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Schopenhauer und das Erkennen der Welt

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<strong>Schopenhauer</strong> <strong>und</strong> <strong>das</strong> <strong>Erkennen</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong><br />

In <strong>der</strong> Philosophie <strong>Schopenhauer</strong>s sind folgende Begriffe von Bedeutung:<br />

Wille <strong>und</strong> Vorstellung, Objekt <strong>und</strong> Subjekt, Anschauung, Vernunft, Verstand<br />

<strong>und</strong> Wissen. Im Gr<strong>und</strong>e ist seine gesamte Philosophie eine differenzierte <strong>und</strong><br />

komplexe Definition dieser Begriffe mit <strong>der</strong>en Hilfe er alle<br />

Erscheinungsformen von Mensch <strong>und</strong> <strong>Welt</strong> bis in die Bereiche des<br />

Paranormalen hinein kritisch untersucht <strong>und</strong> Sinn bildend beschreibt.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> zufolge existiert die <strong>Welt</strong> in <strong>der</strong> wir leben als Wille <strong>und</strong><br />

Vorstellung. Das klingt zunächst nicht weiter aufregend. Folgt man aber<br />

seiner Aussage weiter, dann sagt er uns damit: die <strong>Welt</strong> ist Wille <strong>und</strong> sie ist<br />

Vorstellung. Sollte es so sein, wäre <strong>das</strong> eine aufregende Einsicht mit weit<br />

reichenden Konsequenzen. Eine dieser Konsequenzen wäre zum Beispiel die<br />

Erkenntnis: Ich bin Wille <strong>und</strong> Vorstellung.<br />

In <strong>der</strong> philosophischen Tradition des Westens vor <strong>Schopenhauer</strong> stand <strong>der</strong> so<br />

genannte "Geist" im Mittelpunkt des Denkens. <strong>Schopenhauer</strong> bricht mit<br />

dieser Tradition. Ausgangspunkt seines philosophischen Denkens ist nicht <strong>der</strong><br />

Geist, son<strong>der</strong>n <strong>das</strong> Leben; die Lebenskraft. Er fragt: welche Kraft lässt einen<br />

Organismus leben? Diese Frage nach <strong>der</strong> Lebenskraft führt ihn zur Sexualität.<br />

Spricht man vom Leben, so meint er, muss man auch von dessen Erhaltung<br />

sprechen. Deshalb können Mensch <strong>und</strong> Leben nicht ohne die Sexualität<br />

gedacht werden. <strong>Schopenhauer</strong> erkennt, <strong>das</strong>s Mensch <strong>und</strong> Leben unmittelbar<br />

mit <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong> Gattung zusammen hängen; <strong>der</strong> Selbsterhaltung des<br />

Lebens. Aus diesem Gr<strong>und</strong> setzt die Philosophie <strong>Schopenhauer</strong>s nicht am<br />

menschlichen Geist, son<strong>der</strong>n am Trieb zur Zeugung an. Er sagt: im Zentrum<br />

des Willens zum Lebens steht die Sexualität.<br />

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Die Natur, <strong>der</strong>en innerstes Wesen <strong>der</strong> Wille zum Leben ist, treibt mit aller<br />

Kraft den Menschen, wie <strong>das</strong> Tier, zur Fortpflanzung. Diesem Willen zum<br />

Leben ist es nur an <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong> Gattung gelegen, <strong>das</strong> Individuum<br />

bedeutet ihm nichts. Im Geschlechtstrieb stellt sich deshalb <strong>der</strong> Wille zum<br />

Leben am deutlichsten dar. Aus diesem Gr<strong>und</strong> ist die Sexualität in <strong>der</strong><br />

Betrachtungsweise <strong>Schopenhauer</strong>s viel mehr als jede an<strong>der</strong>e Regung des<br />

Leibes einem archaischen Willen <strong>und</strong> nicht etwa <strong>der</strong> Erkenntnis unterworfen.<br />

In <strong>der</strong> Sexualität zeigt sich <strong>der</strong> Brennpunkt des Willens. Die Genitalien sind<br />

dem zu Folge <strong>der</strong> dem Gehirn als Repräsentant <strong>der</strong> Erkenntnis entgegen<br />

gesetzte Pol. Der Mensch wird im Allgemeinen, sagt <strong>Schopenhauer</strong>, von<br />

seinem Geschlecht regiert <strong>und</strong> nicht von Geist. Der Triebwille bestimmt <strong>das</strong><br />

menschliche Wesen <strong>und</strong> Handeln; <strong>und</strong> dieser blind treibende Wille ist<br />

gewissermaßen in <strong>der</strong> Sexualität konzentriert. Deshalb ist die<br />

Geschlechtsliebe <strong>der</strong> stärkste aller Triebe. Sie ist <strong>der</strong> unbewusst drängende<br />

Willen zum Leben <strong>und</strong> Überleben. <strong>Schopenhauer</strong>s Betrachtungsweise ist<br />

radikal. Jede Verliebtheit, wie romantisch sie sich auch geben mag, sagt er, ist<br />

ausschließlich ein Ausdruck des Lebenswillens, den er einen<br />

"individualisierten Geschlechtstrieb" nennt.<br />

Der indische Philosoph JIDDHU KRISHNAMURTI sagt: In Indien gibt es eine<br />

beson<strong>der</strong>e Philosophie, die Tantra genannt wird. Ein Teil dieses Tantra<br />

för<strong>der</strong>t Sex. Es wird behauptet, <strong>das</strong>s man durch Sex erleuchtet werden könnte.<br />

Sex wird also unterstützt, damit man über <strong>das</strong> Alltägliche hinaus gelangt –<br />

aber man gelangt niemals darüber hinaus. Niemals haben die Autoren des<br />

Tantra die Frage gestellt, warum die Menschen die Sexualität zu etwas so<br />

Wichtigem in ihrem Leben machen.<br />

Werfen wir einen Blick auf die Realität. Die gesamte Lebenswelt, die Natur<br />

hält sich durch Fortpflanzung am Leben. Es w<strong>und</strong>ert deshalb nicht, wenn<br />

<strong>Schopenhauer</strong> den Triebwillen, wenn er den in je<strong>der</strong> Lebenserscheinung<br />

erkennbaren Willen zum Leben als allumspannende Gemeinsamkeit allen<br />

Lebens ins Zentrum seiner Philosophie rückt.<br />

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Von diesem gr<strong>und</strong>legenden Verständnis <strong>der</strong> elementaren Lebenswirklichkeit<br />

ausgehend, sieht er den Menschen primär nicht mehr als Geistwesen, wie<br />

viele Philosophen vor ihm, son<strong>der</strong>n als Naturwesen. <strong>Schopenhauer</strong><br />

philosophiert deshalb auch nicht über den "Geist" des Menschen, son<strong>der</strong>n<br />

über dessen Triebnatur. Er definiert den Menschen über Körper <strong>und</strong> Natur.<br />

Dadurch macht er die Philosophie nicht mehr zu einer Philosophie des<br />

Geistes, son<strong>der</strong>n zu einer Philosophie <strong>der</strong> körperlichen <strong>Welt</strong>. In<br />

<strong>Schopenhauer</strong>s Denken wird <strong>der</strong> so genannte "Geist" als eine Funktion des<br />

Leibes verstanden. Das war zu seiner Zeit eine ungeheuere Provokation.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> leitet <strong>das</strong> Wesen des Menschen von den Begierden seines<br />

Körpers ab, die er "Wille" nennt. Für ihn ist <strong>das</strong> Wesen des Menschen <strong>der</strong><br />

Wille zum Leben. Und dieser Wille, dieses Wollen sind die dem Menschen<br />

nicht bewussten Begierden seines Körpers. <strong>Schopenhauer</strong> hat damit die von<br />

SIEGMUND FREUD postulierte Triebtheorie, <strong>das</strong> Unbewusste <strong>und</strong> <strong>das</strong> Es <strong>der</strong><br />

Psychoanalyse vorweg genommen. Es wäre nicht zu weit her geholt an zu<br />

nehmen, <strong>das</strong>s Freud durch die Schriften <strong>Schopenhauer</strong>s zu diesen<br />

Denkmodellen angeregt worden ist.<br />

Auf Gr<strong>und</strong> des triebhaften Wollens wird <strong>das</strong> Wesen <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> nicht in einem<br />

geistigen, son<strong>der</strong>n in einem viel unmittelbareren Zugang erfahren – <strong>und</strong> zwar<br />

als Affekte <strong>und</strong> Willensregungen des Körpers. Das Wesen <strong>der</strong> Dinge, folgert<br />

<strong>Schopenhauer</strong>, offenbart sich nicht über <strong>das</strong> Geistige, nicht über <strong>das</strong> Denken,<br />

son<strong>der</strong>n: über die Begierden. Wir erfahren <strong>das</strong> Wesen <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> nicht über den<br />

Geist, <strong>der</strong> uns nur eine Vorstellung <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> liefert, son<strong>der</strong>n über den Körper.<br />

Der Geist, so meint er, führt den Menschen nicht zur Erkenntnis <strong>der</strong> <strong>Welt</strong><br />

<strong>und</strong> zur Wahrheit. <strong>Schopenhauer</strong> hat damit eine Wandlung im Konzept <strong>der</strong><br />

traditionellen Philosophie vollzogen. Für ihn ist <strong>der</strong> Körper des Menschen <strong>das</strong><br />

primäre Medium <strong>der</strong> Selbst- <strong>und</strong> <strong>Welt</strong>erkenntnis, <strong>und</strong> nicht sein Geist.<br />

