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Kunstverein und Kunsthalle - kunsthalle fridericianum kassel

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in <strong>und</strong> Alle<br />

tverein <strong>und</strong> <strong>Kunsthalle</strong><br />

DAS FRIDERICIANUM MAGAZIN NR. 15<br />

Liebe Leserinnen <strong>und</strong> Leser,<br />

die vorerst letzte gemeinsame Ausgabe des Fridericianum<br />

Magazins erscheint im Stil einer etwas<br />

gen“ Tageszeitung. Dem Layout (wieder von<br />

nsthochschule entwickelt) entdie<br />

ganze Band-<br />

breite eines spannenden Feuilletons: Interviews,<br />

Konzert- <strong>und</strong> Ausstellungskritiken, Essays <strong>und</strong><br />

Künstlerportraits. Und selbst der Sport kommt nicht<br />

zu kurz!<br />

Während der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> noch an seine<br />

ausstellungsreiche Geschichte denkt – mit 170 Jahren<br />

ist er einer der ältesten in Deutschland – <strong>und</strong><br />

dieses Datum mit einer Tombola feierte, für die<br />

n <strong>und</strong> Künstler von Ausstellungen der<br />

letzten 20 Jahre über 250 Exponate beisteuerten,<br />

zählt die <strong>Kunsthalle</strong> bereits die Tage bis zum Ende<br />

der Kunst! Von Juni bis November 2006 gestaltet<br />

die Kuratorenwerkstatt unter dem gemeinschaftlichen<br />

Titel 5 Tage bis zum Ende der Kunst das<br />

Ausstellungsprogramm der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum.<br />

In einer Serie von zeitlich <strong>und</strong> thematisch in<br />

einander greifenden Ausstellungen geben die vie<br />

Kuratorinnen <strong>und</strong> Kuratoren sowie der künstle<br />

sche Leiter mit eigenständigen Projekten Einbl<br />

in ihre aktuelle Arbeit <strong>und</strong> thematisieren Fra<br />

des kuratorischen Handelns.<br />

03 nimmt die Kuratorenwerkstatt einen<br />

m Programm von René B


iebe Liebe Leserinnen Leserinnen <strong>und</strong> Leser, <strong>und</strong> Leser,<br />

ie vorerst die vorerst letzte letzte gemeinsame gemeinsame Ausgabe Ausgabe des Fride- des Frideicianumricianum<br />

Magazins Magazins erscheint erscheint im Stil im einer Stil einer etwas etwas<br />

schrägen“ „schrägen“ Tageszeitung. Dem Dem Layout Layout (wieder (wieder<br />

on Studierenden von Studierenden der Kunsthochschule der Kunsthochschule entwientwikelt)ckelt) entsprechend erwartet erwartet Sie im Sie Heft im die Heft gan- die gane<br />

Bandbreite ze Bandbreite eines eines spannenden spannenden Feuilletons: Feuilletons: InInrviews,terviews, Konzert- Konzert- <strong>und</strong> Ausstellungskritiken, <strong>und</strong> Ausstellungskritiken, EsEsys <strong>und</strong> says Künstlerportraits. <strong>und</strong> Künstlerportraits. Und selbst Und selbst der Sport der Sport<br />

ommt kommt nicht nicht zu kurz! zu kurz!<br />

ährend Während der Kasseler der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> <strong>Kunstverein</strong> noch noch an seine an seine<br />

usstellungsreiche ausstellungsreiche Geschichte Geschichte denkt denkt – mit – 170 mit 170<br />

hren Jahren ist er ist einer er einer der ältesten der ältesten in Deutschland in Deutschland – –<br />

nd dieses <strong>und</strong> dieses Datum Datum mit einer mit einer Tombola Tombola feierte, feierte, für für<br />

ie Künstlerinnen die Künstlerinnen <strong>und</strong> <strong>und</strong> Künstler Künstler von Ausstel- von Ausstelngenlungen<br />

der letzten der letzten 20 Jahre 20 Jahre über über 250 Exponate 250 Exponate<br />

eisteuerten, beisteuerten, zählt zählt die <strong>Kunsthalle</strong> die <strong>Kunsthalle</strong> bereits bereits die Tage die Tage<br />

s zum bis Ende zum Ende der Kunst! der Kunst! Von Juni Von bis Juni November bis November<br />

006 2006 gestaltet gestaltet die Kuratorenwerkstatt die Kuratorenwerkstatt unter unter dem dem<br />

Die Die <strong>Kunsthalle</strong> zählt zählt<br />

bereits bereits die die Tage Tage bis bis<br />

zum zum Ende Ende der der Kunst Kunst<br />

meinschaftlichen gemeinschaftlichen Titel 5 Titel Tage 5 Tage bis zum bis Ende zum Ende der der<br />

unst Kunst das Ausstellungsprogramm das Ausstellungsprogramm der <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong><br />

idericianum. Fridericianum. In einer In einer Serie Serie von zeitlich von zeitlich <strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

ematisch thematisch ineinander ineinander greifenden greifenden Ausstellungen<br />

ben geben die vier die Kuratorinnen vier Kuratorinnen <strong>und</strong> Kuratoren <strong>und</strong> Kuratoren sowie sowie<br />

r künstlerische der künstlerische Leiter Leiter mit eigenständigen mit eigenständigen ProProktenjekten Einblick Einblick in ihre in aktuelle ihre aktuelle Arbeit Arbeit <strong>und</strong> the- <strong>und</strong> theatisierenmatisieren<br />

Fragen Fragen des kuratorischen des kuratorischen Handelns. Handelns.<br />

it 2003 Seit 2003 nimmt nimmt die Kuratorenwerkstatt die Kuratorenwerkstatt einen einen<br />

ntralen zentralen Bestandteil Bestandteil im Programm im Programm von René von René<br />

ock Block ein. Junge ein. Junge internationale Kuratoren Kuratoren <strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

ratorinnen Kuratorinnen haben haben in dieser in dieser Zeit das Zeit Programm das Programm<br />

r <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong> begleitet begleitet <strong>und</strong> um <strong>und</strong> eigenständige<br />

um eigenständige<br />

sstellungsprojekte Ausstellungsprojekte erweitert. erweitert. Im letzten Im letzten Jahr Jahr<br />

r <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, bevor bevor die docu- die docu-<br />

SEITE SEITE JUNI JUNI 2006 2006 EIN EIN UND UND ALLE ALLE – EDITORIAL – EDITORIAL<br />

menta menta 12 die 12 Arbeit die Arbeit der <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong> für ein für Jahr ein Jahr teiligungen teiligungen dem Kasseler dem Kasseler Publikum Publikum keine keine Unbe- UnbeZ<br />

unterbricht, unterbricht, geht die geht Kuratorenwerkstatt die Kuratorenwerkstatt mit ihmit<br />

ihkannte<br />

kannte mehr mehr ist, wurden ist, wurden die Arbeiten die Arbeiten des libane- des libanes<br />

rem Projekt rem Projekt nun noch nun noch einen einen Schritt Schritt weiter weiter <strong>und</strong> <strong>und</strong> sischen sischen Künstlers Künstlers Jalal Jalal Toufi c Toufi erstmalig c erstmalig in der in de–<br />

setzt setzt damit damit gleichzeitig gleichzeitig ein Zeichen ein Zeichen für ihr für Fort- ihr Fort- <strong>Kunsthalle</strong> <strong>Kunsthalle</strong> gezeigt. gezeigt. Den Abschluss Den Abschluss der Reihe der Reihe bil- bil d<br />

bestehen.bestehen.dete die dete Ausstellung die Ausstellung Seven Seven Easy Easy Pieces, Pieces, die vom die voms<br />

Nicht Nicht nur in nur den in Zeitungen den Zeitungen <strong>und</strong> im <strong>und</strong> Fernsehen im Fernsehen verver- 6. bis 6. 14. bis Mai 14. die Mai Video-Dokumentationen die Video-Dokumentationen der def<br />

geht kaum geht kaum ein Tag ein ohne Tag ohne Fußball-Berichte. Es gibt Es gibt Wiederaufführungen von von Performances durch durcw<br />

kaum kaum einen einen Aspekt Aspekt des Fußballs, des Fußballs, der nicht der nicht im im Marina Marina Abramović Abramović im Guggenheim im Guggenheim Museum Museum prä- präs<br />

Rahmen Rahmen einer einer Kunstausstellung untersucht untersucht wurwursentierte. sentierte. In diesem In diesem Zusammenhang wurde wurde auch aucw<br />

ein internationales ein internationales Symposium Symposium veranstaltet, veranstaltet, von von S<br />

dem in dem diesem in diesem Heft berichtet Heft berichtet wird. wird.<br />

i<br />

Ein solches Ein solches Programm Programm überlastet überlastet für so für manche/n so manche/n w<br />

Besucher/in Besucher/in nicht nicht nur die nur Augen, die Augen, sondern sondern auch auch 1<br />

Psyche Psyche <strong>und</strong> Geist <strong>und</strong> Geist – was – zu was Augenwischerei, zu Augenwischerei, An- And<br />

fällen fällen von Orientierungslosigkeit von Orientierungslosigkeit <strong>und</strong> sogar <strong>und</strong> sogar zu zu g<br />

de. Auch de. Auch das ein+alle das ein+alle Magazin Magazin will sich will dem sich dem Ohnmachten führen führen kann. kann. So ungewöhnlich So ungewöhnlich oft of t<br />

Thema Thema nicht nicht gänzlich gänzlich verweigern. verweigern. Im Interview Im Interview geschehen geschehen am 14 am Mai. 14 Mai. Das THW Das THW Kassel Kassel war pro- war proS<br />

mit unserer mit unserer Mitarbeiterin Kaisa Kaisa Heinänen Heinänen (mehr (mehr fessionell fessionell zur Stelle zur Stelle <strong>und</strong> half <strong>und</strong> Georg half Georg Winter Winter beim beimY<br />

