

F2<br />

r<br />

1<br />

r<br />

2<br />

0<br />

Abbildung 2.10: Auf die Körper <strong>mit</strong> Massen m1 und m2 wirkende Gravitationskräfte.<br />

Betrachten wir zuerst ein System, bestehend aus der Sonne <strong>mit</strong> Masse m1 und der<br />

Erde <strong>mit</strong> Masse m2. Die Bewegung der Bahnen der Sonne r1(t) und der Erde r2(t) sind<br />

nach (2.25) und (2.26) gegeben durch<br />

m1r ′′<br />

1 = − Gm1m2<br />

|r1 − r2| 3 (r1 − r2), m2r ′′<br />

2 = − Gm1m2<br />

|r2 − r1| 3 (r2 − r1). (2.27)<br />

Nun ist die Masse m2 der Erde sehr viel kleiner als die der Sonne, nämlich<br />

m1 = 2 · 10 30 kg, m2 = 6 · 10 24 kg,<br />

so daß wir die Hoffnung haben, das Problem (2.27) durch Reduktion vereinfachen zu<br />

können. Das System (2.27) hat die drei Parameter G, m1, m2, deren Einheiten gemäß<br />

Abschnitt 1.2 wie folgt in eine Koeffizientenmatrix geschrieben werden können:<br />

G m1 m2<br />

⎛<br />

cm 3<br />

⎜<br />

g ⎝ −1<br />

0<br />

1<br />

⎞<br />

0<br />

⎟<br />

1 ⎠ .<br />

s −2 0 0<br />

Der Kern dieser Matrix wird durch ven Vektor (0, −1, 1) aufgespannt, so daß wir den<br />

Parameter<br />

ε := m2<br />

m1<br />

≈ 10 −6<br />

verwenden. Um (2.27) zu skalieren, verwenden wir die Referenzlänge<br />

und die Referenzzeit<br />

L = Entfernung Erde–Sonne = 1.5 · 10 11 m<br />

T =<br />

<br />

L 3<br />

Gm1<br />

= 5 · 10 6 s.<br />

Da die Erde in einem Jahr (also 3.2 · 10 7 s) auf ihrem Weg um die Sonne die Entfernung<br />

2πL <strong>mit</strong> Geschwindigkeit v = 2πL/3.2·10 7 s zurücklegt, entspricht T der Zeit, die die Erde<br />

braucht, um die Strecke vT = 2πL · 5 · 10 6 /3.2 · 10 7 ≈ L zu durchlaufen. Wir skalieren<br />

ri → Lri (i = 1, 2) und t → T t<br />

61


und erhalten die Gleichungen<br />

r ′′<br />

1 = −ε r1 − r2<br />

|r1 − r2|<br />

3 , r′′<br />

2 = − r2 − r1<br />

, t > 0. (2.28)<br />

|r2 − r1| 3<br />

Wir wählen r0 = L für die Anfangsbedingung für r2(0) und v0 = 2πL/(1 Jahr) für r ′ 2(0).<br />

Die skalierten Anfangswerte lauten dann<br />

r1(0) = r ′ ⎛ ⎞<br />

⎛<br />

0<br />

⎜ ⎟<br />

⎜<br />

1(0) = ⎝ 0 ⎠ , r2(0) = ⎝<br />

0<br />

1<br />

0<br />

0<br />

⎞<br />

⎛<br />

⎟<br />

⎠ , r ′ ⎜<br />

2(0) = ⎝<br />

0<br />

1<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ . (2.29)<br />

Wir können das Problem (2.28) entkoppeln und auf die Bewegung eines einzigen<br />

Körpers reduzieren, indem wir die Bewegungsgleichungen für den Ortsvektor des gemein-<br />

samen Schwerpunktes R = r1 + εr2 und den Abstandsvektor r = r1 − r2 einführen:<br />

R ′′ = 0, r ′′ = −(1 + ε) r<br />

. (2.30)<br />

|r| 3<br />

Die Wahl ε = 0 vereinfacht das Problem also nicht, so daß wir <strong>mit</strong> dem vollen Problem<br />

weiterarbeiten. Den Einfluß von ε untersuchen wir später. Die erste Gleichung bedeutet,<br />

daß sich der gemeinsame Schwerpunkt gleichförmig (d.h. <strong>mit</strong> konstanter Geschwindigkeit)<br />

durch den Raum bewegt. Um die zweite Gleichung <strong>mit</strong> Anfangswerten<br />

r(0) = R0, r ′ (0) = V0 (2.31)<br />

zu lösen, sind einige Vorbereitungen notwendig. (Im Fall der Erde gilt natürlich R0 =<br />

(−1, 0, 0) ⊤ und V0 = (0, −1, 0) ⊤ , doch wir wollen auch allgemeinere Bedingungen zulas-<br />

sen.)<br />

Zunächst bemerken wir, daß das Problem (2.30)–(2.31) auf zwei Raumdimensionen<br />

reduziert werden kann. Es gilt nämlich<br />

d<br />

dt (r × r′ ) = r ′ × r ′ + r × r ′′ = r ′ × r ′ −<br />

wobei “×” das Kreuzprodukt sei. Folglich ist<br />

1 + ε<br />

r × r = 0,<br />

|r| 3<br />

r(t) × r ′ (t) = const. =: L für alle t ≥ 0<br />

und L = R0 × V0. Da r × r ′ den Drehimpluls darstellt, bedeutet dieses Resultat, daß<br />

der Drehimpuls zeitlich erhalten bleibt. Nun steht L senkrecht auf der durch r(t) und<br />

r ′ (t) aufgespannten Ebene. Da L konstant ist, heißt dies, daß die Bewegung vollständig<br />

in dieser Ebene stattfindet. Verschwinden die dritten Komponenten von R0 und V0 (was<br />

wir im folgenden annehmen wollen), so kann man L = (0, 0, γ) ⊤ für ein γ ∈ R schreiben,<br />

und r(t) bewegt sich ausschließlich in der (x, y)-Ebene.<br />

62


Wir transformieren (2.30) in Polarkoordinaten<br />

r(t) =<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

ϱ(t) cos φ(t)<br />

ϱ(t) sin φ(t)<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ ,<br />

woraus nach einer Rechnung folgt:<br />

(ϱ ′′ − ϱφ ′2 ⎛ ⎞<br />

cos φ<br />

⎜ ⎟<br />

) ⎝ sin φ ⎠ + (2ϱ<br />

0<br />

′ φ ′ + ϱφ ′′ ⎛ ⎞<br />

− sin φ<br />

⎜ ⎟ 1 + ε<br />

) ⎝ cos φ ⎠ = −<br />

ϱ<br />

0<br />

2<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

cos φ<br />

sin φ<br />

Wir multiplizieren diese Gleichung zuerst <strong>mit</strong> dem Vektor (cos φ, sin φ, 0) ⊤ und dann <strong>mit</strong><br />

(− sin φ, cos φ, 0) ⊤ , um zu erhalten:<br />

Die zweite Gleichung ist äquivalent zu<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

ϱ ′′ − ϱ(φ ′ ) 2 1 + ε<br />

= −<br />

ϱ2 , 2ϱ ′ φ ′ + ϱφ ′′ = 0. (2.32)<br />

1 d<br />

ϱ<br />

dt (ϱ2 φ ′ ) = 0 oder ϱ 2 φ ′ = const. (2.33)<br />

Dies bedeutet wieder die Erhaltung des Drehimpulses, denn<br />

r × r ′ ⎛<br />

⎜<br />

= ⎝<br />

0<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ ,<br />

und dieser Vektor ist zeitlich konstant. Also ist die Konstante gleich γ und ϱ 2 φ ′ = γ.<br />

ϱ 2 φ ′<br />

Setzen wir dies in die erste Gleichung von (2.32) ein, folgt<br />

ϱ ′′ − γ2 1 + ε<br />

+<br />

ϱ3 ϱ2 = 0.<br />

Wir multiplizieren die Gleichung <strong>mit</strong> ϱ ′ und integrieren über (0, t):<br />

1<br />

2 ϱ′ (t) 2 + γ2 1 + ε<br />

−<br />

2ϱ(t) 2 ϱ(t)<br />

= 1<br />

2 ϱ′ (0) 2 + γ2<br />

2ϱ(0)<br />

1 + ε<br />

− . (2.34)<br />

2 ϱ(0)<br />

Die linke Seite ist also zeitlich konstant und da<strong>mit</strong> eine Erhaltungsgröße. Da<br />

E := 1<br />

2 (ϱ′ ) 2 + V (g) <strong>mit</strong> V (g) = γ2 1 + ε<br />

−<br />

2ϱ2 ϱ<br />

die Energie bedeutet, drückt die obige Gleichung die Erhaltung der Energie aus.<br />

63


Aus (2.33) und (2.34) folgt<br />

und da<strong>mit</strong><br />

dϱ<br />

dt = ± 2(E − V (ϱ)) und<br />

dφ<br />

dϱ<br />

Integration über (ϱ0, ϱ) ergibt schließlich<br />

dφ<br />

dt<br />

dφ dt<br />

γ<br />

= = ±<br />

dt dϱ ϱ22(E − V (ϱ)) .<br />

ϱ(φ)<br />

γ dr<br />

φ = φ(ϱ0) ±<br />

r22(E − V (r)) .<br />

ϱ0<br />

= γ<br />

ϱ 2<br />

Dieses Integral kann explizit gelöst werden. Mit der Substitution u = 1/r und diversen<br />

Umformungen folgt, daß<br />

wobei<br />

p = γ2<br />

, q =<br />

1 + ε<br />

<br />

ϱ(φ) =<br />

p<br />

, (2.35)<br />

1 + q cos(φ − φ1)<br />

1 + 2 γ2 E<br />

(1 + ε) 2 , φ1 = φ0 + arccos<br />

ϱ0<br />

γ2 − (1 + ε)ϱ0<br />

<br />

2Eγ 2 + (1 + ε) 2 .<br />

Übungsaufgabe: Führen Sie die Umformungen, die auf (2.35) führen, durch.<br />

Die Gleichung (2.35) besitzt die Form eines Kegelschnittes. Die Art des Kegelschnittes<br />

hängt von q ab (siehe Tabelle 2.6).<br />

Parameter q Energie Kegelschnitt<br />

q = 0 E = − 1<br />

0 < q < 1 − 1<br />

2<br />

2 1+ε<br />

2 γ<br />

2 1+ε<br />

γ<br />

< E < 0<br />

Kreis<br />

Ellipse<br />

q = 1 E = 0 Parabel<br />

q > 1 E > 0 Hyperbel<br />

Tabelle 2.1: Art der Bahnkurve in Abhängigkeit des Wertes der Energie.<br />

In unserem Fall haben wir<br />

⎛<br />

⎞ ⎛<br />

ϱ(0) cos φ(0)<br />

⎜<br />

⎟ ⎜<br />

⎝ ϱ(0) sin φ(0) ⎠ = R0 = ⎝<br />

0<br />

64<br />

−1<br />

0<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ ,


⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

ϱ ′ (0) cos φ(0) − ϱ(0)φ ′ (0) sin φ(0)<br />

ϱ ′ (0) sin φ(0) + ϱ(0)φ ′ (0) cos φ(0)<br />

0<br />

⎞<br />

⎛<br />

⎟ ⎜<br />

⎠ = V0 = ⎝<br />

also ϱ(0) = 1, φ(0) = π und ϱ ′ (0) = 0, φ ′ (0) = 1. Dies ergibt L = ϱ(0) 2 φ ′ (0) = 1 und<br />

E = − 1<br />

2<br />

− ε > − 1<br />

2 (1 + ε)2 . Folglich beschreibt die Bahn der Erde um die Sonne eine<br />

Ellipse. Da ε = 10 −6 ≪ 1, ist die Ellipse in guter Näherung ein Kreis.<br />

Welchen Einfluß hat die Anfangsgeschwindigkeit? Im Falle der Erde haben wir <strong>mit</strong><br />

v = 1 gerechnet. Wählen wir ε = 0 und eine Geschwindigkeit v < √ 2, so folgt wegen<br />

L 2 = v 2<br />

E = v2<br />

− 1 < 0,<br />

2<br />

und die Planetenbahn ist eine Ellipse. Im Falle v > √ 2 hat die Erde so viel Energie, daß<br />

sie das Sonnensystem verläßt (siehe Abbildung 2.11).<br />

y<br />

3<br />

2.5<br />

2<br />

1.5<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

−0.5<br />

−1<br />

Sonne<br />

• •<br />

Erde<br />

−1.5<br />

−3 −2 −1 0 1<br />

x<br />

Abbildung 2.11: Bahnen der Erde um die Sonne für verschiedene Anfangsgeschwindigkei-<br />

ten v (ε = 0).<br />

v=1<br />

Wäre die Masse der Erde um den Faktor 10 4 größer (d.h. ε = 0.01), bewirkt ihre<br />

Gravitationsfeld, daß die Sonne kleine Bewegungen durchläuft, während sich die Erde<br />

weiterhin um die Sonne bewegt (siehe Abbildung 2.12). Ist das Massenverhältnis noch<br />

größer (ε = 0.2), so wird die Bewegung der Sonne stärker gestört (siehe Abbildung 2.13).<br />

Wie sehen die Bewegungen von Erde und Sonne aus, wenn das Gravitationsfeld des<br />

Jupiters berücksichtigt wird? Der Jupiter hat die Masse m3 = 2 · 10 27 kg und bewegt sich<br />

in einer etwa 5.2-fachen Entfernung wie der Abstand Erde-Sonne um das Zentralgestirn.<br />

Die Bewegungsgleichungen sind komplizierter als oben, da auf jeden Planeten die Gravi-<br />

tationskräfte der anderen beiden Körper einwirken. Sei r3(t) der Ortsvektor des Jupiters<br />

v=0.7<br />

v=1.5<br />

(siehe Abbildung 2.14). Dann lauten die Bewegungsgleichungen<br />

65<br />

0<br />

−1<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ ,


y<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

−1<br />

Sonne<br />

−2<br />

−3 −2 −1 0 1 2<br />

x<br />

•<br />

• Erde<br />

Abbildung 2.12: Bahnen der Erde um die Sonne <strong>mit</strong> ε = 0.01 (v = 1.2).<br />

y<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

•<br />

• Erde<br />

0<br />

Sonne<br />

−2 −1 0 1 2<br />

x<br />

Abbildung 2.13: Bahnen der Erde um die Sonne <strong>mit</strong> ε = 0.2 (v = 1.2).<br />

mir ′′<br />

i = − Gmimk<br />

|ri − rk| 3 (ri − rk), i = 1, 2, 3.<br />

k=i<br />

Mit derselben Skalierung wie oben und dem zusätzlichen Parameter<br />

δ = m3<br />

m1<br />

= 10 −3 ,<br />

der das Massenverhältnis Jupiter–Sonne beschreibt, erhalten wir die folgenden skalierten<br />

Gleichungen:<br />

Sonne: r ′′<br />

1 = −ε r1 − r2<br />

|r1 − r2| 3 − δ r1 − r3<br />

|r1 − r3|<br />

Erde: r ′′<br />

2 = − r2 − r1<br />

|r2 − r1| 3 − δ r2 − r3<br />

|r2 − r3|<br />

Jupiter: r ′′<br />

3 = − r3 − r1<br />

|r3 − r1| 3 − ε r3 − r2<br />

|r3 − r2|<br />

66<br />

3 ,<br />

3 ,<br />

3 , t > 0.<br />

(2.36)


Sonne<br />

m m<br />

1<br />

2<br />

r 1 (t)<br />

Erde<br />

0<br />

r 2 (t)<br />

r 3 (t)<br />

Jupiter<br />

Abbildung 2.14: Das Drei-Körper-Problem, bestehend aus Sonne, Erde und Jupiter.<br />

Es handelt sich bei diesem Problem um ein Drei-Körper-Problem, das im Gegensatz zum<br />

obigen Zwei-Körper-Problem nicht explizit gelöst werden kann. Zur Vereinfachung nehmen<br />

wir an, daß sich alle drei Körper in einer Ebene bewegen.<br />

Wir wählen die (zweidimensionalen) Anfangswerte<br />

r1(0) = r ′ <br />

0<br />

r0<br />

1(0) = , r2(0) = , r<br />

0<br />

0<br />

′ <br />

0<br />

2(0) = , r3(0) =<br />

1<br />

m 3<br />

<br />

ϱ0<br />

, r<br />

0<br />

′ 3(0) =<br />

<br />

w0<br />

,<br />

0<br />

(2.37)<br />

<strong>mit</strong> r0 = 1 und ϱ0 = 5.2. Welche Bahngeschwindigkeit hat der Jupiter? Er umkreist die<br />

Sonne etwa alle 11.3 Erdenjahre. Seine Bahngeschwindigkeit lautet daher<br />

w =<br />

2π · 5.2 · L<br />

11.3 Jahre = 2π · 5.2 · 1.5 · 1011m 11.3 · 3.2 · 107s Die skalierte Geschwindigkeit w0 berechnet sich dann aus<br />

w0 = T 5 · 106<br />

v =<br />

L 1.5 · 1011 1.36 · 104 ≈ 0.45.<br />

≈ 1.36 · 104 m<br />

s .<br />

In Abbildung 2.15 präsentieren wir die numerische Lösung des Problems (2.36)–(2.37).<br />

Wie erwartet bewegen sich die Erde und der Jupiter (fast) auf Kreisbahnen um die Sonne,<br />

die im wesentlichen unbewegt ist.<br />

y<br />

5<br />

0<br />

Sonne<br />

• •<br />

Erde<br />

Jupiter<br />

−5<br />

−5 0 5<br />

x<br />

Abbildung 2.15: Bahnen der Erde und des Jupiters um die Sonne.<br />

67<br />


y<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

0<br />

•• •<br />

r 0 =1.0002<br />

r 0 =1<br />

0 20 40 60 80<br />

x<br />

Abbildung 2.16: Bahnen von Sonne, Erde und Jupiter (ε = 10 −6 , δ = 0.4). Der Wert r0<br />

bezieht sich auf den anfänglichen Abstand Erde–Sonne.<br />

Die Situation ändert sich drastisch, wenn der dritte Planet wesentlich schwerer ist und<br />

einen stärkeren Einfluß auf die Sonne und da<strong>mit</strong> auf die Erde ausübt. Wir nehmen an,<br />

daß der dritte Planet 40 % der Sonnenmasse besitzt und nennen ihn wieder “Jupiter”.<br />

Abbildung 2.16 zeigt, daß sich Sonne und Jupiter um ihren gemeinsamen Schwerpunkt<br />

drehen, während die Erde aus dem Sonnensystem herausgeschleudert wird. Interessant<br />

ist in diesem Zusammenhang, daß die Erdbahn äußerst sensibel von dem Anfangsab-<br />

stand Erde–Sonne r0 abhängt. Eine geringfügige Änderung des Anfangswerts führt zu<br />

einer völlig anderen Lösung der Erdbahn. Da der Anfangswert in der Praxis stets nur<br />

<strong>mit</strong> endlicher Genauigkeit bestimmt werden kann, folgt daraus, daß die Erdbewegung in<br />

diesem Fall praktisch nicht präzise vorhergesagt werden kann, obwohl sie einer vollständig<br />

deterministischen Differentialgleichung genügt.<br />

2.7 Deterministisches Chaos<br />

Der Waschmaschinenhersteller aus Abschnitt 1.2 hat für eine neu konstruierte Maschine<br />

unkontrollierte Schwingungen festgestellt, die innerhalb kurzer Zeit das Gerät zerstören.<br />

Was ist passiert?<br />

Wir nehmen an, daß die (vertikalen) Auslenkungen x(t) der Maschine durch die<br />

Schwingungsgleichung<br />

x ′′ + 2ϱx ′ + ω 2 sin x = γω 2 0 sin ω0t, t > 0, (2.38)<br />

beschrieben werden können (siehe Abschnitt 1.2). Beachte, daß wir hier die allgemeine<br />

Rückstellkraft ω 2 sin x anstelle der Approximation ω 2 x verwenden. Der Maschinenherstel-<br />

ler liefert uns die Daten<br />

ϱ = 1<br />

20 , ω2 = 1, ω0 = 2 3<br />

, γ =<br />

3 2 .<br />

68


Als Anfangswerte verwenden wir<br />

x(0) = 1, x ′ (0) = 0. (2.39)<br />

Da das Problem (2.38)–(2.39) nichtlinear ist, lösen wir es numerisch.<br />

Ist die anregende Kraft Null (γ = 0), so führt das Gerät gedämpfte Schwingungen<br />

durch. Wir illustrieren die Kurve x(t) im sogenannten Phasendiagramm, das die Kurve<br />

t ↦→ (x(t), x ′ (t)) darstellt (Abbildung 2.17 links). An diesem Diagramm ist bequem zu<br />

erkennen, daß die Auslenkungen oszillierend für lange Zeiten zum Ursprung konvergieren.<br />

Bei nicht zu großer anregender Kraft (γ = 1), zwingt die Anregung dem System eine<br />

harmonische Schwingung auf (Abbildung 2.17 rechts). Die Frequenz entspricht nicht der<br />

Eigenfrequenz ω des frei schwingenden Systems, sondern ist ungefähr gleich der Frequenz<br />

ω0 der antreibenden Kraft.<br />

Geschwindigkeit<br />

0.8<br />

0.6<br />

0.4<br />

0.2<br />

0<br />

−0.2<br />

−0.4<br />

−0.6<br />

−0.8<br />

−1<br />

−1 −0.5 0 0.5 1<br />

Auslenkung<br />

Geschwindigkeit<br />

2.5<br />

2<br />

1.5<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

−0.5<br />

−1<br />

−1.5<br />

−2<br />

−2.5<br />

−15 −10 −5 0<br />

Auslenkung<br />

Abbildung 2.17: Phasendiagramm der erzwungenen Schwingung für γ = 0 (links) und<br />

γ = 1 (rechts).<br />

Wird die Antreibkraft weiter erhöht, γ = 3/2, bewegt sich das Pendel nicht mehr<br />

gleichmäßig (Abbildung 2.18 links). Die Ausschläge scheinen völlig chaotisch. Dies erklärt<br />

das von dem Waschmaschinenhersteller beobachtete Verhalten des Geräts. Insbesondere<br />

werden die Auslenkungen schnell so groß, daß sie die Maschine zerstören. Die Bewegungen<br />

werden praktisch unvorhersagbar, da eine minimale Änderung der Anfangsbedingungen<br />

zu einer völlig anderen Bahnkurve führt (Abbildung 2.18 rechts). Diese Situation ent-<br />

spricht dem Drei-Körper-Problem aus dem letzten Abschnitt. Obwohl die Auslenkungen<br />

die Lösungen einer deterministischen Gleichung sind, sind ihre Werte praktisch nicht<br />

präzise vorhersagbar. Wir nennen dies deterministisches Chaos.<br />

Was ist Chaos? Der Begriff ist in der Literatur nicht einheitlich definiert. Wir geben<br />

im folgenden eine Definition nach Wiggings [8] an. Dazu benötigen wir allerlei Begriffe.<br />

Sei φ(t, x0) := x(t) die Lösung der Differentialgleichung<br />

x ′ = f(x), t > 0, x(0) = x0, (2.40)<br />

69


Geschwindigkeit<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

−1<br />

−2<br />

−3<br />

−20 −10 0 10 20 30<br />

Auslenkung<br />

Geschwindigkeit<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

−1<br />

−2<br />

−3<br />

0 10 20 30 40 50 60 70<br />

Auslenkung<br />

Abbildung 2.18: Phasendiagramm der erzwungenen Schwingung für γ = 3/2 und x(0) = 1<br />

(links) bzw. x(0) = 1.0001 (rechts).<br />

wobei f : R n → R n eine stetige Funktion und x0 ∈ R n seien. Wir nehmen an, daß die<br />

Lösung eindeutig ist und für alle t > 0 existiert. Wir nennen die Abbildung (t, x0) ↦→<br />

φ(t, x0) auch den Fluß der Gleichung (2.40).<br />

Definition 2.2 Sei φ der Fluß von (2.40) und A ⊂ R n eine kompakte Menge.<br />

(1) Die Menge A heißt invariant unter dem Fluß von φ genau dann, wenn<br />

∀ t ≥ 0 : φ(t, A) ⊂ A.<br />

(2) Sei A abgeschlossen und invariant unter φ. Die Menge A heißt topologisch transitiv<br />

bezüglich φ genau dann, wenn<br />

∀ U, V ⊂ A offen : ∃ t ≥ 0 : φ(t, U) ∩ V = ∅.<br />

Unter dem Symbol φ(t, A) verstehen wir die Menge aller φ(t, x) <strong>mit</strong> x ∈ A. Eine<br />

Menge heißt also invariant, wenn der Fluß in der Menge bleibt (Abbildung 2.19 links).<br />

Eine Menge ist topologisch invariant, wenn der Fluß <strong>mit</strong> jeder offenen Menge nichtleeren<br />

Schnitt hat (Abbildung 2.19 rechts).<br />

Definition 2.3 Sei φ der Fluß von (2.40) und A invariant unter φ.<br />

(1) Der Fluß φ hängt sensitiv von den Anfangswerten in A ab, wenn<br />

∃ ε > 0 : ∀ x ∈ A : ∀ Umgebungen U von x: ∃ y ∈ U : ∃ t > 0 :<br />

|φ(t, x) − φ(t, y)| > ε.<br />

70


A<br />

φ(t,y)<br />

x<br />

y<br />

U<br />

φ(t,x)<br />

x V<br />

Abbildung 2.19: Zur Definition einer invarianten bzw. topologisch transitiven Menge. Die<br />

Menge links ist nicht invariant, da φ(t, y) A verläßt.<br />

(2) Der Fluß φ heißt chaotisch bzgl. A genau dann, wenn er sensitiv von den Anfangs-<br />

werten in A abhängt und topologisch transitiv bzgl. A ist.<br />

Eine sensitive Abhängigkeit von den Anfangsdaten bedeutet also, daß sich die Lösun-<br />

gen von (2.40) “weit” voneinander entfernen, selbst wenn die Anfangswerte sehr dicht<br />

beieinander liegen (Abbildung 2.20).<br />

y<br />

x<br />

U<br />

φ(t,y)<br />

A<br />

φ(t,x)<br />

Abbildung 2.20: Zur Definition der sensitiven Abhängigkeit von den Anfangswerten.<br />

Als ein Beispiel eines chaotischen Flusses präsentieren wir die sogenannten Lorenz-<br />

Gleichungen:<br />

<strong>mit</strong> Anfangswerten<br />

x ′ = −ϱ(x − y)<br />

y ′ = rx − y − xz,<br />

z ′ = xy − bz, t > 0,<br />

x(0) = x0, y(0) = y0, z(0) = z0,<br />

die die Strömung einer Flüssigkeit zwischen zwei horizontalen Platten, von denen die un-<br />

tere beheizt wird, modellieren (Abbildung 2.21). Hierbei haben die Variablen die folgende<br />

Bedeutung:<br />

x ist proportional zum Betrag der Konvektionsgeschwindigkeit,<br />

71


T 0<br />

T 1<br />

<<br />

<<br />

<<br />

<<br />

<<br />

<<br />

<<br />

Abbildung 2.21: Die Flüssigkeit zwischen zwei parallelen Platten wird von unten beheizt.<br />

Für genügend große Temperaturdifferenzen T1 −T0 bildet sich eine periodische Strömung,<br />

die bei sehr großen Temperaturdifferenzen in eine chaotische Strömung übergeht. Dazwi-<br />

schen bilden sich sogenannte Bénard-Zellen aus.<br />

y ist proportional zur Temperaturdifferenz zwischen aufsteigender und abfallender<br />

Strömung,<br />

z ist proportional zur Abweichung vom linearen vertikalen Temperaturprofil.<br />