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Für <strong>Schopenhauer</strong> ist <strong>das</strong> Verständnis des Willens <strong>der</strong> Weg zum Verstehen<br />

des Wesens <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>. Der unvoreingenommene Blick auf den Triebwillen <strong>der</strong><br />

uns beständig hierhin <strong>und</strong> dorthin drängt lässt uns seiner Meinung nach<br />

erkennen, was die <strong>Welt</strong> im Innersten zusammen hält. Wenn <strong>Schopenhauer</strong><br />

den Menschen betrachtet sieht er nicht seinen Geist o<strong>der</strong> einen ihm<br />

übergeordneten Schöpfergott; er sieht eine geistlose blinde Triebnatur, die sich<br />

am Willen zum Leben orientiert. Wille, sagt er, ist <strong>das</strong> Gegenteil ruhenden<br />

Genügens. Er ist Unruhe, streben nach etwas, lechzen, Gier, Verlangen,<br />

Leidenschaft <strong>und</strong> damit auch Leiden. Der Wille ist nicht nur die ewig<br />

unbefriedigte Lebenskraft, er ist zudem die Quelle des Leidens. Der Triebwille<br />

hat den Menschen in <strong>der</strong> Hand.<br />

Der Wille ist mit Aktionen des Körpers identisch; man kann nicht wirklich<br />

etwas wollen, ohne wahr zu nehmen, <strong>das</strong>s dieses Wollen als Reaktion im<br />

Körper erscheint. Der Akt des Wollens <strong>und</strong> die Aktionen, bzw. Reaktionen<br />

des Körpers sind keine zwei von einan<strong>der</strong> getrennte Zustände, die etwa durch<br />

Kausalität miteinan<strong>der</strong> verb<strong>und</strong>en wären; <strong>das</strong> Wollen <strong>und</strong> die Reaktionen des<br />

Körpers haben keine Beziehung von Ursache <strong>und</strong> Wirkung zueinan<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong>art, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Wille die Ursache für die Wirkung im Körper wäre. Nein,<br />

Wille <strong>und</strong> Körper sind Eines <strong>und</strong> <strong>das</strong> Selbe, folgert <strong>Schopenhauer</strong><br />

konsequent. "Die Aktion des Leibes", sagt er "ist nichts An<strong>der</strong>es, als <strong>der</strong><br />

objektivierte, ... Akt des Willens."<br />

Wenn <strong>Schopenhauer</strong> vom "Willen" spricht, dann meint er aber zunächst nicht<br />

<strong>das</strong> was wir im Lebensalltag als Wille verstehen. Sein Verständnis des Willens<br />

als Gr<strong>und</strong>voraussetzung alles Seienden reicht tiefer. Denn dieser Eine<br />

allumfassende Wille den er erkennt, liegt außerhalb von Zeit <strong>und</strong> Raum.<br />

Dieser Wille, sagt er, ist Einer ohne ein Zweites. Und dieser Eine Wille spaltet<br />

sich in die Vielheit <strong>der</strong> Erscheinungen auf <strong>und</strong> erscheint dadurch in Zeit <strong>und</strong><br />

Raum. Dieses sich Aufspalten des Einen Willens in die Vielheit nennt<br />

<strong>Schopenhauer</strong> prinzipium individuationis. Der Eine <strong>und</strong> ungeteilte nicht<br />

sichtbare Wille objektiert sich indem er sich in Form materieller Gestalten in<br />

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Raum <strong>und</strong> Zeit zeigt <strong>und</strong> dadurch Objekt wird. Durch dieses "zum Objekt<br />

Werden" entfaltet sich <strong>der</strong> Eine Wille <strong>und</strong> wird zu einer Willens-Vielfalt; er<br />

wird zu Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen <strong>und</strong> deshalb wahrnehmbar. Der Eine – <strong>der</strong><br />

formlose Wille – fließt gewissermaßen in die Erscheinungsvielfalt <strong>der</strong> <strong>Welt</strong><br />

auseinan<strong>der</strong>. Diese Spaltung des Einen Willens in die Vielheit <strong>der</strong><br />

Erscheinungen meint <strong>Schopenhauer</strong>, wenn er vom prinzipium individuationis<br />

spricht.<br />

In diesem Gedankenbild <strong>Schopenhauer</strong>s ist jede Person, jedes Individuum<br />

eine objektivierte Erscheinung des Einen Willens; <strong>und</strong> im<br />

unvoreingenommenen Erfahren unserer selbst können wir deshalb erkennen,<br />

meint <strong>Schopenhauer</strong>, <strong>das</strong>s wir nicht frei, son<strong>der</strong>n dem Willen unterworfen<br />

sind. Denn <strong>der</strong> in uns <strong>und</strong> durch uns wirkende Wille wirkt mit o<strong>der</strong> ohne<br />

unsere Erkenntnis. Zwar kann dieses Wollen von unserer Erkenntnis begleitet<br />

sein; aber von ihr geleitet, ist dieses archaische Wollen nicht.<br />

In diesem Zusammenhang zitiert <strong>Schopenhauer</strong> in einer seiner Schriften eine<br />

Metapher des holländischen Philosophen BARUCH DE SPINOZA aus dem 17.<br />

Jhdt., <strong>der</strong> gesagt hat: <strong>das</strong>s <strong>der</strong> durch einen Wurf hoch fliegende Stein, wenn er<br />

ein Bewusstsein seiner selbst hätte, meinen würde, aus eigenem Willen hoch<br />

zu fliegen. Und <strong>Schopenhauer</strong> kommentiert, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Stein damit Recht<br />

haben würde. Hätte er tatsächlich Recht, o<strong>der</strong> würde er sich lediglich<br />

einbilden, Recht zu haben? Die Antwort auf diese Frage hängt davon ab, ob<br />

man vom Einen ungeteilten, o<strong>der</strong> von den individualisierten <strong>und</strong> somit<br />

geteilten Willenserscheinungen ausgeht. Was ist <strong>der</strong> Unterschied? Das<br />

archaische Eine Wollen kennt kein Nein; <strong>das</strong> subjektive individualisierte<br />

Wollen dagegen schon. Das einzige entscheidende Kriterium dafür, <strong>das</strong>s wir<br />

uns als Menschen als willensfähig erfahren <strong>und</strong> unseren individuellen Willen<br />

erkennen können, zeigt sich darin, <strong>das</strong>s wir imstande sind nein sagen zu<br />

können zum archaischen Wollen, <strong>das</strong> uns blind zu zwingen scheint.<br />

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Um sich aus diesem Kreislauf zu befreien, <strong>das</strong> <strong>der</strong> archaische Eine Wille<br />

durch sein triebhaftes Begehren verursacht, lehrt uns <strong>Schopenhauer</strong> diesen<br />

Willen zu verneinen, die Begierden, Affekte <strong>und</strong> Leidenschaften zu zügeln.<br />

Das individuelle Wollen soll sich über die Leidenschaften des Körpers <strong>und</strong><br />

dessen archaischem Wollen ermächtigen.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> schreibt: "So sehen wir in <strong>der</strong> Natur überall Streit, Kampf <strong>und</strong><br />

Wechsel des Sieges, <strong>und</strong> werden darin weiterhin die dem Willen wesentliche<br />

Entzweiung mit sich selbst deutlicher erkennen." Jede Objektivierung des<br />

Willens macht einer an<strong>der</strong>en Objektivierung die Existenz streitig. Nach<br />

<strong>Schopenhauer</strong> zeigt sich darin die Offenbarung einer im Willen selbst<br />

angelegten Entzweiung mit sich selbst. Er illustriert diesen Gedanken mit<br />

einer Beschreibung <strong>der</strong> australischen Bulldogs-Ameise: wenn man sie<br />

durchschneidet, beginnt ein Kampf zwischen dem Kopf- <strong>und</strong> dem<br />

Schwanzteil; <strong>der</strong> Kopf greift den Schwanzteil mit seinem Gebiss an, <strong>und</strong><br />

dieser wehrt sich tapfer, indem er immer wie<strong>der</strong> auf den Kopf einsticht. Ein<br />

solcher Kampf pflegt eine halbe St<strong>und</strong>e lang zu dauern. Ein an<strong>der</strong>es Beispiel<br />

aus <strong>der</strong> Biologie <strong>der</strong> Fortpflanzung, <strong>das</strong> uns ADRIAN FORSYTH in dem Buch<br />

"Die Sexualität in <strong>der</strong> Natur" schil<strong>der</strong>t, vermittelt uns ebenso die Aufspaltung<br />

des Einen Willens in die "Entzweiung mit sich selbst". Es ist ein Beispiel aus<br />

dem Bereich <strong>der</strong> Fortpflanzung <strong>und</strong> zeigt den Willen des Einen gegen den<br />

Willen des An<strong>der</strong>en beson<strong>der</strong>s anschaulich. Dieses Beispiel entfaltet seine<br />

Botschaft um so deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, <strong>das</strong>s es sich dabei<br />

um einen Ausdruck des archaischen Willens handelt. Es ist die sexuelle<br />

Strategie <strong>der</strong> männlichen Skorpionflige: die Vergewaltigung. Die Männchen<br />

machen sich auf die Suche nach einem Weibchen. Sobald ein Männchen ein<br />

Weibchen entdeckt, stürzt es sich darauf <strong>und</strong> packt es mit seinen großen<br />