über sie über können sie können Sie ab Sie Seite ab Seite 82 erfahren) 82 erfahren) spricht spricht<br />

w<br />

der Künstler der Künstler Olaf Olaf Metzel Metzel über über Kunst Kunst <strong>und</strong> Sport <strong>und</strong> Sport<br />

m<br />

<strong>und</strong> den <strong>und</strong> Fluch den Fluch <strong>und</strong> Segen <strong>und</strong> Segen von Fußball-Ausstel-<br />

von Fußball-Ausstel-<br />

d<br />

lungen.lungen. in<br />

Aber Aber auch auch der Blick der Blick zurück zurück lohnt. lohnt. Ende Ende Februar Februar<br />

m<br />

ging ging die Ausstellung die Ausstellung Selbstauslöser mit einem mit einem<br />

D<br />

fi nnischen fi nnischen Tangoabend Tangoabend zu Ende. zu Ende. Der gemeinsam Der gemeinsam<br />

w<br />

mit FRAME mit FRAME <strong>und</strong> der <strong>und</strong> fi der nnischen fi nnischen Botschaft, Botschaft, BerBer- z<br />

lin, ausgerichtete lin, ausgerichtete Lange Lange Abend Abend lockte lockte nicht nicht nur nur<br />

2<br />

viele viele begeisterte begeisterte Tangotänzer Tangotänzer in die in Räume die Räume der der „cded „cded – cultural – cultural disasters disasters emergency emergency drill“. drill“. Die Die k<br />

<strong>Kunsthalle</strong>, <strong>Kunsthalle</strong>, sondern sondern brachte brachte auch auch ein Stück ein Stück fi n- fi nHelfer<br />

Helfer mussten mussten allerdings allerdings erst durch erst durch die Raum- die Raum- zu<br />

nischenische Musikkultur Musikkultur nach nach Kassel. Kassel.<br />

Zeichnung Zeichnung von Christine von Christine Rusche, Rusche, um zu um den zu imden<br />

imz<br />

Im März Im März bildeten bildeten die beiden die beiden Überblicksausstelprovisiertenprovisierten Ruhe- Ruhe- <strong>und</strong> Behandlungsräumen <strong>und</strong> Behandlungsräumen zu zu w<br />

lungenlungen zu Gerhard zu Gerhard Rühm Rühm <strong>und</strong> Endre <strong>und</strong> Endre Tót den Tót Auf- den Auf- gelangen. gelangen.<br />

d<br />

takttakt des Frühjahrsprogramms des Frühjahrsprogramms der <strong>Kunsthalle</strong>, der <strong>Kunsthalle</strong>, Einen Einen Besucherrekord <strong>und</strong> ungewöhnlich <strong>und</strong> ungewöhnlich breite breite A<br />

welches welches sich aus sich einer aus einer Reihe Reihe von Einzelausstel-<br />

von Einzelausstel- Presseresonanz erzielte erzielte die Ausstellung die Ausstellung AUTO- AUTO- L<br />

lungenlungen zusammensetzte, die sukzessive die sukzessive die Aus- die Aus- NOM-MOBILE, die der die <strong>Kunstverein</strong> der <strong>Kunstverein</strong> parallel parallel zu zu d<br />

stellungsflstellungsfl äche äche erweiterten erweiterten <strong>und</strong> <strong>und</strong> neue neue VerbinVerbinseinem seinem laufenden laufenden Programm Programm im KulturBahnhof<br />

im KulturBahnhof bl<br />

dungendungen zwischen zwischen den Künstlern den Künstlern <strong>und</strong> ihren <strong>und</strong> ihren ArbeiArbei- zeigte. zeigte. Sehr Sehr umfangreich <strong>und</strong> vielfältig <strong>und</strong> vielfältig wurden wurden ha<br />

ten herstellten. ten herstellten. Im April Im April kam kam mit den mit Videoar- den Videoar- die von die BMW von BMW stolz stolz präsentierten Art Cars Art Cars komkomW beitenbeiten von Gülsün von Gülsün Karamustafa <strong>und</strong> Jalal <strong>und</strong> Jalal Toufi c Toufi mentiert c mentiert <strong>und</strong> umspielt <strong>und</strong> umspielt von ironischen von ironischen AnmerAnmer- ge<br />

ein weiterer ein weiterer Ausstellungsschwerpunkt hinzu. hinzu. kungenkungen gegenwärtiger (auch (auch regionaler) regionaler) Künstler Künstler is<br />

Während Während die türkische die türkische Künstlerin Künstlerin Gülsün Gülsün KaraKarazum Objekt zum Objekt Auto, Auto, zu Mobilität, zu Mobilität, Technikfetischismustafamustafa<br />

aufgr<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> verschiedener Ausstellungsbe- Ausstellungsbe- mus oder mus Geschwindigkeitswahn.<br />

oder Geschwindigkeitswahn.<br />

Über Über Fluch Fluch <strong>und</strong> <strong>und</strong> Segen Segen von von<br />

Fußball-Ausstellungen<br />

Jens Carstensen, D | Max Christian Graeff, CH |<br />

Bernard Heidsiek, F | Yoko Ono, USA | Bernd<br />

Salfner, D | Joachim Schmid, D | Mark W. Sutherland,<br />

CAN<br />

Poetische Positio<br />

1. SEPT. - 08. OKT. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN<br />

Augenwischerei, Anfälle Anfälle<br />

von von Orientierungslosigkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>und</strong> sogar sogar<br />

Ohnmachten<br />

Eröffnung: Donnerstag, 31. August 2006, 19 U<br />

„Poetische Positionen II“ ist die Fortsetzung einer<br />

Ausstellungsreihe des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s,<br />

die 2004 damit begonnen hat, Künstler vorzustellen,<br />

die auf unterschiedliche Art <strong>und</strong> Weise in<br />

den Bereichen Bildende Kunst <strong>und</strong> Sprache arbeiten.<br />

Nachdem in der Ausstellung „Poetische Positionen<br />

I“ Arbeiten gezeigt wurden, die die Sprache<br />

als elementare Darstellungsform der Kunst<br />

nutzen, wird das Schwerpunktthema der Ausstellung<br />

„Poetische Positionen II“ Text, Klang <strong>und</strong><br />

So<strong>und</strong> sein. Initiiert hat diese Reihe Jürgen O.<br />

Olbrich, selbst ein Künstler, der seit vielen Jahren<br />

mit Text <strong>und</strong> Sprache arbeitet.<br />

Bernard H<br />

Der K<br />

lung<br />

tion<br />

Gr


SEITE SEITE 11<br />

Zur Zur gleichen gleichen Zeit Zeit war war die die Kunsthochschule Kunsthochschule KasKasselsel Thema Thema im im <strong>Kunstverein</strong>. <strong>Kunstverein</strong>. NEUER NEUER REICHTUM<br />

REICHTUM<br />

– – so so der der Ausstellungstitel Ausstellungstitel – – ist ist dort dort eingetreten eingetreten<br />

durch durch die die Neubesetzung Neubesetzung eines eines Drittels Drittels der der ProfesProfessorenstellensorenstellen quer quer durch durch alle alle Studiengänge. Studiengänge. ProProfessorenfessoren der der Kunst, Kunst, des des Design Design bis bis hin hin zu zu KunstKunstwissenschaftwissenschaft <strong>und</strong> <strong>und</strong> Kunst- Kunst- <strong>und</strong> <strong>und</strong> Medienpädagogik<br />

Medienpädagogik<br />

stellten stellten sich sich vor vor <strong>und</strong> <strong>und</strong> thematisierten thematisierten gleichzeitig,<br />

gleichzeitig,<br />

was was sie sie unter unter Lehre Lehre verstehen. verstehen. Ergebnisse Ergebnisse des des<br />

Studierens Studierens unter unter solchen solchen Bedingungen Bedingungen – – nicht nicht nur nur<br />

in in Kassel Kassel – – zeigen zeigen die die Stipendiaten Stipendiaten des des CusanusCusanuswerkswerks im im Juli/August. Juli/August. Zwei Zwei von von ihnen ihnen werden werden am am<br />

12. 12. August August mit mit dem dem Georg-Meistermann-StipenGeorg-Meistermann-Stipendiumdium<br />

ausgezeichnet ausgezeichnet werden. werden. Ohne Ohne große große Pause Pause<br />

geht geht es es weiter weiter in in den den Herbst Herbst mit mit Poetischen Poetischen PosiPositionentionen II, II, wo wo es es diesmal diesmal nicht nicht nur nur um um Text Text <strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

Sprache, Sprache, sondern sondern auch auch um um Musik Musik <strong>und</strong> <strong>und</strong> So<strong>und</strong> So<strong>und</strong> geht. geht.<br />

Yoko Yoko Ono Ono wird wird dabei dabei sein. sein. Und Und bevor bevor die die HandHandwerkerwerker kommen, kommen, um um das das Fridericianum Fridericianum (endlich) (endlich)<br />

mit mit einer einer Klimaanlage Klimaanlage zu zu versehen versehen <strong>und</strong> <strong>und</strong> für für die die<br />

documenta documenta 12 12 fi fi t t zu zu machen, machen, wird wird Hans Hans Schabus Schabus<br />

in in vorauseilendem vorauseilendem Eifer Eifer den den <strong>Kunstverein</strong> <strong>Kunstverein</strong> schon schon<br />

mal mal abreißen. abreißen.<br />

Die Die kommenden kommenden Ausgaben Ausgaben des des ein+alle ein+alle Magazins Magazins<br />

werden werden als als Sonderausgaben Sonderausgaben der der <strong>Kunsthalle</strong> <strong>Kunsthalle</strong> (De(Dezemberzember 2006) 2006) <strong>und</strong> <strong>und</strong> des des <strong>Kunstverein</strong>s <strong>Kunstverein</strong>s (Frühjahr (Frühjahr<br />

2007) 2007) erscheinen. erscheinen. Das Das Dezemberheft Dezemberheft wird wird als als DoDokumentationkumentation zu zu der der Ausstellungsreihe Ausstellungsreihe 5 5 Tage Tage bis bis<br />

zum zum Ende Ende der der Kunst Kunst ausführliche ausführliche Informationen<br />

Informationen<br />

zu zu den den Ausstellungskonzepten Ausstellungskonzepten der der Kuratoren Kuratoren sosowiewie deren deren Umsetzung Umsetzung enthalten. enthalten. Zusätzlich Zusätzlich gibt gibt<br />

das das Heft Heft einen einen Rückblick Rückblick auf auf die die 2x4-jährige 2x4-jährige<br />

Ausstellungsperiode Ausstellungsperiode der der <strong>Kunsthalle</strong> <strong>Kunsthalle</strong> unter unter der der<br />

Leitung Leitung von von René René Block. Block. Im Im Frühjahr Frühjahr 2007 2007 wird wird<br />

der der <strong>Kunstverein</strong> <strong>Kunstverein</strong> wie wie gewohnt gewohnt Rückblick Rückblick <strong>und</strong> <strong>und</strong> AusAusblickblick auf auf seine seine Arbeit Arbeit geben, geben, während während die die Kunst<strong>Kunsthalle</strong>halle aufgr<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der der documenta documenta 12 12 pausiert. pausiert.<br />

Wir Wir hegen hegen die die große große Hoffnung, Hoffnung, dass dass ab ab 2008 2008 eine eine<br />

gemeinsame gemeinsame Weiterführung Weiterführung des des Heftes Heftes möglich möglich<br />

ist. ist.