Die Interpretation der drei Parameter ϱ, b und r ist schwieriger:<br />

ϱ ist proportional zur Viskosität,<br />

b ist ein Maß für die Geometrie der Bénard-Zellen,<br />

r ist unter anderem proportional zur Temperaturdifferenz T1 − T0.<br />

Wir lösen die Lorenz-Gleichungen numerisch für ϱ = 10, b = 8/3, r = 10 bzw. r = 28<br />

und x0 = y0 = z0 = 10. Für genügend kleine Parameter r > 0 konvergiert (x(t), y(t), z(t))<br />

gegen einen Fixpunkt (Abbildung 2.22 links), während für hinreichend große r > 0 sich<br />

ein chaotisches Verhalten zeigt. Man kann zeigen, daß der den Lorenz-Gleichungen ent-<br />

sprechende Fluß chaotisch ist.<br />

72<br />


z<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

8<br />

6<br />

y<br />

4<br />

2<br />

2<br />

4<br />

x<br />

6<br />

8<br />

z<br />

50<br />

40<br />

30<br />

20<br />

10<br />

20<br />

y<br />

0<br />

−20<br />

−15 −10 −5 0 5 10 15<br />

x<br />

Abbildung 2.22: Lösungskurve der Lorenz-Gleichungen für ϱ = 10, b = 8/3, r = 10 (links)<br />

und r = 28 (rechts).<br />

3 Wellenphänomene<br />

In diesem Kapitel untersuchen wir verschiedene Wellenphänomene im weiteren Sinne, die<br />

auf <strong>Differentialgleichungen</strong> führen.<br />

3.1 Wellengleichung<br />

Die Funktionsweise einer Quarzuhr basiert darauf, daß ein Quarzkristall zu Schwingungen<br />

angeregt wird. In diesem Abschnitt wollen wir die folgende Frage erörtern:<br />

Frage: Wie schwingt ein Kristall?<br />

Ein Kristall besteht aus Atomen, die idealerweise in regelmäßigen Abständen voneinander<br />

angeordnet sind. Die Atome können aus ihrer Ruhelage heraus in Schwingungen versetzt<br />

werden. Wir modellieren den Kristall zunächst in einer Raumdimension als eine lineare<br />

Kette gekoppelter Oszillatoren. Wir betrachten also ein System von n Massepunkten der<br />

Masse m, die die Kristallatome modellieren und die in einer eindimensionalen Kette jeweils<br />

im Abstand a angeordnet sind. Dabei seien benachbarte Massen über elastische Federn<br />

der Federkonstante D <strong>mit</strong>einander verbunden (Abbildung 3.1). Sei xi(t) die Auslenkung<br />

der i-ten Masse aus der Ruhelage (i = 1, . . . , n).<br />

Auf den i-ten Massepunkt wirken zwei Kräfte von den benachbarten Massepunkten:<br />

Fi = Fi,i+1 + Fi,i−1.<br />

Vom (i ± 1)-ten Massepunkt wird eine Kraft ausgeübt, die proportional zum aktuellen<br />

Abstand der beiden Massepunkte ist:<br />

Fi,i±1 = D(xi±1 − xi),<br />

73


a<br />

m m m<br />

x (t)<br />

i<br />

Abbildung 3.1: Modell eines Systems gekoppelter Oszillatoren.<br />

wobei die Proportionalitätskonstante gerade die Federkonstante ist. Aus dem Newton-<br />

schen Gesetz folgt<br />

oder<br />

mx ′′<br />

i = Fi = D(xi+1 − xi) + D(xi−1 − xi)<br />

x ′′<br />

i = ω 2 0(xi+1 − 2xi + xi−1), i = 2, . . . , n − 1, (3.1)<br />

wobei ω 2 0 := D/m. Wir nehmen an, daß die Auslenkungen des ersten und letzten Masse-<br />

punktes gegeben seien:<br />

x1(t) = x1,0(t), xn(t) = xn,0(t), t ≥ 0.<br />

Nun befinden sich im allgemeinen sehr viele Atome in einem sehr kleinen Abstand<br />

voneinander im Kristall, so daß es sinnvoll ist, das System (3.1) von gewöhnlichen Diffe-<br />

rentialgleichungen dadurch zu vereinfachen, daß wir den Grenzwert<br />

n → ∞ und a → 0<br />

durchführen. Natürlich soll dabei die Gesamtlänge L = na konstant bleiben. In diesem<br />

Grenzübergang identifizieren wir die Auslenkungen der Massepunkte gemäß<br />

Setzen wir dies in (3.1) ein, erhalten wir<br />

Eine Taylorentwicklung<br />

xi(t) = u(x, t), x = i · a.<br />

∂ 2 u<br />

∂t 2 (x, t) = ω2 0[u(x + a, t) − 2u(x, t) + u(x − a, t)].<br />

u(x ± a, t) = u(x, t) ± ∂u 1<br />

(x, t)a +<br />

∂x 2<br />

liefert an der Stelle (x, t)<br />

utt = ω 2 0<br />

∂ 2 u<br />

∂x 2 (x, t)a2 + O(a 3 ) (a → 0)<br />

<br />

u + uxa + 1<br />

2 uxxa 2 − 2u + u − uxa + 1<br />

2 uxxa 2 + O(a 3 <br />

) ,<br />

74


wobei wir die partiellen Ableitungen von f durch Indices gekennzeichnet haben. Im Grenz-<br />

wert a → 0 folgt die partielle Differentialgleichung<br />

utt = c 2 uxx, (x, t) ∈ (0, L) × (0, ∞), (3.2)<br />

wobei c 2 der Grenzwert von ω 2 0a 2 für a → 0 sei. Warum gilt nicht c = 0? Es gilt ω 2 0a 2 =<br />

Da 2 /m. Mit a → 0 und n → ∞ sollte auch m → 0 folgen, da nm die Gesamtmasse der<br />

Kette ist. Wir setzen voraus, daß im Grenzwert Da 2 /m gegen die positive Konstante c 2<br />

konvergiert. Die Gleichung (3.2) heißt eindimensionale Wellengleichung. Sie ist zu lösen<br />

<strong>mit</strong> den beiden Anfangsbedingungen<br />

u(x, 0) = u0(x), ut(x, 0) = u1(x), x ∈ (0, L), (3.3)<br />

wobei u0 und u1 Funktionen sind, die sich aus dem Grenzwert a → 0, n → ∞ aus xi(0)<br />

und x ′ i(0) ergeben, und <strong>mit</strong> den Randbedingungen<br />

u(0, t) = g0(t), u(L, t) = g1(t), t > 0,<br />

wobei die Funktionen g0 und g1 sich im Grenzwert aus x1,0(t) und xn,0(t) ergeben.<br />

Die Wellengleichung (3.2) kann einfach auf (zwei oder) drei Raumdimensionen verall-<br />

gemeinert werden. Dazu wird der Kristall durch ein dreidimensionales Gitter von Masse-<br />

punkten <strong>mit</strong> Abstand a in jeder Richtung modelliert, wobei die Massepunkte entlang der<br />

kartesischen Koordinaten <strong>mit</strong> elastischen Federn verbunden seien. Die Massepunkte seien<br />

in jeder Koordinate durch die Indices i1, i2, i3 durchnumeriert. Definieren wir x1 = i1a,<br />

x2 = i2a und x3 = i3a, so folgt nach Taylorentwicklung und dem Grenzwert a → 0,<br />

n → ∞ wie oben die dreidimensionale Wellengleichung<br />

utt = c 2 ∆u, (x, t) ∈ (0, L) 3 × (0, ∞),<br />

wobei x = (x1, x2, x3) ⊤ , und ∆ ist der Laplace-Operator in drei Raumdimensionen<br />

∆ = ∂2<br />

∂x2 +<br />

1<br />

∂2<br />

∂x2 +<br />

2<br />

∂2<br />

∂x2 .<br />

3<br />

Übrigens kann die Wellengleichung (3.2) auch zur <strong>Modellierung</strong> einer schwingenden<br />

Saite (z.B. Gitarrensaite) verwendet werden. Um dies einzusehen, betrachten wir eine<br />

Saite <strong>mit</strong> konstanter Massendichte ϱ und Auslenkung u(x, t). Die Massendichte ist über<br />

m = ϱ · (x2 − x1) definiert, wobei m die Masse der Saite im Interval [x1, x2] sei. Auf den<br />

Punkt der Saite u(x, t) wirkt die Kraft (Abbildung 3.2)<br />

F = F0(sin(α + dα) − sin α).<br />

75


u<br />

α<br />

dx<br />

x x+dx<br />

du<br />

α + d α<br />

Abbildung 3.2: Geometrie einer schwingenden Saite.<br />

Ist die Länge der Saite wesentlich größer als ihre Auslenkung, gilt α ≪ 1 und da<strong>mit</strong><br />

näherungsweise<br />

F ≈ F0 cos α dα ≈ F0 dα.<br />

Wir benötigen nun einen Ausdruck für die Winkeländerung dα. Wieder wegen α ≪ 1<br />

folgt<br />

und da<strong>mit</strong> ist<br />

α ≈ tan α = du<br />

dx (x),<br />

dα = (α + dα) − α = du<br />

du<br />

(x + dx) −<br />

dx dx (x) ≈ ∂2u (x)dx.<br />

∂x2 Aus dem Newtongesetz ergibt sich dann<br />

und <strong>mit</strong> m = ϱdx endlich<br />

Dies ist die Wellengleichung.<br />

m ∂2u ∂<br />

= F = F0<br />

∂t2 2u dx<br />

∂x2 ∂2u F0<br />

=<br />

∂t2 ϱ<br />

∂2u .<br />

∂x2 Um zu verstehen, welche Gestalt Lösungen von (3.2) haben können, betrachten wir<br />

zunächst die Gleichung für alle x ∈ R. Mit der Variablentransformation<br />

folgt<br />

und<br />

2 ∂<br />

0 =<br />

∂<br />

∂ξ<br />

1<br />

−<br />

∂x2 c2 ξ = x − ct, η = x + ct<br />

= ∂<br />

∂x<br />

− 1<br />

c<br />

∂<br />

∂t ,<br />

∂2 ∂t2 <br />

∂<br />

u =<br />

∂x<br />

− 1<br />

c<br />

76<br />

∂<br />

∂η<br />

= ∂<br />

∂x<br />

+ 1<br />

c<br />

∂<br />

∂t<br />

<br />

∂ ∂ 1 ∂<br />

+ u =<br />

∂t ∂x c ∂t<br />

∂2u ∂ξ∂η .<br />

x


Die Funktion<br />

∂u<br />

∂η = h′ 2(η)<br />

ist also konstant bzgl. ξ; hierbei ist die Funktion h ′ 2(η) eine Integrationskonstante. Inte-<br />

grieren wir diese Gleichung bzgl. η, folgt<br />

u(ξ, η) = h2(η) + h1(ξ),<br />

wobei h1(ξ) eine Integrationskonstante ist. Rücktransformation ergibt<br />

u(x, t) = h1(x − ct) + h2(x + ct).<br />

Die Funktionen h1 und h2 können wir aus den Anfangsbedingungen (3.3) bestimmen:<br />

u0(x) = u(x, 0) = h1(x) + h2(x),<br />

u1(x) = ut(x, 0) = −ch ′ 1(x) + ch ′ 2(x).<br />

Multipliziere die zweite Gleichung <strong>mit</strong> 1/c, integriere die resultierende Gleichung und<br />

addiere bzw. subtrahiere sie zur ersten Gleichung:<br />

h1(x) = 1<br />

<br />

u0(x) −<br />

2<br />

1<br />

h2(x) =<br />

x<br />

<br />

u1(s) ds − h1(0) + h2(0) ,<br />

c 0<br />

1<br />

<br />

u0(x) +<br />

2<br />

1<br />

x<br />

<br />

u1(s) ds + h1(0) − h2(0) .<br />

c<br />

Daraus folgt für die Lösung von (3.2) für x ∈ R und (3.3):<br />

u(x, t) = 1<br />

2 (u0(x − ct) + u0(x + ct)) + 1<br />

x+ct<br />

u1(s) ds.<br />

c<br />

0<br />

Diesen Ausdruck nennt man die d’Alembertsche Formel. Sie erlaubt eine Interpretation<br />

der Konstante c > 0. Betrachte dazu einen Anfangswert u0 wie in Abbildung 3.3. Zur Zeit<br />

t > 0 bilden sich zwei “Wellen”, die sich <strong>mit</strong> der Geschwindigkeit c nach links bzw. rechts<br />

bewegen. Die Konstante c kann daher als die Wellengeschwindigkeit interpretiert werden.<br />

Wie pflanzen sich die Wellen in dem Kristall fort? Wir betrachten wieder ein eindimen-<br />

sionales Modell für den Kristall, den wir an den Enden x = 0 und x = L fest einspannen.<br />

Wir müssen also das Anfangsrandwertproblem<br />

utt = c 2 uxx, (x, t) ∈ (0, L) × (0, ∞), (3.4)<br />

u(0, t) = u(L, t) = 0, u(x, 0) = u0(x), ut(x, 0) = u1(x), (3.5)<br />

lösen. Dazu machen wir den Ansatz<br />

u(x, t) = f(x) · g(t).<br />

77<br />

x−ct


−x 0<br />

u<br />

1<br />

t = 0<br />

x 0<br />

x<br />

u<br />

1<br />

2<br />

t > 0<br />

−x − ct −x + ct x − ct x + ct<br />

0 0 0 0<br />

Abbildung 3.3: Lösung u(x, t) nach der d’Alembertschen Formel.<br />

Setzen wir ihn in (3.4) ein, erhalten wir<br />

1<br />

c 2<br />

g ′′<br />

g<br />

= f ′′<br />

f .<br />

Die linke Seite hängt nur von t, die rechte Seite nur von x ab. Da<strong>mit</strong> dies für alle (x, t)<br />

gilt, müssen beide Seiten konstant sein. Wir nennen die Konstante α ∈ R:<br />

f ′′ − αf = 0, x ∈ (0, L), (3.6)<br />

g ′′ − c 2 αg = 0, t > 0. (3.7)<br />

Die erste Gleichung wird <strong>mit</strong> den Randbedingungen f(0) = f(L) = 0, die sich aus<br />

(3.5) ergeben, gelöst. Sei zuerst α > 0. Dann lautet die allgemeine Lösung von (3.6)<br />

f(x) = c1e √ αx + c2e −√ αx ,<br />

die jedoch nicht beide Randbedingungen erfüllen kann. Dies gilt auch für die allgemeine<br />

Lösung f(x) = c1x + c2 im Falle α = 0. Folglich muß α < 0 gelten. Wir setzen k 2 :=<br />

−α > 0. Die allgemeine Lösung von (3.6) lautet<br />

f(x) = c1 sin(kx) + c2 cos(kx).<br />

Aus den Randbedingungen folgt c2 = 0 und sin kL = 0, also<br />

Wir erhalten die unendlich vielen Lösungen<br />

Die Lösung von (3.7) ist<br />

k = kn = nπ<br />

, n ∈ N.<br />

L<br />

fn(x) = Cn sin(knx), x ∈ [0, L].<br />

gn(t) = An sin(cknt) + Bn cos(cknt).<br />

78<br />

x


Da<strong>mit</strong> können wir die allgemeine Lösung von (3.4) schreiben als<br />

u(x, t) =<br />

∞<br />

sin(knx)(An sin(cknt) + Bn cos(cknt)).<br />

n=1<br />

Die Konstanten An und Bn berechnen wir aus den Anfangsbedingungen in (3.5):<br />

u0(x) = u(x, 0) =<br />

u1(x) = ut(x, 0) =<br />

∞<br />

Bn sin(knx),<br />

n=1<br />

∞<br />

cknAn sin(knx).<br />

Multiplizieren wir nämlich diese Gleichungen <strong>mit</strong> sin(kmx), integrieren in x ∈ (0, L) und<br />

benutzen die Relation<br />

so ergibt sich<br />

L<br />

0<br />

Bm = 2<br />

L<br />

L<br />

0<br />

n=1<br />

sin(knx) sin(kmx) dx = L<br />

2 δn,m =<br />

<br />

u0(y) sin(kmy) dy, Am = 2<br />

ckmL<br />

Für die Lösung von (3.4)–(3.5) folgt schließlich<br />

u(x, t) =<br />

∞<br />

sin<br />

n=1<br />

L/2 : n = m,<br />

0 : n = m,<br />

<br />

nπx<br />

<br />

L<br />

<br />

An sin nπct<br />

L + Bn cos nπct<br />

<br />

,<br />

L<br />

und die Koeffizienten An und Bn sind gegeben durch (3.8).<br />

L<br />

u1(y) sin(kmy) dy. (3.8)<br />

Die Lösung beschreibt eine Überlagerung von Wellen <strong>mit</strong> Kreisfrequenzen ωn := nπc/L.<br />

Man nennt<br />

n = 1 : Grundschwingung,<br />

n > 1 : Oberschwingungen<br />

und die entsprechenden Töne Grundton bzw. Obertöne.<br />

Die mehrdimensionale Wellengleichung<br />

besitzt unter anderem Lösungen der Form<br />

utt = c 2 ∆u, x ∈ R 3 , t > 0,<br />

0<br />

u(x, t) = e i(k·x+ωt) , (3.9)<br />

79


wobei k = (k1, k2, k3) ⊤ ∈ R 3 , ω > 0, denn<br />

utt − c 2 ∆u = (−ω 2 + c 2 (k 2 1 + k 2 2 + k 2 3))u = 0,<br />

sofern c|k| = ω gilt. Die Lösungen (3.9) können wir als ebene Wellen interpretieren, die<br />

sich <strong>mit</strong> der Geschwindigkeit c fortpflanzen. Abbildung 3.4 zeigt die Wellenfronten, d.h.<br />

die Mengen {(x, t) : k · x + ωt = const.}. Ein Punkt x auf der Wellenfront k · x + ωt =<br />

α ∈ R bewege sich in der Zeit dt um dx, liege aber noch immer auf der Wellenfront, d.h.<br />

k · (x + dx) + ω · (t + dt) = α und dx ist parallel zu k. Subtraktion der beiden Gleichungen<br />

ergibt k · dx + ωdt = 0 oder <br />

dx<br />

<br />

dt <br />

= ω<br />

|k|<br />

= c.<br />

Also ist die Geschwindigkeit des Punktes gerade gleich c.<br />

t<br />

Abbildung 3.4: Wellenfronten k · x + ωt = const.<br />

Übungsaufgabe: Bestimmen Sie die Schwingungen einer rechteckigen Membran, d.h.,<br />

lösen Sie die Schwingungsgleichung<br />

utt = c 2 (uxx + uyy), (x, y) ∈ (0, a) × (0, b), t > 0,<br />

u(x, y, 0) = u0(x, y), ut(x, y, 0) = u1(x, y),<br />

und u = 0 auf dem Rand des Rechtecks (0, a) × (0, b).<br />

3.2 Schrödingergleichung<br />

Die Funktionsweise eines MOS-Transistors basiert darauf, daß der Elektronenfluß vom<br />

E<strong>mit</strong>tor zum Kollektor durch eine angelegte Spannung am Basiskontakt gesteuert wird<br />

80<br />

x


(Abbildung 3.5). Eine Oxidschicht am Basiskontakt soll verhindern, daß Elektronen durch<br />

die Basis abfließen. Die Abmessungen der heutigen Bauteile sind jedoch so winzig (z.B.<br />

Abstand E<strong>mit</strong>ter-Kollektor: 100 nm = 10 −7 m, Dicke der Oxidschicht: 1.5 nm = 1.5 ·<br />

10 −9 m), daß dennoch zahlreiche Elektronen durch Überwinden der Oxidschicht über die<br />

Basis und nicht über den Kollektor abfließen. In diesem Abschnitt wollen wir die Frage<br />

beantworten:<br />

B<br />

E K<br />

¡ ¡ ¡ ¢¡¢¡¢¡¢¡¢ ¡<br />

Elektronen<br />

Abbildung 3.5: Schematische Darstellung eines MOS-Transistors <strong>mit</strong> E<strong>mit</strong>ter E, Basis B<br />

und Kollektor K. Die schraffierte Region stellt die Oxidschicht dar.<br />

Frage: Wann können Elektronen die Oxidschicht überwinden, und wie läßt sich das<br />

verhindern?<br />

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir weit ausholen. Wir betrachten Elektronen<br />

zunächst als klassische Teilchen, die den Newtonschen Gleichungen<br />

x ′ = v, mv ′ = −V (x), (3.10)<br />

genügen. Hierbei sind x = x(t) und v = v(t) der Ort bzw. die Geschwindigkeit eines<br />

Teilchens <strong>mit</strong> Masse m und V (x) das elektrostatische Potential. Die Ableitung von −V (x)<br />

ist das elektrische Feld (bzw. die elektrische Kraft), die gleich dem Produkt Masse ×<br />

Beschleunigung ist. Multiplikation von (3.10) <strong>mit</strong> v und Integration liefert<br />

m<br />

2 |v(t)|2 + V (x(t)) = const. =: E. (3.11)<br />

Dies drückt wieder die Energieerhaltung aus: Die Summe aus kinetischer Energie mv 2 /2<br />

und potentieller Energie V (x) ist zeitlich konstant.<br />

z.B.<br />

Wir können die Oxidschicht als eine Potentialbarriere modellieren (Abbildung 3.6),<br />

V (x) =<br />

<br />

U : x ∈ Oxidschicht<br />

0 : sonst.<br />

81


Elektronen<br />

V(x)<br />

Oxid Basis<br />

Abbildung 3.6: <strong>Modellierung</strong> der Oxidschicht als Potentialbarriere.<br />

Elektronen, deren Energie E kleiner als U ist, können die Oxidschicht nicht überwinden,<br />

denn gäbe es ein Elektron innerhalb der Oxidschicht, so folgt aus (3.11)<br />

U ≤ m<br />

2 |v(t)|2 + U = E < U<br />

und da<strong>mit</strong> ein Widerspruch. Nur Elektronen, für die E > U gilt, können die Oxidschicht<br />

<strong>mit</strong> Geschwindigkeit<br />

durchqueren.<br />

v(t) =<br />

<br />

2<br />

(E − U)<br />

m<br />

Durch Experimente konnte festgestellt werden, daß auch Elektronen <strong>mit</strong> Energien<br />

E < U die Potentialbarriere überwinden bzw. durchtunneln. Man spricht in diesem Fall<br />

auch vom Tunneleffekt. Dieser Effekt basiert darauf, daß Elektronen keine (makroskopi-<br />

schen) Teilchen sind, die den Newtonschen Bewegungsgleichungen genügen, sondern die<br />

quantenmechanisch beschrieben werden müssen.<br />

In der Quantenmechanik wird ein Elektron durch eine sogenannte Wellenfunktion<br />

ψ(x, t) ∈ C dargestellt. Das Integral<br />

<br />

B<br />

|ψ(x, t)| 2 dx<br />

ist die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen zur Zeit t im Gebiet B anzutreffen. Es können nur<br />

Wahrscheinlichkeitsaussagen getroffen werden, da der Ort und die Geschwindigkeit eines<br />

Elektrons nicht mehr <strong>mit</strong> beliebiger Genauigkeit gleichzeitig gemessen werden können.<br />

Dies liegt daran, daß ein Elektron auch Wellencharakter zeigen kann, und steht im Ge-<br />

gensatz zur klassischen Mechanik, in der ja gerade die Newtonschen Gleichungen Ort x(t)<br />

und Geschwindigkeit v(t) des Teilchens vollständig determinieren. Welcher Bewegungs-<br />

gleichung genügt nun die Wellenfunktion?<br />

In der Quantenmechanik werden die klassischen Größen durch Operatoren ersetzt,<br />

nämlich<br />

82


Ort x durch xOp,<br />

Impuls p := mv durch −i∇,<br />

Energie E durch i ∂/∂t,<br />

(3.12)<br />

wobei ∇ = (∂/∂x1, ∂/∂x2, ∂/∂x3) der Nabla-Operator ist, = h/2π die reduzierte Planck-<br />

Konstante und i 2 = −1. Der Operator der Lagekoordinate xOp entspricht der Multiplika-<br />

tion <strong>mit</strong> der Variablen x, also<br />

((xOp(ψ))(x) = x · ψ(x).<br />

Wir unterscheiden daher nicht zwischen xOp und x. Die Relationen (3.12) können nicht<br />

hergeleitet werden; sie sind axiomatisch gegeben. Beachte, daß die Wellenfunktion kom-<br />

plexwertig ist. Ihre Werte können nicht direkt interpretiert werden; nur die reellwertige<br />

Größe |ψ| 2 besitzt eine physikalische Interpretation (als Wahrscheinlichkeit).<br />

Die Energiehaltung (3.11) ist auch quantenmechanisch gültig. Aus (3.12) folgt dann<br />

i ∂ψ<br />

∂t<br />

= Eψ =<br />

p · p<br />

2m<br />

<br />

+ V (x) ψ = − 2<br />

2m ∆ψ + V (x)ψ, x ∈ R3 , t > 0, (3.13)<br />

denn p·p = − 2 ∇·∇ = − 2 ∆. Diese Bewegungsgleichung für ψ wird Schrödingergleichung<br />

genannt. Zur Zeit t = 0 ist die Anfangsbedingung<br />

vorzuschreiben.<br />

ψ(x, 0) = ψ0(x), x ∈ R 3 ,<br />

Um die Schrödingergleichung zu lösen, machen wir den Anstz<br />

der die Beziehung<br />

−ωφe iωt = iψt =<br />

liefert. Wir setzen E := −ω. Dann ist<br />

ψ(x, t) = φ(x)e iωt ,<br />

<br />

− <br />

<br />

∆φ + V φ e<br />

2m iωt<br />

− <br />

2m ∆φ + V (x)φ = Eφ, x ∈ R3 , (3.14)<br />

die stationäre Schrödingergleichung. Sie ist eine Eigenwertgleichung. Definieren wir näm-<br />

lich den Hamilton-Operator H := −(/2m)∆+V , so sind Eigenfunktion-Eigenwert-Paare<br />

(φ, E) der Operatorgleichung<br />

Hφ = Eφ<br />

zu bestimmen. Den Wert E interpretieren wir als die Energie des Teilchens. Wir betrachten<br />

im folgenden einige Beispiele.<br />

83


Beispiel 3.1 (freies Teilchen)<br />

Die Bewegung eines freien Teilchens wird durch keine Kraft beeinflußt; also ist das Po-<br />

tential V konstant. Wir wählen V = 0 und lösen die Gleichung<br />

Die Lösung lautet im eindimensionalen Fall<br />

− 2<br />

2m ∆φ = Eφ, x ∈ R3 . (3.15)<br />

φ(x) = ce ikx , k = √ 2mE/, c ∈ R,<br />

sofern E ≥ 0. Im Falle E < 0 wäre φ(x) = ce kx <strong>mit</strong> k = √ −2mE/ zwar eine Lösung von<br />

(3.15); jedoch würde |φ(x)| → ∞ für x → ∞ gelten, und dies würde der Interpretation,<br />

daß |φ| 2 eine Wahrscheinlichkeit darstellt, widersprechen.<br />

Wir finden also für jede Energie E ≥ 0 eine Eigenfunktion φ. Die zeitabhängige Wel-<br />

lenfunktion lautet<br />

ψ(x, t) = ce i(kx+ωt) .<br />

Ein Vergleich <strong>mit</strong> der Lösung (3.9) der klassischen Wellengleichung zeigt, daß wir ψ als<br />

eine komplexwertige ebene Welle interpretieren können. <br />

Beispiel 3.2 (Teilchen im Potentialtopf)<br />

Wir betrachten ein Teilchen in einem eindimensionalen Potentialtopf <strong>mit</strong> einem unendlich<br />

hohen Potential außerhalb des Topfes (Abbildung 3.7)<br />

<br />

0 : x ∈ (0, a)<br />

V (x) =<br />

∞ : sonst.<br />

Außerhalb des Potentialtopfs muß die Wellenfunktion φ = 0 sein, da<strong>mit</strong> sie Lösung von<br />

8<br />

0 a<br />

Abbildung 3.7: Eigenzustände eines Teilchens in einem Potentialtopf.<br />

(3.14) sein kann. Im Innern des Topfes müssen wir<br />

8<br />

− <br />

2m φxx = Eφ, x ∈ (0, a),<br />

84<br />

x


lösen. Wir fordern, daß φ in R stetig ist; dies impliziert die Randbedingungen<br />