Genitalzangen. Hat <strong>das</strong> Männchen <strong>das</strong> Weibchen fest in seinen Griff<br />

bekommen, versucht es <strong>das</strong> sich wehrende Weibchen in eine<br />

kopulationsgerechte Lage zu bringen. Das gelingt ihm mit Hilfe eines<br />

speziellen Haftorgans, <strong>das</strong> es ihm ermöglicht trotz des sich heftig wehrenden<br />

Weibchens sein Genitalorgan mit dem des Weibchens in Kontakt zu bringen<br />

<strong>und</strong> es zu besamen.<br />

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An die Eier eines Weibchen heran zu kommen, lässt sich natürlich auch mit<br />

an<strong>der</strong>en, weniger drastischen Methoden erreichen, in denen sich <strong>das</strong><br />

archaische Wollen in an<strong>der</strong>er Form zeigt. Das ist die sexuelle Strategie, ein<br />

sesshafter Zwerg zu werden. Dazu entwickeln sich die Männchen zu winzig<br />

kleinen Wesen, die entwe<strong>der</strong> innerhalb o<strong>der</strong> außerhalb eines Weibchens als<br />

tragbare Samenbank leben. Die Männchen haben sich zu einer parasitären<br />

Form entwickelt, die es ihnen ermöglicht, sich auf Dauer bei einem Weibchen<br />

einzunisten indem sie sich auf ein reines Fortpflanzungsorgan reduziert<br />

haben. Der Biologe ADRIAN FORSYTH schreibt: "Nichts spricht dafür, <strong>das</strong>s<br />

<strong>das</strong>, was natürlich ist, auch gut ist. Der Mensch hat Verstand <strong>und</strong><br />

Willenskraft, <strong>und</strong> er kann diesem Szenario entgegen wirken."<br />

Wenn die <strong>Welt</strong>, wie <strong>Schopenhauer</strong> meint, eine Manifestation des Willens ist:<br />

Wessen Wollen ist es? Wer will etwas? Für ihn ist <strong>das</strong> universale Wollen <strong>das</strong>,<br />

was we<strong>der</strong> Anfang noch Ende hat. Weil es ist <strong>und</strong> von nichts Konkretem<br />

bedingt wird, demnach also ohne Ursache ist, deshalb ist es außerhalb von<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit. Erst dadurch, <strong>das</strong>s sich <strong>das</strong> Wollen objektiviert, <strong>das</strong> heißt:<br />

indem es sich in Raum <strong>und</strong> Zeit aufspaltet <strong>und</strong> sich dadurch als<br />

Erscheinungen in Raum <strong>und</strong> Zeit objektiviert, erzeugt es Ursachen <strong>und</strong><br />

Wirkungen. Man könnte deshalb sagen: Die <strong>Welt</strong> ist, weil die <strong>Welt</strong> vom<br />

Willen gewollt wird; weil sich <strong>der</strong> Wille sich in <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong> Erscheinungen<br />

äußern <strong>und</strong> gestalten will. Die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Objekte wird gewollt. Die Objekte<br />

sind ein Ausdruck des Wollens selbst. Deshalb ist jede Erscheinungsform ein<br />

Ausdruck des Einen Willens <strong>der</strong> sich in die Vielheit aufspaltet. Wenn ich <strong>das</strong><br />

in einem einfachen Beispiel darzustellen versuche, zeigt sich folgendes Bild:<br />

Der Eine Wille objektiviert sich in <strong>der</strong> Lebenswelt zu Lebewesen, die in ihrem<br />

Existieren voneinan<strong>der</strong> getrennt sind; in <strong>der</strong> menschlichen Lebenswelt<br />

entfaltet sich dieser Eine Wille zu Ich <strong>und</strong> Du. Er spaltet sich auf zu Ich <strong>und</strong><br />

Du; <strong>das</strong> führt dazu, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Ich etwas an<strong>der</strong>es wollen kann als <strong>das</strong> Du. Auf<br />

diese Weise entsteht <strong>und</strong> entfaltet sich die Komplexität <strong>der</strong> Lebenswelt mit all<br />

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ihrer Brutalität, die dadurch gegeben ist, <strong>das</strong>s sich die Einheit des Wollens im<br />

gegensätzlichen Wollen <strong>der</strong> Vielheit bricht.<br />

Die Philosophie <strong>Schopenhauer</strong>s lebt aus <strong>der</strong> Spannung zwischen Willen <strong>und</strong><br />

Vernunft, zwischen Körper <strong>und</strong> Geist. Der Eine Wille, <strong>der</strong> Triebwille als<br />

Wille zum Leben wird von ihm als eine ungeheuere Macht angesehen mit <strong>der</strong><br />

die Vernunft schwer zu kämpfen hat. Nur unter günstigsten Bedingungen <strong>und</strong><br />

beständigen Bemühungen, meint er, kann <strong>der</strong> individualisierte Wille den<br />

archaischen Willen zügeln, <strong>und</strong> einen vom Triebwillen befreiten Zustand<br />

erleben. "Wo Es ist soll Ich werden", hat SIGMUND FREUD nach<br />

<strong>Schopenhauer</strong> gesagt <strong>und</strong> damit vermutlich <strong>das</strong>selbe gemeint wie er.<br />

Wenn <strong>Schopenhauer</strong> fragt: "Was lässt uns leben? Welche Macht formt den<br />

Leib <strong>und</strong> lässt ihn leben?", dann geht er dieser Frage tiefer nach als die<br />

Wissenschaften, wenn er sich überlegt, worin <strong>das</strong> Prinzip besteht, <strong>das</strong> uns<br />

leben lässt. Die Wissenschaften, kritisiert er, beobachten <strong>das</strong> Leben nur von<br />

außen. Sein Ansatz dagegen besteht darin, die Phänomene nicht von außen,<br />

son<strong>der</strong>n von innen her zu betrachten. Und <strong>das</strong>, was er nach innen fühlend<br />

<strong>und</strong> nach innen schauend findet ist die Energie des Wollens.<br />

Man könnte meinen, <strong>das</strong>s <strong>der</strong> Wille, den <strong>Schopenhauer</strong> erkennt, <strong>das</strong>jenige ist,<br />

<strong>das</strong> in <strong>der</strong> Theologie als Gott verstanden wurde. Für ihn ist aber <strong>der</strong> Wille<br />

weit entfernt von einem persönlich gedachten <strong>und</strong> agierenden Schöpfergott.<br />

Im Gegenteil: Der Wille, den <strong>Schopenhauer</strong> meinst, ist blind. Und weil er<br />

blind ist, deshalb ist er we<strong>der</strong> gut noch böse.<br />

Sobald sich <strong>der</strong> Wille in Form von Objekten zeigt, <strong>und</strong> diese Objekte Vernunft<br />

entwickeln, dann ist diese Vernunft aus <strong>der</strong> Sicht <strong>Schopenhauer</strong>s ein zufälliges<br />

Nebenprodukt. Denn <strong>der</strong> Körper <strong>und</strong> dessen Wollen, sagt er, hat die<br />

menschliche Vernunft gar nicht nötig. Die Evolutionsbiologie würde<br />

<strong>Schopenhauer</strong> vermutlich Recht geben. In Patagonien hat man im Jahr 2007<br />

<strong>das</strong> Skelett eines bisher unbekannten Riesen aus <strong>der</strong> Familie <strong>der</strong> Titanosaurier<br />

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mit einer Gesamtlänge von 32 Metern gef<strong>und</strong>en. Diese Tiere haben zu einer<br />

Zeit gelebt als es noch keine Hominiden gab. Zudem hat es eine viele<br />

tausende von Jahren dauernde hominide Existenz gegeben in <strong>der</strong> es <strong>das</strong>, was<br />

<strong>Schopenhauer</strong> als Vernunft versteht noch nicht gab. Tatsachen dieser Art<br />

scheinen zu bestätigen, <strong>das</strong>s es ein blindes Wollen, einen Lebenstrieb ohne<br />

Vernunft gibt. Wird dadurch die Aussage <strong>Schopenhauer</strong>s bestätigt?<br />

Keineswegs. Denn <strong>das</strong> was für <strong>Schopenhauer</strong> offenbar ein "blindes Wollen"<br />

ist, offenbart bei näherer Betrachtung ein auf Vorstellung beruhendes<br />

Geschehen, <strong>das</strong> er als "Verstand" bezeichnet. Dieser Verstand ist allerdings<br />

zur Gänze dem bedingungslosen Trieb zum Leben <strong>und</strong> Überleben unter<br />

geordnet. Der archaische Wille nutzt Vorstellung <strong>und</strong> Verstand, um seinen<br />

Willen durch zu setzen.<br />

Wie kommt es zum Phänomen <strong>der</strong> Vorstellung? Wir erfahren die <strong>Welt</strong> durch<br />

unsere Sinne; <strong>und</strong> wir erkennen <strong>das</strong>, was uns die Sinne vermitteln durch die<br />

Funktionen des Gehirns. Das Gehirn organisiert die Sinnesimpulse <strong>und</strong><br />

konfiguriert daraus eine Vorstellung von einer <strong>Welt</strong> außerhalb des Gehirns.<br />

Diesen Zusammenhang meint <strong>Schopenhauer</strong>, wenn er sagt, <strong>das</strong>s die<br />

Erkenntnis <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> durch eine Beziehung zwischen Subjekt <strong>und</strong> Objekt<br />

zustande kommt, <strong>und</strong> <strong>das</strong>s wir uns eine "objektive" <strong>Welt</strong> nicht vorstellen<br />

können, weil jede Vorstellung ein Akt dieser Beziehung ist. Jedes Objekt<br />

unserer Betrachtung ist somit ein Produkt <strong>der</strong> Vorstellung. Sie wird durch eine<br />