03. JUNI - 26. NOVEMBER 2006<br />

Ausstellungsvorschau <strong>und</strong><br />

Service <strong>Kunsthalle</strong> Friderician<br />

5 Tage bis zum Ende der Kunst. Ein Projekt der<br />

Kuratorenwerkstatt<br />

3. Juni – 16. Juli <strong>und</strong> 2. – 17. September 2006*,<br />

<strong>und</strong>o redo<br />

28. Juni – 16. Juli <strong>und</strong> 2. September – 3. Oktober<br />

2006*, Die andere Seite<br />

2. September – 29. Oktober 2006, indirect<br />

speech<br />

24. September – 26. November 2006, Yael Bartana,<br />

Amateur Anthropologist<br />

11. – 26. November 2006, Fremd bin ich eingezogen<br />

Jour Fixe Termine<br />

Jeden Mittwoch um 17.00 Uhr. Eintritt 2,50 €<br />

(Ausstellung inkl. Jour Fixe)<br />

7. Juni 2006<br />

Never Odd or Even ein Projekt von Mariana Castillo<br />

Deball mit Kirsten Fuchs, Jan Wagner <strong>und</strong><br />

Katrin Solhdju<br />

14. Juni 2006, Fünf Hindernisse einer Ausstellung<br />

21. Juni 2006, Themenführung En Detail mit<br />

Gertrude Betz<br />

28. Juni 2006, Künstlergespräch mit Susanne<br />

Kutter<br />

5. Juli 2006, Themenführung En Detail mit Gertrude<br />

Betz<br />

12. Juli 2006, Künstlergespräch mit Henry VIIIʻs<br />

wives<br />

*Sommerpause 17. Juli bis 1. September 2006<br />

In Kürze<br />

Die Ausstellung Selbstauslöser, die sich den Arbeiten<br />

fünf fi nnischer Künstlerinnen widmete,<br />

geht auf Tournee. Vom 11. November 2006 – 28.<br />

Januar 2007 wird sie in Kopenhagen bei Nikolaj,<br />

Contemporary Art Center, zu sehen sein. Im Anschluss<br />

geht die Ausstellung für eine weitere Präsentation<br />

zum National Museum of Contemporary<br />

Art nach Bukarest.<br />

Auch die Ausstellung The Day Before Tomorrow<br />

des Künstlerpaars Igor <strong>und</strong> Svetlana Kopystiansky<br />

<strong>und</strong> im Februar 2007 im neu gegründeten Museum<br />

von Espoo (Finnland) gezeigt.<br />

5 Tag<br />

Kurat<br />

3. Jun<br />

<strong>und</strong>o r<br />

28. Jun<br />

2006*,<br />

2. Sept<br />

ch<br />

24. Sep<br />

Anthrop<br />

11. – 26<br />

gen<br />

Jour Fi<br />

Jeden M<br />

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7. Juni 20<br />

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Katrin So<br />

14. Juni 2<br />

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21. Juni<br />

Gertrude B<br />

28. Juni<br />

Kutter<br />

5. Juli 200<br />

trude Betz<br />

12. Juli 200<br />

wives<br />

*Sommerpa<br />

In Kürze<br />

Die Ausstel<br />

beiten fünf<br />

geht auf Tou<br />

Januar 2007<br />

Contemporar<br />

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sentation zum<br />

ry Art nach B<br />

Auch die Aus<br />

des Künstlerp<br />

<strong>und</strong> im Februa<br />

von Espoo (Fin


Anschrift:<br />

JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 4<br />

Eintritt:<br />

4, – Euro / ermäßigt 2,50 Euro<br />

Öffnungszeiten:<br />

Mittwoch bis Sonntag <strong>und</strong> an Feiertagen 11.00<br />

bis 18.00 Uhr. Montag <strong>und</strong> Dienstag geschlossen.<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, Friedrichsplatz 18,<br />

34117 Kassel, Telefon: 0049(0)561 70 72 720,<br />

Fa x: 0 0 49(0)561 77 45 78, E-mail: offi ce@<br />

<strong>fridericianum</strong>-<strong>kassel</strong>.de,<br />

Homepage: http://www.<strong>fridericianum</strong>-<strong>kassel</strong>.de


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 5<br />

Führungen:<br />

Kostenlose, öffentliche Führungen werden jeden<br />

Sonn- <strong>und</strong> Feiertag um 15.00 Uhr angeboten.<br />

Jeden Donnerstag um 16.00 Uhr bieten wir die<br />

kostenlose Ausstellungsauskunft Frag mich! an.<br />

Weitere Gruppenführungen (max. 25 Personen)<br />

können telefonisch unter 0049(0)561 70 72 720<br />

gebucht werden.<br />

Impressum<br />

Herausgeber: Kasseler <strong>Kunstverein</strong> <strong>und</strong> <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum Kassel<br />

Redaktion: Beate Anspach, Bernhard Balkenhol,<br />

René Block<br />

Realisation: Beate Anspach, René Block, Birgit<br />

Eusterschulte, Barbara Toopeekoff (<strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum)<br />

Bernhard Balkenhol, Elke Bernhart (Kasseler<br />

<strong>Kunstverein</strong>)<br />

Entwurf / Gestaltung / Satz:<br />

Maria Herzog, Caroline Enders, Katharina Wittmann<br />

Druck: Thiele <strong>und</strong> Schwarz, Kassel<br />

Aufl age: 5000<br />

© <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, Kasseler <strong>Kunstverein</strong>,<br />

die Autoren, Fotografen, <strong>und</strong> Künstler<br />

Schutzgebühr: 2,50 Euro<br />

ISSN 1618-3711


Editorial/ Impressum...................................1 - 5<br />

Igor <strong>und</strong> Svetlana Kopystiansky<br />

The Day Before Tomorrow..........................8 - 9<br />

Selbstauslöser: Finnische<br />

Fotografi e fasziniert Kassel<br />

Elina Brotherus, Aino Kannisto,<br />

Sanna Kannisto, Fanni<br />

Niemi-Junkola, Salla Tykkä........................10 - 11<br />

Tule tanssimaan – Komm tanzen<br />

Langer Abend in der <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum...............................................12 - 13<br />

Gerhard Rühm: weit weg <strong>und</strong> ganz nah...14 - 15<br />

Endre Tót: Semmi sem Semmi..................16 - 17<br />

Gülsün Karamustafa:<br />

Memory of a Square.....................................18 - 21<br />

Jalal Toufi c oder<br />

das Prinzip der Täuschung<br />

Filming Death at Work ..............................22 - 27<br />

JUNI 2006 EIN UND ALLE – KUNSTHALLE SEITE<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

Rückblick<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

Marina Abramović:<br />

Seven Easy Pieces.......................................28 - 33<br />

How to perform? Symposium zur<br />

Dokumentation <strong>und</strong> Wiederaufführung<br />

in der Performance - Kunst.........................34 - 37<br />

3durch3: Langer Abend<br />

in der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

mit Johannes Auer,<br />

G<strong>und</strong>i Feyrer <strong>und</strong> Gerhard Rühm..............38 - 39<br />

Flyer Action von Endre Tót......................40 - 41<br />

Vorschau<br />

5 Tage bis zum Ende der Kunst<br />

Ein Projekt der<br />

Kuratorenwerkstatt Kassel..........................42 - 43<br />

<strong>und</strong>o redo....................................................44 - 53<br />

Die andere Seite..........................................54 - 59<br />

Interview mit Thomas Niemeyer...............60 - 63<br />

indirect speech........................................... 64 - 65<br />

Interview mit Alina Șerban........................66 - 71<br />

Yael Bartana<br />

Amateur Anthropologist...........................72 - 77<br />

Vermischtes<br />

Olaf Metzel über die Kunst<br />

des Sporttreibens......................................78 - 81<br />

Interview mit Kaisa Heinänen.............82 - 83<br />

Das Zeitschriftenprojekt<br />

der documenta 12<br />

Interview mit Georg Schöllhammer........... 84 - 87<br />

Kasseler Atelierinitiative<br />

Kasseler Atelier – <strong>und</strong><br />

Ausstellungshaus (kaa)................................88 - 89


6 JUNI 2006 EIN UND ALLE – KUNSTVEREIN SEITE 7<br />

Kasseler <strong>Kunstverein</strong><br />

Rückblick<br />

Eine lange Geschichte <strong>und</strong> viel Glück<br />

Ausstellung mit Tombola<br />

zur 170-Jahr-Feier des Kasseler<br />

<strong>Kunstverein</strong>s.................................................90 - 93<br />

AUTO-NOM-MOBILE<br />

Das Automobil in der<br />

zeitgenössischen Kunst..............................94 - 103<br />

NEUER REICHTUM<br />

11 Positionen _ Kunsthochschule<br />

Kassel........................................................104 - 111<br />

Wer ist hier noch zu retten?<br />

2 aus Stuttgart:<br />

Christine Rusche/Georg Winter..............112 - 117<br />

Lieber Friedrich,<br />

Abschlussausstellung der Stipendiatinnen <strong>und</strong><br />

Stipendiaten der Künstlerförderung des<br />

Cusanuswerks............................................118 - 119<br />

Vorschau<br />

Poetische Positionen II...........................120 - 121<br />

Arnold-Bode-Preis 2006<br />

Hans Schabus, Preisverleihung<br />

am 21.10.2006...........................................122 - 123<br />

Service <strong>und</strong> Danksagung des<br />

Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s...........................124 - 125<br />