φ(0) = φ(a) = 0.<br />

Der Ansatz φ(x) = e iλx führt auf die allgemeine Lösung<br />

Einsetzen des Randbedingungen ergibt<br />

φ(x) = c1e ikx + c2e −ikx , k = √ 2mE/.<br />

0 = φ(0) = c1 + c2,<br />

0 = φ(a) = c1e ika + c2e −ika = c1(e ika − e −ika )<br />

= 2ic1 sin ka.<br />

Dies impliziert (um nicht die triviale Lösung c1 = c2 = 0 zu erhalten) ka = nπ, n ∈ N,<br />

und<br />

inπx/a −inπx/a<br />

φn(x) = c1 e − e = c sin nπx<br />

,<br />

a<br />

x ∈ [0, a], n ∈ N.<br />

Die Konstante c := 2ic1 bestimmen wir aus der Normierungsforderung<br />

<br />

1 =<br />

a <br />

<br />

|φn(x)| dx = c sin 2<br />

<br />

nπx<br />

2 <br />

dx,<br />

a<br />

R<br />

die sich daraus ergibt, daß die Wahrscheinlichkeit, das Teilchen irgendwo im Intervall [0, a]<br />

zu finden, gerade Eins ist. Die Energie ist also diskret; sie kann nur die Werte<br />

En = 2k2 n<br />

2m = 2π2 n2<br />

2ma2 annehmen (Abbildung 3.7). Diese Situation ist ähnlich wie bei der Lösung der Wellenglei-<br />

chung in einem begrenzten Gebiet, widerspricht jedoch unserem intuitiven Verständnis<br />

eines Elektrons als Teilchen. Der Grund liegt darin, daß ein Elektron sowohl Teilchen-<br />

als auch Welleneigenschaften zeigen kann. Man nennt dies Teilchen-Welle-Dualismus des<br />

Elektrons. <br />

0<br />

Wir kehren wieder zu der Frage zurück, warum die Elektronen die Oxidschicht durch-<br />

tunneln können. Wir modellieren diese wie in Abbildung 3.6 als ein Potential (siehe auch<br />

Abbildung 3.8):<br />

⎧<br />

⎪⎨ 0 : x < 0,<br />

V (x) = U<br />

⎪⎩<br />

0<br />

:<br />

:<br />

0 ≤ x < d,<br />

x ≥ d.<br />

Wir nehmen zunächst an, daß die Energie der Teilchen kleiner als die Potentialbarriere<br />

85


0<br />

d x<br />

Abbildung 3.8: Tunneleffekt bei einem rechteckigen Potentialwall in (0, d).<br />

ist, d.h. E < U. In den drei Teilgebieten sind die folgenden Gleichungen zu lösen:<br />

− 2<br />

2m φ′′ = Eφ, x < 0,<br />

− 2<br />

2m φ′′ = (E − U)φ, 0 < x < d,<br />

− 2<br />

2m φ′′ = Eφ, x > d.<br />

Die allgemeine Lösung in R lautet:<br />

⎧<br />

⎪⎨ Ae<br />

φ(x) =<br />

⎪⎩<br />

ikx + Be−ikx : x < 0,<br />

F eikx : x > d,<br />

wobei<br />

Ce ℓx − De −ℓx : 0 < x < d,<br />

k = √ 2mE/, ℓ = 2m(U − E)/,<br />

und A, B, C, D, F sind komplexe Konstanten.<br />

Diese Lösung kann folgendermaßen interpretiert werden:<br />

Vor dem Wall (x < 0) gibt es eine nach rechts einlaufende Welle Ae ikx und eine<br />

nach links laufende, am Wall reflektierte Welle Be −ikx .<br />

Im Wall (0 < x < d) werden die eindringende und die am Wallende reflektierte<br />

Welle gedämpft.<br />

Hinter dem Wall (x > d) gibt es nur eine auslaufende Welle. Den Lösungsanteil<br />

Ge −ikx haben wir verworfen, d.h. G = 0 gesetzt.<br />

Wir fordern, daß die Funktion φ stetig differenzierbar in R ist. Dies liefert die vier Rand-<br />

bedingungen an x = 0 und x = d:<br />

lim<br />

x↗0 φ(j) (x) = lim φ<br />

x↘0 (j) (x),<br />

lim<br />

x↗d φ(j) (x) = lim φ<br />

x↘d (j) (x), j = 0, 1.<br />

86


Diese Bedingungen erlauben es, die vier Konstanten B, C, D und F als Funktion von k,<br />

ℓ, d und A zu berechnen. Insbesondere kann die Transmissions- oder Tunnelwahrschein-<br />

lichkeit<br />

T =<br />

|F |2<br />

|A| 2<br />

aus dem Verhältnis der Amplitudenquadrate vor und hinter dem Potentialwall bestimmt<br />

werden.<br />

Übungsaufgabe: Bestimmen Sie B, C, D und F als Funktion von A, und berechnen<br />

Sie T = |F | 2 /|A| 2 .<br />

Das Ergebnis lautet<br />

T =<br />

1 − E/U<br />

1 − E/U + (U/4E) sinh 2 , U > E. (3.16)<br />

(dℓ)<br />

Im Falle starker Dämpfung (dℓ ≫ 1) können wir sinh 2 (dℓ) ≈ e −2dℓ /4 approximieren und<br />

erhalten die Näherung<br />

T ≈<br />

1 − E/U<br />

1 − E/U + (U/16E)e 2dℓ<br />

= 16E<br />

U e−2dℓ<br />

≈ 16E<br />

U e−2dℓ (1 − E<br />

U )<br />

= 16E(U − E)<br />

1 − E/U<br />

(1 − E/U)16E/U · e−2dℓ + 1<br />

U 2 e −2d√2m(U−E)/ U > E.<br />

Die Tunnelwahrscheinlichkeit hängt also exponentiell von der Barrierendicke d ab. Dies<br />

erklärt das experimentell in MOS-Transistoren beobachtete Phänomen, daß mehr Elek-<br />

tronen durch die Oxidschicht tunneln, wenn diese dünner wird.<br />

Übrigens ist die Tunnelwahrscheinlichkeit T auch im Fall E > U im allgemeinen kleiner<br />

als Eins – im Gegensatz zu klassischen Teilchen. Eine analoge Rechnung wie oben ergibt<br />

T =<br />

wobei ℓ ′ = 2m(E − U)/.<br />

E/U − 1<br />

E/U − 1 + (U/4E) sin2 (dℓ ′ , E > U, (3.17)<br />

)<br />

Übungsaufgabe: Zeigen Sie, daß im Falle E > U die Transmissionswahrscheinlichkeit<br />

durch (3.17) gegeben ist.<br />

87


Gilt nun dℓ ′ = nπ (n ∈ N), so verschwindet der sin-Term, und für diese speziellen Energien<br />

gilt tatsächlich T = 1.<br />

Wie lauten die Transmissionswahrscheinlichkeiten bei einer Oxidschicht <strong>mit</strong> Dicke<br />

1.5nm? Wir wählen die folgenden Werte:<br />

Oxidschichtdicke: d = 1.5nm = 1.5 · 10 −7 cm,<br />

Masse eines Elektrons: m = 9 · 10 −31 kg,<br />

reduzierte Planck-Konstante: = 10 −30 kg cm 2 /s,<br />

Potentialbarriere: U = 10eV = 1.6 · 10 −14 kg cm 2 /s 2 .<br />

Wir erhalten die in Abbildung 3.9 dargestellten Werte. Ein Elektron in einem Transistor<br />

T<br />

1<br />

0.8<br />

0.6<br />

0.4<br />

0.2<br />

0<br />

0 1 2 3 4 5<br />

E/U<br />

Abbildung 3.9: Transmissionswahrscheinlichkeit T eines Elektrons bei einem Potentialwall<br />

in Abhängigkeit von der Energie E.<br />

<strong>mit</strong> einer E<strong>mit</strong>ter-Kollektor-Spannung von 1 V besitzt die Energie 1eV, also E/U = 0.1.<br />

Die entsprechende Tunnelwahrscheinlichkeit beträgt nur T = 4 · 10 −4 = 0.04%. Sie steigt<br />

bei Dünnerwerden der Oxidschickt jedoch rapide an: Bei d = 0.75 nm gilt bereits T =<br />

4.5%.<br />

3.3 Computertomographie<br />

Die Computertomographie ermöglicht es, Querschnitte eines lebenden menschlichen Kör-<br />

pers graphisch darzustellen. Im Gegensatz zu einer herkömmlichen Röntgenuntersuchung,<br />

bei der man die Projektion des Objekts auf eine Ebene betrachtet, werden bei der Com-<br />

putertomographie die Röntgenstrahlen in der Querschnittsebene aus vielen verschiedenen<br />

Richtungen durch den Körper geschickt. Die Daten liefern um den Patienten rotierende<br />

Röntgenquellen und Detektoren (Abbildung 3.10). Der Körper absorbiert die Röntgen-<br />

88


Q<br />

D<br />

Abbildung 3.10: Prinzipieller Aufbau eines Computertomographen <strong>mit</strong> Röntgenquellen Q<br />

und Detektoren D.<br />

strahlung unterschiedlich. Aus der Abschwächung der Strahlung können dann die Ab-<br />

schwächungskoeffizienten in der Querschnittsebene bestimmt und da<strong>mit</strong> zwischen dich-<br />

ter und weniger dichter Materie (z.B. Knochen versus Gewebe) unterschieden werden.<br />

Übrigens beschrieb G.N. Hounsfield (zusammen <strong>mit</strong> J. Ambrose) 1972 das Prinzip der<br />

Computertomographie als erster und erhielt dafür 1979 den Nobelpreis der Medizin.<br />

Wir wollen in diesem Abschnitt die Frage beantworten:<br />

Frage: Wie kann das Schnittbild aus den Daten der Röntgendetektoren rekonstruiert<br />

werden?<br />

Die Schwächung der Röntgenstrahlung beim Durchgang durch Materie geschieht nach<br />

dem Lambert-Beer-Gesetz<br />

Q<br />

D<br />

I(d) = I(0)e −µd , (3.18)<br />

wobei I(d) die Intensität des Strahles am Ort d und d die Dicke des homogenen Medi-<br />

ums seien. Die Konstante µ > 0 ist der Abschwächungskoeffizient und ist ein Maß für<br />

die Stärke der Abschwächung. Genauer gesagt ist µ eine Funktion des Materials und der<br />

Energie der Röntgenstrahlung. Das Gesetz (3.18) kann <strong>mit</strong> der Tunnelwahrscheinlichkeit<br />

aus Abschnitt 3.2 verglichen werden, die ebenfalls exponentiell von der Dicke des Hin-<br />

dernisses abhängt. Wegen der unterschiedlichen Materialien im menschlichen Körper ist<br />

der Koeffizient µ eine Funktion des Ortes. Die Abschwächung der Strahlungsintensität dI<br />

entlang eines kleinen Wegstückes dx ist dann proportional zu der Intensität:<br />

dI = −µ(x)I dx<br />

89


oder<br />

dI<br />

= −µ(x)I.<br />

dx<br />

Integration dieser Differentialgleichung<br />

−µ(x) = 1 dI<br />

I dx<br />

d<br />

= ln I<br />

dx<br />

über einen Weg Γ von einer Quelle am Ort Q zu einem Detektor am Ort D liefert dann<br />

<br />

µ(x) dx = − ln I(D) + ln I(Q) = − ln I(D)<br />

.<br />

I(Q)<br />

(3.19)<br />

Γ<br />

Unser Ziel lautet, den ortsabhängigen Schwächungskoeffizienten µ eines Querschnitts<br />

zu bestimmen. Die Apparatur rotiere in nα gleichverteilten Schritten zwischen αmin und<br />

αmax, und jedes Strahlenbündel bestehe aus np gleichverteilten Strahlen zwischen pmin<br />

und pmax (Abbildung 3.10). Die Messungen <strong>mit</strong> dieser Geometrie liefern m := nαnp Werte<br />

der nαnp Linienintegrale (3.19) über µ(x) entlang der Geradenstücke Γ1, . . . , Γm von den<br />

Quellen zu den Detektoren. Bezeichnen wir <strong>mit</strong> Qi und Di die durch das i-te Geradenstück<br />

Γi verbundenen Quellen und Detektoren und <strong>mit</strong> I(Qi) und I(Di) (i = 1, . . . , m) die<br />

zugehörigen Intensitäten, so gilt nach (3.19)<br />

<br />

µ(x) dx = bi, i = 1, . . . , m, (3.20)<br />

wobei<br />

Γi<br />

bi = − ln I(Di)<br />

I(Qi)<br />

die experimentell er<strong>mit</strong>telten Werte sind. Die Gleichung (3.20) ist die Radontransforma-<br />

tion der Funktion µ. Bei (geeignet gewählten) unendlich vielen Strahlen ist µ eindeutig<br />

durch die rechten Seiten bestimmt. Bei endlich vielen Strahlen läßt sich µ nur approxi-<br />

mativ bestimmen.<br />

Eine Möglichkeit, µ zu bestimmen, ist die Diskretisierung der Umkehrformel der Ra-<br />

dontransformation. Wir wählen im folgenden einen sehr einfachen algebraischen Ansatz<br />

aus [5]: Wir suchen eine Näherungslösung µ des Systems (3.20). Dazu zerlegen wir die<br />

Querschnittsebene in n 2 gleich große quadratische Elemente, im folgenden Pixel genannt<br />

(Abbildung 3.11). Wir suchen eine Bestapproximation an die Lösung von (3.20) im n 2 -<br />

dimensionalen Raum<br />

S = span{φ1, . . . , φ n 2}<br />

<strong>mit</strong> den Basisfunktionen φi : R2 → R, definiert durch<br />

<br />

1 : falls x im Pixel der k-ten Zeile und ℓ-ten Spalte liegt<br />

φ(k−1)n+ℓ(x) =<br />

0 : sonst.<br />

90


Q<br />

P max<br />

Pmin<br />

α<br />

1<br />

2<br />

Abbildung 3.11: Zur Approximation des Abschwächungskoeffizienten µ.<br />

Die Funktionen φi sind also die Indikatorfunktionen der n 2 Pixel. Die Näherungslösung µ<br />

ist als Linearkombination aller φi dargestellt:<br />

3<br />

n2<br />

n<br />

µ(x) =<br />

2<br />

<br />

µiφi(x). (3.21)<br />

i=1<br />

Dies bedeutet, daß µ auf jedem Pixel der Zerlegung konstant ist. Das medizinische Bild<br />

entsteht dann durch Darstellung der Werte µi als Grauwerte. Das Bild wird umso genauer,<br />

je mehr Pixel verwendet werden.<br />

Setzen wir (3.21) in (3.20) ein, so folgt näherungsweise<br />

Setzen wir<br />

<br />

bi =<br />

<br />

aij =<br />

Γi<br />

Γi<br />

n<br />

µ(x) dx =<br />

2<br />

<br />

j=1<br />

µj<br />

<br />

Γi<br />

φj(x) dx, i = 1, . . . , m. (3.22)<br />

φj(x) dx, u = (µ1, . . . , µ n 2) ⊤ , b = (b1, . . . , bm) ⊤<br />

und A = (aij), können wir (3.22) als lineares Gleichungssystem<br />

Au = b (3.23)<br />

<strong>mit</strong> der Unbekannten u schreiben. Die Zahl der Messungen (d.h. die Zahl der Gleichungen<br />

in (3.22)) wird im allgemeinen wesentlich größer als die Anzahl der Pixel sein, um die<br />

Qualität der Rekonstruktion zu erhöhen. In diesem Fall ist (3.23) ein überbestimmtes<br />

91<br />

D


Gleichungssystem und daher im allgemeinen nicht lösbar oder nicht eindeutig lösbar. Wir<br />

suchen deshalb eine Lösung im Sinne der kleinsten Quadrate, d.h., u ist die Lösung von<br />

Q(u) = min<br />

v∈R n2 Q(v) <strong>mit</strong> Q(v) := Av − b2 2, (3.24)<br />

und x2 2 := x⊤x ist die euklidische Norm auf Rn2. Wie können wir nun (3.24) lösen? Wir behaupten, daß das Minimierungsproblem äqui-<br />

valent ist zur Lösung der Gaußschen Normalengleichungen<br />

Satz 3.3 Seien A ∈ R m×n2<br />

äquivalent.<br />

A ⊤ Au = A ⊤ b. (3.25)<br />

und b ∈ R m . Dann sind die Probleme (3.24) und (3.25)<br />

Beweis: Wir berechnen die i-te Richtungsabteilung von Q:<br />

1<br />

s (Q(v + sei) − Q(v)) = 1<br />

s (Av − b + sAei) ⊤ (Av − b + sAei) − 1<br />

s (Av − b)⊤ (Av − b)<br />

= 2(Av − b) ⊤ Aei + s(Aei) ⊤ Aei,<br />

wobei ei der i-te Einheitsvektor des R m sei. Der Grenzwert s → 0 ergibt<br />

und da<strong>mit</strong><br />

∂Q(v)<br />

∂ui<br />

= 2(Av − b) ⊤ Aei<br />

∇uQ(v) = (2(Av − b) ⊤ A) ⊤ = 2A ⊤ (Av − b).<br />

Ist nun u eine Lösung von (3.24), gilt ∇uQ(u) = 0, und u löst (3.25). Ist umgekehrt<br />

u eine Lösung von (3.25), so ist u ein kritischer Punkt von Q. Die Funktion u ist ein<br />

Minimum von Q, weil A⊤A wegen v⊤ (A⊤A)v = Av2 2 ≥ 0 für v ∈ Rn2 positiv semidefinit<br />

ist. <br />

Wir bemerken, daß das lineare Gleichungssystem (3.25) im allgemeinen nur iterativ<br />

gelöst werden kann. Üblicherweise werden n 2 = 512 2 Pixel zur Bestimmung des Quer-<br />

schnittsbildes verwendet. Verwendet man nun m > n 2 = 262144 Röntgenstrahlen, ist ein<br />

riesiges Gleichungssystem <strong>mit</strong> einer Matrix <strong>mit</strong> mindestens 262144 × 262144 Elementen<br />

zu lösen. Die Koeffizientenmatrix enthält sehr viele Nullen, da jeder Röntgenstrahl nur<br />

eine kleine Anzahl von Pixeln schneidet. Doch selbst wenn nur die von Null verschiedenen<br />

Einträge abgespeichert werden, erfordert die Matrix einen Speicherbedarf von etwa zwei<br />

Gigabyte.<br />

92


4 Strömungen<br />

Eine große Anzahl von sich bewegenden Teilchen kann durch makroskopische Variablen<br />

wie Teilchendichte und <strong>mit</strong>tlere Teilchengeschwindigkeit beschrieben werden. Räumliche<br />

und zeitliche Änderungen dieser Größen genügen häufig Erhaltungsgleichungen, die formal<br />

zu partiellen <strong>Differentialgleichungen</strong> äquivalent sind. In diesem Kapitel betrachten wir<br />

verschiedene Strömungen, die auf Erhaltungsgleichungen führen.<br />

4.1 Verschmutzung eines Flusses<br />

Aufgrund eines Chemieunfalls gelangt eine giftige Substanz in einen Seitenarm eines<br />

großen Flusses, der 10km von der Verunreinigung entfernt ist. Die Strömungsgeschwin-<br />

digkeit an der Unglücksstelle betrage 60m pro Minute. Bevor die giftige Substanz die<br />

Einmündungsstelle in dem großen Fluß erreicht, soll dort eine mobile Filteranlage instal-<br />

liert werden, um die Substanz aus dem Wasser zu entfernen.<br />

Frage: Wieviel Zeit verbleibt für die Installation der Filteranlage, und wieviel Substanz<br />

kann herausgefiltert werden?<br />

Naiverweise würden wir vermuten, daß<br />

10000m<br />

60m/ min<br />

≈ 166.7 min,<br />

also gut zweieinhalb Stunden für die Installation zur Verfügung stehen. Allerdings wird<br />

die Berechnung durch folgende Fakten verkompliziert:<br />

Der kleine Fluß verbreitert sich von der Unglücksstelle bis zur Mündung; dabei<br />

nimmt die Strömungsgeschwindigkeit um 20% ab.<br />

Pro Minute setzt sich 1% der giftigen Substanz am Boden des Flusses ab.<br />

Die giftige Substanz wird 5 Minuten lang eingeleitet. Der anfängliche Anteil der<br />

Substanz im Flußwasser betrage 10%.<br />

Wir modellieren den Fluß durch ein Intervall [0, L] <strong>mit</strong> L = 10. Der Anteil der Substanz<br />

im Flußwasser pro Längen- und Zeiteinheit sei durch eine Funktion u(x, t) beschrieben; die<br />

Strömungsgeschwindigkeit sei v(x, t) (Abbildung 4.1). Zur Zeit t = 0 werde an der Stelle<br />

x = 0 die giftige Substanz eingeleitet. Wir benötigen eine Gleichung für die Evolution<br />

des Anteils u(x, t). Nehmen wir zunächst an, daß sich die Substanz nicht am Boden<br />

absetzt. Dann sollte die zeitliche Änderung des Anteils der Substanz in einem beliebigen<br />

93


v(x,t)<br />

0 a b<br />

L<br />

Abbildung 4.1: <strong>Modellierung</strong> eines Flusses.<br />

Intervall [a, b] gleich dem Zu- bzw. Abfluß über den Rand x = a bzw. x = b sein, da die<br />

Substanzmenge erhalten bleibt:<br />

b<br />

b<br />

d<br />

∂<br />

u(x, t) dx = u(a, t)v(a, t) − u(b, t)v(b, t) = (u, v)(x, t) dx.<br />

dt<br />

∂x<br />

a<br />

Setzt sich die Verschmutzung am Boden ab, so ist auf der rechten Seite ein entsprechender<br />

Senkterm zu berücksichtigen:<br />

b<br />

f dx.<br />

a<br />

Wir nehmen an, daß die Funktionen glatt genug sind, da<strong>mit</strong> wir Differentiation und<br />

Integration vertauschen dürfen. Dann erhalten wir<br />

b<br />

a<br />

(ut + (uv)x − f) dx = 0.<br />

Da das Intervall (a, b) beliebig gewählt werden kann, ist diese Gleichung nur dann für alle<br />

Intervalle erfüllt, wenn der Integrand verschwindet:<br />

ut + (uv)x = f in (0, L).<br />

Dies ist eine partielle Differentialgleichung. Die Geschwindigkeit hängt vom Ort ab:<br />

v(x) = v0(1 − αx), x ∈ [0, L],<br />

wobei v0 = 60m/ min und α = 2 · 10 −5 m −1 , denn an der Stelle x = L soll die Strömung<br />

nach Vorausetzung nurmehr <strong>mit</strong> Geschwindigkeit 0.8v0 = 48m/ min strömen. Die zweite<br />

Voraussetzung impliziert<br />

Das Problem<br />

f = −βu <strong>mit</strong> β = 0.01/ min .<br />

ut + [v0(1 − αx)u]x = −βu, (x, t) ∈ (0, L) × (0, ∞), (4.1)<br />

u(x, 0) = u0(x), (4.2)<br />

94<br />

a<br />

x


ist jedoch noch nicht wohlgestellt, da noch festgelegt werden muß, wieviel Substanz an<br />

x = 0 eingeleitet wird. Die Bedingung<br />

u(0, t) = u1(t), t > 0,<br />

nennt man daher auch Einströmbedingung. Eine Randbedingung an x = L wird nicht<br />

benötigt, da an dieser Stelle die Werte der Funktion u(L, t) gerade gesucht sind. Um die<br />

folgenden Rechnungen zu vereinfachen, modellieren wir die Einleitung der Substanz in<br />

den Fluß dadurch, daß wir die Funktion auf R fortsetzen:<br />

<br />

γ : x ∈ [−a, 0]<br />

u0(x) =<br />

0 : sonst.<br />

Nach der dritten Vorausetzung gilt γ = 0.1(min ·m) −1 und a = 5 min ·v0 = 300m.<br />

(4.3)<br />

Wie lautet die Lösung von (4.1)–(4.3) für x ∈ R? Es gelte zunächst α = β = 0. Dann<br />

ist die Lösung einfach<br />

u(x, t) = u0(x − v0t).<br />

Die Substanz wird ähnlich wie eine Welle <strong>mit</strong> der Geschwindigkeit v0 transportiert. Nach<br />

der Zeit t ∗ = L/v0 kommt die Welle an der Mündung an, denn<br />

u(L, t ∗ ) > 0 ⇐⇒ −a ≤ L − v0t ∗ ≤ 0 ⇐⇒ L<br />

v0<br />

≤ t ∗ ≤<br />

L + a<br />

.<br />

In der Zeit t = a/v0 wird die gesamte Substanz zur Stelle x = L transportiert. Streng<br />

genommen ist die obige Funktion u(x, t) keine Lösung von (4.1)–(4.3), da u0 nicht diffe-<br />

renzierbar ist. Allerdings läßt sich ein schwächerer Lösungsbegriff definieren, so daß u(x, t)<br />

eine Lösung im Sinne dieser Definition ist (siehe nächsten Abschnitt), oder die Funktion<br />

u0 wird geeignet “geglättet”, so daß u(x, t) eine stetig differenzierbare Lösung ist.<br />

Im Falle α, β = 0 kann die Lösung von (4.1)–(4.3) nicht erraten werden. Wir lösen<br />

das Problem <strong>mit</strong> der Methode der Charakteristiken. Die Idee ist, die Funktion u(x, t) an<br />

jeder Stelle (x0, t0) durch eine Kurve u(x(s), t(s)) zu parametrisieren (Abbildung 4.2). Der<br />

Startpunkt sei gerade (x0, t0, u0), d.h.<br />

x(0) = x0, t(0) = t0, u(x0, t0) = u0. (4.4)<br />

Wir erhalten <strong>Differentialgleichungen</strong> für x(s), t(s) und s ↦→ u(x(s), t(s)), indem wir die<br />

Beziehung<br />

<strong>mit</strong> der Gleichung (4.1) oder<br />

d<br />

ds<br />

dt<br />

u(x(s), t(s)) = ut<br />

ds<br />

dx<br />

+ ux<br />

ds<br />

ut + v0(1 − αx)ux = (v0α − β)u<br />

95<br />

v0


t<br />

u<br />

(x ,t )<br />

0 0<br />

x<br />

u(x,t)<br />

u(x(s),t(s))<br />

Abbildung 4.2: Parametrisierung von u(x, t) durch Kurven (x(s), t(s)) durch den Punkt<br />

(x0, t0).<br />

vergleichen:<br />

dt dx<br />

= 1,<br />

ds ds = v0(1<br />

du<br />

− αx),<br />

ds = (v0α − β)u. (4.5)<br />

Die Anfangswertprobleme (4.1)–(4.2) können wir explizit lösen. Wegen dt = ds genügt es<br />

zu lösen:<br />

dx<br />

dt = v0(1<br />

du<br />

dt<br />

− αx), x(0) = x0,<br />

= (v0α − β)u, u(0) = u0.<br />

Wir erhalten nach kurzer Rechnung<br />

x(t) = 1 <br />

1 − (1 − αx0)e<br />

α<br />

−αv0t ,<br />

u(t) = u0e (v0α−β)t .<br />

Wir können daraus die Lösung u(x, t) berechnen, indem wir in u0 = u(x0, t0) die Umkehr-<br />

funktion x0 = x0(x, t), nämlich<br />

einsetzen:<br />

u(x, t) = u0<br />

x0 = 1 αv0t<br />

1 − (1 − αx)e<br />

α<br />

<br />

<br />

1 αv0t<br />

1 − (1 − αx)e<br />

α<br />

<br />

e −(αv0−β)t<br />

, (x, t) ∈ (0, L) × (0, ∞).<br />

Die Substanz erreicht die Mündung, wenn u(L, t) > 0 oder<br />

−a ≤ 1 αv0t<br />

1 − (1 − αL)e<br />

α<br />

∗<br />

≤ 0 ⇐⇒<br />

1 1<br />

ln ≤ t<br />

αv0 1 − αL<br />

<br />

=:t1<br />

∗ ≤ 1 1 + αa<br />

ln .<br />

αv0 1 − αL<br />

<br />

=:t2<br />

96


Wir erhalten<br />

186 min ≤ t ∗ ≤ 191 min .<br />

Die giftige Substanz erreicht also erst nach ca. 186 Minuten die Mündung. Nach 5 Minuten<br />

ist wie erwartet die Welle vorbei.<br />

Übungsaufgabe: Nach wieviel Minuten erreicht die Verunreinigung die Mündung, wenn<br />

√<br />

sich der Fluß so verschmälert, daß die Strömungsgeschwindigkeit gemäß v(x) = v0 1 + αx<br />

berechnet werden kann?<br />

Wieviel Substanz kommt an der Mündung an, und wieviel setzt sich zwischendrin am<br />