Wechselwirkung von Außenwelt, Sinnesfunktion <strong>und</strong> Gehirn erzeugt. Die<br />

Sinne empfangen Reize <strong>der</strong> Außenwelt in Form von Nervenimpulsen, die an<br />

verschiedene Bereiche des Gehirns weiter geleitet werden. Dort werden die<br />

Impulse vom Gehirn organisiert <strong>und</strong> zu Vorstellungen umgewandelt. Diese<br />

Umwandlung ist ein Akt des Gehirns. Weil aber dieses Gehirn ein Gehirn<br />

gewordener Willen ist, deshalb ist die vom Gehirn erzeugte Vorstellung ein<br />

Akt des Willens. <strong>Schopenhauer</strong> meint, <strong>das</strong>s <strong>das</strong>jenige, was Alles erkennt <strong>und</strong><br />

von Keinem erkannt wird, <strong>der</strong> Wille ist. Er ist <strong>der</strong> Träger <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, die<br />

durchgängige <strong>und</strong> stets vorausgesetzte Bedingung je<strong>der</strong> Erscheinung <strong>und</strong><br />

damit eines jeden Objekts. Der Wille im Subjekt ist <strong>das</strong>, was erkennt.<br />

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Die <strong>Welt</strong>, die wir erkennen, ist nach <strong>Schopenhauer</strong> eine <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Vorstellung.<br />

Sie ist eine <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Phänomene. Was ist ein Phänomen? Es ist etwas, <strong>das</strong><br />

erscheint. Damit etwas erscheinen kann, bedarf es eines Objekts <strong>und</strong> eines<br />

erkennenden Subjekts. Ohne Subjekt kann es keine Erscheinung geben; denn<br />

jede Erscheinung erscheint einem Subjekt. Ein Objekt kann keinem an<strong>der</strong>en<br />

Objekt erscheinen. Deshalb ist die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Phänomene eine <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

Vorstellungen. Eine Vorstellung, ein Phänomen ist eine untrennbare Einheit<br />

von Objekt <strong>und</strong> Subjekt. Verschwänden die Subjekte, würde auch die <strong>Welt</strong><br />

<strong>der</strong> Phänomene, würde auch die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Erscheinungen verschwinden.<br />

Die Einsicht <strong>Schopenhauer</strong>s, <strong>das</strong>s die Realität, als eine <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

Erscheinungen nur als Vorstellung existieren würde, führt zu einer<br />

skeptischen Gedankenreaktion. Man wird sich nämlich sagen, <strong>das</strong>s die <strong>Welt</strong><br />

schon existiert hat bevor es den Menschen gab. Und je<strong>der</strong> würde es<br />

vermutlich als selbstverständlich ansehen, <strong>das</strong>s es die Realität auch ohne den<br />

Menschen gibt. Deshalb muss man sich vor Augen halten, <strong>das</strong>s in diesem<br />

Zusammenhang, wenn es um die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Phänomene geht, von einer <strong>Welt</strong><br />

<strong>der</strong> Erscheinungen die Rede ist, die tatsächlich nur so lange <strong>und</strong> in so fern<br />

existiert, als es ein wahrnehmendes <strong>und</strong> erkennendes Subjekt <strong>und</strong> somit die<br />

Vorstellung gibt. Ohne diese Vorstellung, ohne wahrnehmendes <strong>Erkennen</strong><br />

löst sich die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Phänomene auf. "Aber die <strong>Welt</strong> würde trotzdem weiter<br />

existieren", mag man dagegen argumentieren. Selbstverständlich existiert sie<br />

weiter; aber auf eine Weise, die nicht erfahren werden kann, wenn es kein<br />

Subjekt gibt, dem die <strong>Welt</strong> als Vorstellung erscheint.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> unterscheidet zwischen intuitiven <strong>und</strong> abstrakten<br />

Vorstellungen. Abstrakte Vorstellungen beruhen auf Begriffen, die sich von<br />

<strong>der</strong> unmittelbar anschauenden, <strong>der</strong> intuitiven Vorstellung unterscheiden.<br />

Dieser Unterschied zwischen abstrakter <strong>und</strong> intuitiver Anschauung, zwischen<br />

dem abstrakten <strong>und</strong> intuitiven <strong>Erkennen</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Objekte hängt mit dem<br />

<strong>Erkennen</strong> des Raumes <strong>und</strong> <strong>der</strong> Zeit zusammen. Denn: Was ist eigentlich ein<br />

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Objekt?, fragt <strong>Schopenhauer</strong> <strong>und</strong> sucht damit eine Antwort die Frage: was ist<br />

Materie? Und er erkennt, <strong>das</strong>s jedes materielle Objekt nur <strong>und</strong> ausschließlich<br />

im Kontext von Einwirkungen in Bezug auf ein an<strong>der</strong>es Objekt existiert <strong>und</strong><br />

somit eine Erscheinung im Netz von Ursache <strong>und</strong> Wirkung ist. Das, so folgert<br />

er weiter, ist <strong>das</strong> Wesen <strong>der</strong> Materie: sie ist Wirkung. Materie ist Wirkung.<br />

Und wir bezeichnen die Vorstellungen, die wir uns von den Wirkungen<br />

machen als "Materie".<br />

Die Realität <strong>der</strong> materiellen Wirklichkeit ist also Wirkung. Wir erfahren diese<br />

Wirkungen in Raum <strong>und</strong> Zeit. Beide, Raum <strong>und</strong> Zeit beruhen auf abstrakten<br />

Anschauungen. Denn <strong>das</strong>, was wir zeitlich als Vorher <strong>und</strong> Nachher, <strong>und</strong> was<br />

wir räumlich als ein Hier <strong>und</strong> ein Dort erkennen sind Abstraktionen des<br />

Subjekts; es sind Vorstellungen, mit <strong>der</strong>en Hilfe <strong>der</strong> Mensch die<br />

Erscheinungen betrachtet <strong>und</strong> ordnet. Für die intuitive <strong>und</strong> unmittelbare<br />

Anschauung existiert nur ein komplexes Netz von Hier <strong>und</strong> Jetzt. Erst die<br />

Vorstellung von Raum <strong>und</strong> Zeit führt zur Vorstellung von Materie. Das aber<br />

bedeutet, <strong>das</strong>s die Vorstellung von Materie ein sensorisches Erleben<br />

voraussetzt, <strong>das</strong> mit <strong>der</strong> abstrakten Vorstellung von Raum <strong>und</strong> Zeit verknüpft<br />

wird. Dieser Zusammenhang sagt uns im Umkehrschluss, <strong>das</strong>s die Materie<br />

ausschließlich im Kontext eines sensorisch erlebenden Subjekts erscheint, <strong>das</strong><br />

dieses Erleben in Verbindung seiner Anschauung von Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

strukturiert.<br />

Für den philosophischen Realismus ist <strong>das</strong> Objekt die Ursache für <strong>das</strong><br />

Subjekt. Für den philosophischen Idealismus ist <strong>das</strong> Subjekt die Ursache für<br />

<strong>das</strong> Objekt. <strong>Schopenhauer</strong> sieht es so, <strong>das</strong>s Objekt <strong>und</strong> Subjekt zwei<br />

verschiedene <strong>und</strong> koexistente Seiten des Einen Willens sind. Im Licht dieser<br />

Betrachtung lässt sich ein Objekt ohne Subjekt nicht vorstellen; <strong>und</strong> <strong>das</strong><br />

bedeutet: die Objekte, die als materielle Formen erscheinen, bedürfen des<br />

Subjekts; <strong>und</strong> <strong>das</strong> Subjekt bedarf <strong>der</strong> Objekte, um sich erfahren zu können.<br />

Das Eine kann nicht ohne <strong>das</strong> An<strong>der</strong>e sein. Es gibt keine Erscheinung eines<br />

Objekts ohne Subjekt; <strong>und</strong> es gibt kein Subjekt, ohne die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Objekte.<br />

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<strong>Schopenhauer</strong> sagt: "Die ganze <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Objekte ist <strong>und</strong> bleibt Vorstellung,<br />

<strong>und</strong> eben deswegen durchaus <strong>und</strong> in alle Ewigkeit durch <strong>das</strong> Subjekt bedingt."<br />

Die anschauliche <strong>Welt</strong> – die <strong>Welt</strong> als Anschauung <strong>und</strong> Vorstellung: wie<br />

unterscheidet sie sich von <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Träume, die ja auch Anschauung <strong>und</strong><br />

Vorstellung sind? An<strong>der</strong>s gefragt: Wenn die <strong>Welt</strong> des Realen Anschauung<br />

<strong>und</strong> Vorstellung ist, <strong>und</strong> die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Träume auch – wie lassen sich dann<br />

Traum <strong>und</strong> Wirklichkeit, wie lassen sich Phantasie <strong>und</strong> Realität voneinan<strong>der</strong><br />

unterscheiden? Für <strong>Schopenhauer</strong> besteht <strong>der</strong> einzige Unterschied darin, <strong>das</strong>s<br />

wir nach dem Träumen erwachen, wodurch die geträumten Begebenheiten<br />

von den Begebenheiten im Wachsein getrennt erscheinen <strong>und</strong> dadurch<br />

unterscheidbar werden. Das aber sagt nichts an<strong>der</strong>es, als <strong>das</strong>s es lediglich<br />

einen Unterschied zwischen einem Schlaftraum <strong>und</strong> einem Wachtraum zu<br />

geben scheint. Mit an<strong>der</strong>en Worten: im Wachsein träumen wir die<br />