Anzeigen....................................................126 - 127


21. DEZ 2005 - 26. FEB 20<br />

T<br />

Igor <strong>und</strong> Svetlana K<br />

Igor <strong>und</strong> Svetlana Kopystiansky, 526, 2005, Installation<br />

Rechts: Igor <strong>und</strong> Svetlana Kopystiansky, Incidents,<br />

1996-1997, Installationsansicht, <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum, 2006<br />

Fotos: Nils Klinger


06 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 8 21. DEZ 2005 - 26. FEB 200<br />

he Day Before Tomorrow<br />

Kopystiansky<br />

sansicht, <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum 2006


21. DEZ 2005 - 26. FEB 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 10<br />

Finnische Fotografi e fasziniert Kassel<br />

Die Künstlerinnen der Ausstellung Selbstauslöser lassen sich<br />

vor ihren Kameras nieder<br />

In letzter Zeit wird viel über den internationalen<br />

Erfolg von fi nnischer Fotografi e diskutiert. Ausstellungen<br />

eröffnen in rascher Folge <strong>und</strong> Künstler<br />

touren durch Länder <strong>und</strong> Städte wie Ville Valo<br />

oder Tuomas Holopainen [bekannte fi nnische<br />

Die letzte Eroberung<br />

fand nun in Kassel statt<br />

Musiker, A. d. R.]. Die letzte Eroberung nun fand<br />

in Kassel, in der Mitte Deutschlands statt, wo fi nnische<br />

Fotokunst im Moment in den luftigen <strong>und</strong><br />

hellen Räumen der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum be-<br />

w<strong>und</strong>ert werden kann. Die Ausstellung Selbstauslöser,<br />

eine Kooperation der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

<strong>und</strong> FRAME (Finnish F<strong>und</strong> for Art Exchange),<br />

stellt fünf fi nnische Künstlerinnen vor<br />

<strong>und</strong> versucht dies so prächtig wie möglich. Die<br />

Künstlerinnen Elina Brotherus, Aino Kannisto,<br />

Sanna Kannisto, Fanni Niemi-Junkola <strong>und</strong> Salla<br />

Tykkä bekamen majestätisch anmutende Räume<br />

zur Verfügung gestellt. Jede Künstlerin der Ausstellung<br />

gibt mit ihren Arbeiten gleichzeitig auch<br />

einen Überblick über ihr bisheriges Schaffen.<br />

Aus Sicht der Besucher erscheint die Reichhaltigkeit<br />

der Arbeiten <strong>und</strong> ihre zeitliche Spanne als<br />

besonders lohnend zu sein. Salla Tykkä ist bekannt<br />

für ihre Kurzfi lm-Trilogie. Ihre frühesten<br />

Arbeiten in der Ausstellung entstanden Ende der<br />

1990er Jahre, als sie noch an der Akademie der<br />

Bildenden Künste studierte. Elina Brotherus Fotografi<br />

en <strong>und</strong> Videos, denen sie sich in den letzten<br />

Jahren verstärkt zuwandte, füllen drei große<br />

Installationsansichten mit Arbeiten von Aino Kannisto,<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, 2006<br />

Räume <strong>und</strong> eine Reihe kleiner. Der Beitrag von<br />

Fanni Niemi-Junkola besteht aus fünf Videoarbeiten,<br />

die alle ihren eigenen Raum in der Ausstellung<br />

haben. Der gemeinsame Ausgangspunkt<br />

der Ausstellung ist einfach: alle Künstlerinnen<br />

sind oder waren zu einen bestimmten Zeitpunkt<br />

Teil der eigenen Fotografi en. Sie alle nutzten ihren<br />

eigenen Körper als Figuren in den mehr oder<br />

weniger biografi sch ausgerichteten Arbeiten, die<br />

sich den Problemen des alltäglichen Lebens widmen.<br />

Am deutlichsten wird der Einsatz des<br />

Selbstauslösers in den inszenierten Fotografi en<br />

von Aino Kannisto, von denen eine beeindru-<br />

Elina Brotherus, Baigneurs, 2001/2003,<br />

Installationsansicht, <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum,<br />

2006<br />

2


1. DEZ 2005 - 26. FEB 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 11<br />

Salla Tykkä, Lasso, 2000, Installationsansicht, <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, 2006<br />

ckende Auswahl in drei Räumen in Kassel gezeigt<br />

wird. In den letzten Jahren greifen Salla Tykkä,<br />

Fanni Niemi-Junkola <strong>und</strong> teilweise auch Brotherus<br />

immer mehr auf den Einsatz von Schauspielern<br />

zurück, in der gleichen Weise wie sich die<br />

Perspektive ihrer Kunst von innen nach außen<br />

wandte, vom eigenen Selbst hin zur Betrachtung<br />

der Anderen. Brotherus wanderte darüber hinaus<br />

auch in der Kunstgeschichte umher. Obwohl Sanna<br />

Kannisto nur vereinzelt in ihren Fotografi en<br />

erscheint, verzichtet sie nicht auf Schauspieler.<br />

Exotische Pfl anzen <strong>und</strong> Tiere spielen die Hauptrolle<br />

in ihren Geschichten, in denen sie der<br />

Die Voraussetzungen<br />

für einen großen<br />

Durchbruch sind<br />

gegeben<br />

Wunsch der Naturwissenschaften, die Welt zu defi<br />

nieren mit dem Wunsch der Kunst zu einem Ge-<br />

samtbild der Realität, überschneidet. Die Voraussetzungen<br />

für einen großen Durchbruch sind gegeben.<br />

Die <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum im Zentrum<br />

von Kassel ist ein beeindruckendes Gebäude <strong>und</strong><br />

die Hauptbühne der wichtigsten Ausstellung zeitgenössischer<br />

Kunst weltweit – der documenta.<br />

Der Direktor der zwischen den documenta Ausstellungen<br />

dort ansässigen <strong>Kunsthalle</strong> <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

auch der Kurator dieser Ausstellung ist<br />

René Block, dessen Bewegungen die Kunstwelt<br />

immer dicht folgt.<br />

Timo Valjakka, Helsingin Sanomat (Helsinki)<br />

31. Dezember 2005<br />

Fotos: Nils Klinger


FREITAG, 24. FEBRUAR 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 12<br />

Tule tanssimaan – Komm Tanzen<br />

Langer Abend mit fi nnischem Tango in der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

Einmal mehr ist eine Ausstellung der <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum mit einem besonderen Ereignis zu<br />

Ende gegangen, <strong>und</strong> obgleich der lange Abend<br />

Markus Allan<br />

hier längst eine kleine Tradition ist, zumal mit<br />

musikalischer Begleitung, war diesmal auch<br />

manches anders als bei früheren Anlässen dieser<br />

Art. Am 24. Februar 2006 hatte die <strong>Kunsthalle</strong><br />

nämlich zum Tanz mit fi nnischem Tango in das<br />

Fridericianum eingeladen. Veranstalter war ne-<br />

ben der <strong>Kunsthalle</strong> auch die fi nnische Botschaft<br />

zu Berlin, die den Auftritt der Hauptakteure des<br />

Abends, Markus Allan <strong>und</strong> seiner Band Variant<br />

Vox, arrangiert hatte. Und so kam es, dass der<br />

fi nnische Botschafter René Nyberg, der den<br />

Abend mit Ansprache <strong>und</strong> Tanz eröffnete, nicht<br />

nur Gastgeber, sondern zugleich auch der prominenteste<br />

Gast des Tages in Kassel war. Die Reso-<br />

Tangon Taikaa mit ihrem Sänger Timo Grön Valtonen <strong>und</strong><br />

die Band Variant Vox mit ihrem Sänger Markus Allan<br />

nanz übertraf alle Erwartungen, denn mit über<br />

450 Gästen war der zum Ballsaal umfunktionierte<br />

Ausstellungsraum mehr als gut gefüllt, <strong>und</strong><br />

vor allem gab sich eine in Kassel offenbar gut etablierte<br />

Szene von Tangobegeisterten ein Stell-<br />

450 tangobegeisterte<br />

Gäste<br />

dichein. Den Anfang auf der Bühne machte das in<br />

Hamburg ansässige Quartett Tangon Taikaa um<br />

den Sänger Timo Valtonen dessen w<strong>und</strong>erbar tragikomische<br />

Interpretation der fi nnischen Traditionsmusik<br />

schnell einen Hauch jener Stimmung<br />

zauberte, den die Fans der Filme von Aki Kaurismäki<br />

schon seit jeher mit diesem Land verbinden.<br />

Markus Allan, seit 40 Jahren aktive Tangolegende,<br />

ist sogar noch direkter mit dem Werk des


FREITAG, 24. FEBRUAR 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 13<br />

wohl berühmtesten fi nnischen Regisseurs der Gegenwart<br />

verb<strong>und</strong>en, denn er hat seine Musik<br />

schon zum So<strong>und</strong>track von Filmen wie Die Wolken<br />

ziehen vorüber <strong>und</strong> Der Mann ohne Vergangenheit<br />

beigesteuert. Doch sieht <strong>und</strong> hört man<br />

Allan auf der Bühne, ist auf einmal alles anders.<br />

Dann verschwindet die Ironie <strong>und</strong> weicht jener<br />

seltsamen Melancholie, keiner depressiven – es<br />

geht ja ums Tanzen – sondern einer leichten <strong>und</strong><br />

weichen, wie sie einen manchmal nach einer<br />

durchgefeierten Nacht in den Morgen verabschiedet.<br />

So muss man sich wohl auch den Rhythmus<br />

Tangon Taikaa <strong>und</strong> Timo Grön Valtonen<br />

des Lebens in einem Land vorstellen, in dem es<br />

entweder nur Tag oder nur Nacht ist: Musik gewordene<br />

Schlafl osigkeit, aber eben doch schöne<br />

Musik! In dieser Eigenschaft ist der fi nnische<br />

Tango so ganz anders, als der weitaus berühmtere<br />

Argentinische Verwandte, bei dem sich alles um<br />

das Spiel mit verzehrender Leidenschaft dreht<br />

<strong>und</strong> zwar allabendlich, wenn sie Sonne untergeht<br />

– nein, das ist wahrlich die Sache von Nordeuropäern<br />

nicht. Das war schon in den Fotografi en<br />

<strong>und</strong> Videos von Selbstauslöser zu sehen. Und ge- Fotos: Nils Klinger<br />

nau das ist es auch, was den Tangoabend in Bezug<br />

auf seinen Ort <strong>und</strong> seinen Anlass zu etwas besonderem<br />

gemacht hat: selten wurden die Emotionen,<br />

die ganz unausgesprochen in einer Ausstellung<br />

spürbar wurden, so kongenial durch eine Musikveranstaltung<br />

lebendig gemacht. Insgeheim<br />

müssten die Kuratoren der großen Berliner Melancholie-Ausstellung<br />

eigentlich vor Neid erblasst<br />

sein.<br />

Thomas Niemeyer


19. MÄRZ - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE<br />

Gerhard Rühm: weit weg <strong>und</strong> ganz nah


14 19. MÄRZ - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE<br />

Gerhard Rühm, weit weg <strong>und</strong> ganz nah, Installationsansichten,<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, 2006<br />