Flußboden ab? An der Stelle x = 0 wird<br />

5 min<br />

eingeleitet. An der Stelle x = L erhalten wir<br />

t2<br />

u(L, t) dt =<br />

t1<br />

=<br />

=<br />

<br />

γ<br />

0<br />

αv0 − β e(αv0−β)t<br />

γ<br />

αv0 − β<br />

γ<br />

t2<br />

t1<br />

<br />

αv0 − β<br />

exp<br />

αv0<br />

γ dt = 0.5/m<br />

ln<br />

αv0 − β (1 − αL)β/αv0−1 1 − (1 + αL)<br />

≈ 0.095m −1 .<br />

<br />

1<br />

αv0 − β 1 + αa<br />

− exp ln<br />

1 − αL<br />

αv0 1 − αL<br />

1−β/αv0 <br />

Über 80% der Verschmutzung setzt sich am Boden ab. Es ist also ratsam, die Filteran-<br />

lage so schnell wie möglich in möglichst kleinem Abstand zur Verunreinigungsstelle zu<br />

installieren.<br />

4.2 Verkehrsflüsse<br />

An einer stark befahrenen Hauptstraße soll eine Ampel installiert werden. Dabei stellt<br />

sich die folgende Frage:<br />

Frage: Wie lang sollten die Ampelphasen sein, da<strong>mit</strong> sich während der Grünphase der<br />

Stau vor der Ampel vollständig abbaut?<br />

Wir ignorieren Überholvorgänge und modellieren die einspurige Straße durch die reelle<br />

Zahlenachse. Ferner modellieren wir die Autos nicht individuell als einzelne Fahrzeuge,<br />

97


sondern führen eine Fahrzeugdichte ϱ(x, t) am Ort x ∈ R zur Zeit t ≥ 0 (in Fahrzeugen<br />

pro Längeneinheit) ein. Die Anzahl der Fahrzeuge im Intervall (a, b) zur Zeit t lautet<br />

b<br />

ϱ(x, t) dx.<br />

a<br />

Sei v(x, t) die Geschwindigkeit der Autos in (x, t). Die Anzahl der Autos, die den Punkt<br />

x zur Zeit t passieren, lautet ϱ(x, t)v(x, t). Wir suchen eine Bewegungsgleichung für die<br />

Dichte ϱ. Die Anzahl der Autos in (a, b) ändert sich zeitlich gemäß der Fahrzeugzahl, die<br />

in das Intervall (a, b) hinein- oder herausfahren:<br />

b<br />

b<br />

d<br />

∂ϱ<br />

ϱ(x, t) dx = ϱ(a, t)v(a, t) − ϱ(b, t)v(b, t) = (x, t) dx.<br />

dt<br />

∂x<br />

a<br />

Wie im letzten Abschnitt folgt daraus die Erhaltungsgleichung<br />

<strong>mit</strong> der Anfangsbedingung<br />

Wegen<br />

ϱt + (ϱv)x = 0, x ∈ R, t > 0, (4.6)<br />

<br />

<br />

d<br />

ϱ(x, t) dx = −<br />

dt R<br />

R<br />

ϱ(x, 0) = ϱ0(x), x ∈ R.<br />

∂<br />

(x, t) dx = 0 für alle t > 0<br />

∂x<br />

bleibt die Anzahl der Fahrzeuge erhalten; daher der Begriff “Erhaltungsgleichung”.<br />

Wir benötigen eine Gleichung für die Geschwindigkeit v. Wir nehmen an, daß sie nur<br />

von der Fahrzeugdichte abhängt und den folgenden Bedingungen genügt:<br />

v ist eine monton fallende Funktion von ϱ (bei dichterem Verkehr fahren die Auto-<br />

fahrer langsamer);<br />

auf einer leeren Straße fahren die Autos <strong>mit</strong> der maximal zulässigen Geschwindigkeit:<br />

v(0) = vmax;<br />

unter einem gewissen Mindestabstand steht die Autokolonne: v(ϱmax) = 0.<br />

Das einfachste Modell, das alle diese Bedingungen erfüllt, ist eine lineare Beziehung zwi-<br />

schen ϱ und v:<br />

Da<strong>mit</strong> wird (4.6) zu<br />

<br />

ϱt +<br />

v(ϱ) = vmax<br />

vmaxϱ<br />

<br />

1 − ϱ<br />

<br />

1 − ϱ<br />

ϱmax<br />

ϱmax<br />

<br />

x<br />

98<br />

<br />

, 0 ≤ ϱ ≤ ϱmax.<br />

a<br />

= 0, x ∈ R, t > 0. (4.7)


Diese Gleichung kann durch Skalierung vereinfacht werden. Seien L und τ typische<br />

Längen- und Zeiteinheiten, so daß L/τ = vmax. Führen wir die dimensionslosen Größen<br />

ein, erhalten wir<br />

∂ϱ<br />

∂t<br />

<br />

∂<br />

vmaxϱ 1 −<br />

∂x<br />

ϱ<br />

<br />

ϱmax<br />

xs = x<br />

L , ts = t<br />

2ϱ<br />

, u = 1 −<br />

τ<br />

= 1<br />

τ<br />

= 1<br />

L<br />

∂<br />

∂ts<br />

∂<br />

∂xs<br />

ϱmax<br />

<br />

2<br />

vmax<br />

<br />

(1 − u)<br />

ϱmax<br />

2<br />

ϱmax<br />

= − ϱmax ∂u<br />

,<br />

2τ ∂ts<br />

<br />

(1 − u)1 (1 + u) = −<br />

2 ϱmax<br />

2τ<br />

und da<strong>mit</strong> können wir (4.7) (<strong>mit</strong> (x, t) anstatt (xs, ts)) schreiben als<br />

2 u<br />

ut +<br />

2<br />

= 0, x ∈ R, t > 0, (4.8)<br />

u(x, 0) = u0(x), x ∈ R, (4.9)<br />

wobei u0 = 1 − 2ϱ0/ϱmax. Die Gleichung (4.8) heißt inviskose Burgers-Gleichung. Ist die<br />

Straße leer (ϱ = 0), folgt u = 1; in einem Stau (ϱ = ϱmax) gilt u = −1.<br />

wert<br />

Wie sehen die Lösungen von (4.8)–(4.9) aus? Wir betrachten den speziellen Anfangs-<br />

⎧<br />

⎪⎨ 1 : x < 0<br />

u0(x) = 1 − x<br />

⎪⎩<br />

0<br />

:<br />

:<br />

0 ≤ x < 1<br />

x ≥ 1.<br />

∂x<br />

∂xs<br />

u 2<br />

2<br />

<br />

,<br />

(4.10)<br />

Dies bedeutet, daß anfangs keine Autos in x < 0 vorhanden sind und in x ≥ 1 ein<br />

moderater Verkehr herrscht. Eine einfache Rechnung zeigt, daß<br />

⎧<br />

⎪⎨<br />

u(x, t) =<br />

⎪⎩<br />

1 : x < t<br />

1−x<br />

1−t : t ≤ x < 1<br />

0 : x ≥ 1.<br />

(4.11)<br />

eine Lösung von (4.8)–(4.9) für x ∈ R, t < 1 ist, die (4.8) punktweise außer an x = t und<br />

x = 1 erfüllt (Abbildung 4.3). Die Lösung wird unstetig an t = 1. Die Fahrzeuge, die sich<br />

anfangs im Intervall (0, 1) befinden, fahren von links nach rechts, bis keine Autos mehr<br />

übrig bleiben. Wegen u = 1 in x < t kommen auch keine Fahrzeuge nach. Existiert eine<br />

Lösung auch für t ≥ 1? Wie sieht diese Lösung aus?<br />

Wir wenden die Methode der Charakteristiken aus dem vorigen Abschnitt an. Es folgt<br />

dt<br />

ds<br />

= 1,<br />

dx<br />

ds<br />

= u,<br />

<strong>mit</strong> x(0) = x0, u(0) = u0. Aus der ersten Gleichung erhalten wir ds = dt. Daher ist<br />

du<br />

ds<br />

= 0<br />

u(t) = u0, x(t) = u0t + x0, t ≥ 0.<br />

99


t=0<br />

1<br />

Dies bedeutet ausgeschrieben, daß<br />

u<br />

t= 1/2<br />

1/2<br />

t=1<br />

Abbildung 4.3: Lösung von (4.8)–(4.10).<br />

u(x(t), t) = u0 = const. für alle t ≥ 0.<br />

Da x(t) Geraden sind (dies sind gerade die Charakteristiken), folgt, daß u(x, t) konstant<br />

entlang Geraden ist. Die Lösung (4.11) können wir dann wie in Abbildung 4.4 illustrieren.<br />

Die Geraden stellen keine Fahrzeugtrajektorien dar, sondern eher die “Ausbreitung” der<br />

Dichtewerte. Da sich die Geraden bei t = 1/2 in einem Punkt treffen, ist die Lösung in<br />

1/2<br />

t<br />

0<br />

Abbildung 4.4: Die Lösung u(x, t), definiert durch (4.11), ist konstant entlang der Geraden.<br />

diesem Punkt unstetig.<br />

Um den Lösungsbegriff zu erweitern, multiplizieren wir (4.8) <strong>mit</strong> einer Funktion φ ∈<br />

C1 (R2 ) und integrieren über R × (0, ∞):<br />

0 =<br />

=<br />

∞ 2 u<br />

<br />

ut + φ dxdt<br />

0 R 2 x<br />

∞ <br />

− uφt + u2<br />

2 φx<br />

<br />

dxdt −<br />

0<br />

R<br />

1<br />

R<br />

1<br />

x<br />

x<br />

u(x, 0)φ(x, 0) dx. (4.12)<br />

Um die beiden letzten Integrale zu definieren, benötigen wir nur integrierbare Lösungen<br />

u. Funktionen u, die (4.12) für alle φ ∈ C 1 (R 2 ) <strong>mit</strong> kompakten Träger erfüllen, nennen<br />

wir schwache Lösungen von (4.8)–(4.9).<br />

100


Wir betrachten nun unstetige Anfangsdaten<br />

<br />

uℓ : x < 0<br />

u0(x) =<br />

ur : x ≥ 0.<br />

(4.13)<br />

Das Problem (4.8), (4.13) heißt Riemann-Problem. Wir unterscheiden die folgenden Fälle:<br />

Fall 1: uℓ > ur. Die Fahrzeugdichte in x > 0 ist größer als in x < 0. Wir erwarten,<br />

daß sich eine Staulinie ausbildet bzw. eine Unstetigkeitskurve x = ψ(t). Dann ist<br />

<br />

uℓ : x < st<br />

u(x, t) =<br />

ur : x ≥ st<br />

(4.14)<br />

eine schwache Lösung von (4.8), (4.13). Die Unstetigkeitskurve ist durch x = ψ(t) = st<br />

gegeben, und die Schockgeschwindigkeit s = ψ ′ (t) muß bestimmt werden. Wir beweisen,<br />

daß u(x, t) tatsächlich eine schwache Lösung ist und berechnen dabei die Schockgeschwin-<br />

digkeit. Sei φ ∈ C 1 (R 2 ) <strong>mit</strong> kompaktem Träger. Wegen u = const. außer an x = st folgt<br />

einerseits<br />

∞<br />

0<br />

andererseits<br />

<br />

∞<br />

0<br />

uφt dxdt =<br />

R<br />

<br />

Wählen wir also<br />

R<br />

=<br />

∞<br />

0<br />

∞<br />

0<br />

u 2<br />

2 φx dxdt =<br />

st<br />

∂<br />

∂t<br />

−∞<br />

+ ∂<br />

∂t<br />

st<br />

uφt dx +<br />

−∞<br />

∞<br />

st<br />

∞<br />

st<br />

<br />

uφt dx dt<br />

uφ dx − s · u(st−, t)φ(st, t)<br />

<br />

uφ dx + s · u(st+, t)φ(st, t) dt<br />

<br />

= − u(x, 0)φ(x, 0) dx − s · (uℓ − ur)<br />

R<br />

=<br />

∞<br />

0<br />

∞<br />

0<br />

φ(st, t) dt,<br />

st 2 u<br />

−<br />

φ dx +<br />

−∞ 2 x<br />

u2<br />

(st−, t)φ(st, t)<br />

2<br />

∞ 2 u<br />

−<br />

φ dx −<br />

st 2 x<br />

u2<br />

<br />

(st+, t)φ(st, t)<br />

2<br />

∞<br />

φ(st, t) dt.<br />

2 uℓ 2 − u2r 2<br />

s · (uℓ − ur) = u2ℓ 2 − u2r 2<br />

0<br />

oder s = 1<br />

2 (uℓ + ur) (4.15)<br />

so löst u die Integralbeziehung (4.12) und ist da<strong>mit</strong> eine schwache Lösung. Die Bedingung<br />

(4.15) heißt Rankine-Hugoniot-Bedingung.<br />

101


Betrachte als Beispiel die Situation, in der in x < 0 anfangs die Fahrzeugdichte mo-<br />

derat und in x > 0 maximal ist: uℓ = 0, ur = −1. Dann ist die Schockgeschwindigkeit<br />

s = −1/2. Die Staulinie bewegt sich also nach links, d.h., der Stau vergrößert sich (Ab-<br />

bildung 4.5).<br />

u = 0<br />

l<br />

t<br />

u = −1<br />

r<br />

Abbildung 4.5: Charakteristiken für uℓ = 0 und ur = −1.<br />

Fall 2: uℓ < ur. Die Funktion (4.14) ist auch hier eine Lösung, da der obige Beweis<br />

kein Vorzeichen von uℓ − ur benötigt hat. Allerdings ist auch<br />

⎧<br />

⎪⎨ uℓ : x < uℓt<br />

u2(x, t) = x/t<br />

⎪⎩<br />

ur<br />

:<br />

:<br />

uℓt ≤ x ≤ urt<br />

x > urt<br />

eine schwache Lösung (Abbildung 4.6).<br />

Übungsaufgabe: Beweisen Sie dies.<br />

Man kann sogar zeigen, daß es unendlich viele Lösungen gibt. Was ist passiert? Unser<br />

Lösungsbegriff ist so schwach, daß die Eindeutigkeit von Lösungen verloren gegangen ist.<br />

Wir benötigen eine zusätzliche (physikalische) Bedingung, die die Eindeutigkeit wieder<br />

sicherstellt. Es zeigt sich, daß der Begriff Entropie das Gewünschte liefert. Wir sagen,<br />

daß eine schwache Lösung die Entropiebedingung von Oleinik erfüllt, wenn entlang jeder<br />

Unstetigkeitskurve x = ψ(t)<br />

u 2 ℓ /2 − v2 /2<br />

uℓ − v<br />

≥ ψ ′ (t) ≥ u2 r/2 − v 2 /2<br />

ur − v<br />

x<br />

(4.16)<br />

für alle v zwischen uℓ und ur gilt. Im Falle der Lösung (4.14) folgt aus ψ ′ (t) = s und<br />

(4.16)<br />

1<br />

2 (uℓ + v) ≥ s ≥ 1<br />

2 (ur + v)<br />

die Bedingung uℓ ≥ ur – Widerspruch. Da die Funktion u2 stetig ist, ist die Ungleichung<br />

(4.16) gegenstandslos.<br />

102


Intuitiv ist u2 die physikalisch relevante Lösung. Die Voraussetzung uℓ < ur bedeutet,<br />

daß es in x < 0 mehr Autos als in x > 0 gibt. Die Autofahrer in der Nähe von x = 0<br />

werden beschleunigen, und nach einiger Zeit wird es Autofahrer <strong>mit</strong> Geschwindigkeiten<br />

zwischen v(uℓ) und v(ur) geben. Man nennt u2 übrigens auch eine Verdünnungwelle.<br />

u<br />

l<br />

t<br />

Abbildung 4.6: Charakteristiken der Lösung u2.<br />

Wir sind nun in der Lage, die eingangs gestellte Frage zu beantworten. Wir betrachten<br />

eine eindimensionale Straße, die zur Zeit t = 0 im Intervall (−∞, 0) <strong>mit</strong> Fahrzeugen der<br />

Dichte ϱ > 0 gefüllt ist. An x = 0 sei eine rote Ampel, und hinter der Ampel in (0, ∞) sei<br />

die Straße leer. Die Ampelphase habe die Dauer ω > 0. Wir arbeiten <strong>mit</strong> der skalierten<br />

Gleichung (4.8). Dann ist u = 1 − 2ϱ/ϱmax. Bis zur Zeit t = ω wird sich ein Stau vor der<br />

Ampel bilden, der sich während der Grünphase t > ω abbauen wird.<br />

Schritt 1: Rotphase (0 ≤ t < ω). Wir lösen (4.8) in x < 0 <strong>mit</strong> der Anfangsfunktion<br />

u0(x) = u, x < 0, und der Randbedingung u(0, t) = −1, die die rote Ampel modelliert.<br />

Die Lösung lautet nach dem obigen Fall 1:<br />

<br />

u : x < st<br />

u(x, t) =<br />

−1 : x ≥ st,<br />

und die Schockgeschwindigkeit ist gegeben durch<br />

s = 1<br />

2 (uℓ + ur) =<br />

u<br />

r<br />

x < 0, 0 < t < ω,<br />

u − 1<br />

.<br />

2<br />

Die Lösung in x > 0 ist nach Voraussetzung gegeben durch u(x, t) = 1 (Abbildung 4.7).<br />

Schritt 2: Grünphase (t > ω). Wir lösen die Burgers-Gleichung (4.8) in R <strong>mit</strong> An-<br />

fangswert u0(x) = u(x, ω). Wegen uℓ = u > −1 = ur entwickelt sich ein Schock ψ(t) = st,<br />

t > ω, <strong>mit</strong> Geschwindigkeit s = (u − 1)/2 < 0. Außerdem entsteht eine Verdünnungswelle<br />

an x = 0, da uℓ = −1 < 1 = ur. Die Lösung ist gegeben durch<br />

⎧<br />

⎪⎨<br />

u(x, t) =<br />

⎪⎩<br />

u<br />

−1<br />

:<br />

:<br />

x < st<br />

st ≤ x < ω − t<br />

x ∈ R, t > ω.<br />

x<br />

t−ω : ω − t ≤ x < t − ω<br />

1 : x ≥ t − ω,<br />

103<br />

x


Grün−<br />

phase<br />

Rot−<br />

phase<br />

st<br />

1<br />

u = u<br />

u = u<br />

sω<br />

u = −1<br />

t<br />

t<br />

1<br />

ω<br />

u = −1<br />

u = 1<br />

u = 1<br />

u = 1<br />

Abbildung 4.7: Charakteristiken für das Ampelproblem.<br />

Diese Lösung macht Sinn, solange st < ω − t oder t < t1 := ω/(s + 1) = 2ω/(u + 1).<br />

Schritt 3: Grünphase (t > t1). Was geschieht <strong>mit</strong> dem Schock für t > t1? Dazu<br />

benötigen wir die sogenannte verallgemeinerte Rankine-Hugoniot-Bedingung<br />

s(t) = ψ ′ (t) = 1<br />

<br />

<br />

u(ψ(t)+, t) + u(ψ(t)−, t)<br />

2<br />

= 1<br />

<br />

ψ(t)<br />

<br />

+ u ,<br />

2 t − ω<br />

für t > t1. Dies ist eine lineare Differentialgleichung für ψ(t) <strong>mit</strong> Anfangswert<br />

Die Lösung lautet<br />

u − 1<br />

ψ(t1) = st1 = ω<br />

u + 1 .<br />

ψ(t) = u(t − ω) − √ <br />

t − ω ω(1 − u2 ), t ≥ t1.<br />

Es gibt nun zwei Fälle. Wenn u ≤ 0 (oder ϱ ≥ ϱmax/2), gilt ψ(t) → −∞ für t →<br />

∞, und es gibt einen Schock für alle Zeiten, der sich in der negativen x-Richtung <strong>mit</strong><br />

Geschwindigkeit ψ ′ (t) → u (t → ∞) fortpflanzt. Die Unstetigkeitsstufe wird natürlich<br />

immer kleiner für größere Zeiten, aber die Autofahrer bemerken den Schock weit von der<br />

Ampel entfernt.<br />

Im Fall u > 0 (oder ϱ < ϱmax/2) bewegt sich der Schock in die positive x-Richtung.<br />

Wir nehmen an, daß die Ampel zur Zeit t = 2ω wieder von Grün auf Rot schaltet. Wie<br />

lang muß die Grünphase sein, um den Schock zu eliminieren? Dazu ist die Bedingung<br />

t2 ≤ 2ω notwendig, wobei t2 eine Nullstelle von ψ ist. Die Gleichung ψ(t2) = 0 hat die<br />

eindeutige Lösung t2 = ω/u 2 . Also ist t2 ≤ 2ω genau dann erfüllt, wenn u ≥ 1/ √ 2 oder<br />

104<br />

x


in Originalvariablen<br />

ϱ ≤ ϱmax<br />

<br />

1 −<br />

2<br />

1<br />

<br />

√ ≈ 0.146ϱmax.<br />

2<br />

Der Schock vor der Ampel wird vollständig während der Grünphase aufgelöst, wenn diese<br />

Bedingung an ϱ erfüllt ist. Erstaunlich an diesem Ergebnis ist, daß die maximale Ver-<br />

kehrsdichte ϱ, die die Ampel verkraftet, von der Dauer der Ampelphasen unabhängig<br />

ist.<br />

Wir fassen zusammen:<br />

ϱ ≥ ϱmax/2: Schon eine Rotphase genügt, um den Verkehr auf Dauer zu stören.<br />

(1 − 1/ √ 2)ϱmax/2 < ϱ < ϱmax/2: Die Effekte der Rotphasen akkumulieren sich <strong>mit</strong><br />

der Zeit, würden jedoch bei Entfernung der Ampel wieder verschwinden.<br />

ϱ ≤ (1−1/ √ 2)ϱmax/2. Die Schockfront kehrt vor Beendigung der Grünphase wieder<br />

zur Ampel zurück, und der Einfluß der Rotphase ist da<strong>mit</strong> verschwunden.<br />

Übungsaufgabe: Diskutieren Sie das<br />

Ampelproblem, wenn<br />

die Geschwindigkeit durch<br />

das Greenberg-Modell v(ϱ) = vmax ln (1 + ϱmax)/(1 + ϱ) , 0 ≤ ϱ ≤ ϱmax, gegeben ist.<br />

4.3 Strömungsmechanik<br />

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, welchen Bewegungsgleichungen eine Flüssig-<br />

keit oder ein Gas genügt. Diese Gleichungen analysieren wir weiter in den folgenden Ab-<br />

schnitten.<br />

Betrachte ein Teilchen der Masse m, auf das die äußere Kraft F wirkt. Beschreibt x(t)<br />

den Ort und v(t) die Geschwindigkeit des Teilchens zur Zeit t, so ist die Evolution durch<br />

die Newtonschen Gleichungen<br />

x ′ = v, mv ′ = F, t > 0, (4.17)<br />

gegeben. Wir können die Bewegung auch <strong>mit</strong> Hilfe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung<br />

f(x, v, t) beschreiben, wobei <br />

Ωx<br />

<br />

Ωv<br />

f(x, v, t) dxdv<br />

die Wahrscheinlichkeit angibt, das Teilchen zur Zeit t im Gebiet Ωx <strong>mit</strong> der Geschwindig-<br />

keit aus Ωv anzutreffen. Insbesondere gilt<br />

<br />

f(x, v, t) dxdv = 1.<br />

R 3<br />

R 3<br />

105


Sei w(t; x, v) := (x(t), v(t)) die Lösung von (4.17) zu den Anfangswerten x(0) = x,<br />

v(0) = v. Die Funktion w beschreibt die Bahn oder Trajektorie des Teilchens. Dann<br />

ist f(w(t; x, v), t) konstant entlang der Trajektorien und<br />

also <strong>mit</strong> (4.17)<br />

0 = d<br />

dt f(w(t; x, v), t) = ft + ∇xf · x ′ + ∇vf · v ′ ,<br />

ft + v · ∇xf + F<br />

m · ∇vf = 0. (4.18)<br />

Wir nennen dies die Lionville-Gleichung.<br />

Betrachte nun eine sehr große Zahl N ≫ 1 von Teilchen <strong>mit</strong> derselben Masse m<br />

(z.B. einer Flüssigkeit). Ist (xi(t), vi(t)) der Vektor aus Ort und Geschwindigkeit des i-ten<br />

Teilchens, so kann das Teilchenensemble wie oben durch die Newtonschen Gleichungen<br />

x ′ i = vi, mv ′ i = Fi, i = 1, . . . , N,<br />

beschrieben werden. Die Lösung dieser Gleichungen kann sehr aufwendig sein. Es ist<br />

daher bequemer, die Evolution des Ensembles <strong>mit</strong> Hilfe der Verteilung f(x, v, t) zu be-<br />

rechnen. Streng genommen müßten x und v Vektoren aus R 3N sein. Wir postulieren, daß<br />

die Verteilung f(x, v, t) den Anteil der N Teilchen an der Stelle (x, v, t) beschreibt und<br />

der Lionville-Gleichung<br />

ft + v · ∇xf + F<br />

m · ∇vf = 0, x, v ∈ R 3 , t > 0, (4.19)<br />

genügt. Die Kraft F ist dann die auf das Teilchenensemble wirkende effektive Kraft, die<br />

sich aus allen Einzelkräften Fi zusammensetzt. Die Gleichung (4.19) wird vervollständigt<br />

durch die Anfangsverteilung<br />

f(x, v, 0) = f0(x, v), x, v ∈ R 3 .<br />

Die obige Gleichung ermöglicht durch den Einbezug der äußeren Kraft F die Model-<br />

lierung von Fernkräften (Gravitation, elektrische Kräfte etc.). Nahkräfte wie Teilchenkol-<br />

lisionen werden jedoch nicht modelliert. Um auch diese beschreiben zu können, nehmen<br />

wir an, daß die zeitliche Änderung der Verteilung f entlang der Trajektorien gleich ist der<br />

Änderungsrate von f aufgrund von Teilchenkollisionen:<br />

df<br />

= Q(f) entlang der Trajektorien,<br />

dt<br />

wobei Q(f) die Kollisionsrate ist. Ausgeschrieben bedeutet dies<br />

ft + v · ∇xf + F<br />

M · ∇vf = Q(f), x, v ∈ R 3 , t > 0. (4.20)<br />

Diese Gleichung wird Boltzmann-Gleichung genannt. Um einen Ausdruck für Q(f) her-<br />

zuleiten, nehmen wir an, daß der Anteil P (x, v ′ → v, t) der Teilchen an (x, t), deren<br />

Geschwindigkeit v ′ nach v infolge der Kollision geändert wird, proportional ist zu<br />

106


Dann ist<br />

der Wahrscheinlichkeit f(x, v ′ , t) und<br />

der Wahrscheinlichkeit 1 − f(x, v, t), daß der Zustand (x, v) frei ist.<br />

P (x, v ′ → v, t) = s(x, v ′ , v)f(x, v ′ , t)(1 − f(x, v, t)),<br />

wobei die Proportionalitätskonstante s(x, v ′ , v) Stoßrate genannt wird. Die Änderungsrate<br />

von f infolge von Kollisionen ist gegeben durch<br />

P (x, v ′ → v, t) − P (x, v → v ′ , t)<br />

für alle Geschwindigkeiten v ′ im Element dv ′ . Das Resultat ist das Integral<br />

(Q(f))(x, v, t) =<br />

wobei f = f(x, v, t) und f ′ = f(x, v ′ , t).<br />

=<br />

<br />

<br />

R3 [P (x, v ′ → v, t) − P (x, v → v ′ , t)] dv ′<br />

R3 [s(x, v ′ , v)f ′ (1 − f) − s(x, v, v ′ )f(1 − f ′ )] dv ′ , (4.21)<br />

Die Analyse des Kollisionsoperators (4.21) ist im allgemeinen sehr aufwendig. Für<br />

allgemeine Stoßraten gilt<br />

<br />

<br />

Q(f) dv =<br />

R 3<br />

=<br />

<br />

= 0.<br />

R3 s(x, v ′ , v)f ′ (1 − f)dv ′ dv −<br />

R3 s(x, v ′ , v)f ′ (1 − f)dv ′ dv −<br />

Nach (4.20) bedeut dies, daß die Teilchenzahl wegen<br />

<br />

∂<br />

∂t R3 <br />

R3 f(x, v, t) dxdv =<br />

<br />

−<br />

R3 <br />

<br />

−<br />

= 0<br />

<br />

+<br />

R 3<br />

R 3<br />

<br />

<br />

<br />

R 3<br />

R 3<br />

R 3<br />

R3 s(x, v, v ′ )f(1 − f ′ ) dv ′ dv<br />

R3 s(x, v ′ , v)f ′ (1 − f) dvdv ′<br />

divx(vf) dxdv<br />

divv<br />

<br />

F<br />

m f<br />

<br />

dvdx<br />

Q(f) dvdx<br />

zeitlich konstant ist. Wir haben hier vorausgesetzt, daß die Kraft F nicht von v abhängt.<br />