Vorstellung einer Realität, <strong>und</strong> im Schlaf träumen wir die Wirklichkeit <strong>der</strong><br />

Vorstellung. Im tibetischen Yoga des Träumens, den TENZIN WANGYAL<br />

RINPOCHE beschreibt, heißt es: Betrachte die Realität, als würdest du sie<br />

träumen. Betrachte deinen Traum, als wäre er Realität.<br />

Aus dem bisher Gesagten ergibt sich, <strong>das</strong>s auch <strong>der</strong> Körper, den man hat, nur<br />

als Vorstellung existiert. Insofern <strong>der</strong> Körper ein Objekt, <strong>und</strong> die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

Objekte eine mentale Konstruktion, also Vorstellung ist, insofern ist demnach<br />

auch <strong>der</strong> Körper eine Vorstellung. Hier zeigt sich uns eine Parallele zum<br />

buddhistische o<strong>der</strong> hiduistischen Denken; zum Beispiel wenn gesagt wird,<br />

<strong>das</strong>s die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> somit auch wir selbst keine inhärente<br />

Existenz besitzen. Das heißt: Es gibt eine Erscheinung nur als Komposition<br />

von Bedingungen, die den, die Erscheinung beobachtenden Menschen, stets<br />

<strong>und</strong> unausweichlich mit ein beziehen. Und weil <strong>das</strong> für jede Form einer<br />

Erscheinung <strong>der</strong> Objektwelt gilt, betrifft dies auch unseren Körper mit dem<br />

wir uns unbewusst identifizieren. Nur durch ein Daten organisierendes<br />

Gehirn, <strong>das</strong> Vorstellungen ermöglicht, erfahren wir unseren Körper als ein in<br />

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Raum <strong>und</strong> Zeit ausgedehntes, geglie<strong>der</strong>tes, geordnetes <strong>und</strong> stabil scheinendes<br />

Phänomen.<br />

Den Überlegungen <strong>Schopenhauer</strong>s zufolge können wir den archaischen Einen<br />

Willen nur im Kontext von Raum <strong>und</strong> Zeit erfahren. Das heißt: Nur deshalb,<br />

weil es uns als körperliches Objekt gibt, <strong>das</strong> eine Objektivierung des Willens<br />

ist, können wir eine Vorstellung von Willen haben. Der Körper ist die<br />

Voraussetzung dafür, um den Willen zu erfahren <strong>und</strong> erkennen zu können.<br />

Dies meint <strong>Schopenhauer</strong>, wenn er sagt: "Aber wenn wir nun die Realität<br />

dieses Leibes <strong>und</strong> seiner Aktionen analysieren, so treffen wir nichts darin an,<br />

als den Willen." Weil er <strong>das</strong> so sieht, deshalb will er auch jede Kraft in <strong>der</strong><br />

Natur als Wille gedacht verstanden wissen. Der Wille ist für ihn etwas, <strong>das</strong><br />

seinen Ursprung nicht in den Erscheinungen, nicht in den in Raum <strong>und</strong> Zeit<br />

erscheinenden Objekten <strong>und</strong> auch nicht in <strong>der</strong> Vorstellung hat, son<strong>der</strong>n<br />

ausschließlich in sich selbst.<br />

"Wille" ist für <strong>Schopenhauer</strong> nicht nur <strong>das</strong> uns bekannte bewusste Wollen,<br />

son<strong>der</strong>n ein viel archaischeres Wollen von dem unser bewusstes Wollen nur<br />

ein Aspekt ist. So wie wir uns etwas vorstellen können, wenn wir <strong>das</strong> wollen,<br />

<strong>und</strong> wollen können, was wir uns vorstellen indem wir es verwirklichen, so ist<br />

zum Beispiel unser Körper <strong>der</strong> Ausdruck einer objektivierten Vorstellung des<br />

archaischen Willens. Der archaische Willen objektiviert sich <strong>und</strong> erscheint in<br />

Gestalt des menschlichen Körpers. Nimmt dieser an sich gestaltlose Wille die<br />

Form einer Erscheinung an, dann hat sich <strong>der</strong> Wille objektiviert. Aber <strong>der</strong><br />

Wille selbst ist zeit- <strong>und</strong> formlos. Er existiert nicht in Raum <strong>und</strong> Zeit; <strong>das</strong> tun<br />

nur die Objekte, die eine Objektierung des formlosen archaischen Willens sind.<br />

Der archaische Wille ist <strong>das</strong> Wesen <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>. Die sichtbare <strong>Welt</strong>, die <strong>Welt</strong><br />

<strong>der</strong> Erscheinungen ist Ausdruck des Willens. Weil Wille ist, ist <strong>Welt</strong>. Weil<br />

Wille ist, ist Leben. Der Wille selbst ist ein unaufhaltsamer Drang. Er will<br />

<strong>Welt</strong> – er will <strong>das</strong> Leben. Geburt <strong>und</strong> Tod gehören beide zur Erscheinung des<br />

Willens – also zum Leben. Alles was ist, die gesamte Natur ist demnach<br />

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objektivierter Wille. Die Erscheinungsformen, die Art <strong>und</strong> Weise wie sich <strong>der</strong><br />

archaische Wille objektiviert, wechseln - doch <strong>der</strong> Wille selbst hört nie auf zu<br />

sein. Er schafft sich aus <strong>der</strong> Materie seine Formen, die entstehen <strong>und</strong><br />

vergehen; doch <strong>der</strong> im Wechsel <strong>und</strong> Wandel <strong>der</strong> Formen sich äußernde Wille<br />

bleibt von all dem Wandel unberührt. Jede individuelle Lebenserscheinung ist<br />

ein Ausdruck des Willens. Er ist <strong>der</strong> große Gestaltgeber.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> unterscheidet die äußere Form einer Erscheinung vom inneren<br />

Wesen einer Erscheinung. Über <strong>das</strong> innere Wesen einer Erscheinung kann<br />

uns die Wissenschaft keinen Aufschluss geben, sagt er; dies liegt außerhalb<br />

ihrer Möglichkeiten. Das innere Wesen <strong>der</strong> Erscheinungen muss den<br />

Wissenschaften verborgen bleiben. Aber eben diese Erkenntnis des Wesens<br />

<strong>der</strong> Dinge ist <strong>Schopenhauer</strong>s Anliegen. Von außen lässt es sich nicht<br />

erkennen. Die Betrachtung unseres Körpers von außen führt uns nicht zum<br />

Wesen unserer Existenz. Erst durch die Konzentration auf unser Innerstes<br />

erfahren wir dieses Wesen, <strong>das</strong> unseren Körper zu dem macht, was er ist. Der<br />

Wille zeigt sich uns in den Regungen des Körpers. Denn Wille uns Körper<br />

sind eins. Wille <strong>und</strong> Körper wollen am Leben bleiben. Beide wollen Unlust<br />

vermeiden <strong>und</strong> Lust steigern. Je<strong>der</strong> unmittelbare Akt des Willens ist zugleich<br />

ein unmittelbarer Akt des Leibes. So ist auch jede Einwirkung auf den Körper<br />

eine unmittelbare Einwirkung auf den Willen. Diese Einwirkung nennen wir<br />

Schmerz, wenn sie dem Willen zuwi<strong>der</strong> ist <strong>und</strong> wir erfahren sie als<br />

Wohlbehagen o<strong>der</strong> Wohllust, wenn sie seinem Willen gemäß ist. Das Wesen<br />

des Willens ist Wollen im Sinne des Begehrens, <strong>das</strong> sich im Körper zeigt. Es<br />

ist Begehren nach Nahrung <strong>und</strong> Fortpflanzung. In allen Aspekten <strong>und</strong><br />

Funktionen des Leibes zeigt sich dieses archaische Wollen. Leib, Leben <strong>und</strong><br />

Wille sind Eines.<br />

Obwohl sich <strong>das</strong> archaische Wollen des Lebens in <strong>der</strong> Vielfalt <strong>der</strong><br />

Einzelwesen zeigt, sind alle diese Einzelwesen, die in Raum <strong>und</strong> Zeit getrennt<br />

erscheinen im Willen geeint. Jedes Subjekt ist mit jedem Lebewesen aufgr<strong>und</strong><br />

seines Wollens im Wesen identisch. Tat tvam asi – dieses Lebende bist du,<br />

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heißt es in den indischen Veden. Der Wille ist die Macht, die alles Leben<br />

verbindet. Dieser überindividuelle Wille gibt uns die Fähigkeit zum Mitleiden<br />

am Leiden an<strong>der</strong>er Lebewesen. Ebenso gibt er uns aber auch die Fähigkeit<br />

zum Vernichten <strong>und</strong> Quälen des Nächsten. Weil wir alle im Willen geeint<br />

sind, deshalb können wir im Leiden des An<strong>der</strong>en unser eigenes Leiden<br />

erkennen. Wer zwischen sich <strong>und</strong> dem An<strong>der</strong>en trennt, wird nicht zu diesem<br />

Mitleiden fähig sein. Einerseits verbindet <strong>der</strong> Wille des Lebens jeden mit<br />

jedem. An<strong>der</strong>erseits ist dieses Verb<strong>und</strong>ensein im Willen <strong>der</strong> Anlass dafür, <strong>das</strong>s<br />

je<strong>der</strong> gegen jeden ist. Hat man dies erkannt, ergibt sich daraus eine Ethik, die<br />

sich auf die gesamte <strong>Welt</strong> erstreckt, weil man über den überindividuellen<br />