Links: Gerhard Rühm, alles, was du nur willst, 1965<br />

Fotos: Nils Klinger


19. MÄRZ - 14. MAI 2006<br />

Endre Tó


KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 16 19. MÄRZ - 14. MAI 2006<br />

ót: Semmi sem Semmi<br />

Endre Tót vor seiner Arbeit Fluxus-Triptychon (2002)<br />

Endre Tót vor seiner Arbeit Two Lonely Zeros (1996)<br />

Links: Endre Tót vor seiner Arbeit Symmetry makes me<br />

glad sad mad, 1978 / 84<br />

Fotos: Nils Klinger


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 18<br />

Die Ausstellung Memory of a Square in der<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum präsentierte die Videoarbeiten<br />

der Künstlerin Gülsün Karamustafa der<br />

Jahre 2000 – 2005. Neben ihren Objektarbeiten<br />

<strong>und</strong> Installationen wandte sich Karamustafa in<br />

den letzten Jahren verstärkt dem Medium Film<br />

zu, vor allem aufgr<strong>und</strong> dessen Fähigkeit, Geschichten<br />

zu erzählen, poetische Momente festzuhalten<br />

<strong>und</strong> historische <strong>und</strong> soziale Zusammenhänge<br />

anschaulich zu machen. Sie wählt dafür oft<br />

Sie gibt Menschen,<br />

deren Schicksale <strong>und</strong><br />

Geschichten meistens<br />

im Verborgenen bleiben,<br />

ein Gesicht<br />

die Form des Interviews, gibt Menschen – deren<br />

Schicksale <strong>und</strong> Geschichten meistens im Verbor-<br />

Memory of a Square<br />

Videoarbeiten von Gülsün Karamustafa<br />

Rechts: Gülsün Karamustafa, Tailor Made, 2005, Stills


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 19<br />

genen bleiben – ein Gesicht <strong>und</strong> eine Stimme.<br />

Auch wenn die künstlerischen Medien wechseln,<br />

Themen wie Migration, die Suche nach der eigenen<br />

Identität zwischen West <strong>und</strong> Ost, die Rolle<br />

der Frau in der türkischen Gesellschaft oder die<br />

politische Entwicklung des Landes bestimmen<br />

seit vielen Jahren ihr künstlerisches Schaffen. In<br />

den meisten Fällen gibt die Stadt Istanbul – die<br />

Stadt in der sie lebt <strong>und</strong> arbeitet – als<br />

Mikrokosmos die Themen von globaler Bedeutung<br />

vor, denen die Künstlerin in ihren Arbeiten<br />

nachgeht. Stellvertretend für diese Verbindung<br />

steht ihre Videoarbeit Memory of a Square aus<br />

dem Jahr 2005. Darin verbindet sie die span-<br />

Es wird nicht gesprochen<br />

nungsreiche Geschichte des zentralen Taksim<br />

Platzes im Herzen der Stadt mit Szenen aus dem<br />

häuslichen Alltagsleben einer Familie. Die als<br />

Doppelprojektion konzipierte Arbeit zeigt zum<br />

einen dokumentarisches Filmmaterial aus der abwechslungsreichen<br />

Geschichte des Platzes von<br />

den 1930er bis zu den 1980er Jahren. Gleichzeitig<br />

scheint es, als stünde diese Geschichte stellvertretend<br />

für die politische Entwicklung des Landes.<br />

Demonstrationen, gewalttätige Auseinandersetzungen,<br />

Festlichkeiten <strong>und</strong> das Enthüllen von<br />

Denkmälern spiegeln immer auch die aktuelle<br />

gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Situation. Die<br />

Gülsün Karamustafa, Memory of a Square, 2005, Stills<br />

zweite Projektion zeigt in elf Episoden verschiedene<br />

Alltagsszenen einer Familie, die aus drei<br />

Generationen besteht. Das Ambiente der Wohnung<br />

ist bürgerlich. Es wird nicht gesprochen,<br />

lediglich aus Mimik <strong>und</strong> Gestik lässt sich der<br />

emotionale Zustand der Protagonisten ablesen.<br />

Über die Musik <strong>und</strong> einzelne Hinweise wird für<br />

die Betrachter eine Verbindung deutlich, ergibt<br />

sich ein Zusammenhang zwischen den beiden<br />

Projektionen. Karamustafa macht deutlich, wie<br />

sehr die politische Sphäre mit der privaten verb<strong>und</strong>en<br />

ist, wie stark es das Leben des Einzelnen<br />

beeinfl ussen kann.<br />

Karamustafas Arbeiten wurden zuletzt in Ausstellungen<br />

in Mailand, Paris, Ankara oder Rotterdam<br />

gezeigt. In Kassel war sie bereits 1999 erstmalig<br />

in der Ausstellung Echolot oder neun Fragen<br />

an die Peripherie zu sehen.<br />

Beate Anspach


deutlich, wie<br />

privaten veres<br />

Einzelnen<br />

t in Auser<br />

Rotter-<br />

99 erstn<br />

Fra-<br />

SEITE 19


12. APRIL - 14. MAI 2006 DAS FRIDERICIANUM –<br />

Gülsün Karamustafa, Unawarded Performances, 2005, Stills


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 22<br />

Jalal Toufi c oder das Prinzip der Täuschung<br />

Toufi c widerspricht dem gängigen Klischee eines Künstlers aus dem Libanon<br />

Weder macht er den scheinbar unvermeidlichen<br />

Bürgerkrieg zum Thema noch bringt er in seinen<br />

Arbeiten die Farben im gleißenden Licht des Ori-<br />

Er tut dies mit Lust<br />

<strong>und</strong> List<br />

ents zum Glühen oder erstickt sie in dichtem<br />

Schwarz-Weiß. Ohne jeden existentialistischen<br />

Schnickschnack, noch einem immer wiederkehrendem<br />

Aufreißen von W<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Vergangen-<br />

Jalal Toufi c, Minor Art: Conceptual Film and Video Posters, 2000-2005, Installationsansicht, <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

2006<br />

heiten, die nicht vergehen wollen, untersucht er<br />

Filme <strong>und</strong> Literatur des Westens wie des Ostens<br />

auf ihre Orienttauglichkeit. Er tut dies mit Lust<br />

<strong>und</strong> List, seine Essays sind fast immer intellektuelle<br />

Feuerwerke, deren Z<strong>und</strong>schnüre in der überbordenden<br />

Zahl an Fußnoten verborgen sind.<br />

Toufi cs Vorgehen ist dem eines Wissenschaftlers<br />

Jalal Toufi c zur Eröffnung der Ausstellung Filming Death<br />

at Work, am 11. April 2006<br />

unserer Breiten gemäß, doch seine Referenzen<br />

liegen in der Kultur <strong>und</strong> Tradition Arabiens. Geschichte<br />

<strong>und</strong> Bilder des Nahen Ostens sind mit<br />

ihren immanenten Widersprüchen <strong>und</strong> den sprichwörtlichen<br />

Schönheiten der Landschaft jederzeit<br />

präsent. Toufi cs Arbeit gleicht dem intellektuellen<br />

Ringen um die richtige Metapher, den treffenden<br />

Bezug oder die konsequente, empirische<br />

Sequenz. Dem Zufall scheint er keine Rolle zu-


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 23<br />

eignen zu wollen. Der Zufall fi ndet in der Kunst<br />

des Jalal Toufi c nicht statt. Der Zufall gehört in<br />

Beirut zum Alltag. Zu zufällig gef<strong>und</strong>enen Relikten<br />

des Bürgerkrieges, zu zufällig sich entladender<br />

heftiger psychischer Ausbrüche scheinbarer<br />

ausgeglichener Menschen, zu zufällig unter<br />

der Erde oder unter Schuttbergen gef<strong>und</strong>ener<br />

menschlicher Überreste. „Werden wir in den Szenen<br />

von Danielle Arbids Alone with War aus dem<br />

Jahr 2000, in denen sie die palästinensischen<br />

Flüchtlingslager Sabra <strong>und</strong> Shatila <strong>und</strong> die christliche<br />

