<strong><strong>Yorck</strong>er</strong> <strong>93</strong> Buchfinderei 54 Unser Buchfinder bringt literarische Geschichten, die das <strong>Kino</strong> als sozialen Ort, als Arbeitsplatz, als Kulisse, als Sehenswürdigkeit darstellen. Schreiben Sie uns, wenn Sie beim Lesen über eine solche <strong>Kino</strong>-Textstelle stolpern: <strong>Yorck</strong>@<strong>Yorck</strong>.de! Edgar Lajtha war Mitte der Dreißiger Jahre für einige Monate in Japan. Offen für die exotische Welt schlendert er durch Tokios Vergnügungsviertel. “Das 2o. Jahrhundert gab durch den Film den Japanern sein Mittelalter wieder. Er kann sich aus den Bann der vielen neuen Erscheinungen in die Welt japanischer Kriegerfilme flüchten und die Tugenden seiner Ahnen in ihnen auferstehen sehen. In der Filmstraße von Tokio, Asakusa, wo jedes Haus ein <strong>Kino</strong> ist, kleben die Köpfe der Stars und frappierende dramatische Szenenbilder als überlebensgroße Farbenphotographien an den <strong>Kino</strong>fassaden und bedecken sie fast ganz. Nippons Geschichte lebt auf diesen Fassaden. Oft verdeckt nur ein einziges flammendes Schwert eine ganze Häuserwand, oft nur ein paar große Kriegerköpfe, manchmal der weinende Kopf einer japanischen Frau. Doch man sieht mehr Schwerter als Köpfe. In diesen schicksalsvollen Tagen der Rasse ist das Schwert Lieblingsdarsteller der Massen geworden. Zwischen den historischen japanischen Helden springt schlank, schön und nackt Tarzan von einem Dschungelast auf den Rücken eines Krokodils und lacht herab auf den großen blonden Kopf der Garbo, sein Visavis. Die Köpfe der westlichen Darsteller wirken fremd auf diesen von Japanern gemalten Plakaten. Die charakteristischen und markanten Züge fehlen den Gesichtern der Garbo und Barrymoore, leer sind die Gesichter. Der Maler, der sie malte retuschierte sie, während er sie malte. Wie auf einer japanischen Photographie drängte er das Persönliche in den Hintergrund. Anders arbeiten die Chinesen. Vor einem chinesischen <strong>Kino</strong> in Hongkong sah ich den Kopf der Garbo mit kleinen Falten um die Mundwinkel und mit Schlitzaugen. Durch die Filmstraße von Asakusa strömt vom Morgen „Das <strong>Kino</strong> ist erstens ein Ort, an dem zweitens Filme gezeigt werden ... .“ A. Paech & J. Paech in MENSCHEN IM KINO bis zum Abend eine endlose gigantische Menschenschlange. In grauen Ki monos bewegen sich die Männer, in bunten die Frauen, in den buntesten die Kinder. Ihre Holzsandalen klappern hart auf das Pflaster und mischen sich in die Musik, die aus den <strong>Kino</strong>s dringt. Von den Dächern flattert in grellem Scheinwerferlicht ein bunter Fahnen wald, die Namen der Filme sind mit großen Buchstaben auf die Flaggen gestickt. Manchmal haften die japanischen Buchstaben nur auf fast unsichtbaren grauen Wollfädennetzen, wie kleine bunte Drachen fliegen sie über die Köpfe der Massen hin und her. Immer wieder gehen die Passanten die beiden Straßenseiten ent lang. Vor jedem Haus bleiben sie stehen. So schwer können sie sich entscheiden. Denn die Auswahl ist groß, und die Eintrittspreise sind gering. Von zehn Sen ab bekommt man schon Plätze. Diese psychologisch klug erdachte Straßenreklame benebelt die Augen. Sie berauschen sich an den Pastellfarben der Straße. Wer kann einem flammenden Schwert widerstehen, das so groß ist wie ein Ruderboot? Auch wir taumeln in ein <strong>Kino</strong>. Ein Samisenorchester begleitet den stummen Kriegerfilm. Ein Ansager spricht aus dem Dunkeln für die Schauspieler. Neben der Leinwand steht er, verfolgt die Handlung, wie die Zuschauer sie verfolgen, und spricht nach den Lippenbewegungen der Frauen, Männer und Kinder mit Frauen-, Männer- und Kinderstimme. Es ist die letzte Abendvorstellung. Deshalb spricht der arme Ansager, der Benshi, schon heiser. Meine Nachbarn schauen andächtig auf die Leinwand. Die Frauen halten krampfhaft kleine Taschentücher in den Händen, sie sind jetzt in einer anderen Welt, in der, die die weiße Wand ihnen vorgaukelt. In ihr ist Japan noch von der Außenwelt abge schlossen. Japaner kämpfen nur gegen Japaner ... Die Uhr der Welt geht um hundert Jahre nach ... Schwarzweiß entrollt sich auf der Leinwand die japanische Landschaft.“ Edgar Lajtha JAPAN - Gestern, Heute, Morgen © 1<strong>93</strong>6 Wegweiser Verlag, Berlin
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