Willen mit allem verb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> demzufolge für alles Sorge zu tragen hat.<br />

Wer sich in <strong>der</strong> Liebe des alle Dinge einenden Willens übt, hat sich von <strong>der</strong><br />

Täuschung <strong>der</strong> prinzipii individuationis befreit, weil er die Spaltung zwischen<br />

sich <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> überw<strong>und</strong>en hat. Er kann seinen Willen in jedem Wesen<br />

erkennen; <strong>und</strong> den Willen in den Erscheinungen <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, hat er als seinen<br />

Willen erkannt. Im Willen ist die wesensgemäße Identität aller lebenden<br />

Wesen, ja, <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> zu finden. Was man an einem an<strong>der</strong>en Wesen verübt,<br />

verübt man demnach an seinem eigenen Wesen. "Wer dies erkennt <strong>und</strong><br />

danach lebt", sagt <strong>Schopenhauer</strong> "ist aller Tugend <strong>und</strong> Seligkeit gewiss. Das<br />

Übel <strong>und</strong> <strong>das</strong> Böse, <strong>das</strong> Leiden <strong>und</strong> <strong>der</strong> Hass, <strong>der</strong> Gequälte <strong>und</strong> <strong>der</strong> Quäler –<br />

so verschieden sie sich auch zeigen – sind im Wesen des Willens Eines." Das<br />

zu erkennen, ist nicht jedem eigen. Denn <strong>der</strong> archaische Wille blind wie <strong>der</strong><br />

Wille im Tier. Das Tier erkennt im an<strong>der</strong>en Tier nicht sich selbst, so wie <strong>der</strong><br />

Mensch im an<strong>der</strong>en Menschen sich selbst erkennen könnte. Das Tier erkennt<br />

im an<strong>der</strong>en Tier nur den Konkurrenten, o<strong>der</strong> für eine begrenzte Zeit, <strong>das</strong><br />

Paarungstier. Auch <strong>der</strong> Mensch erkennt im an<strong>der</strong>en Menschen nur den<br />

Konkurrenten o<strong>der</strong> den Paarungspartner. Im großen Teil <strong>der</strong> Menschheit<br />

kommt deshalb <strong>der</strong> Wille nicht zum Bewusstsein seiner selbst. Darum ist <strong>der</strong><br />

schlimmste Feind des Menschen <strong>der</strong> Mensch. Das ist deshalb so, weil sich die<br />

Macht des Wollens beim Einen gegen die Macht des Wollens beim An<strong>der</strong>en<br />

mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, seien es geistige o<strong>der</strong><br />

körperliche durchzusetzen versucht. Weil auch soziale Gemeinschaften<br />

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diesem archaischen Wollen in <strong>der</strong> Selbstdurchsetzung des Lebens unterliegen,<br />

entstehen (sowohl unter den Individuen, wie in den Gemeinschaften)<br />

eskalierende Situationen, die von <strong>der</strong> archaischen Macht des Willens zum<br />

Überleben dominiert werden.<br />

<strong>Schopenhauer</strong> fragt sich deshalb, wie man diesen blinden Zwang des Willens<br />

durchbrechen könnte. Der Tod ist keine Befreiung vom Willen, sagt er. Denn<br />

auch nach dem Tod ist man ein unsterblicher begehren<strong>der</strong> Wille. Man kann<br />

nur mittels <strong>der</strong> Erkenntnis <strong>der</strong> Drangsal des Willens entsagen. Nur über die<br />

Askese kann man sich dem Kreislauf des Wollens <strong>und</strong> damit des Leidens<br />

entziehen. Wer <strong>das</strong> prinzipium individuationis durchschaut, wer <strong>das</strong> Wesen <strong>der</strong><br />

Dinge erkennt, kann aus dem Bannkreis des Willens heraus treten. Der Wille<br />

wandelt sich indem man ihn verneint. Das ist Askese. Im verneinenden<br />

<strong>Erkennen</strong> entsteht eine Abwendung vom archaischen Willen zum Leben <strong>und</strong><br />

<strong>der</strong> als Bindung erkannten <strong>Welt</strong>. Der <strong>Erkennen</strong>de verleugnet deshalb die<br />

<strong>Welt</strong>. Dies ist für <strong>Schopenhauer</strong> <strong>der</strong> Sieg des Geistes über <strong>das</strong> blinde Wollen.<br />

Das Herauswachsen des verneinenden Willens aus dem Wollen des Körpers<br />

ist <strong>der</strong> Kerngedanke <strong>Schopenhauer</strong>s. Die Befreiung liegt in <strong>der</strong><br />

Selbsterkenntnis des Willens. In <strong>der</strong> vorstellenden <strong>und</strong> abstrahierenden<br />

Vernunft des Menschen kommt <strong>der</strong> Wille zur Erkenntnis seiner selbst <strong>und</strong> <strong>der</strong><br />

Mensch erkennt, was er ist. Im verneinenden Wollen liegt die Möglichkeit zur<br />

Aufhebung des Gefangenseins im begehrenden Wollen verborgen; es<br />

ermöglicht die Erlösung in die Freiheit indem es den Willen zur <strong>Welt</strong><br />

überwindet. Der Erlöser ist <strong>der</strong> Repräsentant <strong>der</strong> Verneinung des Willens zum<br />

Leben. Daher ist für <strong>Schopenhauer</strong> die freiwillige <strong>und</strong> durch kein Motiv<br />

begründbare Entsagung <strong>der</strong> Befriedigung des Triebes zum Leben, die<br />

Verneinung des archaisch zwingenden Willens <strong>der</strong> Weg zur Befreiung aus den<br />

Fesseln <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>.<br />

Das Instrument für diese Befreiung ist die abstrahierende Vernunft, die sich<br />

aus <strong>der</strong> Vorstellung heraus entwickelt. Diese Vorstellung wird - <strong>das</strong> wurde<br />

bereits angedeutet - vom Sinnesdaten organisierenden Gehirn erzeugt. Denn<br />

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<strong>der</strong> Mensch lebt, wie an<strong>der</strong>e Lebewesen auch mit <strong>und</strong> durch seine Sinne.<br />

Vermittels <strong>der</strong> Sinne nimmt er die <strong>Welt</strong> wahr. Die Sinne vermitteln ihm<br />

Daten <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>. Diese Daten bestehen aus Impulsen, die <strong>das</strong> Gehirn<br />

stimulieren. Vom stimulierten Gehirn werden aus diesen Daten Bil<strong>der</strong><br />

konstruiert, die uns zeigen, wie die <strong>Welt</strong> außerhalb von uns aussieht. Die vom<br />

Gehirn konstruierten Daten erzeugen also eine Vorstellung <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>.<br />

Deshalb, sagt <strong>Schopenhauer</strong>, ist die <strong>Welt</strong> eine Vorstellung. Seiner Philosophie<br />

nach haben wir also nicht die Außenwelt in unserem Kopf, son<strong>der</strong>n eine<br />

geistige Konstruktion davon – eben eine Vorstellung, o<strong>der</strong>: eine Anschauung<br />

<strong>der</strong> <strong>Welt</strong>. Aus den Sinnesdaten erschafft <strong>der</strong> Wille die Anschauung.<br />

Wenn wir eine Blume sehen, werden wir in unseren Gehirn keine Blume<br />

finden – nur Nervenströme. Was wir in uns haben ist also eine Vorstellung<br />

<strong>der</strong> Blume – eine Anschauung. Die <strong>Welt</strong> in <strong>der</strong> wir leben ist demnach eine Art<br />

Cyberspace, <strong>der</strong> vom Willen erzeugt wird; sie ist eine <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> neuronalen<br />

Konstruktion. Worin ein Mensch unmittelbare K<strong>und</strong>e haben kann, liegt also<br />

nicht außerhalb, son<strong>der</strong>n innerhalb seiner selbst. Über <strong>das</strong> hinaus kann es<br />

nach <strong>Schopenhauer</strong> keine unmittelbare Gewissheit geben. Die ganze <strong>Welt</strong> ist<br />

Objekt in Bezug auf ein Subjekt. Die <strong>Welt</strong> ist eine Anschauung des<br />

Anschauenden: sie ist Vorstellung.<br />

Wie kommt es von <strong>der</strong> anschauenden Vorstellung zu Verstand, Vernunft <strong>und</strong><br />

Wissen? Der japanische Philosoph NISHIDA KITARO beschreibt <strong>das</strong><br />

Phänomen <strong>der</strong> Anschauung so: Die anschauende Erfahrung ist<br />

Wahrnehmung des Gegenwärtigen <strong>und</strong> Tatsächlichen ohne Interpretation<br />

von Bedeutung. Etwas erfahren, so meint er, heißt <strong>das</strong> Tatsächliche erkennen<br />

ohne die Mitwirkung <strong>der</strong> interpretierenden <strong>und</strong> abstrahierenden Vernunft.<br />

Anschauendes Erfahren ist ein unmittelbares Wahrnehmen des Tatsächlichen<br />

wie es ist; <strong>und</strong> dieses "wie-es-ist" ist frei von Bedeutung.<br />

Nach <strong>Schopenhauer</strong> existiert die <strong>Welt</strong> als Anschauung nur durch einen<br />

Verstand, <strong>der</strong> sie wahrnimmt. Hier kommt ein Begriff ins Spiel, den<br />

<strong>Schopenhauer</strong> sehr eigenwillig anwendet: "Verstand". Die ganze <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