Stadt Ad-Damur besuchte, die Schauplätze<br />

von Massakern 1982 resp. 1976, <strong>und</strong> spielende<br />

palästinensische Kinder fragt, ob sie beim Buddeln<br />

auf ihrem behelfsmäßigen Spielplatz irgend<br />

etwas Interessantes gef<strong>und</strong>en haben, zu Zeugen<br />

einer Archäologie der Bilder?“ ¹ Toufi cs konzep-<br />

tuelles Vorgehen zwischen Fantasie <strong>und</strong> Vorstellung<br />

des Realen ist subjektiv, voller Irritation <strong>und</strong><br />

geballtem Wissen. Aber, aller Schein trügt. Zwischen<br />

Wirklichkeit <strong>und</strong> Fiktion in sensiblem Ungleichgewicht<br />

fährt er mit dem Betrachter Schlitten,<br />

verunsichert ihn da, wo er vollends von der<br />

Richtigkeit seines Sehens überzeugt ist <strong>und</strong><br />

täuscht ihn dort, wo er sich in Sicherheit wiegt, in<br />

Besitz des geraden, ja „rechten“ Blicks zu sein.<br />

Jalal Toufi c, 1962 in Saida, im Süden des Libanon<br />

geboren, decodiert seine <strong>und</strong> unsere Vorstellungen<br />

des Orients <strong>und</strong> bringt seine subjektive<br />

Sicht der Dinge mit ein. Nicht von ungefähr widmet<br />

er Gilles Deleuze <strong>und</strong> Felix Guattari seine<br />

Serie Minor Art: Conceptual Film and Video Posters,<br />

die zwischen 2000 <strong>und</strong> 2005 entstanden<br />

sind. Raffi nierte Schnitte <strong>und</strong> Gegenschnitte<br />

Jalal Toufi c, Âshûrâ: This Blood Spilled in My Veins,<br />

2002, Still<br />

nützt Jalal Toufi c, um die Irritation zu einem<br />

schönen Zusammenspiel werden zu lassen. Die<br />

Täuschung funktioniert. Wir sehen, was wir sehen<br />

wollen.<br />

Gilles Deleuze defi niert die Frage nach dem Bild<br />

hinter dem Bild als eine der Kriegs- <strong>und</strong> Vorkriegszeit<br />

immanente. „Dieses erste Zeitalter<br />

lässt sich zunächst durch die Kunst der Montage<br />

defi nieren (...) durch eine unterstellte Tiefe des<br />

Bildes. (...), in dem es ‚hinter’ dem Bild nichts<br />

mehr zu sehen gab als die Bilder der KZ-Lager.<br />

(...) Nach dem Krieg ergaben sich neue Fragen. Es<br />

war nicht mehr wichtig zu wissen, was sich ‚hinter’<br />

dem Bild verbarg, sondern was mein Blick<br />

auszuhalten in der Lage sei, von dem, was ich ohnehin<br />

sehe, <strong>und</strong> was sich auf einer einzigen Ebene<br />

abspielt? (...) Die Tiefe wurde als ‚Täuschung’ gebrandmarkt,<br />

das Bild schien seine Flächigkeit<br />

akzeptiert zu haben, seine ‚Oberfl äche ohne Tie-<br />

Links: Jalal Toufi c, A Special Effect Termed “Time”;<br />

or, Filming Death at Work, 2005, Installationsansicht,<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum, 2006<br />

Fotos: Nils Klinger


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 25<br />

fe’ oder seine ‚Untiefe’, wie es beim Meer heißt.²<br />

Diese Fragestellungen adaptiert Jalal Toufi c auf<br />

einen Teil der sich seit den 1990er Jahren entwickelnden<br />

libanesischen Kunstszene, „was, neben<br />

fi nanziellen Gründen, erklären könnte, warum<br />

eine beträchtliche Anzahl der interessantesten libanesischen<br />

Künstler, die sich mit audiovisuellen<br />

Medien beschäftigen, mit Video <strong>und</strong> fl achen Bildern<br />

arbeiten <strong>und</strong> nicht mit Film. Sie/Wir glauben<br />

an die Tiefe der Erde, wo Massaker stattgef<strong>und</strong>en<br />

haben <strong>und</strong> wo so viele ohne ein richtiges<br />

Begräbnis vergraben wurden <strong>und</strong> immer noch darauf<br />

warten, wieder ausgegraben <strong>und</strong> danach<br />

richtig bestattet <strong>und</strong> betrauert zu werden “.³ Aus<br />

dem Dunkel des Projektionsraumes heraus entfalten<br />

sich der ganze Reichtum <strong>und</strong> die Vielschichtigkeit<br />

des künstlerischen Schaffens von Jalal<br />

Toufi c. Mit sprödem Charme <strong>und</strong> großer Detailkenntnis<br />

stellt er Bezüge zwischen Magrittes surrealem<br />

Blick durchs Fenster, dem 1984 vom libanesischen<br />

Fernsehen ausgestrahlten Märtyrertod<br />

des Kommunisten Jamal Sati sowie Alfred Hitchcocks<br />

Meisterwerken Fenster zum Hof <strong>und</strong> Vertigo<br />

her. Diese beiden Filme konnten nach unklaren<br />

Erbverfügungen erst 1984 wieder im Kino gezeigt<br />

werden <strong>und</strong> waren 25 Jahre lang die „fünf<br />

für die Öffentlichkeit verlorenen Hitchcocks“.<br />

Seine Fantasie <strong>und</strong> Lust an der Allegorie <strong>und</strong> dem<br />

Verweben von Geschichte <strong>und</strong> Gewohnheiten in<br />

bester kulturkritischer Manier kennt kaum Grenzen.<br />

Rainer Maria Rilkes Idylle in Sils-Maria fi ndet<br />

sich in seinen Postern wieder ebenso wie<br />

Dreyers „Heilige Johanna“ oder fotografi sche<br />

Porträtstudien von Francis Bacon. Spektakulär<br />

wird seine Methode aber dann, wenn er sich dem<br />

Bild des Ostens vom Westen aus gesehen zuwendet.<br />

Sagen wir. Genau umgekehrt, sagen die Menschen<br />

aus dem Orient. Seine Analysen <strong>und</strong> Bilder<br />

der mit Blut überströmten Teilnehmer einer Prozession<br />

in religiöser Entrücktheit stellen Fragen,<br />

dort wo Schweigen angesagt <strong>und</strong> weit verbreitet<br />

ist. Ein Ethos, das nicht zu vermitteln sei, sagen<br />

die einen, eines, das zu Missverständnissen füh-<br />

Toufi c geht es nicht<br />

um die Schönheit des<br />

Fanatismus<br />

ren müsse, meinen die anderen. Er mache sich<br />

zum Apologeten einer Kultur gespickt mit blutrünstigen<br />

Ritualen. Oder trifft Jalal Toufi cs Feststellung<br />

zu, dass die Rolle der Kunst darin bestehe,<br />

nach Kriegen mit all ihren Unwahrheiten <strong>und</strong><br />

Verzerrungen die Suche nach der Wahrheit wieder<br />

aufzunehmen? Oder besteht sie im Gegenteil<br />

darin, der Wahrheit den Verdacht zu unterstellen<br />

<strong>und</strong> den Verdacht auf die Wahrheit auszudehnen?<br />

In einer Weiterbearbeitung seiner Studie über das<br />

schiitische Ashura-Fest zeigt Jalal Toufi c in Zeitlupe<br />

verlangsamt Beziehungen, Sehnsüchte <strong>und</strong><br />

Gefühle der sich Kasteienden untereinander, die<br />

in dieser Art bisher noch nie zu sehen waren. Wie<br />

mir scheint, einer der wichtigsten Entdeckungen<br />

dieser Tage im November in Beirut: Die Thematisierung<br />

von Liebe unter dem Aspekt des Religiösen.<br />

Jalal Toufi c, sicher einer der intellektuellsten<br />

Künstler aus Beirut, geht es nicht um die<br />

Schönheit des Fanatismus, sondern um das Überprüfen<br />

des Momentes der Extase in all ihren<br />

Schattierungen. Wie in den Darstellungen des<br />

Abendmahls, des Judaskusses oder der Prophezeiung<br />

Christi des Verrates seines Jüngers Petrus<br />

steht bei Jalal Toufi c die sublimierte Liebe, die so<br />

viele Künstler des christlichen Abendlandes inspiriert<br />

hat, im Zentrum seiner Aufmerksamkeit.<br />

„Send me to the seas of love, I’m drowning in my<br />

blood“, heißt es in einer Zeile in einem Sufi -Gedicht<br />

eines der führenden schiitischen Geist-


um Grena<br />

fi ne<br />

Verzerrungen die Suche nach der Wahrheit wieder<br />

aufzunehmen? Oder besteht sie im Gegenteil<br />

darin, der Wahrheit den Verdacht zu unterstellen<br />

<strong>und</strong> den Verdacht auf die Wahrheit auszudehnen?<br />

ner Weiterbearbeitung seiner Studie über das<br />

e Ashura-Fest zeigt Jalal Toufi c in Zeitamt<br />

Beziehungen, Sehnsüchte <strong>und</strong><br />

Kasteienden untereinander, die<br />

ch nie zu sehen waren. Wie<br />

tigsten Entdeckungen<br />

irut: Die Thematit<br />

des Religitellektudie<br />

FRIDERICIANUM SEITE 25


12. APRIL - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 27<br />

Jala Toufi c, The Lamentation Series: the Night and Day,<br />

2005<br />

lichen, Sayyed Mohammad Hussein Fadlallah.<br />

Damit schließt sich für Toufi c ein Kreis der Kultur<br />

des Abendlandes, die er für immer mit dem<br />

Morgenland verwoben sieht. Seine kontinuierlichen<br />

Verschränkungen sind anstrengend, ohne<br />

Zweifel, bergen aber auch ungeahnte Lustmomente.<br />

Derart gekonnt hat in der letzen Zeit kein<br />

Künstler Kunst- <strong>und</strong> Filmgeschichte durcheinandergewirbelt<br />

<strong>und</strong> wieder neu zusammengesetzt<br />

<strong>und</strong>, wenn’s passt, Tradition <strong>und</strong> Theorie der Philosophie<br />