Die Boltzmann-Gleichung ist also auch eine Erhaltungsgleichung.<br />

Die Lösung der Boltzmann-Gleichung ist sehr aufwendig, da die Funktion f von sieben<br />

Variablen abhängt. Unser Ziel ist es daher, einfachere Gleichungen herzuleiten. Dazu<br />

verwenden wir eine Variante der Momentenmethode.<br />

107


Zuerst skalieren wir die Boltzmann-Gleichung. Wir definieren <strong>mit</strong> der typischen Länge<br />

L, der typischen Zeit T und der typischen Geschwindigkeit V = L/T , die sich daraus<br />

ergibt, daß ein Teilchen einen Weg der Länge L in der Zeit T durchquert, die dimensions-<br />

losen Größen<br />

xs = x<br />

L , vs = v<br />

V , ts = t<br />

T .<br />

Die Länge L kann etwa der Durchmesser des Gebietes sein, in dem sich die Flüssigkeit<br />

aufhält. Nun gibt es eine zweite typische Länge, nämlich die <strong>mit</strong>tlere freie Weglänge λ, die<br />

die Länge bezeichnet, die ein Teilchen durchschnittlich zwischen zwei Kollisionen durch-<br />

quert. Wir setzen voraus, daß<br />

ε = λ<br />

≪ 1<br />

L<br />

gilt. Der Parameter ε wird auch Knudsen-Zahl genannt. Es macht Sinn, den Kollisions-<br />

operator gemäß<br />

Qs(f) = τQ(f)<br />

zu skalieren, wobei τ = λ/V die Zeit ist, die ein Teilchen benötigt, um einen Weg der<br />

Länge λ <strong>mit</strong> der Geschwindigkeit V zu durchqueren, denn Q(f) hat die Einheit 1/sec.<br />

Skalieren wir außerdem die Kräft gemäß<br />

Fs = T<br />

V<br />

so erhalten wir die skalierte Boltzmann-Gleichung (wir lassen den Index “s” im folgenden<br />

fort)<br />

ft + v · ∇xf + F · ∇vf = 1<br />

Q(f). (4.22)<br />

ε<br />

Unser Ziel ist es, den Grenzwert ε → 0 zu studieren. Der Kollisionsoperator erfülle die<br />

folgenden Voraussetzungen:<br />

Es gelte für alle Lösungen f von (4.22)<br />

<br />

<br />

<br />

Q(f) dv = Q(f)vi dv =<br />

R 3<br />

R 3<br />

R 3<br />

F<br />

m ,<br />

Q(f)|v| 2 dv = 0, i = 1, . . . , d.<br />

Es gelte Q(f) = 0 genau dann, wenn es Zahlen αi(x, t) ∈ R, i = 0, . . . , 4, gibt, so<br />

daß<br />

ln f = α0 + α1v1 + α2v2 + α3v3 + α4|v| 2 .<br />

Diese Voraussetzungen können wir wie folgt interpretieren. Die erste Bedingung drückt in<br />

Abwesenheit äußerer Kräfte die Erhaltung von Masse, Impuls und Energie aus. Definiere<br />

108


nämlich die Teilchendichte nf(x, t), <strong>mit</strong>tlere Geschwindigkeit uf(x, t) und Energiedichte<br />

ef(x, t) bezüglich f durch<br />

nf(x, t) = 〈f(x, v, t)〉,<br />

uf(x, t) = 〈vf(x, v, t)〉,<br />

ef(x, t) = 〈 1<br />

2 |v|2f(x, v, t)〉,<br />

wobei 〈g〉 := <br />

R3 g dv. Man nennt diese Integrale auch das nullte, erste und zweite Moment.<br />

Aus der ersten Bedingung folgt, sofern F = 0,<br />

<br />

∂<br />

∂t R3 <br />

nf dx = −<br />

R3 <br />

R3 <br />

divx(vf) dvdx −<br />

R3 <br />

R3 Q(f) dvdx = 0,<br />

<br />

∂<br />

∂t R3 <br />

uf dx = −<br />

R3 <br />

R3 <br />

divx(v ⊗ vf) dvdx −<br />

R3 <br />

R3 vQ(f) dvdx = 0,<br />

<br />

<br />

∂<br />

<br />

1<br />

ef dx = − divx<br />

∂t<br />

2 |v|2 <br />

1<br />

vf dvdx −<br />

2 |v|2Q(f) dvdx = 0,<br />

R 3<br />

R 3<br />

R 3<br />

wobei v ⊗ v die (3 × 3)-Matrix <strong>mit</strong> Elementen vivj, i, j = 1, 2, 3, bezeichne.<br />

Die zweite Voraussetzung bedeutet, daß es (im Mittel) genau dann keine Kollisionen<br />

gibt, wenn f sich als<br />

<br />

f(x, v, t) = exp<br />

α0(x, t) + α(x, t) · v + α4(x, t)|v| 2 ), α = (α1, α2, α3) ⊤ ,<br />

darstellen läßt. Dies ist äquivalent zur Existenz von Konstanten n(x, t), u(x, t) und θ(x, t),<br />

so daß<br />

<br />

<br />

n(x, t) |v − u(x, t)|2<br />

f(x, v, t) = M(x, v, t) :=<br />

exp −<br />

(2πθ(x, t)) 3/2 2θ(x, t)<br />

gilt. Die Funktion M wird Maxwell-Verteilung genannt. Welche Bedeutung haben die<br />

Funktionen n, u und θ? Eine Rechnung zeigt<br />

〈M(x, v, t)〉 = n(x, t),<br />

〈vM(x, v, t)〉 = n(x, t)u(x, t),<br />

〈 1<br />

2 |v|2M(x, v, t)〉 =<br />

<br />

1<br />

n(x, t)<br />

2 |u(x, t)|2 + 3<br />

<br />

θ(x, t)<br />

2<br />

Übungsaufgabe: Zeigen Sie die drei obigen Identitäten.<br />

Folglich können wir n = nM als Teilchendichte und u = uM als <strong>mit</strong>tlere Geschwindigkeit<br />

(bezüglich M) interpretieren. Das dritte Integral ist die Gesamtenergie, bestehend aus<br />

der kinetischen Energie 1<br />

Temperatur interpretieren.<br />

R 3<br />

2n|u|2 und der inneren Energie 3<br />

2<br />

R 3<br />

.<br />

nθ. Daher können wir θ als<br />

Sei fε eine Lösung der skalierten Boltzmann-Gleichung (4.22). Wir treffen die folgenden<br />

Annahmen:<br />

109


Die Kraft F hänge nicht von v ab.<br />

Die Funktion fε und ihre Ableitungen seien gleichmäßig beschränkt in ε > 0 und<br />

fε → f punktweise (fast überall) für ε → 0.<br />

Es gilt für ε → 0<br />

〈g(v)fε〉 → 〈g(v)f〉, g(v) ∈ {1, vi, vivj, |v| 2 vi : 1 ≤ i, j, ≤ 3}.<br />

Die Funktion Q(fε) konvergiere gegen Q(f) für ε → 0.<br />

Multipliziere nun die Boltzmann-Gleichung (4.22) <strong>mit</strong> 1, v und 1<br />

2 |v|2 , integriere über<br />

v ∈ R 3 und integriere partiell<br />

denn<br />

∂t<br />

∂t〈fε〉 + divx〈vfε〉 = 0, (4.23)<br />

∂t〈vfε〉 + divx〈v ⊗ vfε〉 − F 〈fε〉 = 〈vQ(fε)〉, (4.24)<br />

<br />

1<br />

2 |v|2 <br />

1<br />

fε + divx<br />

2 v|v|2 <br />

<br />

1<br />

fε − F 〈vfε〉 =<br />

2 |v|2 <br />

Q(fε) , (4.25)<br />

<br />

〈vF fε〉 =<br />

R3 <br />

v divv(F fε) dv = −<br />

R3 F fε dv = −F 〈fε〉,<br />

<br />

1<br />

2 |v|2 <br />

F fε =<br />

<br />

−<br />

<br />

1<br />

∇v<br />

2 |v|2<br />

<br />

F fε dv = −F 〈vfε〉<br />

R 3<br />

Aus (4.22) folgt im Grenzwert ε → 0 die Gleichung Q(f) = 0. Nach der obigen Voraus-<br />

setzung an Q impliziert dies f = M. also konvergiert fε gegen M. Im Grenzwert ε → 0<br />

erhalten wir aus (4.23)–(4.25)<br />

∂t<br />

∂tn + divx(nu) = 0,<br />

∂t(nu) + divx〈v ⊗ vM〉 − F n = 0,<br />

<br />

1<br />

n<br />

2 |u|2 + 3<br />

2 θ<br />

<br />

+ divx〈 1<br />

2 v|v|2M〉 − F · (nu) = 0.<br />

Es bleiben die zweiten und dritten Momente 〈v ⊗ vM〉 und 〈 1<br />

2 v|v|2 M〉 zu berechnen:<br />

〈v ⊗ vM〉 = n(u ⊗ u) + nθ Id,<br />

<br />

1<br />

2 v|v|2 <br />

M =<br />

<br />

1<br />

nu<br />

2 |u|2 + 5<br />

2 θ<br />

<br />

,<br />

wobei Id die Einheitsmatrix des R 3×3 bezeichne.<br />

110


Übungsaufgabe: Zeigen Sie die beiden obigen Identitäten.<br />

Daraus folgt<br />

divx〈v ⊗ vM〉 = divx(nu ⊗ u) + ∇x(nθ),<br />

divx〈 1<br />

2 v|v|2 <br />

1<br />

M〉 = divx nu<br />

2 |u|2 + 5<br />

2 θ<br />

<br />

.<br />

Mit der Energiedichte<br />

e := 1<br />

2 |u|2 + 3<br />

2 θ<br />

erhalten wir schließlich die Euler-Gleichungen der Gasdynamik:<br />

∂tn + div(nu) = 0, (4.26)<br />

∂t(nu) + div(nu ⊗ u) + ∇(nθ) − nF = 0, (4.27)<br />

∂t(ne) + div(nu(e + θ)) − (nu) · F = 0. (4.28)<br />

Wir haben div statt divx geschrieben, da die Funktionen nur von x und t, aber nicht von<br />

v abhängen.<br />

Die Euler-Gleichungen sind im wesentlichen aus der reduzierten Gleichung (4.22) <strong>mit</strong><br />

ε = 0 und den entsprechenden Momenten gewonnen worden. Es ist möglich, die Funktion<br />

fε bezüglich ε zu entwickeln.<br />

fε = M + εgε + O(ε 2 )<br />

und diese Entwicklung in (4.22) einzusetzen, um Näherungen höherer Ordnung zu erhal-<br />

ten. Diese Methode, die man Chapman-Enskog-Entwicklung nennt, erfordert allerdings<br />

genauere Kenntnisse über den Kollisionsoperator. Diese Technik führt auf die Navier-<br />

Stokes-Gleichungen<br />

∂tn + div(nu) = 0, (4.29)<br />

∂t(nu) + div(nu ⊗ u) + ∇(nθ) − nF = εdivτ, (4.30)<br />

∂t(ne) + divx(nu(e + θ)) − (nu) · F = εdiv(q + u · τ), (4.31)<br />

wobei τ einen viskosen Spannungstensor darstellt, der Scherkräfte durch Reibung model-<br />

liert, und q die Wärmeflußdichte:<br />

τ = λ(divu)Id + µ(∇u + (∇u) ⊤ ),<br />

q = κ∇θ.<br />

Hierbei sind λ und µ von (x, t) abhängende, nicht-negative Viskositätskoeffizienten, κ > 0<br />

ist die Wärmeleitfähigkeit und<br />

(∇u + (∇u) ⊤ )ij = ∂ui<br />

111<br />

∂xj<br />

+ ∂uj<br />

.<br />

∂xi


Im folgenden setzen wir ε = 1, da wir diesen Parameter in τ und q “verstecken” können.<br />

Für ε = 0 erhalten wir aus den Navier-Stokes-Gleichungen die Euler-Gleichungen (4.26)–<br />

(4.28).<br />

Sind die Viskositätskoeffizienten λ und µ konstant, können wir den Ausdruck divτ<br />

vereinfachen. Aus<br />

folgt<br />

Ferner ergibt sich<br />

div((∇ ⊗ u) + (∇ ⊗ u) τ )i =<br />

div(u · τ) =<br />

3<br />

k=1<br />

∂<br />

∂xj<br />

∂ui<br />

∂xj<br />

divτ = (λ + µ)∇(divu) + µ∆u.<br />

3<br />

i,j=1<br />

∂<br />

∂xj<br />

(uiτij) =<br />

= ∇u : τ + u · divτ,<br />

wobei wir für zwei Matrizen A, B ∈ R 3×3<br />

A : B =<br />

3<br />

i,j=1<br />

+ ∂uj<br />

<br />

= (∆u + ∇(divu))i<br />

∂xi<br />

3<br />

<br />

∂ui<br />

i,j=1<br />

aijbij<br />

∂xj<br />

definiert haben. Wir erhalten aus der obigen Gleichung für divτ<br />

∂τij<br />

τij + ui<br />

∂xj<br />

div(u · τ) = ∇u : τ + (λ + µ)u · ∇(divu) + µu · ∆u.<br />

Wegen der Terme µ∆u und div(κ∇θ) sind die Gleichungen (4.30) und (4.31) parabolische<br />

<strong>Differentialgleichungen</strong>.<br />

Der Ausdruck nθ ist der Druck einer Flüssigkeit. Dies gilt nur für ideale Fluide; im<br />

allgemeinen ist der Druck p ein unabhängige Variable. Da<strong>mit</strong> erhalten wir (für konstante<br />

Viskositätskoeffizienten) die Gleichungen<br />

∂tn + div(nu) = 0, (4.32)<br />

∂t(nu) + div(nu ⊗ u) + ∇p − nF = ∇((λ + µ)divu) + µ∆u, (4.33)<br />

∂t(ne) + div(u(ne + p)) − (nu) · F = div(κ∇θ) (4.34)<br />

+∇u : τ + (λ + µ)u · ∇(divu) + µu · ∆u.<br />

In dieser Formulierung ist p eine Funktion von n und θ oder umgekehrt θ eine Funktion<br />

von n und p.<br />

112


4.4 Bluttransport durch Adern<br />

Das Rauchen von Zigaretten führt durch das in den Zigaretten enthaltene Nikotin zu ei-<br />

ner Verengung der Adern, die dann weniger Blut transportieren können. Diese Durchblu-<br />

tungsstörungen treten besonders in den Extre<strong>mit</strong>äten auf und können zu dem berüchtigten<br />

Raucherbein führen. In diesem Abschnitt beantworten wir die folgende Frage:<br />

Frage: Wieviel weniger Blut kann durch eine verengte Ader transportiert werden?<br />

Wir modellieren das Blut als eine Flüssigkeit durch ein dünnes Rohr <strong>mit</strong> Radius R (Abbil-<br />

dung 4.8). Die Länge L des Rohres sei viel größer als der Radius. Aus Symmetriegründen<br />

R<br />

u<br />

0 L<br />

x = z<br />

3<br />

Abbildung 4.8: Flüssigkeitsströmung in einem dünnen Rohr.<br />

können wir annehmen, daß die Geschwindigkeit u nur vom Abstand r von der Rohrachse<br />

abhängt. Außerdem vernachlässigen wir Strömungsanteile in x- und y-Richtung, so daß<br />

wir die Geschwindigkeit schreiben können als<br />

⎛<br />

u(x1, x2, x3) =<br />

⎜<br />

⎝<br />

0<br />

0<br />

u3(r)<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ . (4.35)<br />

Es ist ferner sinnvoll anzunehmen, daß das Blut homogen ist, d.h., die Dichte n ist örtlich<br />

konstant. Dies impliziert aus (4.32)<br />

divu = 0.<br />

Wir nennen Flüssigkeiten <strong>mit</strong> der Eigenschaft divu = 0 inkompressibel. Das bedeutet, daß<br />

die Dichte entlang jeder Trajektorie x(t), wobei x(t) das Problem<br />

x ′ (t) = u(x(t), t), t > 0, x(0) = x0,<br />

löst, konstant ist, denn dies ist äquivalent zu<br />

0 = d<br />

dt n(x(t), t) = ∂tn + u · ∇n,<br />

und ein Vergleich <strong>mit</strong> (4.32) ergibt divu = 0. Beachte, daß es inkompressible Flüssig-<br />

keiten <strong>mit</strong> n = const. geben kann. Unsere letzte Voraussetzung ist, daß wir stationäre<br />

Strömungen betrachten, d.h. ∂tn = 0 und ∂tu = 0.<br />

113


Wir wollen aus den Navier-Stokes-Gleichungen die Geschwindigkeit bestimmen. Die<br />

obigen Voraussetzungen einer homogenen und stationären Flüssigkeit vereinfachen (4.32)–<br />

(4.33) zu<br />

div(u ⊗ u) + ∇p = µ∆u, divu = 0.<br />

Der Einfachheit halber haben wir hier n = 1 angenommen. Wegen (4.35) lautet die letzte<br />

Gleichung ∂u3/∂x3 = 0, also<br />

<br />

div(u ⊗ u) =<br />

3<br />

3 ∂<br />

(uju3) =<br />

∂xj<br />

∂<br />

(u<br />

∂x3<br />

2 3) = 0.<br />

j=1<br />

Es bleibt zu lösen:<br />

∂p<br />

∂x3<br />

= µ∆u3. (4.36)<br />

Nun herrscht in dem Rohr ein Druckabfall; wir nehmen an, daß der Druck linear<br />

abfällt, d.h.<br />

∂p<br />

=<br />

∂x3<br />

p(L) − p(0)<br />

< 0.<br />

L<br />

Es ist zweckmäßig, die Gleichung (4.36) in Zylinderkoordinaten zu lösen. Der Laplace-<br />

Operator in Zylinderkoordinaten<br />

lautet<br />

x1 = r sin φ, x2 = r cos φ, x3 = x3<br />

∆ = 1<br />

r<br />

<br />

∂<br />

r<br />

∂r<br />

∂<br />

<br />

+<br />

∂r<br />

1<br />

r2 Übungsaufgabe: Beweisen Sie diese Beziehung.<br />

∂2 ∂2<br />

+<br />

∂φ2 ∂x2 .<br />

3<br />

Da u3 nur vom Radius r abhängt, erhalten wir schließlich aus (4.36)<br />

1<br />

r<br />

d<br />

dr<br />

<br />

r d<br />

dr<br />

<br />

u3(r) =<br />

p(L) − p(0)<br />

, 0 < r < R. (4.37)<br />

µL<br />

Als Randbedingungen nehmen wir an, daß u3 an r = 0 endlich ist und daß die Flüssigkeit<br />

am Rand r = R haftet:<br />

u3(0) = u, u3(R) = 0. (4.38)<br />

Die Gleichung (4.37) kann einfach durch Integration gelöst werden:<br />

u3(r) =<br />

p(L) − p(0)<br />

r<br />

4µL<br />

2 + c1 ln r + c2.<br />

Aus (4.38) ergibt sich c1 = 0 und c2 = −p(L) − p(0))R 2 /4µ und da<strong>mit</strong><br />

u3(r) =<br />

p(L) − p(0)<br />

(r<br />

4µL<br />

2 − R 2 ).<br />

114


Wieviel Blut fließt durch das Rohr? Durch eine Ringfläche, deren Mittelpunkt auf der<br />

Rohrachse liegt und deren Radien r und r + dr sind, fließt pro Sekunde die Blutmenge<br />

2πru3(r)dr. Durch den vollen Röhrenquerschnitt fließt pro Sekunde das Flüssigkeitsvolu-<br />

men<br />

R<br />

V =<br />

0<br />

2πru3(r) dr = π<br />

R<br />

(p(L) − p(0)) r(r<br />

2µL 0<br />

2 − R 2 ) dr = π<br />

8µL (p(0) − p(L))R4 .<br />

Man nennt diese Beziehung das Hagen-Poiseuillesche Gesetz. Es lehrt, daß schon eine<br />

geringfügige Verkleinerung des Rohrradius’ R eine beträchtliche Verringerung der durch-<br />

strömenden Flüssigkeitsmenge zur Folge hat. Wird etwa der Radius einer Ader infolge des<br />

Nikotins halbiert, so fließt nur noch (1/2) 4 ≈ 6% der ursprünglichen Blutmenge durch die<br />

Ader.<br />

4.5 Strömung um einen Tragflügel<br />

In diesem Abschnitt gehen wir der Frage nach, wie eine Flüssigkeit oder ein Gas einen<br />

Körper, z.B. einen Flugzeugtragflügel, umströmt. Um das Problem zu vereinfachen, be-<br />

trachten wir eine homogene, stationäre, zweidimensionale, nicht-viskose Strömung. Gemäß<br />

dem letzten Abschnitt bedeutet dies, daß die Geschwindigkeit u = (u1, u2) ⊤ und der Druck<br />

p den Gleichungen<br />

divu = 0, n0(u · ∇)u + ∇p = 0 (4.39)<br />

genügen, die aus (4.26)–(4.27) folgen. Die Homogenitätsvoraussetzung impliziert, daß die<br />

Dichte n = n0 konstant ist. Unser Ziel ist es, die obigen Gleichungen weiter zu vereinfa-<br />

chen. Definiere dafür die sogenannte Wirbeldichte<br />

rotu := ∂u2<br />

∂x1<br />

− ∂u1<br />

.<br />

∂x2<br />

Wir behaupten, daß die Wirbeldichte entlang der Teilchenbahnen verschwindet.<br />

Lemma 4.1 Es gilt<br />

wobei x ′ (t) = u(x(t), t), t > 0.<br />

Beweis: Wir verwenden die Abkürzungen<br />

rotu(x(t), t) = const. für alle t > 0,<br />

∂iuj = ∂uj<br />

, i, j = 1, 2.<br />

∂xi<br />

115


Differenzieren wir die u1-Komponente der zweiten Gleichung von (4.39) nach x2 und die<br />

u2-Komponente nach x1 und subtrahieren die entstehenden Gleichungen, erhalten wir<br />

und wegen 0 = divu = ∂1u1 + ∂2u2<br />

Daher ist wegen ∂u/∂t = 0<br />

0 = ∂2(u1∂1u1 + u2∂2u1) − ∂1(u1∂1u2 + u2∂2u2)<br />

= u1∂1(∂2u1 − ∂1u2) + u2∂2(∂2u1 − ∂1u2)<br />

+∂2u1(∂1u1 + ∂2u2) − ∂1u2(∂1u1 + ∂2u2)<br />

0 = u · ∇rotu.<br />

d<br />

dt rotu(x(t)) = x′ · ∇rotu = u · ∇rotu = 0.<br />

Das Lemma ist bewiesen. <br />

Wir suchen nun spezielle ebene, homogene, stationäre Strömungen <strong>mit</strong><br />

divu = 0, rotu = 0. (4.40)<br />

Strömungen, die (4.40) erfüllen, nennen wir Potentialströmungen. Wegen rotu = 0 in<br />

einem (einfach zusammenhängenden) Gebiet existiert nämlich ein Geschwindigkeitspo-<br />

tential φ, so daß u = ∇φ oder<br />

∆φ = 0<br />

gilt. Haben wir diese Gleichung gelöst (<strong>mit</strong> noch zu spezifizierenden Randbedingungen),<br />

können wir die Geschwindigkeit gemäß u = ∇φ berechnen. Wie können wir die zweite<br />

Variable, den Druck p, bestimmen?<br />

Lemma 4.2 Wenn rotu = 0 in Γ, dann gilt die Bernoulli-Gleichung<br />

Beweis: Wegen<br />

<br />

1<br />

2 ∇|u|2 <br />

− (u · ∇)u<br />

1<br />

<br />

1<br />

2 ∇|u|2 <br />

− (u · ∇)u<br />

2<br />

n0<br />

2 |u|2 + p = const. in Γ.<br />

= u1∂1u1 + u2∂1u2 − (u1∂1u1 + u2∂2u1)<br />

= −u2(∂2u1 − ∂1u2),<br />

= u1∂2u1 + u2∂2u2 − (u1∂1u2 + u2∂2u2)<br />

= u1(∂2u1 − ∂1u2)<br />

116


folgt<br />

und daher aus (4.39)<br />

1<br />

2 ∇|u|2 − (u · ∇)u =<br />

<br />

−u2<br />

· rotu = 0<br />

u1<br />

<br />

n0<br />

0 = n0(u · ∇)u + ∇p = ∇<br />

2 |u|2 <br />

+ p .<br />

Die Behauptung folgt durch Integration. <br />

Ω<br />

x 2<br />

R<br />

Abbildung 4.9: Umströmung eines Kreiszylinders.<br />

Wir untersuchen nun die Umströmung eines Kreiszylinders <strong>mit</strong> Radius R (Abbil-<br />

dung 4.9) und Mittelpunkt im Koordinatenursprung. Wir nehmen an, daß die Geschwin-<br />

digkeit und der Druck weit vom Hindernis entfernt konstant ist und daß die Normalen-<br />

komponente der Geschwindigkeit am Rand des Hindernisses verschwindet:<br />

u →<br />

u∞<br />

0<br />

<br />

, p → p∞ (|x| → ∞) und u · ν = 0 auf ∂Ω.<br />

Hierbei ist ν der äußere Normaleneinheitsvektor auf ∂Ω. Gemäß den obigen Überlegungen<br />

sind u = ∇φ und p Lösungen von<br />

∆φ = 0 in R 2 \Ω, ∇φ · ν = 0 auf ∂Ω, ∇φ →<br />

und (siehe Lemma 4.2)<br />

ν<br />

ν<br />

<br />

u∞<br />

0<br />

x 1<br />

(|x| → ∞) (4.41)<br />

p = p∞ + n0<br />

2 (|u∞| 2 − |u| 2 ) in R 2 \Ω. (4.42)<br />

117


Wir transformieren das Randwertproblem (4.41) in Polarkoordinaten. Mit x1 = r cos α,<br />

x2 = r sin α folgt<br />

∇φ =<br />

und da<strong>mit</strong> zum einen<br />

und zum anderen aus<br />

<br />

φr cos α − φαr−1 sin α<br />

φr sin α + φαr−1 <br />

, ∆φ =<br />

cos α<br />

1<br />

r (rφr)r + 1<br />

r<br />

2 φαα<br />

(4.43)<br />

r(rφr)r + φαα = 0, r > R, 0 ≤ α < 2π, (4.44)<br />

φr cos α − φα sin α<br />

r → u∞, φr sin α + φα cos α<br />

r<br />

durch geschickte Linearkombination<br />

φr → u∞ cos α,<br />

und wegen ν = (cos α, sin α) ⊤<br />

→ 0 (|x| → ∞)<br />

1<br />

r φα → −u∞ sin α für |x| → ∞ (4.45)<br />

0 = ∇φ · ν = (cos 2 α + sin 2 α)φr = φr, r = R, 0 ≤ α < 2π. (4.46)<br />

Das Problem (4.44)–(4.46) kann durch Separation der Variablen gelöst werden, d.h.,<br />

wir machen den Ansatz φ(r, α) = f(r)g(α) in (4.44):<br />

r(rfr)r<br />

f<br />

= − gαα<br />

g<br />

=: c ∈ R.<br />

Die linke Seite der Gleichung hängt nur von r, die rechte nur von α ab; also sind beide<br />

Seiten konstant. Da g eine 2π-periodische Funktion sein soll, folgt c = 1 und<br />

g(α) = c1 cos α + c2 sin α.<br />

Um die verbleibende Gleichung r(rfr)r = f zu lösen, machen wir den Ansatz f(r) = r β :<br />

Die allgemeine Lösung lautet also<br />

r β = f(r) = r(rfr)r = β 2 r β =⇒ β = ±1.<br />

f(r) = r + c3<br />

r .<br />

Eine Integrationskonstante genügt, da die zweite <strong>mit</strong> den Konstanten c1 und c2 integriert<br />

werden kann. Die drei Konstanten c1, c2, c3 bestimmen wir aus den drei Randbedingungen<br />

(4.45)–(4.46):<br />

<br />

0 = φr(R, α) = g(α) 1 − c3<br />

R2 <br />

118<br />

=⇒ c3 = R 2 .