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Materie, meint er, erscheint uns nur aufgr<strong>und</strong> von Verstand. Erst <strong>der</strong> Verstand<br />

verwandelt die blinden Empfindung <strong>der</strong> Sinnesdaten in Anschauung. Wenn<br />

aber die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>das</strong> Resultat eines die Sinnesdaten<br />

organisierenden Verstandes ist, dann führt <strong>der</strong> nächste Gedankenschritt in die<br />

Richtung <strong>der</strong> Erkenntnis, <strong>das</strong>s auch Tiere verstandesbegabt sind. "Sie alle<br />

erkennen Objekte“, sagt <strong>Schopenhauer</strong> "<strong>und</strong> dieses <strong>Erkennen</strong> bestimmt als<br />

Motive ihre Bewegungen. Dieses verstehende <strong>Erkennen</strong> ist in allen Tieren<br />

<strong>und</strong> allen Menschen <strong>der</strong> nämliche, hat überall dieselbe einfache Form:<br />

Erkenntnis <strong>der</strong> Kausalität, Übergang von Wirkung auf Ursachen <strong>und</strong> von<br />

Ursache auf Wirkung, <strong>und</strong> nichts außer dem.“ So lange wir uns lediglich rein<br />

anschauend verhalten, ist alles klar <strong>und</strong> gewiss. Die Anschauung ist sich selbst<br />

genug. Sie benötigt keine Meinung, son<strong>der</strong>n nur die Sache selbst. Erst mit<br />

dem Beginn <strong>der</strong> abstrahierenden Anschauung, mit <strong>der</strong> Vernunft beginnen<br />

Zweifel <strong>und</strong> Irrtum.<br />

Die Abwesenheit <strong>der</strong> Vernunft bei Tieren beschränkt sie auf die unmittelbare<br />

gegenwärtige Anschauung <strong>der</strong> realen Objekte. Der Mensch dagegen vermag<br />

durch seine abstrahierende Vernunft über die aktuelle Gegenwart hinaus in<br />

Vorstellungen von Vergangenheit <strong>und</strong> Zukunft zu denken <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

vorher zu sehen. Was also für die Erkenntnis des Verstandes die Sinne sind,<br />

<strong>das</strong> ist für die Erkenntnis <strong>der</strong> Vernunft die Abstraktion. Und doch: <strong>der</strong> Wert<br />

dieser Vernunft liegt in ihrer Beziehung zum Verstand. Die Erkenntnis in<br />

abstracto bewährt sich erst in Bezug zur Erkenntnis in concreto. "Daher ist es<br />

beachtenswert", sagt <strong>Schopenhauer</strong>, "ja w<strong>und</strong>erbar, wie <strong>der</strong> Mensch, neben<br />

seinem Leben in concreto, immer noch ein zweites in abstracto führt. Im ersten<br />

ist er allen Stürmen <strong>der</strong> Wirklichkeit <strong>und</strong> dem Einfluss <strong>der</strong> Gegenwart preis<br />

gegeben, muss streben, leiden, sterben, wie <strong>das</strong> Tier. Sein Leben in abstracto<br />

aber, wie es vor seinem vernünftigen Besinnen steht, ist die stille<br />

Abspiegelung des ersten <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, worin er lebt."<br />

Die abstrahierende Vernunft entsteht aus den Mitteln <strong>der</strong> Sprache, die <strong>das</strong><br />

intuitive Anschauen <strong>und</strong> unmittelbare Erfahren <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> mit Hilfe eines<br />

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Rasters aus Begrifflichkeit <strong>und</strong> Grammatik ordnet <strong>und</strong> dadurch intersubjektiv<br />

kommunizierbar macht.<br />

"Vernunft" kommt von "Vernehmen", meint <strong>Schopenhauer</strong>, wobei er aber<br />

nicht ein auditives "Hören" meint, son<strong>der</strong>n <strong>das</strong> Innewerden <strong>der</strong> durch Worte<br />

mitgeteilten Gedanken. Für ihn hängt die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Erscheinungen, die auf<br />

den Menschen wirkt mit <strong>der</strong> Vernunft zusammen. Diese subjektive Vernunft,<br />

dieses Vernehmen-Können <strong>der</strong> Erscheinungen <strong>und</strong> die damit verb<strong>und</strong>enen<br />

Vorstellungen unseres <strong>Welt</strong>-Bildes bedingen einan<strong>der</strong>. Seit die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

Objekte den Menschen hervor gebracht hat, hat sie auch die auf Begriffen<br />

beruhende Vernunft hervor gebracht, womit die Erfahrungen <strong>der</strong><br />

Erscheinungen benannt, <strong>und</strong> dadurch eine von den Erscheinungen<br />

abstrahierte Dissoziation möglich wird. Diese Vernunft ist ebenso eine<br />

Konstruktion des Gehirns, wie die Vorstellung. Und so wie <strong>der</strong> Mensch als<br />

Ganzes ein Produkt <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> Objekte <strong>und</strong> somit ein Produkt des<br />

archaischen Wollens ist, ist auch die abstrahierende Vernunft eine<br />

Erscheinung des Willens.<br />

In dem inzwischen vergriffenen Buch aus dem Jahr 1965 von ALFONSO<br />

VERDU "Abstraktion <strong>und</strong> Intuition als Wege zur Wahrheit in Yoga uns Zen"<br />

beschreibt <strong>der</strong> Verfasser zwei verschiedene Zugangsweisen zur Erkenntnis <strong>der</strong><br />

Wirklichkeit. Den yogischen Weg, <strong>der</strong> in die Richtung einer zunehmenden<br />

Abstraktion verläuft <strong>und</strong> einen an<strong>der</strong>en, den Weg des Zen, <strong>der</strong> in Richtung<br />

Intuition führt. In <strong>der</strong> Philosophie <strong>Schopenhauer</strong>s entspräche <strong>der</strong> yogische<br />

Weg <strong>der</strong> Abstraktion einem Weg auf dem man die Vernunft benutzt, um sich<br />

vom Zwang des archaischen Willens zu befreien. Der intuitive Zenweg<br />

hingegen entspräche einem Weg <strong>der</strong> reinen Anschauung, die, <strong>das</strong> ist<br />

begrifflich etwas irritierend, auf dem Verstand beruht. <strong>Schopenhauer</strong> versteht<br />

diesen Unterschied so: Wie <strong>der</strong> Verstand nur eine Funktion hat, nämlich <strong>das</strong><br />

unmittelbare <strong>Erkennen</strong> <strong>der</strong> Verhältnisse von Ursache <strong>und</strong> Wirkung, also die<br />

Anschauung <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, so hat auch die Vernunft nur eine Funktion, nämlich<br />

die Bildung passen<strong>der</strong> Begriffe. Diese Definition <strong>Schopenhauer</strong>s kann man<br />

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sehr gut am Unterschied von Phänomen <strong>und</strong> Phänomenologie darstellen. Das<br />

Phänomen entspräche dem unmittelbaren <strong>Erkennen</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>; sie begnügt sich<br />

mit <strong>der</strong> Anschauung <strong>und</strong> ist demnach ein Ausdruck von Verstand. Die<br />

Phänomenologie dagegen entspräche den mitgeteilten Gedanken, die eine auf<br />

Begriffen beruhende Beschreibung in <strong>der</strong> gesprochenen o<strong>der</strong> geschriebenen<br />

Vermittlung des anschaulich erkannten Phänomens sind.<br />

Bei <strong>Schopenhauer</strong> sind Anschauung, Verstand <strong>und</strong> Vernunft des Subjekts <strong>der</strong><br />

Ausgangspunkt aller Erkenntnis. Der einzige Ausgangspunkt. Die<br />

Wissenschaften, so meint er, machen den Fehler anzunehmen, <strong>das</strong>s ein<br />

Objekt unabhängig vom betrachtenden Menschen erkannt werden kann. Er<br />

jedoch sagt: Objekt <strong>und</strong> Vorstellung sind Korrelata; <strong>das</strong> heißt, eines ist für <strong>das</strong><br />

an<strong>der</strong>e da <strong>und</strong> keines für sich allein. Beide - Objekt <strong>und</strong> Vorstellung -<br />

entstehen <strong>und</strong> vergehen zusammen. Eigentlich sind sie ein <strong>und</strong> <strong>das</strong> Selbe, von<br />

zwei entgegen gesetzten Seiten aus betrachtet. Die Naturwissenschaften<br />

vermeinen nur, die Objekte <strong>der</strong> <strong>Welt</strong> objektiv erkennen zu können. Aber,<br />

<strong>Schopenhauer</strong> ist hier ganz eindeutig: es gibt kein Objekt ohne ein Subjekt,<br />

<strong>das</strong> dieses wahrnimmt. Das Subjekt ist <strong>das</strong> Zentrum jeglichen <strong>Erkennen</strong>s.<br />

"Dasjenige, <strong>das</strong> alles erkennt <strong>und</strong> von keinem erkannt wird ist <strong>das</strong> Subjekt. Es<br />

ist die durchgängige vorausgesetzte Bedingung alles Erscheinenden", sagt er.<br />

Was bleibt übrig von den Dingen <strong>und</strong> Objekten, wenn wir hinter ihre<br />

Erscheinung blicken könnten? Gibt es eine Beschaffenheit eines Objekts<br />

unabhängig davon, wie es uns erscheint? Da <strong>der</strong> Mensch nur durch seine<br />

Sinne Zugang zur <strong>Welt</strong> hat, kann er die <strong>Welt</strong> nur so wahrnehmen, wie sie<br />

ihm durch seine Sinnesorgane vermittelt wird. Das ist die <strong>Welt</strong> als<br />