gleich dazu gepackt. In seiner Videoarbeit<br />

A Special Effect Termed Time sehen wir<br />

nicht nur während langer Minuten einem Kind<br />

beim Schlafen zu, sondern werden einer Langzeitbeobachtung<br />

aus dem Leben eines Kindes,<br />

gesehen durch die Augen seiner Eltern <strong>und</strong> Verwandten<br />

ausgesetzt. Filming Death at Work, dieser<br />

Unterzeile, hier in Kassel der Titel der Ausstellung,<br />

ist Vanitas-Motiv <strong>und</strong> Kritik am Unvermeidbaren,<br />

dem Lauf der Zeit, zugleich. Bei aller<br />

Intellektualität <strong>und</strong> geballtem Wissen geht Jalal<br />

Toufi c die Lust am Fabulieren nie aus. Seine Botschaft<br />

ist das Bild <strong>und</strong> alles dreht sich bei ihm um<br />

die immer wieder neu zu stellende Frage, wie<br />

Subjektivtät sich erzeugen lässt. Ist das Bild, das<br />

Ist das Bild, das wir<br />

sehen, das Bild, das<br />

wir meinen?<br />

wir sehen, das Bild, das wir meinen? Antworten<br />

gibt Jalal Toufi c keine. Er lässt Bilder sprechen.<br />

Sehen wir was wir sehen, oder was wir sehen<br />

wollen?<br />

Anne Maier<br />

Fotos: Nils Klinger<br />

¹ Jalal Toufi c in Kat. Radical Closure, 52. Internationale<br />

Kurzfi lmtage Oberhausen 2006<br />

² zit. Nach Gilles Deleuze in Unterhandlungen 1972-1990,<br />

Frankfurt am Main, 1993<br />

³ ebenda, Anm. 1


06. MAI - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 28<br />

Marina Abramović: Seven Easy Pieces<br />

Die Ikone der Performance-Kunst zu Gast in der <strong>Kunsthalle</strong><br />

Marina Abramović führt die Performance Lips of Thomas<br />

(1975) auf, Solomon R. Guggenheim Museum,<br />

Foto: Attilio Maranzano Courtesy Sean Kelly Gallery,<br />

New York<br />

Durch den radikalen Einsatz ihrer Person als<br />

Künstlerin <strong>und</strong> ihres Körpers als Kunst-Objekt<br />

hat Abramović die Performance-Kunst der letzten<br />

dreißig Jahre nachdrücklich geprägt. 1946 in<br />

Belgrad geboren, studierte sie von 1965 bis 1970<br />

Malerei an der dortigen Akademie der Bildenden<br />

Künste sowie anschließend in Zagreb. Zunächst<br />

verlagerte sie ihren künstlerischen Fokus auf<br />

konzeptuelle Kunst, Klang- <strong>und</strong> Licht-Installationen.<br />

Ab 1973 experimentierte sie mit Video <strong>und</strong><br />

Film <strong>und</strong> begann, ihren Körper als Material einzusetzen.<br />

Seitdem ist die Performance ihre bevor-<br />

Das Austesten der<br />

eigenen physischen <strong>und</strong><br />

psychischen Grenzen<br />

bis zur totalen körperlichen<br />

Erschöpfung<br />

zugte künstlerische Ausdrucksform. Um<br />

Abramovićs Kunstpraxis, das Austesten der eigenen<br />

physischen <strong>und</strong> psychischen Grenzen bis zur<br />

totalen körperlichen Erschöpfung sowie das<br />

Überschreiten von Tabus <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Konventionen zu begreifen, ist es notwendig, sich<br />

ihre Biografi e zu vergegenwärtigen. Ihre Arbeit<br />

thematisiert ihr Leben. Beides, Leben <strong>und</strong> Werk,<br />

sind seit jeher untrennbar miteinander verknüpft.<br />

Abramović stellt klar heraus, dass Kunst <strong>und</strong> Leben<br />

für sie keinen Gegensatz darstellen, sondern<br />

Verbündete auf der Suche nach dem Erfahren der<br />

eigenen Existenz sind.<br />

In den 1970er Jahren entstand eine Performance-<br />

Serie, mit der Abramović erstmalig ihren Körper<br />

bis in Grenzbereiche körperlicher Risiken,<br />

Qualen <strong>und</strong> Schmerzen überführte. Zu dieser Zeit<br />

entwickelte sie neben dem großen Thema Körper<br />

auch die beiden weiteren Kernpunkte ihrer Performance-Kunst,<br />

die Einbeziehung des Publikums<br />

<strong>und</strong> das Ritual. Vermittlung <strong>und</strong> Dokumentation<br />

von Performances waren von Beginn an ihr<br />

Anliegen. Von den frühen Body-Aktionen existieren<br />

sowohl Fotos als auch Filmaufzeichnung,<br />

die für sie eine Möglichkeit der Vermittlung darstellten.<br />

Zudem bewahrte sie Relikte der Performances<br />

auf. Die Idee der Dokumentation entstand<br />

nicht erst für Seven Easy Pieces. Schon in Biography<br />

(1992) griff sie Elemente <strong>und</strong> Topoi ihrer<br />

früheren Performances wieder auf, um sie miteinander<br />

zu verknüpfen <strong>und</strong> neu zu kontextuieren.<br />

Mit dieser Performance, die sie für eine Theaterbühne<br />

konzipiert hatte, warf sie einen Blick zu-


06. MAI - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 29<br />

Marina Abramović führt die Performance Aktionshose: Genitalpanik (1969) von VALIE EXPORT auf, Solomon R. Guggenheim Museum, Foto: Kathryn Carr, © Solomon R.<br />

Guggenheim Museum, New York<br />

rück auf ihr Leben als Künstlerin: „Biography<br />

funktioniert im Gr<strong>und</strong>e nur in einem Bühnenkon-<br />

text. Weil du eine Art Vergangenheit spielst, deine<br />

Vergangenheit… Es war eine Mischung aus<br />

realer <strong>und</strong> gespielter Wirklichkeit.“ ¹


06. MAI - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 30<br />

Biography war somit auch ein lebender catalogue<br />

raisonné ihrer Performances <strong>und</strong> als solcher eine<br />

faszinierende Antwort auf die von vielen Performance-Künstlern<br />

gestellte Frage nach Wegen der<br />

Wiederaufführung älteren Materials.<br />

Und genau dies tat sie selbst als ausführende Akteurin<br />

von wegweisenden Performances der<br />

1960er <strong>und</strong> 1970er Jahre im Solomon R. Guggenheim<br />

Museum in New York. Der siebentägige<br />

Performance-Marathon unter dem Titel Seven<br />

Der siebentägige<br />

Performance-Marathon<br />

Easy Pieces fand im November 2005 im Rahmen<br />

der von RoseLee Goldberg kuratierten Performance<br />

Art Biennale Performa 05 statt <strong>und</strong> wurde<br />

von Abramović als Hommage an die Geschichte<br />

der Performance-Kunst konzipiert. Es ging ihr<br />

mit diesem Projekt sowohl um die Interpretation<br />

von Performances als auch um die gleichzeitige<br />

Dokumentation ihrer Realisierungen. Sie selbst<br />

nannte die Gründe für diese Re-enactments: „The<br />

point to me is to show how you can pay hommage<br />

to historical works. I have never seen the original<br />

of any of these pieces; I have no idea how it will<br />

feel to perform them, and that’s why I want to do<br />

it.” 2 An sieben aufeinander folgenden Tagen von<br />

je sieben St<strong>und</strong>en täglich ließ sie fünf historische<br />

Performances von Bruce Nauman, Vito Acconci,<br />

VALIE EXPORT, Gina Pane <strong>und</strong> Joseph Beuys<br />

durch Re-Interpretationen wieder zum Leben er-<br />

Marina Abramović zur Eröffnung der Ausstellung Seven<br />

Easy Pieces am 5. Mai 2006<br />

wecken. Diesen schloss sie ihr eigenes Stück The<br />

Lips of Thomas an, das sie erstmalig 1975 auf-<br />

führte. Als Abschlussevent performte Abramović<br />

ihr neues, speziell für diesen Performance-Zyklus<br />

konzipiertes Stück Entering the Other Side<br />

(2005).<br />

Aufführung <strong>und</strong> Wiederaufführung<br />

Im Zentrum des Erdgeschosses des Guggenheim<br />

Museums war eine große Rot<strong>und</strong>e errichtet worden,<br />

die Abramović für die nächsten sieben Tage<br />

als Bühne diente. Hinter dieser Konstruktion befanden<br />

sich sieben Monitore, die nachfolgend die<br />

Aufzeichnungen der Performances parallel zu<br />

den jeweils stattfi ndenden Aufführungen präsentierten,<br />

so dass, laut Sandra Umathum, eine interessante<br />

Form der Gleichzeitigkeit von Vergangenheit,<br />

Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft erzeugt wurde. 3<br />

Eröffnet wurden Seven Easy Pieces am 9. November<br />

2005 mit Bruce Naumans Body Pressure.<br />

Die ursprüngliche Version von 1974 hatte Nauman<br />

einmalig selbst aufgeführt <strong>und</strong> auf Video<br />

aufgezeichnet. Für eine Ausstellung in der Konrad<br />

Fischer Galerie in Düsseldorf präparierte<br />

Nauman den Ausstellungsraum, indem er in der<br />

Mitte des Raumes eine Wand installierte <strong>und</strong> an<br />

den Seitenwänden die Performance-Instruktionen<br />

in Posterformat anbrachte. Anweisungen, wie<br />

„press as much of the front surface of your body<br />

(palms in or out, left or right cheek) against the<br />

wall as possible“, forderten die Galerie-Besucher<br />

auf, ihre Körper in unterschiedlichen Positionen<br />

gegen diese Wand zu drücken <strong>und</strong> dabei gleich-


06. MAI - 14. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 31<br />

Marina Abramović, The Conditioning, erste Aktion der<br />

Self-Portrait(s) (1973) von Gina Pane, Installationsansicht,<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridricianum, 2006<br />