Aus (4.45) und<br />

φr(r, α) =<br />

<br />

(c1 cos α + c2 sin α) 1 − c3<br />

r2 1<br />

r<br />

<br />

→ c1 cos α + c2 sin α<br />

φα(r, α) =<br />

<br />

(−c1 sin α + c2 cos α) 1 + c3<br />

r2 <br />

→ −c1 sin α + c2 cos α<br />

für r → ∞ folgt<br />

c1 cos α + c2 sin α = u∞ cos α, −c1 sin α + c2 cos α = −u∞ sin α.<br />

Setzen wir α = π/2 ein, erhalten wir aus der ersten Gleichung c2 = 0 und aus der zweiten<br />

Gleichung c1 = u∞. Die Lösung lautet also<br />

<br />

φ(r, α) = u∞ cos α r + R2<br />

<br />

,<br />

r<br />

r ≥ R, 0 ≤ α < 2π.<br />

Wie können wir die Strömung visualisieren? Dazu betrachten wir die komplexe Erwei-<br />

terung des Geschwindigkeitspotentials<br />

<br />

F (z) = u∞ z + R2<br />

<br />

, |z| ≥ R.<br />

z<br />

Wir nennen F das komplexe Geschwindigkeitspotential. Der Realteil von F ist gerade φ.<br />

Allgemein schreiben wir für z = x1 + ix2<br />

F (z) = φ(x1, x2) + iψ(x1, x2),<br />

wobei wir φ(r, α) und φ(x1, x2) <strong>mit</strong>einander identifizieren. Die Funktion F ist in {|z| ≥ R}<br />

analytisch, also gelten die Cauchy-Riemannschen <strong>Differentialgleichungen</strong><br />

u1 = ∂φ<br />

∂x1<br />

= ∂ψ<br />

, u2 =<br />

∂x2<br />

∂φ<br />

∂x2<br />

= − ∂ψ<br />

.<br />

∂x1<br />

Dies impliziert<br />

∂ψ ∂ψ<br />

u · ∇ψ = u1 + u2 = 0,<br />

∂x1 ∂x2<br />

und daher sind die Teilchenbahnen durch die Gleichung ψ(x1, x2) = const. gegeben (Ab-<br />

bildung 4.10). Wir nennen die Teilchenbahnen auch Stromlinien; sie sind die Konturlinien<br />

von Im F . In Abbildung 4.11 sind diese Konturlinien dargestellt. Die Geschwindigkeit<br />

verschwindet genau dann, wenn sin α = 0 und r = R, also gerade an den beiden Punkten<br />

(−R, 0) und (R, 0).<br />

Nach (4.42) ist der Druck maximal an diesen Punkten; sie werden auch Staupunk-<br />

te genannt. Diese symmetrische Druckverteilung kann keine resultierende Kraft auf den<br />

Kreiszylinder ausüben. Um sie <strong>mit</strong> konstanter Geschwindigkeit durch die ruhende Flüssig-<br />

keit (oder das ruhende Gas) zu ziehen, bräuchte man keine Kraft. Dieser Widerspruch zur<br />

119


y<br />

Δ<br />

ψ<br />

ψ = const.<br />

Abbildung 4.10: Zur Beziehung u · ∇ψ = 0.<br />

2.5<br />

2<br />

1.5<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

−0.5<br />

−1<br />

−1.5<br />

−2<br />

−2.5<br />

−3 −2 −1 0 1 2 3<br />

x<br />

Abbildung 4.11: Stromlinien um einen Kreiszylinder <strong>mit</strong> Radius R = 1 und Grenzge-<br />

schwindigkeit u∞ = 1.<br />

Erfahrung löst sich folgendermaßen: Im ersten Anlaufen der Strömung sieht das Strom-<br />

linienbild wie in Abbildung 4.11 aus. Nach kurzer Zeit ändert jedoch die unvermeidliche<br />

Reibung in einer Grenzschicht um den Kreiszylinder und beim Wiederzusammenlaufen<br />

der Flüssigkeit hinter dem Kreiszylinder das Strömungsbild; es treten Wirbel hinter dem<br />

Hindernis auf, die Stromlinien und da<strong>mit</strong> auch der Druck sind nicht mehr symmetrisch<br />

verteilt.<br />

Streng genommen existiert keine globale Potentialströmung auf dem Außenraum R 2 \Ω,<br />

da dieses Gebiet nicht einfach zusammenhängend ist. Wir müssen eigentlich eine Lösung<br />

φ suchen von<br />

<strong>mit</strong> den Randbedingungen<br />

und<br />

∆φ = 0 in R 2 \(Ω ∪ R + ) (4.47)<br />

∇φ · ν = 0 auf ∂Ω, ∇φ →<br />

<br />

u∞<br />

0<br />

u<br />

(|x| → ∞) (4.48)<br />

φr und φα 2π-periodisch bezüglich α. (4.49)<br />

120


Die letzte Bedingung stellt sicher, daß die Geschwindigkeit u = ∇φ stetig in R 2 \Ω ist.<br />

Das Gebiet R 2 \(Ω∪R + ) ist einfach zusammenhängend, so daß die Lösung von (4.47) Sinn<br />

macht. Allerdings verlieren wir die Stetigkeit von φ auf R2 \Ω. Die Funktionen<br />

<br />

φ(r, α) = −Aα + u∞ cos α r + R2<br />

<br />

,<br />

r<br />

r ≥ R, α ∈ R, (4.50)<br />

sind für alle A ∈ R Lösungen von (4.47)–(4.49). Da wir den Parameter A ∈ R beliebig<br />

wählen können, ist die Lösung des Strömungsproblems nicht eindeutig bestimmt.<br />

Übrigens entspricht die Abbildung φA(r, α) = −Aα einem Rotationsfeld<br />

uA(r, α) := ∇φA(r, α) = A<br />

r2 <br />

x2<br />

−x1<br />

(siehe (4.43) für ∇φA in Polarkoordinaten). Die Funktion ∇ψA = (x1, x2) ⊤ steht senkrecht<br />

auf der Geschwindigkeit uA, und es gilt ψA(x1, x2) = (x 2 1 + x 2 2)/2. Die Stromlinien von uA<br />

sind also konzentrische Kreise um den Ursprung (Abbildung 4.12).<br />

x 2<br />

v v v<br />

Abbildung 4.12: Stromlinien zu uA(x1, x2) = −A/(x 2 1 + x 2 2) · (x2, −x1) ⊤ .<br />

Übungsaufgabe: Das komplexe Geschwindigkeitspotential zu (4.50) lautet<br />

F (z) = Ai ln z<br />

+ u∞<br />

R<br />

<br />

z + R2<br />

z<br />

Zeichnen Sie die Stromlinien für 0 < A < 2Ru∞ und A > 2Ru∞ (u∞ > 0).<br />

Ein Kreiszylinder ist keine sehr effektive Tragfläche. Ein verhältnismäßig realistischer<br />

Tragflügelquerschnitt wird durch die sogenannte Joukowski-Transformation<br />

<br />

.<br />

J(z) := z + c2<br />

z , z ∈ ∂BR(z0) = {|z − z0| = R},<br />

<strong>mit</strong> c = z0 +Re −iβ dargestellt (Abbildung 4.13). Das komplexe Geschwindigkeitspotential<br />

des Kreises um z0 ist durch<br />

F (z) = Ai ln<br />

z − z0<br />

R<br />

+ u∞<br />

121<br />

x 1<br />

<br />

z − z0 + R2<br />

<br />

z − z0


gegeben. Aus den Stromlinien ψ(z) = ImF (z) = const. für den Kreiszylinder können<br />

wir die entsprechenden Stromlinien um das Joukowski-Profil konstruieren. In der Tat:<br />

Da J eine konforme (d.h. winkeltreue) Abbildung ist, löst der Realteil des komplexen<br />

Geschwindigkeitspotentials<br />

γ<br />

u<br />

8<br />

z<br />

0<br />

β<br />

x<br />

2<br />

R<br />

c<br />

x 1<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

−1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5<br />

Abbildung 4.13: Der Kreis um z0 <strong>mit</strong> Radius R (links) wird durch die Joukowski-<br />

Transformation auf das Joukowski-Profil (rechts) abgebildet. Für die rechte Abbildung<br />

haben wir R = 1, β = π/10 und c = 3/4 gewählt. Der Punkt c wird auf die Hinterkante<br />

2c abgebildet.<br />

G(w) := F (J −1 (w)), w ∈ J(R 2 \BR(z0)),<br />

das Strömungsproblem. Sei nämlich φJ(w) := ReG(w). Dann ist ∆φJ = 0 (denn G(w) ist<br />

analytisch),<br />

∇φJ(w) = ReF ′ (J −1 (w))<br />

J ′ (J −1 (w))<br />

= ∇φ(z)<br />

J ′ (z) →<br />

<br />

u∞<br />

0<br />

(|w| → ∞),<br />

wobei φ = ReF durch (4.50) gegeben ist, w = J(z) und J ′ (z) = 1 − c 2 /z 2 → 1 (|z| → ∞),<br />

sowie<br />

∇φJ(w) · ν =<br />

∇φ(z) · ν<br />

J ′ (z)<br />

Die Stromlinien sind durch die Gleichung<br />

gegeben.<br />

= 0, w ∈ J(∂BR(z0)).<br />

ψJ(w) = ImG(w) = const.<br />

Die Strömung um einen Tragflügel kann realistischer modelliert werden, wenn die Trag-<br />

fläche durch eine um den Winkel γ gedrehte Strömung umflossen wird (Abbildung 4.13).<br />

122


In diesem Fall lautet das komplexe Geschwindigkeitspotential<br />

F (z) = Ai ln<br />

Diese Lösung hat zwei Nachteile:<br />

z − z0<br />

R<br />

+ u∞<br />

Da A ∈ R beliebig, ist F nicht eindeutig gegeben.<br />

Die Geschwindigkeit<br />

∇φJ(w) = ∇φ(z)<br />

J ′ (z)<br />

<br />

(z − z0)e −iγ + R2 e iγ<br />

z − z0<br />

<br />

.<br />

∇φ(z)<br />

=<br />

1 − c2 , w = J(z),<br />

/z2 ist singulär an den Punkten z = ±c bzw. w = ±2c. Dies bedeutet, daß die Ge-<br />

schwindigkeit an der Hinterkante 2c nicht definiert ist.<br />

Beide Nachteile können auf einen Schlag beseitigt werden, wenn wir fordern, daß an der<br />

Hinterkante ein Staupunkt ist, d.h., daß an der Hinterkante die Geschwindigkeit ver-<br />

schwindet. Dies ist eine rein heuristische Forderung, die erfüllt ist, wenn F ′ (c) = 0. Da<strong>mit</strong><br />

kann der Parameter A festgelegt werden. Es folgt wegen c − z0 = Re−iβ :<br />

0 = F ′ (c) = Ai<br />

<br />

+ u∞ e<br />

c − z0<br />

−iγ − R2eiγ (c − z0) 2<br />

<br />

= Ai<br />

R eiβ −iγ i(γ+2β)<br />

+ u∞ e − e <br />

und folglich<br />

−i(γ+β) i(γ+β)<br />

A = iRu∞ e − e = 2Ru∞ sin(β + γ).<br />

Die Strömung um den Joukowski-Tragflügel haben wir da<strong>mit</strong> bestimmt.<br />

4.6 Hele-Shaw-Strömung<br />

Erdöl kann dadurch aus einem porösen Boden extrahiert werden, daß Wasser in den<br />

Boden gepumpt wird und das Erdöl durch spezielle Röhren nach oben drückt. Wegen der<br />

verschiedenen Zähigkeit (bzw. Viskosität) von Erdöl und Wasser können sich “Finger”<br />

ausbilden, die den Ertrag verringern (Abbildung 4.14). In diesem Abschnitt wollen wir<br />

eine Gleichung für die zeitliche Evolution des Randes ∂Ω(t) zwischen zwei verschieden<br />

viskosen Flüssigkeiten herleiten. Vereinfachend nehmen wir an, daß sich die Flüssigkeit<br />

zwischen zwei parallelen unendlich ausgedehnten Platten im Abstand 2h > 0 bewegt<br />

und dabei Luft verdrängt (Abbildung 4.15). Man nennt die Bewegung eine Hele-Shaw-<br />

Strömung. Die Bewegung der Flüssigkeit ist durch die Navier-Stokes-Gleichungen<br />

∂tn + div(nu) = 0,<br />

∂t(nu) + div(nu ⊗ u) + ∇p = ∇((λ + µ)divu) + µ∆u<br />

für die Teilchendichte n = n(x, t) und Geschwindigkeit u = u(x, t) gegeben. Wir machen<br />

die folgenden Annahmen:<br />

123


Wasser<br />

Ω (t)<br />

Abbildung 4.14: Die Verdrängung von Erdöl durch Wasser führt zur Bildung von “Fin-<br />

gern”.<br />

y<br />

z<br />

h<br />

−h<br />

)ο Ω (t)<br />

x<br />

Erdöl<br />

Abbildung 4.15: Geometrie zweier paralleler Platten.<br />

Die Flüssigkeit sei homogen (n = n0 = const.) und stationär (∂tu = 0).<br />

Der halbe Plattenabstand h sei so klein, daß es keine Strömung in z-Richtung gibt,<br />

d.h. u = (u1, u2, 0) ⊤ .<br />

Die Ableitungen von u nach x1 und x2 seien vernachlässigbar verglichen <strong>mit</strong> den<br />

Ableitungen von u nach x3.<br />

An den Platten ruhe die Flüssigkeit: u = 0 auf x3 = ±h.<br />

Die erste Voraussetzung impliziert<br />

Wegen divu = 0 gilt<br />

divu = 0, n0div(u ⊗ u) + ∇p = µ∆u.<br />

div(u ⊗ u)i = ∂<br />

(ujui) =<br />

∂xj<br />

<br />

j<br />

124<br />

j<br />

uj<br />

∂<br />

ui = (u · ∇)ui,<br />

∂xj


so daß wir die zweite Gleichung auch schreiben können als<br />

Aus der zweiten und dritten Voraussetzung folgt<br />

Da<strong>mit</strong> wird (4.51) zu<br />

n0(u · ∇)u + ∇p = µ∆u. (4.51)<br />

∂u ∂u<br />

⎜<br />

(u · ∇)u = u1 + u2 ≈ 0, ∆u ≈ ⎝<br />

∂x1 ∂x2<br />

∇p = µ ∂2<br />

∂x 2 3<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

u1<br />

u2<br />

0<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

⎛<br />

∂ 2 u1/∂x 2 3<br />

∂ 2 u2/∂x 2 3<br />

0<br />

Insbesondere ist ∂p/∂x3 = 0, d.h., der Druck ist eine Funktion nur von x1 und x2. Inte-<br />

grieren wir<br />

∂x1<br />

bezüglich x3, so erhalten wir, da ∂p/∂x1 konstant bezüglich x3 ist,<br />

∂p<br />

= µ ∂2 u1<br />

∂x 2 3<br />

u1(x1, x2, x3) = A(x1, x2) + B(x1, x2)x3 + x2 3<br />

2µ<br />

∂p<br />

∂x1<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠ .<br />

− h ≤ x3 ≤ h.<br />

Die Integrationskonstanten können aus der Randbedingung u = 0 für x3 = ±h (vierte<br />

Voraussetzung) bestimmt werden: A = −(h 2 /2µ)∂p/∂x1 und B = 0. Da<strong>mit</strong> folgt<br />

u1(x1, x2, x3) = − h2 − x 2 3<br />

2µ<br />

∂p<br />

(x1, x2).<br />

∂x1<br />

Analog ist<br />

u2(x1, x2, x3) = − h2 − x2 3 ∂p<br />

(x1, x2).<br />

2µ ∂x2<br />

Wir <strong>mit</strong>teln über x3 ∈ (−h, h), um einen Geschwindigkeitsvektor zu erhalten, der nur<br />

noch von x1 und x2 abhängt:<br />

v1 := 1<br />

2h<br />

h<br />

u1 dx3 = −<br />

−h<br />

1<br />

4µh<br />

∂p<br />

∂x1<br />

h<br />

−h<br />

(h 2 − x 2 3) dx3 = − h2<br />

3µ<br />

∂p<br />

,<br />

∂x1<br />

und analog v2 = −(h 2 /3µ)∂p/∂x2. Definieren wir v = (v1, v2) ⊤ , so erhalten wir die<br />

Strömungsgleichungen<br />

v = − h2<br />

∇p, divv = 0.<br />

3µ<br />

Insbesondere erfüllt p die Laplace-Gleichung ∆p = 0 in der Flüssigkeit. Wir können die<br />

Variablen so umskalieren, daß<br />

v = −∇p, ∆p = 0 in Ω(t) (4.52)<br />

125


gilt, wobei Ω(t) ⊂ R 2 die zweidimensionale Projektion des Flüssigkeitsgebietes sei.<br />

Wir wollen eine Gleichung herleiten, die die zeitliche Entwicklung der Grenzkurve<br />

∂Ω(t) beschreibt. Dazu nehmen wir an, daß der Druck konstant auf ∂Ω(t) ist. Diese<br />

Voraussetzung ist näherungsweise erfüllt, wenn die Krümmung des Randes ∂Ω(t) nicht<br />

zu groß ist. Anderenfalls gilt p = γκ auf ∂Ω(t), wobei κ die Krümmung von ∂Ω(t) und γ<br />

den Koeffizient der Oberflächenspannung bezeichne. Durch Wahl eines Referenzpunktes<br />

für den Druck können wir also<br />

p = 0 auf ∂Ω(t) (4.53)<br />

voraussetzen. Entlang der Trajektorien (x(t), y(t)) ⊤ <strong>mit</strong> (x, y) ′ = v gilt dann<br />

0 = d<br />

dt p(x(t), y(t), t) = ∇p · (x′ (t), y ′ (t)) ⊤ + ∂p<br />

∂t = pt + v · ∇p auf ∂Ω(t).<br />

Aus (4.52) folgt<br />

pt − |∇p| 2 = 0 auf ∂Ω(t). (4.54)<br />

Wir nehmen nun an, daß sich in Ω(t) eine Quelle bzw. Senke befindet:<br />

p(x, y) ∼ − Q<br />

2π ln(x2 + y 2 ) 1/2<br />

für (x, y) → (0, 0). (4.55)<br />

Hierbei gelte ohne Einschränkung (0, 0) ∈ Ω(t) 0 . Die Notation bedeutet, daß im Grenzwert<br />

(x, y) → (0, 0) der Quotient p/(−Q/2π) ln(x 2 + y 2 ) 1/2 gegen Eins konvergiert.<br />

Das Randwertproblem (4.52) und (4.53) (oder (4.54)) zusammen <strong>mit</strong> der Bedingung<br />

(4.55) ist ein freies Randwertproblem, da wir neben dem Druck noch den freien Rand<br />

∂Ω(t) bestimmen müssen. Wir bestimmen den Rand, indem wir ihn auf den Rand des<br />

Einheitskreises transformieren. Dazu setzen wir z = x + iy und transformieren Ω(t) auf<br />

den Einheitskreis {ζ ∈ C : |ζ| < 1}. Ist Ω(t) endlich und einfach zusammenhängend,<br />

so existiert nach dem Abbildungssatz von Riemann eine Funktion f <strong>mit</strong> den folgenden<br />

Eigenschaften:<br />

f(·, t) : {|ζ| ≤ 1} → Ω(t), z = f(ζ, t),<br />

und f({|ζ| = 1}) = ∂Ω(t), ζ ↦→ ζf(ζ, t) ist analytisch und (für ζ = 0) reell und positiv.<br />

Außerdem gilt ∂f/∂ζ = 0.<br />

Welcher Differentialgleichung genügt f? Dazu müssen wir den Druck auf die ζ-Ebene<br />

transformieren. Sei w(z) = p(x, y) + iψ(x, y) der komplexe Druck. Dann gilt<br />

denn<br />

w(f(ζ, t)) = − Q<br />

ln ζ, (4.56)<br />

2π<br />

∆p = Re∆w = 0 in {|ζ| < 1}, p = − Q<br />

ln |ζ| = 0 auf {|ζ| = 1}<br />

2π<br />

126


und<br />

p ∼ − Q<br />

ln |ζ|<br />

2π<br />

für ζ → 0.<br />

Es bleibt die Gleichung (4.54) zu transformieren. Es gilt auf |ζ| = 1 wegen (4.54):<br />

Aus (4.56) folgt einerseits<br />

und andererseits<br />

also<br />

Da<strong>mit</strong> ergibt sich aus (4.57)<br />

oder<br />

− Q<br />

2π<br />

−Re<br />

= Re<br />

<br />

Q<br />

2π<br />

ζ ∂f<br />

∂ζ<br />

<br />

ζ ∂f<br />

∂ζ<br />

<br />

<br />

<br />

<br />

2 <br />

<br />

∂w<br />

<br />

Re (f(ζ, t)) = <br />

dw <br />

∂t (f(ζ, t)) <br />

dz <br />

dw<br />

dz<br />

∂w<br />

∂ζ<br />

∂w<br />

∂ζ<br />

= − Q<br />

2π<br />

= dw<br />

dz<br />

<br />

−1 <br />

∂f dw<br />

= Re<br />

∂t dz<br />

ζ ∂f<br />

∂ζ<br />

1<br />

ζ<br />

∂f<br />

∂ζ ,<br />

<br />

Q<br />

= − ζ<br />

2π<br />

∂f<br />

−1 .<br />

∂ζ<br />

<br />

−1 <br />

∂f<br />

= Re ζ<br />

∂t<br />

∂f<br />

∂ζ<br />

<br />

∂f<br />

= Re<br />

∂t<br />

<br />

∂f<br />

∂t<br />

2<br />

<br />

∂w<br />

=<br />

∂t<br />

. (4.57)<br />

<br />

<br />

Q<br />

<br />

2π<br />

<br />

= Re ζ ∂f<br />

∂ζ<br />

<br />

ζ ∂f<br />

<br />

−1<br />

2 <br />

∂ζ<br />

<br />

∂f<br />

, |ζ| = 1. (4.58)<br />

∂t<br />

Jede injektive Funktion f, die die obigen Eigenschaften und (4.58) erfüllt, liefert eine<br />

Lösung der Hele-Shaw-Strömung.<br />

Form<br />

Als Beispiel wollen wir untersuchen, welche Hele-Shaw-Strömungen Funktionen der<br />

f(ζ, t) =<br />

n<br />

ak(t)ζ k , ak(t) reell,<br />

k=−1<br />

ergeben. Setzen wir diese Definition in (4.58) ein, sortieren nach Potenzen von ζ k und<br />

identifizieren die Koeffizienten der ζ k -Terme, erhalten wir<br />

n<br />

k=−1<br />

für den ζ 0 -Term und für die restlichen Terme:<br />

kaka ′ k = − Q<br />

2π<br />

(4.59)<br />

n−j <br />

(kaka ′ k+j + (k + j)ak+ja ′ k) = 0, j = 1, . . . , n + 1. (4.60)<br />

k=−1<br />

127


Dies sind gewöhnliche <strong>Differentialgleichungen</strong> für a−1, . . . , an <strong>mit</strong> den Anfangswerten<br />

die sich aus der Transformation<br />

aj(0) = αj, j = −1, . . . , n, (4.61)<br />

f(ζ, 0) =<br />

n<br />

αkζ k<br />

des gegebenen Gebietes Ω(0) ergeben. Wir behaupten nun: Die Lösung von (4.60)–(4.61)<br />

kann nicht für alle t ≥ 0 existieren, wenn n ≥ 2 und Q > 0. Um dies einzusehen, schreiben<br />

wir (4.60) für j = n + 1:<br />

Dies ist äquivalent zu<br />

Integration ergibt<br />

n a′ −1<br />

−<br />

a−1<br />

a′ n<br />

an<br />

k=−1<br />

−a−1a ′ n + nana ′ −1 = 0.<br />

= 0 und<br />

an(t) = αn<br />

Die Gleichung (4.59) ist äquivalent zu<br />

<br />

n<br />

d<br />

dt<br />

was nach Integration<br />

n<br />

k=−1<br />

k=−1<br />

liefert. Wir formulieren diese Gleichung um:<br />

a 2 −1(t) = α 2 −1 + Qt<br />

π +<br />

a−1(t)<br />

ka 2 k<br />

<br />

α−1<br />

d an<br />

ln<br />

dt an −1<br />

= 0.<br />

n<br />

. (4.62)<br />

= − Q<br />

π ,<br />

k(a 2 k(t) − α 2 k) = − Qt<br />

π<br />

da Q > 0. Andererseits folgt aus dieser Gleichung und (4.62)<br />

oder<br />

n<br />

k(a 2 k(t) − α 2 k) → ∞ für t → ∞, (4.63)<br />

k=1<br />

a 2 −1(t) = Qt<br />

π + nα2 nα −2n<br />

−1 a 2n<br />

n−1<br />

−1(t) + k(a 2 k(t) − α 2 k) + α 2 −1 − nα 2 n<br />

≥ nα 2 nα −2n<br />

−1 a 2n<br />

−1(t) −<br />

a 2 <br />

−1(t) 1 − nα 2 nα −2n<br />

n<br />

k=1<br />

kα 2 k<br />

−1 a 2(n−1)<br />

−1<br />

128<br />

k=1<br />

<br />

(t) ≥<br />

n<br />

k=1<br />

kα 2 k > −∞.