Vorstellung, die ein Produkt des Verstandes <strong>und</strong> damit des Gehirns ist.<br />

Aber: wenn die <strong>Welt</strong> ein Gehirnphänomen ist, wenn sie lediglich<br />

Anschauung, wenn sie Vorstellung ist: worin unterscheidet sie sich dann vom<br />

Traum? Denn die Vorstellungen im Traum, <strong>und</strong> die <strong>Welt</strong> als Vorstellung im<br />

Wachleben, sind, wenn auch verschieden, im Phänomen <strong>der</strong> Anschauung <strong>das</strong><br />

Selbe.<br />

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Ist nicht etwa <strong>das</strong> ganze Leben ein Traum?, philosophiert <strong>Schopenhauer</strong>. Gibt<br />

es ein sicheres Kriterium zwischen Traum <strong>und</strong> Wirklichkeit, zwischen<br />

Phantasie <strong>und</strong> realen Objekten? <strong>Schopenhauer</strong> macht keinen Unterschied<br />

zwischen Traum <strong>und</strong> Wachleben. Die Bildes des Tages <strong>und</strong> die des Traumes<br />

sind beides Erscheinungen unserer Anschauung. Keine <strong>der</strong> beiden<br />

Anschauungsformen kann mehr Recht auf Wirklichkeit beanspruchen als die<br />

an<strong>der</strong>e. Jede <strong>der</strong> beiden <strong>Welt</strong>en ist eine eigene <strong>Welt</strong> für sich. Nur durch die<br />

Art ihrer Darstellungen <strong>und</strong> ihrer Verknüpfungen unterscheiden sie sich. Die<br />

Zusammenhänge <strong>der</strong> Anschauungen im Wachbewusstsein erscheinen<br />

lediglich geordneter <strong>und</strong> stabiler. Aber auch die Anschauungen im Traum<br />

zeigen uns einen Zusammenhang. <strong>Schopenhauer</strong> findet zwischen den<br />

Anschauungen im Wacherleben <strong>und</strong> den Anschauungen im Traumerleben<br />

ihrem Wesen nach keinen markanten Unterschied. Die Wirklichkeit ist für<br />

ihn deshalb ein Traum neben an<strong>der</strong>en Träumen; aber ein materialisierter<br />

Traum.<br />

Doch auch wenn sich Traum <strong>und</strong> Wirklichkeit als Phänomene <strong>der</strong><br />

Anschauung nicht zu unterscheiden scheinen, geht <strong>Schopenhauer</strong> dennoch<br />

nicht so weit, damit die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong> greifbaren Materie zu leugnen. Denn die<br />

Anschauungen, die Erscheinungen kommen nicht aus sich selbst heraus<br />

zustande. Deshalb ist die Realität <strong>der</strong> Materie für ihn die eine unabdingbare<br />

Hälfte eines Ganzen. Die zweite Hälfte ist <strong>das</strong> dazu gehörige erkennende<br />

Subjekt.<br />

Wie können wir <strong>das</strong> alles wissen? Es zeigt sich, <strong>das</strong>s es, aus <strong>der</strong> Sicht<br />

<strong>Schopenhauer</strong>s völlig unerheblich ist, ob etwas gewusst wird. Er sagt: "Wissen<br />

ist <strong>das</strong> fixiert Haben in abstrakten Begriffen <strong>der</strong> Vernunft, des auf an<strong>der</strong>e<br />

Weise in unmittelbarer Anschauung Erkannten.“ Damit meint er: Zuerst<br />

verstehen wir im unmittelbaren <strong>Erkennen</strong> durch die Sinne, die <strong>Welt</strong> <strong>der</strong><br />

Objekte. Dann benennen wir die Objekte mit sprachlichen Begriffen <strong>und</strong><br />

schaffen so abstrakte Vorstellungen, die uns vom unmittelbaren <strong>Erkennen</strong><br />

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dissoziieren. Das ist die Voraussetzung für die Vernunft. Bis hierhin haben<br />

wir es mit einem Prozess zu tun. Aber dann halten wir an <strong>der</strong> Vernunft fest;<br />

wir fixieren sie. Das ist <strong>das</strong> Wissen. Der Gegensatz des Wissens wäre nach<br />

<strong>Schopenhauer</strong> <strong>das</strong> Gefühl, o<strong>der</strong> vielmehr, die Intuition; man könnte auch von<br />

einem intuitiven Gefühl sprechen, <strong>das</strong> ein Ausdruck <strong>der</strong> unmittelbaren<br />

Anschauung im Akt des Verstehens ist <strong>und</strong> demnach kein Ergebnis des<br />

Wissens sein kann. Wie je<strong>der</strong> bestimmt schon erfahren hat, löst sich diese<br />

gefühlte Intuition sofort auf <strong>und</strong> verflüchtigt sich, sobald <strong>das</strong> Wissen<br />

dazwischen tritt.<br />

Wissen beruht auf Denken, <strong>und</strong> Denken ist ein mechanischer Vorgang in <strong>der</strong><br />

Zeit, sagt JIDDHU KRISHNAMURTI in einem Gespräch mit dem englischen<br />

Physiker DAVID BOHM. Ein Computer kann deshalb wesentlich schneller<br />

denken, als ein Mensch; <strong>und</strong> deshalb kann auf <strong>der</strong> Festplatte eines Rechners<br />

wesentlich mehr an Informationen gespeichert sein als in einem menschlichen<br />

Gehirn. Trotzdem hat auch unser biologisches Gehirn viel mehr<br />

Informationen gespeichert, als jedem Einzelnen von uns bewusst ist. Ebenso,<br />

wie eine Festplatte kein Bewusstsein von den auf ihr gespeicherten<br />

Informationen hat, ist sich auch <strong>der</strong> Mensch über den Großteil seiner<br />

biologisch gespeicherten Informationen nicht bewusst; er weiß also nicht, was<br />

sein System weiß. Wissen ist gespeicherte Information.<br />

Schauen wir auf die Ganzheit des Lebens <strong>und</strong> <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, wie <strong>Schopenhauer</strong> es<br />

tut, dann sehen wir einen wissenden Willen; einen Willen, <strong>der</strong> sich<br />

Objektiviert <strong>und</strong> sich dadurch in <strong>der</strong> Vielfalt materieller Objekte aufspaltet,<br />

die sich zu Subjekten ausgestalten in denen sich <strong>der</strong> Eine archaische Wille<br />

selbst erkennt. Im Willen sind Anschauung, Verstand, Vernunft <strong>und</strong> Wissen,<br />

sind Objekt <strong>und</strong> Subjekt ein <strong>und</strong> <strong>das</strong> Selbe. Der Wille verbindet alles <strong>und</strong><br />

trennt es zugleich. Der Eine archaische Wille kann alles wollen. Sein Wollen<br />

reicht von barbarischer Brutalität bis zu transzendenter Liebe, vom Haften an<br />

elementarer Gier bis zum Verzicht, vom leidenschaftlichen Treib zu<br />

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kultivierter Sublimation. Seine höchste Form des Ausdrucks findet er im Nein<br />

zu sich selbst.<br />

Die Philosophie <strong>Schopenhauer</strong>s wird gerne als Menschen verachtend <strong>und</strong><br />

pessimistisch dargestellt. Von ihm selbst sagt man, er wäre ein Misanthrop<br />

gewesen. Wer <strong>das</strong> meint, <strong>der</strong> hat ihn nicht verstanden. Wenn <strong>Schopenhauer</strong><br />

den Großteil <strong>der</strong> Menschheit als Trieb gesteuerte Population domestizierter<br />

Raubaffen versteht, dann macht ihn <strong>das</strong> nicht zum Verächter <strong>der</strong> Menschen;<br />

er beschreibt damit nur ungeschminkt, schnörkellos <strong>und</strong> nicht beschönigend<br />

den Zustand, den er vor findet, wenn sein Blick bis in die Tiefen <strong>der</strong><br />

menschlichen Existenz vor dringt. Und wenn <strong>Schopenhauer</strong>, die Negation als<br />

einzige <strong>und</strong> unbedingt erfor<strong>der</strong>liche Reaktion auf den archaischen Triebwillen<br />

erkannt hat, dann steht er damit in einer viertausend Jahre alten Tradition<br />

großer Geister <strong>der</strong> Menschheit, die bis in die Zeit <strong>der</strong> Veden zurück reicht.<br />

Die Asketen, Einsiedler, Eremiten <strong>und</strong> Verneiner des Lebens - sie alle haben<br />

sich gegen den archaischen Willen zum Leben gestellt, <strong>und</strong> einen Willen<br />

kultiviert, <strong>der</strong> in die einsamen Höhen <strong>der</strong> geistigen Möglichkeiten des<br />

Menschen führt. Von dort wie<strong>der</strong> herab zu steigen <strong>und</strong> einzutauchen in <strong>das</strong><br />

Getriebe des Wollens <strong>der</strong> <strong>Welt</strong>, scheint eine jener Herausfor<strong>der</strong>ungen zu sein,<br />

für die es keine vorgebahnten Wege gibt. Die lapidare For<strong>der</strong>ung SIGMUND<br />

FREUDS "wo Es ist, soll Ich werden", bekommt aus dieser Sicht <strong>der</strong><br />

Erkenntnisse <strong>Schopenhauer</strong>s eine philosophisch aktualisierte Bedeutung.<br />

Copyright Atelier Edition Hanus, München 2007 23

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