Die linke Seite konvergiert jedoch für t → ∞ wegen (4.63) gegen −∞; Widerspruch.<br />

Folglich kann die Lösung von (4.60)–(4.61) nur in einem endlichen Zeitintervall existieren.<br />

Physikalisch erwarten wir natürlich zeitlich globale Lösungen. Was ist passiert? Dazu<br />

betrachten wir die spezielle Funktion<br />

Die Gleichungen (4.59) und (4.60) ergeben<br />

also<br />

Seien α1, α2 > 0 so, daß<br />

f(ζ, t) = a1(t)ζ + a2(t)ζ 2 , |ζ| ≤ 1.<br />

d<br />

dt (a21 + 2a 2 2) = − Q<br />

π ,<br />

Dann folgt aus (4.64)–(4.65)<br />

1<br />

a1<br />

d<br />

dt (a2 1a2) = a1a ′ 2 + 2a2a ′ 1 = 0,<br />

a 2 1(t) + 2a 2 2(t) = − Qt<br />

π + (α2 1 + 2α 2 2), (4.64)<br />

a 2 1(t)a2(t) = α 2 1α2. (4.65)<br />

t ∗ = − π 2<br />

3(α<br />

Q<br />

1α2) 2/3 − (α 2 1 + 2α 2 2) > 0.<br />

a 2 1(t ∗ ) + 2a 2 2(t ∗ ) = − Qt∗<br />

π + α2 1 + 2α 2 2 = 3(α 2 1α2) 2/3 = 3(a 2 1(t ∗ )a2(t ∗ )) 2/3 .<br />

Diese Gleichung besitzt die Lösung a2(t ∗ ) = a1(t ∗ ). Dies impliziert jedoch<br />

∂f<br />

∂ζ (ζ, t∗ ) = a1(t ∗ ) + 2a2(t ∗ )ζ = a1(t ∗ ) − a2(t ∗ ) = 0<br />

für ζ = −1/2, d.h., f(ζ, t ∗ ) ist nicht mehr injektiv, und die Transformation ist nicht<br />

mehr zulässig. Dies ist ein mathematisches Argument. Was ist der physikalische Grund?<br />

Zeichnet man den Rand z ∈ ∂Ω(t), d.h.<br />

z = f(ζ, t) = a1(t)ζ + a2(t)ζ 2 , |ζ| = 1,<br />

so ergibt sich bei t = t ∗ eine Singularität (Abbildung 4.16). Die Singularität bedeutet, daß<br />

die Krümmung des Randes unendlich wird. Nun ist bei der Herleitung vorausgesetzt wor-<br />

den, daß die Krümmung nicht zu groß werden darf. Diese Voraussetzung ist also verletzt.<br />

In realen Flüssigkeiten verhindert die Oberflächenspannung derartige Singularitäten. Da<br />

wir die Oberflächenspannung vernachlässigt haben, ist das Auftreten von Singularitäten<br />

nicht erstaunlich. Freilich gibt es andere Funktionen f, bei denen keine Singularitäten<br />

auftreten (siehe die Literatur in [6]).<br />

129


Imaginärteil<br />

2<br />

1.5<br />

1<br />

0.5<br />

0<br />

−0.5<br />

−1<br />

−1.5<br />

−2<br />

−1.5 −1 −0.5 0 0.5 1 1.5 2<br />

Realteil<br />

Abbildung 4.16: Darstellung der Kurven {f(ζ, t) : |ζ| = 1} für t = 0, 0.8, 1.6, 1.942 <strong>mit</strong><br />

den Parameterwerten α1 = α2 = 1 und Q = −1.<br />

5 Diffusion<br />

5.1 Diffusionsgleichung<br />

In diesem Abschnitt wollen wir eine Gleichung herleiten, die die Diffusion von Teilchen<br />

oder allgemein von physikalischen Größen beschreibt. Wir beginnen <strong>mit</strong> einem Teilchen,<br />

das sich zur Zeit t = 0 an der Stelle x = 0 befindet und das sich in einer Zeitspanne △t<br />

aufgrund von Kollisionen <strong>mit</strong> gleicher Wahrscheinlichkeit nach links oder rechts um eine<br />

Weglänge △x bewegt. Mit welcher Wahrscheinlichkeit befindet sich das Teilchen zur Zeit<br />

tk = k · △t (k ∈ N) an der Stelle xn = n · △x (n ∈ Z)?<br />

Sei Xk des Ort des Teilchens zur Zeit tk, d.h. Xk ∈ △x · Z = {0, ±△x, ±2△x, . . .},<br />

und sei<br />

u(xn, tk) = P (Xk = xn)<br />

die Wahrscheinlichkeit, daß sich das Teilchen zur Zeit tk in xn befindet. Die Wahrschein-<br />

lichkeit kann rekursiv berechnet werden (Abbildung 5.1):<br />

u(xn, tk+1) = 1<br />

2 u(xn−1, tk) + 1<br />

2 u(xn+1, tk), (5.1)<br />

wenn n und k entweder beide gerade oder beide ungerade sind, und u(xn, tk+1) = 0 sonst.<br />

Die Anfangsbedingung lautet<br />

u(xn, 0) =<br />

<br />

1 : n = 0,<br />

0 : n = 0.<br />

(5.2)<br />

Übungsaufgabe: Berechnen Sie u(xn, tk) als Lösung der Rekursionsgleichungen (5.1)–<br />

(5.2).<br />

130


k=0<br />

k=1<br />

k=2<br />

k=3<br />

x −3<br />

Δ x<br />

1<br />

1/2 1/2<br />

1/4 2/4 1/4<br />

1/8 3/8 3/8 1/8<br />

x x x x x x<br />

−2 −1 0 1 2 3<br />

Abbildung 5.1: Stochastische Irrfahrt. Die Zahlen geben die Wahrscheinichkeiten an, daß<br />

sich das Teilchen zur Zeit tk an der entsprechenden Stelle befindet.<br />

Was geschieht, wenn sowohl △x als auch △t gegen Null gehen? Wir nehmen an, daß<br />

diese Konvergenz so ist, daß<br />

σ := (△x)2<br />

2△t<br />

konstant bleibt. Dann folgt aus (5.1)<br />

σ<br />

(△x) 2<br />

<br />

<br />

u(xn−1, tk) − 2u(xn, tk) + u(xn+1, tk) − 1<br />

<br />

<br />

u(xn, tk+1) − u(xn, tk)<br />

△t<br />

<br />

σ 1<br />

<br />

<br />

= − u(xn−1, tk) + u(xn+1, tk) − 2u(xn, tn)<br />

(△x) 2 2△t<br />

= 0.<br />

Im Grenzwert △x → 0 bzw. △t → 0 folgt aus dieser Differenzengleichung die partielle<br />

Differentialgleichung<br />

σuxx − ut = 0, x ∈ R, t > 0, (5.3)<br />

die wir Diffusionsgleichung nennen. Der Parameter σ > 0 ist der Diffusionskoeffizient.<br />

Übrigens gibt es einen Zusammenhang zwischen der Lösung von (5.3) und der stocha-<br />

stischen Irrfahrt, die durch Xk beschrieben wird. Wir können Xk formulieren als<br />

Xk =<br />

k<br />

Zj,<br />

j=1<br />

wobei Zj sogenannte (unabhängige) Zufallsvariablen sind, die <strong>mit</strong> Wahrscheinlichkeit 1/2<br />

den Wert −△x und <strong>mit</strong> Wahrscheinlichkeit 1/2 den Wert +△x annehmen, d.h., Zj ist<br />

eine (Zufalls-)Funktion <strong>mit</strong> Werten in {−△x, △x}. Wir definieren den Erwartungswert<br />

und die Varianz von Zj durch<br />

E(Zj) := −△x · P (Zj = −△x) + △x · P (Zj = △x),<br />

Var(Zj) := E(Z 2 j ) − E(Zj) 2 .<br />

131


Aus E(Zj) = −△x · 1<br />

1 + △x · 2 2<br />

und daher<br />

= 0 folgt<br />

Var(Zj) = E(Z 2 j ) = (−△x) 2 P (Zj = −△x) + (△x) 2 P (Zj = △x) = (△x) 2<br />

E(Xk) =<br />

k<br />

E(Zj) = 0,<br />

j=1<br />

Var(Xk) = E(X 2 k) =<br />

k<br />

j=1<br />

E(Z 2 j ) = k(△x) 2 = k · 2σ△t = 2σtk.<br />

Im Grenzwert △t → 0 (bzw. k → ∞, wenn wir t = tk fest wählen) konvergiert Xk gegen<br />

eine Funktion X <strong>mit</strong> den Eigenschaften E(X) = 0, Var(X) = 2σt. Der Grenzwert X<br />

wird Brownsche Bewegung genannt. Man kann außerdem zeigen, daß nach dem zentralen<br />

Grenzwertsatz<br />

lim<br />

k→∞ P (Xk<br />

x<br />

≤ x) =<br />

−∞<br />

<br />

1<br />

√ exp −<br />

4πσt y2<br />

<br />

dy<br />

4σt<br />

gilt, wobei t = tk fest gewählt sei. Andererseits erfüllt auch die Brownsche Bewegung diese<br />

Beziehung:<br />

x<br />

P (X ≤ x) =<br />

−∞<br />

u(y, t) dy <strong>mit</strong> u(y, t) =<br />

Die Funktion u ist eine spezielle Lösung von (5.3):<br />

ut − σuxx =<br />

<br />

exp − x2<br />

<br />

−1<br />

4σt 2 √ 1<br />

+ √<br />

4πσ t3/2 4πσ<br />

= 0.<br />

<br />

1<br />

√ exp −<br />

4πσt y2<br />

<br />

. (5.4)<br />

4σt<br />

x2 2 σ x<br />

− √<br />

4σt3/2 4πσt 4σ2 <br />

1<br />

−<br />

t2 2σt<br />

Beginnt die Diffusion <strong>mit</strong> einer endlichen Zahl von Teilchen, die über die reelle Zah-<br />

lenachse verteilt sind, müssen wir (5.3) <strong>mit</strong> der Anfangsbedingung<br />

u(x, 0) = u0(x), x ∈ R, (5.5)<br />

lösen. Durch Überlagerung der einzelnen Bewegungen, beschrieben durch (5.4), erhalten<br />

wir die Lösung<br />

von (5.3) und (5.5).<br />

u(x, t) =<br />

<br />

1<br />

(x − y)2<br />

√ u0(y)exp − dy<br />

4σπt R<br />

4σt<br />

Welchem Anfangswert entspricht die Lösung (5.4)? Offensichtlich gilt<br />

<br />

0 : x = 0<br />

lim u(x, t) =<br />

t→0 ∞ : x = 0,<br />

132<br />

<br />

lim<br />

t→0<br />

u(y, t) dy = 1.<br />

R<br />

(5.6)


Es gibt keine Funktion<br />

u0(x) := lim<br />

t→0 u(x, t),<br />

die die Eigenschaften (5.6) erfüllt. Wir nennen u0 daher eine Distribution; das ist ein<br />

Funktional, definiert durch<br />

u0[φ] = φ(0) für alle φ ∈ C ∞ 0 (R),<br />

wobei C ∞ 0 (R) der Raum aller C ∞ -Funktionen <strong>mit</strong> kompaktem Träger sei. Diese Definition<br />

ergibt sich formal aus<br />

u0[φ] =<br />

<br />

R<br />

= lim<br />

t→0<br />

= lim<br />

t→0<br />

<br />

u0(x)φ(x) dx = lim<br />

t→0<br />

<br />

1<br />

√<br />

4πσt<br />

<br />

1<br />

√<br />

2π<br />

= φ(0) 1<br />

√ 2π<br />

= φ(0).<br />

R<br />

exp<br />

R<br />

<br />

− x2<br />

4σt<br />

u(x, t)φ(x) dx<br />

<br />

φ(x) dx<br />

e<br />

R<br />

−y2 √<br />

/2<br />

φ( 2σt y) dy<br />

<br />

e<br />

R<br />

−y2 /2<br />

dy<br />

Die Diffusionsgleichung (5.3) tritt auch bei Temperaturprozessen auf. Sei θ(x, t) die<br />

Temperatur eines Körpers zur Zeit t an der Stelle x ∈ R 3 . Die zeitliche Änderung der<br />

Temperatur ist proportional zur Divergenz des Wärmestromes J:<br />

n0cθt + divJ = 0,<br />

wobei n0 die Dichte des Körpers und c seine spezifische Wärme seien (siehe unten). Nach<br />

dem Fourier-Gesetz ist der Wärmestrom proportional zum Temperaturgradienten<br />

J = −λ∇θ,<br />

wobei λ > 0 die Wärmeleitfähigkeit genannt wird. Ist λ konstant, so folgt die Wärmelei-<br />

tungsgleichung<br />

θt − λ<br />

△θ = 0.<br />

n0c<br />

Die Gleichung folgt auch aus der Energiebilanz (4.34) der Navier-Stokes-Gleichungen im<br />

Falle verschwindender Geschwindigkeit:<br />

<br />

3<br />

∂t<br />

2 n0θ<br />

<br />

= div(K∇θ).<br />

Die spezifische Wärme ist hier c = 3/2, was drei Freiheitsgeraden entspricht (also einem<br />

Gas aus einzelnen Atomen). Wir betrachten folgendes Anwendungsbeispiel.<br />

133


Beispiel 5.1 Wie lang sollte der metallene, nicht isolierte Griff einer Eisenpfanne sein,<br />

da<strong>mit</strong> man sich nicht die Hände verbrennt?<br />

Wir modellieren den Griff durch das Intervall [0, L]. Sei θ(x, t) die Temperatur des<br />

Griffes. Wir nehmen an, daß der Griff zur Zeit t = 0 Raumtemperatur hat. An der Stelle<br />

x = 0 sei der Griff in Kontakt <strong>mit</strong> der Pfanne, die eine Maximaltemperatur von 200 ◦ C<br />

habe:<br />

θ(0, t) = 200 ◦ C.<br />

Wie lautet die Randbedingung am Ende des Griffes (x = L)? Es ist sicherlich unrealistisch<br />

anzunehmen, daß der Griff gegenüber der Umgebung völlig isoliert ist, da ein kleiner<br />

Wärmestrom stattfindet:<br />

J(L, t) = −λθx(L, t) = 0.<br />

Andererseits ist es unrealistisch anzunehmen, daß der Wärmefluß in die Umgebung so<br />

rasch ist, daß das Ende des Griffes Raumtemperatur aufweist:<br />

θ(L, t) = 20 ◦ C.<br />

Wir kombinieren stattdessen diese beiden Randbedingungen:<br />

−θx(L, t) = α(θ(L, t) − 20 ◦ C).<br />

Liegt die Temperatur über der Raumtemperatur, gibt es einen Wärmestrom in die Um-<br />

gebung, anderenfalls erwärmt sich der Griff. Die Konstante α > 0 kann nur empirisch<br />

bestimmt werden. Wir nehmen an, daß α = 0.3/cm gilt.<br />

Die Temperatur erfülle die eindimensionale Wärmeleitungsgleichung<br />

θt − λ<br />

n0c θxx = 0, x ∈ (0, L), t > 0.<br />

Für genügend große Zeiten erwarten wir, daß sich die Temperatur auf einen stationären<br />

Zustand einpendelt. Verschwinden die zeitlichen Änderungen (θt = 0), löst die stationäre<br />

Temperaturverteilung das Randwertproblem<br />

θxx = 0, x ∈ (0, L),<br />

θ(0) = 200 ◦ C, −θx(L) = α(θ(L, t) − 20 ◦ C).<br />

Die allgemeine Lösung lautet θ(x) = ax + b. Die Konstanten a und b können wir aus den<br />

Randbedingungen bestimmen; dies ergibt die Lösung<br />

θ(x) = −180 ◦ αx<br />

αL + 1 + 200◦C. Soll die Temperatur am Griffende 40 ◦ C nicht überschreiten, ergibt sich die Grifflänge aus<br />

40 ◦ C ≥ θ(L) = −180 ◦ C αL<br />

αL + 1 + 200◦ C<br />

134


oder<br />

L ≥ 8 80<br />

= cm ≈ 27cm.<br />

α 3<br />

Der Pfannengriff sollte also mindestens 27 cm lang sein.<br />

5.2 Ein globales Klimamodell<br />

Nach einer Studie des “Intergovernmental Panel on Climate Change” der Vereinten Na-<br />

tionen aus dem Jahr 2001 könnte sich die Erde in diesem Jahrhundert um bis zu 5.8 ◦ C<br />

erwärmen. In diesem Abschnitt wollen wir die Konsequenzen der globalen Erwärmung<br />

auf die Ausbreitung der Eisflächen untersuchen, indem wir die Temperatur durch ein sehr<br />

einfaches Modell beschreiben.<br />

Sei θ(x, t) die Temperatur des Luft in Meereshöhen an der Stelle x auf der Erdober-<br />

fläche M zur Zeit t. Wir nehmen an, daß die zeitliche Wärmeänderung gegeben ist durch<br />

bzw.<br />

Wir nehmen außerdem an:<br />

Diffusion + absorbierte Energie − e<strong>mit</strong>tierte Energie<br />

θt = D + Rab − Rem.<br />

Die Diffusion wird durch das Fouriergesetz beschrieben: D = div(λ0∇θ), wobei<br />

λ0 > 0.<br />

Die Erde sei vollständig <strong>mit</strong> Wasser bedeckt. Dann ist die absorbierte Energie ge-<br />

geben durch<br />

Rab(θ) =<br />

<br />

ϱε : θ ≤ 0 ◦ C,<br />

ϱ : θ > 0 ◦ C,<br />

wobei ϱ die Solarkonstante sei und ε ∈ (0, 1). Dahinter steckt die Überlegung, daß<br />

eine Eisfläche weniger Energie als eine Wasserfläche absorbiert.<br />

Die e<strong>mit</strong>tierte Energie kann durch das Stefan-Boltzmann-Gesetz<br />

Rem = σ(θ − θ) 4<br />

<strong>mit</strong> σ > 0, θ > 0<br />

beschrieben werden. Wir vernachlässigen diese Größe und setzen σ = 0.<br />

Da<strong>mit</strong> erhalten wir<br />

<strong>mit</strong> Anfangsbedingung<br />

θt − div(λ0∇θ) = Rab(θ), x ∈ M, t > 0, (5.7)<br />

θ(x, 0) = θ0(x), x ∈ M.<br />

135


Da die Erdoberfläche M keinen Rand hat, sind keine Randbedingungen notwendig.<br />

Das obige Problem ist verhältnismäßig komplex, da M eine Mannigfaltigkeit ist. Die<br />

Differentialopertoren div und ∇ sind dementsprechend in den Koordinaten von M zu for-<br />

mulieren. Wir betrachten eine vereinfachte Situation, die es erlaubt, das Problem explizit<br />

zu lösen:<br />

Wegen der Rotationssymmetrie der Erdkugel betrachten wir die Gleichung (5.7) auf<br />

einem Längengrad, dargestellt durch das Intervall [−1, 1], wobei x = −1 den Südpol<br />

und x = 1 den Nordpol modelliere.<br />

Wir sind nur an stationären Zuständen interessiert, so daß θt = 0.<br />

Die Temperatur an den Polen sei −10 ◦ C.<br />

Die Wärmeleitfähigkeit λ0 sei konstant.<br />

Wir lösen also (5.1) auf dem Intervall (−1, 1):<br />

−λ0θxx = Ra,b(θ), x ∈ (−1, 1), (5.8)<br />

θ(−1) = θ(1) = −10 ◦ C.<br />

Streng genommen ist dies nicht richtig, da der Operator div(λ0∇θ) = λ0△θ entlang eines<br />

Längengrades nicht gleich λ0θxx ist; wir modellieren die Erwärmung dennoch <strong>mit</strong> der<br />

Gleichung (5.8). Mit<br />

folgt<br />

wobei<br />

u := θ<br />

10◦ ϱ<br />

+ 1 und λ :=<br />

C λ0<br />

u ′′ + λg(u) = 0, x ∈ (−1, 1), u(−1) = u(1) = 0, (5.9)<br />

g(u) =<br />

<br />

ε : u ≤ 1 (Eis),<br />

1 : u > 1 (Wasser).<br />

Wir erwarten, daß physikalisch sinnvolle Lösungen von (5.9) um den Äquator x = 0<br />

symmetrisch sind, und suchen nur solche Lösungen. Da g(u) unstetig ist, können wir keine<br />

klassischen, zweimal stetig differenzierbaren Lösungen erwarten. Die Lösungen können<br />

allenfalls einmal stetig differenzierbar sein. Um (5.9) auf x ∈ (0, 1) lösen zu können,<br />

benötigen wir eine Randbedingung an x = 0. Wir behaupten, daß u ′ (0) = 0 gilt. Aus der<br />

Symmetrie von u um x = 0 und der formalen Taylor-Entwicklung folgt<br />

u(x) = u(0) + u ′ (0)x + O(x 2 ),<br />

u(x) = u(−x) = u(0) − u ′ (0) + O(x 2 ) (x → 0),<br />

136


also nach Subtraktion<br />

u ′ (0) = 1<br />

x O(x2 ) = O(x).<br />

Mit x → 0 ergibt sich dann u ′ (0) = 0. Da<strong>mit</strong> haben wir das zu lösende Problem reduziert<br />

auf<br />

Es gilt übrigens<br />

und daher (Abbildung 5.2)<br />

u ′′ + λg(u) = 0, x ∈ (0, 1), u ′ (0) = 0, u(1) = 0. (5.10)<br />

Wir unterscheiden also folgende Fälle.<br />

u ′ x<br />

(x) = −λ g(u(s)) ds < 0 für alle x > 0<br />

0<br />

u(0) = max u(x). (5.11)<br />

x∈[0,1]<br />

−1 0 1<br />

Abbildung 5.2: Qualitatives Verhalten der Lösung von (5.9).<br />

Fall 1: u(0) ≤ 1. Wegen (5.11) bedeutet dies, daß die gesamte Erde eisbedeckt ist.<br />

Insbesondere ist u(x) ≤ 1 für alle x ∈ [0, 1] und daher g(u) = ε. Das Problem (5.10) wird<br />

zu<br />

Die allgemeine Lösung lautet<br />

u ′′ + λε = 0, x ∈ (0, 1), u ′ (0) = u(1) = 0.<br />

u(x) = − λε<br />

2 x2 + ax + b,<br />

und aus den Randbedingungen folgt a = 0 und b = λε/2, so daß<br />

u(x) = λε<br />

2 (1 − x2 ), x ∈ [0, 1]. (5.12)<br />

Da<strong>mit</strong> u(0) ≤ 1 erfüllt ist, muß der Parameter λ die Bedingung<br />

erfüllen.<br />

λ ≤ 2<br />

ε<br />

137<br />

x


Fall 2: u(0) > 1. Die Erde ist also teilweise eisbedeckt. Da u monoton fallend in (0, 1)<br />

ist, existiert eine eindeutig bestimmte Zahl r ∈ (0, 1), so daß u(r) = 1. Der Parameter r<br />

beschreibt die Grenze zwischen Wasser und Eis. Wir lösen das Problem<br />

u ′′ <br />

−λ : x ∈ (0, r),<br />

=<br />

u<br />

−λε : x ∈ (r, 1),<br />

′ (0) = u(1) = 0. (5.13)<br />

Der Wert r ist unbekannt; wir suchen also sowohl u als auch r. Man nennt daher r<br />

einen freien Rand und das Problem (5.13) (oder (5.11)) ein freies Randwertproblem. Die<br />

allgemeine Lösung von (5.13) lautet<br />

<br />

u ′′ =<br />

− λ<br />

2 x2 + ax + b : x ∈ (0, r),<br />

− λε<br />

2 x2 + cx + d : x ∈ (r, 1).<br />

(5.14)<br />

Um die vier Konstanten a, b, c und d zu bestimmen, genügen die beiden Randbedingungen<br />

in (5.13) nicht. Wir fordern, daß u(x) an der Stelle x = r stetig differenzierbar ist. Dies<br />

liefert zwei weitere Gleichungen:<br />

Insgesamt erhalten wir die vier Gleichungen<br />

Aus (5.15)–(5.18) folgt<br />

Die Gleichung (5.16) impliziert<br />

Schließlich ergibt sich aus (5.17)<br />

u(r−) = u(r+), u ′ (r−) = u ′ (r+).<br />

0 = u ′ (0) = a, (5.15)<br />

0 = u(1) = − λε<br />

+ c + d,<br />

2<br />

(5.16)<br />

u(r) = − λ<br />

2 r2 + b = − λε<br />

2 r2 + cr + d, (5.17)<br />

u ′ (r) = −λr = −λεr + c. (5.18)<br />

a = 0, c = −λ(1 − ε)r.<br />

d = λε<br />

2<br />

− c = λε<br />

2<br />

+ λ(1 − ε)r.<br />

b = λ<br />

2 (1 − ε)r2 + cr + d = − λ<br />

2 (1 − ε)r2 + λε<br />

+ λ(1 − ε)r. (5.19)<br />

2<br />

Zur Bestimmung des freien Randes benötigen wir eine weitere Gleichung:<br />

u(r) = 1.<br />

138


Da wegen (5.17) b = u(r) + λr 2 /2 = 1 + λr 2 /2 gilt, erhalten wir aus (5.19)<br />

und nach einigen Umformungen<br />

Dies ergibt zwei Werte<br />

r1,2 =<br />

1 + λ<br />

2 r2 = − λ<br />

2 (1 − ε)r2 + λε<br />

+ λ(1 − ε)r<br />

2<br />

= 1 − ε<br />

= 1 − ε<br />

r 2 −<br />

2(1 − ε) 2 − λε<br />

r +<br />

2 − ε λ(2 − ε)<br />

= 0. (5.20)<br />

1 − ε<br />

2 − ε ±<br />

<br />

1 2 − ε 2 − λε<br />

−<br />

2 − ε λ(2 − ε)<br />

<br />

1<br />

± (1 − ε)<br />

2 − ε 2 − ε<br />

2 − 1<br />

(2 − λε)(2 − ε)<br />

λ<br />

<br />

1 2(2 − ε)<br />

± 1 − . (5.21)<br />

2 − ε 2 − ε λ<br />

Die quadratische Gleichung (5.20) ist nur dann reell lösbar, wenn λ ≥ 2(2 − ε). Außerdem<br />

gilt r2 ≥ 0 genau dann, wenn<br />

<br />

0 ≤ 1 − ε −<br />

1 −<br />

2(2 − ε)<br />

λ<br />

⇐⇒ 1 −<br />

2(2 − ε)<br />

λ<br />

⇐⇒ λ ≤ 2<br />

ε .<br />

≤ (1 − ε) 2<br />

Die Forderung r1 ≤ 1 wird für alle λ > 0 erfüllt. Da<strong>mit</strong> haben wir zwei kritische Parame-<br />

terwerte gefunden:<br />

λ1 = 2(2 − ε), λ2 = 2<br />

ε .<br />

Wir unterscheiden nun drei Fälle:<br />

Fall A: λ < λ1. Wegen λ1 < λ2 (weil ε < 1) existiert genau eine Lösung, nämlich<br />

(5.12). Insbesondere ist<br />

u(0) = λε λ2ε<br />

< = 1.<br />

2 2<br />

Dies entspricht dem Fall 1; die Erde ist vollständig <strong>mit</strong> Eis bedeckt.<br />

Fall B: λ1 < λ < λ2. Es existiert eine Lösung <strong>mit</strong> u(0) < 1 (nämlich gerade (5.12))<br />

und zwei Lösungen <strong>mit</strong> u(0) > 1, nämlich (5.14)) <strong>mit</strong> r = r1 und r = r2. Am Äquator<br />

x = 0 lautet die Temperatur<br />

und r1,2 ist gegeben durch (5.21).<br />

u1,2(0) = b = 1 + λ<br />

2 r2 1,2,<br />

139


Fall C: λ > λ2. In diesem Fall ist r2 < 0, also existiert nur eine Lösung <strong>mit</strong> u(0) > 1,<br />

nämlich (5.14) <strong>mit</strong> r = r1.<br />

Falls λ = λ1, existiert eine Lösung <strong>mit</strong> u(0) < 1 (gegeben durch (5.12)) und eine<br />

Lösung <strong>mit</strong> u(0) > 1 (gegeben durch (5.14) <strong>mit</strong> r = r1 = r2 = (1 − ε)/(2 − ε)). Im Falle<br />

λ = λ2 schließlich existiert eine Lösung <strong>mit</strong> u(0) = 1 (nämlich u(x) = x 2 − 1) und eine<br />

Lösung <strong>mit</strong> u(0) > 1 (nämlich (5.14) <strong>mit</strong> r = r1, da r2 = 0).<br />

u(0)<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

1<br />

0<br />

0 2 4 6 8 10<br />

λ<br />

Abbildung 5.3: Temperatur am Äquator u(0) in Abhängigkeit des Parameters λ (ε = 0.25).<br />

Das Problem (5.10) und da<strong>mit</strong> auch (5.9) ist also nicht eindeutig lösbar. Die Multi-<br />

plizität der Lösungen in Abhängigkeit des Parameters λ läßt sich gut durch den Wert<br />

u(0) illustrieren, da u(0) das Maximum von u ist (Abbildung 5.3). Wir können die in<br />

Abbildung 5.3 dargestellte Kurve in drei Gebiete unterteilen:<br />

Gebiet 1: Die Erde ist vollständig eisbedeckt.<br />

Gebiet 2: Wegen r2 < (1 − ε)/(2 − ε) < 1/2 ist die Erde in (r2, 1) überwiegend<br />

eisbedeckt.<br />

Gebiet 3. Wegen r1 → 1 (λ → ∞) ist die Erde (zumindest für genügend großes<br />

λ > λ1) wenig eisbedeckt. In der Nähe der Pole liegt Eis.<br />

Physikalisch entspricht die Mehrdeutigkeit von Lösungen instabilen Situationen. Neh-<br />

men wir etwa an, daß der aktuelle Zustand der Erde dem Parameter λ λ1 entspricht.<br />

Bei Verminderung der Solarkonstanten (oder allgemeiner der Absorptionsfähigkeit infolge<br />

von Wolken oder Smog) kann sich der Parameter λ auf einen Wert kleiner als λ1 einstel-<br />

len. Dies würde bedeuten, daß die Eisgrenze innerhalb kurzer Zeit den Äquator erreichen<br />

140<br />

2<br />

3


würde. Eine sehr kleine Änderung eines Parameters, der sich in der Nähe eines kritischen<br />

Wertes befindet, kann also einschneidende Auswirkungen zur Folge haben.<br />

5.3 Selbstentzündung von Kohlehaufen<br />

Bei der Lagerung von Materialien wie Altpapier, Haushaltsmüll oder Kohle in großen<br />

Mengen kann es nach längerer Zeit zu spontaner Selbstentzündung kommen. Betroffen<br />

von diesem Problem sind etwa Mülldeponien und Kohlekraftwerke. Wir wollen uns auf<br />

Kohlehaufen konzentrieren und die folgende Fragestellung untersuchen:<br />

Frage: Nach welche Kriterien kann man entscheiden, ob ein Kohlehaufen “sicher” ist,<br />

d.h. keine spontane Selbstentzündung erfährt?<br />

Wodurch wird die spontane Selbstentzündung ausgelöst? Im allgemeinen geschieht<br />

die Aufheizung nicht nur durch direkte Sonneneinstrahlung, sondern hauptsächlich durch<br />

Oxidation von Kohlenstoff C zu Kohlenmonoxid CO oder Kohlendioxid CO2:<br />

C + O → CO + Energie, C + 2O → CO2 + Energie.<br />

Die Reaktionen sind exotherm, d.h., es entsteht Wärmeenergie. Überschreitet diese eine<br />

vom Material abhängige Schranke, kommt es zu der Selbstentzündung.<br />

Da die dreidimensionale Geometrie eines Kohlehaufens (insbesondere die Größe und<br />

Verteilung der Kohlepartikel) und die präzisen chemischen Reaktionen sehr kompliziert<br />

sind, beschränken wir uns auf einen vertikalen, eindimensionalen Schnitt x ∈ [0, h] durch<br />

den Kohlehaufen und modellieren die Temperatur θ(x, t) durch die Wärmeleitungsglei-<br />

chung <strong>mit</strong> Quellterm Q:<br />

ϱcθt = λθxx + Q(θ), x ∈ (0, h), t > 0. (5.22)<br />

Hierbei beschreibt x = 0 den Boden und x = h die Spitze des Haufens, ϱ > 0 ist die<br />

homogene Dichte des Materials, c > 0 seine spezifische Wärme und λ > 0 seine Wärme-<br />

leitfähigkeit. Wir nehmen an, daß der Kohlehaufen zur Zeit t = 0 die Umgebungstempe-<br />

ratur hat:<br />

θ(x, 0) = θ(x), x ∈ (0, h). (5.23)<br />

Am Boden herrsche vereinfachend keine Wärmeleitung und an der Spitze die Umgebungs-<br />

temperatur. Dies führt auf die Randbedingungen<br />

θx(0, t) = 0, θ(h, t) = θ0, t > 0. (5.24)<br />

Wir sind vornehmlich am Langzeitverhalten der Temperatur interessiert. Der Kohle-<br />

haufen ist “sicher”, wenn die Temperatur für alle Zeiten kleiner als die Zündtemperatur ist.<br />

141


Da diese wesentlich größer als die Umgebungstemperatur ist, muß die Temperatur eines<br />

“unsicheren” Haufens in einem endlichen Zeitraum sehr groß werden. Nun erwarten wir<br />

keine Abkühlungsmechanismen, d.h., die Temperatur als Lösung von (5.22)–(5.24) wird<br />

unendlich groß nach endlicher Zeit, und das Modell (5.22)–(5.24) verliert seine Gültigkeit.<br />

In diesem Fall können keine Lösungen des stationären Modells existieren. Da<strong>mit</strong> haben<br />

wir ein Kriterium für die “Sicherheit” des Kohlehaufens gefunden: Der Haufen gilt als<br />

“sicher”, wenn es Lösungen des stationären Problems<br />

λθxx = −Q(θ), x ∈ (0, h), (5.25)<br />

<strong>mit</strong> den Randbedinungen (5.24) gibt, für die θ(x) nicht wesentlich größer als θ0 ist. An-<br />

dernfalls ist der Haufen als kritisch einzustufen.<br />

Es bleibt der Reaktionsterm Q zu modellieren. Wir erwarten, daß die Reaktion umso<br />

größer ist, je größer die Temperatur des Haufens ist. Das einfachste Modell ist der lineare<br />

Zusammenhang<br />

Die allgemeine Lösung von<br />

lautet wegen α/λ > 0<br />

Q(θ) = α(θ − θ) <strong>mit</strong> α > 0, θ > 0.<br />

(θ − θ)xx = θxx = − α<br />

(θ − θ)<br />

λ<br />

<br />

α<br />

θ(x) − θ = A sin<br />

λ x<br />

<br />

α<br />

+ B cos<br />

λ x<br />

<br />

.<br />

Einsetzen des Randbedingungen liefert<br />

0 = θx(0) = (θ − θ)x(0) =<br />

<br />

α<br />

λ A,<br />

θ0 − θ =<br />

<br />

α<br />

(θ − θ)(h) = B cos<br />

λ h<br />

<br />

und da<strong>mit</strong><br />

θ(x) = (θ0 − θ) cos(α/λx) cos( + θ, x ∈ [0, h].<br />

α/λh)<br />

Das Problem (5.24)–(5.25) ist also immer lösbar, d.h., alle Kohlehaufen sind sicher. Dies<br />

widerspricht der Erfahrung. Der Reaktionsterm sollte also besser modelliert werden.<br />

Ein genaueres Bild ist das folgende: Für niedrige Temperaturen sind die chemischen<br />

Reaktionen vernachlässigbar; wird eine gewisse Aktivierungstemperatur erreicht, kommen<br />

die Reaktionen in Gang. Für sehr große Temperaturen ist die Stärke der Reaktionen<br />

allerdings begrenzt. Dies wird durch den Reaktionsterm von Arrhenius<br />

Q(θ) = Ae −E/Rθ<br />

142<br />

(5.26)


eschrieben, wobei E die Aktivierungsenergie, R die universelle Gaskonstante und A die<br />

Reaktionswärme ist.<br />

Wir können das Problem (5.24)–(5.25) <strong>mit</strong> dem Reaktionsterm (5.26) analytisch lösen,<br />

wenn wir die Annahme, daß die Temperatur nahe bei der Umgebungstemperatur liegen<br />

soll, verwenden:<br />

θ(x) = θ0(1 + εT (x)), ε ≪ 1.<br />

Mit der Taylorentwicklung<br />

<br />

exp − 1<br />

<br />

= exp<br />

1 + εT<br />

−1 + εT + O(ε 2 ) ≈ exp(−1 + εT )<br />

erhalten wir aus (5.24)–(5.26)<br />

λεθ0Txx = −Aexp<br />

<br />

− E<br />

<br />

(1 − εT ) , x ∈ (0, h),<br />

Rθ0<br />

Tx(0) = 0, T (h) = 0.<br />

Wir definieren<br />

ψ(x) := Eε<br />

Rθ0<br />

Dann folgt aus<br />

Eε<br />

λεθ0 Txx = −<br />

Rθ0<br />

AEε<br />

Rθ0<br />

die Differentialgleichung für ψ:<br />

T (x), q := AE<br />

λRθ 2 0<br />

e −E/Rθ0 .<br />

e −E/Rθ0 e (Eε/Rθ0)T<br />

ψxx + qe ψ = 0, x ∈ (0, h), ψx(0) = ψ(h) = 0. (5.27)<br />

Multiplikation von (5.27) <strong>mit</strong> ψx ergibt<br />

und nach Integration<br />

oder<br />

d<br />

dx<br />

1<br />

2 ψ2 x + qe ψ<br />

<br />

= 0<br />

1<br />

2 ψ2 x(x) + qe ψ(x) = qe ψ(0)<br />

ψx(x) = − <br />

2q eψ(0) − eψ(x) .<br />

Das Minuszeichen steht, weil ψ(x) wegen (5.28), d.h.<br />

e ψ(x) ≤ e ψ(0)<br />

oder ψ(x) ≤ ψ(0) für alle x ∈ [0, h],<br />

und wegen ψxx = −qeψ < 0 monoton fallend ist. Wir integrieren ein zweites Mal:<br />

ψ(x)<br />

x <br />

= − 2q dy.<br />

0<br />

dy<br />

√ e ψ(0) − e y<br />

143<br />

h<br />

(5.28)


Mit der Substitution z = e −y/2 und dy = −2dz/z sowie der Abkürzung z0 := e −ψ(0)/2 folgt<br />

2q(x − h) =<br />

e −ψ(x)/2<br />

1<br />

1<br />

= −2<br />

e−ψ(x)/2 = −2z0<br />

= −2z0<br />

<br />

cosh −1<br />

2dz<br />

z e ψ(0) − 1/z 2<br />

z0dz<br />

z 2 − z 2 0<br />

z<br />

z0<br />

z0<br />

1<br />

e −ψ(x)/2<br />

<br />

cosh −1<br />

<br />

1<br />

− cosh −1<br />

<br />

−ψ(x)/2 e<br />

. (5.29)<br />

Diese Gleichung definiert die Lösung ψ(x) implizit für gegebenes ψ(0). Da ψ monoton<br />

fallend auf [0, h] ist, wird die maximale Temperatur an der Stelle x = 0 angenommen. Die<br />

Temperatur an x = 0 lautet wegen (5.29) und cosh −1 (1) = 0<br />

oder<br />

− 2qh = −2e −ψ(0)/2 cosh −1 (e ψ(0)/2 )<br />

1<br />

0<br />

<br />

q<br />

cosh<br />

2 heψ(0)/2<br />

<br />

= e ψ(0)/2 .<br />

α<br />

1<br />

¡<br />

¡<br />

x 0<br />

α<br />

0<br />

Abbildung 5.4: Die Gleichung cosh(αx) = x besitzt keine (α1), genau eine (α0) oder zwei<br />

(α2) Lösungen, wobei α2 < α0 < α1.<br />

Setze α := q/2h. Die Gleichung cosh(αx) = x besitzt keine Lösung, wenn α hinreichend<br />

groß ist, und zwei Lösungen, wenn α hinreichend klein ist (Abbildung 5.4). Es existiert<br />

also ein kritischer Wert α0, bei dem die nichtlineare Gleichung genau eine Lösung x0<br />

besitzt. Die Werte x0 und α0 bestimmen wir aus den beiden Gleichungen<br />

x0 = cosh(α0x0), 1 = d<br />

dx cosh(α0x)|x=x0 = α0 sinh(α0x0).<br />

144<br />

α<br />

2<br />

x<br />

z0


Aus der zweiten Gleichung folgt<br />

x0 = 1<br />

α0<br />

sinh −1<br />

<br />

1<br />

Setzen wir dies in die erste Gleichung ein, erhalten wir<br />

1<br />

α0<br />

sinh −1<br />

<br />

1<br />

α0<br />

α0<br />

<br />

.<br />

<br />

= cosh sinh −1<br />

<br />

1<br />

=<br />

α0<br />

<br />

1<br />

denn aus cosh 2 (x) = − sinh 2 (x) = 1 für alle x ∈ R folgt<br />

√ <br />

x2 + 1 = sinh 2 (sinh −1 <br />

(x)) + 1 = cosh 2 (sinh −1 (x)) = cosh(sinh −1 (x)).<br />

Der kritische Wert α0 ist also die eindeutige Lösung von<br />

<br />

1<br />

= sinh α2 0 + 1.<br />

α0<br />

Die Lösung lautet α0 ≈ 0.6627. Das Problem hat keine Lösung für α > α0. In diesem Fall<br />

ist der Kohlehaufen kritisch.<br />

Wir fassen zusammen: Der Kohlehaufen ist kritisch, wenn<br />

α 2 = qh2<br />

2<br />

Es sind also die folgenden Fälle zu vermeiden:<br />

zu hohe Kohlehaufen (h “groß”);<br />

zu starke Reaktionen (A “groß”);<br />

zu geringe Wärmeleitfähigkeit (λ “klein”).<br />

AEh2<br />

=<br />

2λRθ2 e<br />

0<br />

−E/Rθ0 2<br />

> α0 ≈ 0.439.<br />

Der Einfluß der Aktivierungsenergie E und der Umgebungstemperatur θ0 sind geringer,<br />

da<br />

für alle E > 0, θ0 > 0 gilt.<br />

E<br />

Rθ0<br />

e −E/Rθ0 ≤ e −1 ≈ 0.368<br />

5.4 Elektronenverteilung in Halbleitern<br />

In Abschnitt 2.5 haben wir Netzwerke, die Halbleiterbauelemente wie z.B. einen Transistor<br />

enthalten, modelliert. Ziel dieses Abschnittes ist die <strong>Modellierung</strong> derartiger Bauelemente.<br />

Dabei wollen wir die folgende Frage beantworten:<br />

145<br />

α 2 0<br />

+ 1,


Frage: Wie sind die Elektronen in einem Halbleiterbauteil räumlich verteilt?<br />

Was sind Halbleiter? Halbleiter sind Materialien <strong>mit</strong> einer wesentlich höheren elektri-<br />

schen Leitfähigkeit als Isolatoren (z.B. Porzellan oder Gummi) und <strong>mit</strong> einer wesentlich<br />

geringeren Leitfähigkeit als Metalle (z.B. Eisen oder Kupfer). Beispiele für Halbleiterma-<br />

terialien sind Silizium, Germanium und Galliumarsenid. Zur Erhöhung der Leitfähigkeit<br />

werden Halbleiter gezielt <strong>mit</strong> Fremdatomen dotiert; diese Atome werden durch einen Dif-<br />

fusionsprozeß in dem Halbleiter verteilt. Welchen Effekt hat die Dotierung? Nehmen wir<br />

an, jedes Atom des Halbleitermaterials habe vier Elektronen auf der äußersten Elektro-<br />

nenschale um den Atomkern (z.B. Silizium); man nennt sie Valenzelektronen. Jedes Va-<br />

lenzelektron geht eine Bindung (die sogenannte Valenzbindung) <strong>mit</strong> einem Valenzelektron<br />

eines umliegenden Atoms ein. Die Atome samt diesen Bindungen bilden den Halbleiterkri-<br />

stall. Das Fremdatom (z.B. Phospor) habe fünf äußere Elektronen. Vier dieser Elektronen<br />

gehen Valenzbindungen <strong>mit</strong> den Valenzelektronen der umliegenden Halbleiteratome ein;<br />

das übriggebleibende Elektron wird nicht gebunden und steht für den Ladungstransport<br />

zur Verfügung (Abbildung 5.5). Das übrigbleibende Fremdatom ist dann positiv geladen.<br />

Die Zufuhr von Energie in Form von Wärme oder Licht etwa führt dazu, daß Valenz-<br />

bindungen aufgebrochen werden und die entsprechenden Elektronen ebenfalls für den<br />

Ladungstransport zu Verfügung stehen. Allerdings ist die hierfür benötigte Energie sehr<br />

viel größer als die, die benötigt wird, das übrigbleibende Valenzelektron vom Fremdatom<br />

zu lösen.<br />

Si Si Si<br />

Si Ph<br />

Si<br />

Abbildung 5.5: Halbleiterkristall aus Siliziumatomen <strong>mit</strong> einem Phosphoratom. Die klei-<br />

nen Kreise stellen Elektronen <strong>mit</strong> ihren Valenzbindungen dar.<br />

Die totale Ladungsdichte ϱ besteht also aus zwei Quellen: den negativ geladenen Elek-<br />

tronen und den positiv geladenen Atomrümpfen. Bezeichnet n(x, t) die Elektronendichte<br />

am Ort x zur Zeit t und C(x) die Dichte der Atomrümpfe (auch Dotierungsprofil genannt),<br />

so gilt:<br />

ϱ = −qn + qC, (5.30)<br />

146


wobei q die Elementarladung ist. Wir haben hier angenommen, daß sich die Dotierungs-<br />

konzentration nicht zeitlich ändert.<br />

Die totale Ladungsdichte erzeugt ein elektrisches Feld. Andererseits erzeugt ein zeitlich<br />

variierendes elektrisches Feld ein Magnetfeld. Beide zusammen verändern wieder die totale<br />

Ladungsdichte. Das elektrische Feld E und das Magnetfeld B werden beschrieben durch<br />

die Maxwell-Gleichungen<br />

ε0divE = ϱ, rotE = − ∂B<br />

∂t ,<br />

<br />

divB = 0, rotB = µ0<br />

Jtot + ε0<br />

<br />

∂E<br />

.<br />

∂t<br />

Hierbei ist Jtot = Jtot(x, t) die Stromdichte, die <strong>mit</strong> der totalen Ladungsdichte über die<br />

Kontinuitätsgleichung ∂ϱ/∂t + divJtot = 0 in Beziehung steht. Die Konstanten ε0 bzw. µ0<br />

sind Proportionalitätskonstanten und werden als Dielektrizitätskonstante bzw. Permeabi-<br />

lität bezeichnet. Sie sind im allgemeinen materialabhängig. Wir nehmen nun an, daß die<br />

zeitliche Variation des Magnetfeldes vernachlässigt werden kann: ∂B/∂t = 0. Dann folgt<br />

aus<br />

rotE = − ∂B<br />

= 0,<br />

∂t<br />

falls das Gebiet, in dem sich der Halbleiterkristall befindet, einfach zusammenhängend<br />

ist, die Existenz einer Potentials φ = φ(x, t), so daß<br />

E = −∇φ.<br />

Wegen der obigen Voraussetzung nennen wir φ das elektrostatische Potential. Aus der<br />

ersten Maxwell-Gleichung und (5.30) folgt die Gleichung für φ:<br />

ε0∆φ = q(n − C). (5.31)<br />

Nun fehlt noch eine Bewegungsgleichung für die Elektronendichte (das Dotierungspro-<br />

fil ist gegeben und zeitunabhängig). Wir nehmen an, daß die Elektronendichte durch eine<br />

Variante der Euler-Gleichungen (4.26)–(4.27) <strong>mit</strong> konstanter Temperatur θ = kBT0/m<br />

gegeben sei:<br />

∂tn + div(nu) = 0, (5.32)<br />

∂t(nu) + div(nu ⊗ u) + ∇(nθ) − nF = − nu<br />

. (5.33)<br />

τ<br />

Die physikalischen Konstanten sind die Boltzmann-Konstante kB, die Elektronenmasse<br />

m und die Relaxationszeit τ. Der Term auf der rechten Seite von (5.33) beschreibt das<br />

Bestreben des Systems, in Abwesenheit äußerer Kräfte gegen den Gleichgewichtszustand<br />

nu = 0 zu streben (oder zu relaxieren). Die typische Zeit, in der dies geschieht, ist gerade<br />

147


τ. Die äußere Kraft ist durch das elektrische Feld gegeben: F = −qE/m. Definieren wir die<br />

Elektronenstromdichte J durch J = −qnu, so erhalten wir aus (5.32)–(5.33) und (5.31)<br />

die hydrodynamischen Halbleitergleichungen:<br />

∂tJ − 1<br />

q div<br />

<br />

J ⊗ J<br />

n<br />

− qkBT0<br />

m<br />

∂tn − 1<br />

divJ = 0, (5.34)<br />

q<br />

∇n + q2<br />

m<br />

n∇φ = −J , (5.35)<br />

τ<br />

ε0∆φ = q(n − C). (5.36)<br />

Diese Gleichungen sind im Halbleitergebiet Ω ⊂ R 3 <strong>mit</strong> geeigneten Rand- und Anfangs-<br />

bedingungen zu lösen.<br />

Um die Gleichungen zu vereinfachen, skalieren wir sie. Wir wählen eine typische Teil-<br />

chendichte, eine typische Länge und ein typisches Potential:<br />

C = sup<br />

x∈Ω<br />

|C(x)|, L = diam(Ω), UT = kBT0<br />

.<br />

q<br />

Bei Raumtemperatur T0 = 300 K beträgt UT ≈ 0.026 V. Als typische Zeit wählen wir<br />

eine noch zu spezifizierende Konstante τ0. Da<strong>mit</strong> erhalten wir die Skalierung<br />

n = Cns, C = CCs, φ = UT φs, x = Lxs, t = τ0ts.<br />

Aus der Poisson-Gleichung (5.36) folgt<br />

<strong>mit</strong> der skalierten Debye-Länge<br />

λ 2 ∆φ = n − C (5.37)<br />

λ =<br />

<br />

ε0UT<br />

qL 2 C .<br />

Die Gleichung (5.34) kann geschrieben werden als<br />

∂tsns − τ0<br />

qLC divsJ = 0.<br />

Da<strong>mit</strong> die Kontinuitätsgleichung dimensionslos wird, müssen wir die Stromdichte gemäß<br />

skalieren:<br />

J = qLC<br />

τ0<br />

Js<br />

∂tsns − divsJs = 0. (5.38)<br />

148


Für die Skalierung der verbleibenden Gleichung (5.35) setzen wir für den Quotienten<br />

aus kinetischer Energie m(L/τ0) 2 , die erforderlich ist, da<strong>mit</strong> ein Elektron des Halbleiter-<br />

gebiet in der Zeit τ0 durchquert, und thermischer Energie kBT0:<br />

Dann folgt aus (5.35)<br />

qLC<br />

τ 2 0<br />

∂tsJs − qLC<br />

τ 2 divs<br />

0<br />

<br />

Js ⊗ Js<br />

ns<br />

ε =<br />

2 m(L/τ0)<br />

.<br />

kBT0<br />

− qkBT0C<br />

mL ∇sns + qkBT0C<br />

mL ns∇sφs = − qLC<br />

τ0τ Js.<br />

Definieren wir τ0 = mL2 /τkBT0, so erhalten wir nach Division von qkBT0C/mL<br />

<br />

Js ⊗ Js<br />

− ∇sns + ns∇sφs = −Js.<br />

ε 2 ∂tsJs − ε 2 divs<br />

ns<br />

Im folgenden lassen wir den Index “s” fort. Wir nehmen an, daß die thermische Energie<br />

kBT0 die kinetische Energie m(L/τ) 2 dominiert, d.h. ε ≪ 1. Wir sind an der reduzierten<br />

Gleichung ε = 0 interessiert. Aus<br />

−∇n + n∇φ = −J (5.39)<br />

und (5.37)–(5.38) folgen dann die Drift-Diffusionsgleichungen für Halbleiter:<br />

∂tn − div(∇n − n∇φ) = 0, (5.40)<br />

λ 2 ∆φ = n − C, x ∈ Ω, t > 0. (5.41)<br />

Dies ist ein System nichtlinearer Gleichungen, die die zeitliche Entwicklung der Elektro-<br />

nendichte n und des elektrostatischen Potentials φ beschreiben. Die parabolische Glei-<br />

chung (5.40) ist zu vervollständigen <strong>mit</strong> der Anfangsbedingung<br />

n(0, x) = n0(x), x ∈ Ω. (5.42)<br />

Welche Randbedingungen sind für (5.40)–(5.41) vorzuschreiben? Wir nehmen an, daß<br />

der Rand ∂Ω aus zwei Teilen besteht: Auf dem Teil ΓD seien die Elektronendichte und<br />

das Potential gegeben:<br />

n = nD, φ = φD auf ΓD, t > 0. (5.43)<br />

Der andere Teil ΓN = ∂Ω\ΓD modelliere isolierende Ränder, d.h., die Normalkomponenten<br />

der Stromdichte und des elektrischen Feldes verschwinden auf ΓN :<br />

J · ν = ∇φ · ν = 0 auf ΓN, t > 0.<br />

149


Aus der Beziehung (5.39) für J folgt, daß dies äquivalent ist zu der Bedingung<br />

∇n · ν = ∇φ · ν = 0, auf ΓN, t > 0. (5.44)<br />

Es bleiben die Randwerte nD und φD zu bestimmen. Dazu treffen wir die folgenden<br />

Annahmen:<br />

Die totale Ladungsdichte verschwinde auf ΓD: nD − C = 0.<br />

Das Randpotential ist die Summe aus dem Built-in-Potential φbi und der angelegten<br />

Spannung U: φD = φbi + U.<br />

Das Built-in-Potential ist das Randpotential, das sich im thermischen Gleichgewicht J = 0<br />

einstellt. Um es zu berechnen, müssen wir das thermische Gleichgewicht etwas genauer<br />

untersuchen. Aus (5.40)–(5.41) folgt für J = 0, daß n nur eine Funktion des Ortes ist und<br />

daß<br />

0 = ∇n − n∇φ = n∇(ln n − φ) in Ω.<br />

Gilt n > 0 (was physikalisch zu erwarten ist), so ist<br />

ln n − φ = const.<br />

Das Potential ist nur bis auf eine additive Konstante bestimmt, und wir wählen die Kon-<br />

stante so, daß ln n − φ = 0 in Ω. Das Built-in-Potential ist dann gegeben durch<br />

φbi = ln nD = ln C auf ΓD.<br />

Da<strong>mit</strong> ist das Anfangsrandwertproblem (5.40)–(5.44) vollständig definiert.<br />

Es ist sehr schwierig, explizite Lösungen für (5.40)–(5.44) zu erhalten, und im allgemei-<br />

nen ist man auf numerische Methoden angewiesen. Allerdings ist es in bestimmten Fällen<br />

möglich, Aussagen über das qualitative Verhalten der Lösungen zu erhalten. Im allgemei-<br />

nen wird man als Anfangswert n0 die Lösung des thermischen Gleichgewichts wählen, da<br />

diese einem Halbleiter <strong>mit</strong> verschwindender angelegter Spannung entspricht. Das ther-<br />

mische Gleichgewicht wollen wir daher noch eingehender untersuchen. Aus den obigen<br />

Überlegungen folgt, daß eine Lösung (n, φ) des thermischen Gleichgewichts gegeben ist<br />

durch<br />

λ 2 ∆φ = e φ − C, n = e φ<br />

φ = ln C auf Γ0, ∇φ · ν = 0 auf ΓN.<br />

in Ω, (5.45)<br />

In Halbleiterbauteilen variiert das Dotierungsprofil im allgemeinen sehr stark <strong>mit</strong> großen<br />

Gradienten. Idealisierend können wir etwa annehmen, daß<br />

<br />

C1 : x ∈ Ω1<br />

C(x) =<br />

C2 : x ∈ Ω2<br />

150


gilt, wobei Ω = Ω1 ∪ Ω2 und 0 < C1 ≪ C2. Dies bedeutet, daß die rechte Seite von (5.45)<br />

fast unstetig ist. Zudem ist der Parameter λ typischerweise sehr klein im Vergleich zu<br />

Eins. Mit den typischen Werten<br />

folgt<br />

L = 10 −6 m, ε0 = 1.05 · 10 −10 As/Vm,<br />

C = 10 23 m −3 , q = 1.60 · 10 −19 As,<br />

UT = 0.026V<br />

λ 2 = 1.35 · 10 −4 ≪ 1.<br />

Die reduzierte Gleichung λ = 0 lautet dann e φ − C = 0, d.h.<br />

φ(x) = ln C(x), n(x) = C(x), x ∈ Ω,<br />

sind unstetige Funktionen. Wir erwarten, daß die Gradienten von n und φ auch im allge-<br />

meinen Fall λ > 0 und U > 0 (positive angelegte Spannung) sehr groß sind. Dies führt zu<br />

numerischen Schwierigkeiten, die nur durch den Einsatz spezieller Methoden in den Griff<br />

zu bekommen sind.<br />

Literatur<br />

[1] A. Georgescu: Asymptotic treatment of differential equations. Chapman & Hall, Lon-<br />

don, 1995.<br />

[2] E. Hairer, G. Wanner: Solving Ordinary Differential Equations II. Springer, Berlin,<br />

2002.<br />

[3] M. Hanke-Bourgeois: Grundlagen der Numerischen Mathematik und des wissenschaft-<br />

lichen Rechnens. Teubner, Stuttgart, 2002.<br />

[4] H. Heuser: Gewöhnliche <strong>Differentialgleichungen</strong>. Teubner, Stuttgart, 1989.<br />

[5] M. Hochbruck, J.-M. Sautter: Mathematik fürs Leben am Beispiel der Computerto-<br />

mographie. Erscheint in <strong>Mathematische</strong> Semesterberichte, 2003.<br />

[6] S. Howison: Cusp development in Hele-Shaw flow with a free surface. SIAM J. Appl.<br />

Math. 46 (1986), 20-26.<br />

[7] C. Schmeiser: Angewandte Mathematik. Vorlesungsskript, TU Wien,<br />

www.anum.tuwien.ac.at/schmeiser.<br />

[8] S. Wiggings: Introduction to Applied Nonlinear Dynamical Systems and Chaos. Sprin-<br />

ger, New York, 1990.<br />

151

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