zeitig über diesen Vorgang zu refl ektieren. In<br />

Abramovićs Interpretation war das Publikum als<br />

agierender Teil der Performance ausgeschlossen.<br />

Sie selbst folgte über sieben St<strong>und</strong>en den Instruktionen,<br />

die sie zuvor aufgezeichnet hatte <strong>und</strong> die<br />

nun als Tonschleife über Lautsprecher zu hören<br />

waren. Die Anweisungen waren von langen Pausen<br />

voneinander getrennt, so dass sie Konzentration,<br />

Ruhe <strong>und</strong> Bedächtigkeit vermittelte.<br />

Am Folgetag führte Abramović Vito Acconcis<br />

Seedbed von 1972 auf. In Acconcis Performance,<br />

die er fünfmal von je sechs St<strong>und</strong>en im Januar<br />

1972 in der Sonnabend Gallery in New York aufgeführt<br />

hatte, kauerte der Künstler für das Publikum<br />

unsichtbar unter einer in die Galerie einge-<br />

zogen Rampe. An der Wand war der Text „privat<br />

sexual activity“ zu lesen <strong>und</strong> die Besucher – es<br />

wurde nur je ein Besucher im Raum zugelassen<br />

– konnten über Lautsprecher akustisch wahrnehmen,<br />

dass Acconci masturbierte. Die Interaktion<br />

mit dem Publikum war für Acconci von ausschlaggebender<br />

Bedeutung <strong>und</strong> die Performance<br />

wurde von dessen Reaktionen, Bewegungen <strong>und</strong><br />

Äußerungen mitbestimmt: “My aids are the visitors<br />

to the gallery… my fantasies about them can<br />

excite me… the seed ‘planted’ on the fl oor, then,<br />

is a joint result of my performance and theirs.” 4 In<br />

Samen als Metapher<br />

der Schöpfung<br />

Anlehnung an Acconcis Intention, Samen als Metapher<br />

der Schöpfung zu produzieren, war es<br />

Abramovićs Idee, Feuchtigkeit <strong>und</strong> Wärme zu<br />

spenden. Ebenso wie Acconci blieb sie dem Publikum<br />

während der Aktion verborgen <strong>und</strong> nur<br />

ihre Stimme war über Lautsprecher wahrnehmbar.<br />

Als drittes Re-enactment interpretierte Abramović<br />

VALIE EXPORTs Aktionshose: Genitalpanik<br />

von1968/69. VALIE EXPORT hatte diese Performance<br />

1968 während einer Filmvorführung im<br />

Münchener Kino Augusta-Lichtspiele aufgeführt,<br />

das für seine explizit sexuelle Themenwahl bekannt<br />

war. Während der Vorführung betrat sie –<br />

bekleidet mit einer Hose, deren Schritt entfernt<br />

war – den abgedunkelten Saal <strong>und</strong> schritt mit ihrem<br />

entblößten Geschlecht Sitzreihe für Sitzreihe<br />

ab. Diese Provokation veranlasste die überwiegend<br />

männlichen Besucher, das Kino empört zu<br />

verlassen. Abramovićs Umsetzung bezog sich<br />

nicht direkt auf diese Aktion, sondern auf eine<br />

Fotoserie mit EXPORT, die ein Jahr nach der<br />

Münchener Performance aufgenommen wurde.<br />

Auf einem dieser Fotos sieht man die Künstlerin<br />

bekleidet in der Hose der Performance, mit wil-<br />

Marina Abramović, Entering the Other Side (2005) von<br />

Marina Abramović <strong>und</strong> Body Pressure (1974) von Bruce<br />

Nauman, Installationsansicht, <strong>Kunsthalle</strong> Fridricianum,<br />

2006


SEITE SEITE SEITE 32 32 32<br />

der der der Haarmähne Haarmähne Haarmähne <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> einer einer einer Waffe Waffe Waffe in in in der der in der Hand Hand Hand laslaslaszivzivziv auf auf auf einem einem einem Stuhl Stuhl Stuhl sitzen. sitzen. sitzen. Auf Auf Auf einem einem einem nächsten nächsten<br />

nächsten<br />

steht steht steht EXPORT EXPORT EXPORT breitbeinig breitbeinig breitbeinig <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> wiederum wiederum wiederum mit mit mit im im im<br />

Schritt Schritt Schritt ausgeschnittener ausgeschnittener ausgeschnittener Hose Hose Hose sowie sowie sowie einer einer einer KaKaKalaschnikowlaschnikowlaschnikow in in in den den in den Händen Händen Händen vor vor vor einer einer einer Hütte. Hütte.<br />

Hütte.<br />

Diese Diese Diese Posen Posen Posen <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> die die die Kleidung Kleidung Kleidung benutzte benutzte benutzte Abramović Abramović<br />

Abramović<br />

als als als Partitur Partitur Partitur ihrer ihrer ihrer Re-Interpretation Re-Interpretation Re-Interpretation auf auf auf der der der Bühne Bühne<br />

Bühne<br />

des des des Guggenheim Guggenheim Guggenheim Museums. Museums. Museums. Am Am Am vierten vierten vierten Tag Tag Tag der der der<br />

Performance-Serie Performance-Serie Performance-Serie führte führte führte Abramović Abramović Abramović am am am 12. 12. 12. NoNoNovembervembervember Gina Gina Gina Panes Panes Panes The The The Conditioning, Conditioning, Conditioning, fi fi rst rst fi fi rst of of of of<br />

Sie Sie Sie schritt schritt schritt mit mit mit ihrem ihrem<br />

ihrem<br />

entblößten entblößten entblößten Geschlecht Geschlecht<br />

Geschlecht<br />

Sitzreihe Sitzreihe Sitzreihe für für für Sitzreihe Sitzreihe<br />

Sitzreihe<br />

ab ab ab<br />

three phases in Self-Portrait(s) wieder auf. Pane<br />

performte dieses Stück 1973 in der Galerie<br />

Stadler in Paris. In Anlehnung an die christliche<br />

Ikonografi e peinigte sie sich auf einem Eisenbett<br />

liegend, unter dem fünfzehn brennende Kerzen<br />

standen. Die Querstangen des Brettes waren so<br />

weit voneinander entfernt, dass die Hitze des Feuers<br />

direkt auf den Körper der Künstlerin einwirken<br />

konnte. Pane gelang es, in dieser Position<br />

über dreißig Minuten zu verharren. Abramović<br />

konzipierte ihre Interpretation sehr dicht an der<br />

ursprünglichen Performance. Wie die vorherigen<br />

Aufführungen, dehnte sie auch The Conditioning<br />

auf sieben St<strong>und</strong>en aus. Abramović wechselte die<br />

Kerzen, sobald sie heruntergebrannt waren <strong>und</strong><br />

legte sich anschließend wieder auf das Eisenbett.<br />

Diese Momente waren die einzigen Phasen der<br />

Regeneration.<br />

Am fünften Tag stellte Abramović Joseph Beuys’<br />

wegweisende Performance Wie man dem toten<br />

Hasen die Bilder erklärt 5 three phases in Self-Portrait(s) wieder auf. Pane<br />

performte dieses Stück 1973 in der Galerie<br />

Stadler in Paris. In Anlehnung an die christliche<br />

Ikonografi e peinigte sie sich auf einem Eisenbett<br />

liegend, unter dem fünfzehn brennende Kerzen<br />

standen. Die Querstangen des Brettes waren so<br />

weit voneinander entfernt, dass die Hitze des Feuers<br />

direkt auf den Körper der Künstlerin einwirken<br />

konnte. Pane gelang es, in dieser Position<br />

über dreißig Minuten zu verharren. Abramović<br />

konzipierte ihre Interpretation sehr dicht an der<br />

ursprünglichen Performance. Wie die vorherigen<br />

Aufführungen, dehnte sie auch The Conditioning<br />

auf sieben St<strong>und</strong>en aus. Abramović wechselte die<br />

Kerzen, sobald sie heruntergebrannt waren <strong>und</strong><br />

legte sich anschließend wieder auf das Eisenbett.<br />

Diese Momente waren die einzigen Phasen der<br />

Regeneration.<br />

Am fünften Tag stellte Abramović Joseph Beuys’<br />

wegweisende Performance Wie man dem toten<br />

Hasen die Bilder erklärt von 1965 als letzte<br />

Wiederaufführung eines anderen Künstlers dar.<br />

Beuys präsentierte das Stück 1965 während einer<br />

Ausstellung seiner Werke in der Galerie Schmela<br />

in Düsseldorf. Während der Performance waren<br />

die Besucher vom Ausstellungsraum ausgeschlos-<br />

5 three phases in Self-Portrait(s) wieder auf. Pane<br />

performte dieses Stück 1973 in der Galerie<br />

Stadler in Paris. In Anlehnung an die christliche<br />

Ikonografi e peinigte sie sich auf einem Eisenbett<br />

liegend, unter dem fünfzehn brennende Kerzen<br />

standen. Die Querstangen des Brettes waren so<br />

weit voneinander entfernt, dass die Hitze des Feuers<br />

direkt auf den Körper der Künstlerin einwirken<br />

konnte. Pane gelang es, in dieser Position<br />

über dreißig Minuten zu verharren. Abramović<br />

konzipierte ihre Interpretation sehr dicht an der<br />

ursprünglichen Performance. Wie die vorherigen<br />

Aufführungen, dehnte sie auch The Conditioning<br />

auf sieben St<strong>und</strong>en aus. Abramović wechselte die<br />

Kerzen, sobald sie heruntergebrannt waren <strong>und</strong><br />

legte sich anschließend wieder auf das Eisenbett.<br />

Diese Momente waren die einzigen Phasen der<br />

Regeneration.<br />

Am fünften Tag stellte Abramović Joseph Beuys’<br />

wegweisende Performance Wie man dem toten<br />

Hasen die Bilder erklärt von 1965 als letzte<br />

Wiederaufführung eines anderen Künstlers dar.<br />

Beuys präsentierte das Stück 1965 während einer<br />

Ausstellung seiner Werke in der Galerie Schmela<br />

in Düsseldorf. Während der Performance waren<br />

die Besucher vom Ausstellungsraum ausgeschlos-<br />

5 three phases in Self-Portrait(s) wieder auf. Pane<br />

performte dieses Stück 1973 in der Galerie<br />

Stadler in Paris. In Anlehnung an die christliche<br />

Ikonografi e peinigte sie sich auf einem Eisenbett<br />

liegend, unter dem fünfzehn brennende Kerzen<br />

standen. Die Querstangen des Brettes waren so<br />

weit voneinander entfernt, dass die Hitze des Feuers<br />

direkt auf den Körper der Künstlerin einwirken<br />

konnte. Pane gelang es, in dieser Position<br />

über dreißig Minuten zu verharren. Abramović<br />

konzipierte ihre Interpretation sehr dicht an der<br />

ursprünglichen Performance. Wie die vorherigen<br />

Aufführungen, dehnte sie auch The Conditioning<br />

auf sieben St<strong>und</strong>en aus. Abramović wechselte die<br />

Kerzen, sobald sie heruntergebrannt waren <strong>und</strong><br />

legte sich anschließend wieder auf das Eisenbett.<br />

Diese Momente waren die einzigen Phasen der<br />

Regeneration.<br />

Am fünften Tag stellte Abramović Joseph Beuys’<br />

wegweisende Performance Wie man dem toten<br />

Hasen die Bilder erklärt von 1965 als letzte<br />

Wiederaufführung eines anderen Künstlers dar.<br />

Beuys präsentierte das Stück 1965 während einer<br />

Ausstellung seiner Werke in der Galerie Schmela<br />

in Düsseldorf. Während der Performance waren<br />

die Besucher vom Ausstellungsraum ausgeschlos-<br />

5 von 1965 als letzte<br />

Wiederaufführung eines anderen Künstlers dar.<br />

Beuys präsentierte das Stück 1965 während einer<br />

Ausstellung seiner Werke in der Galerie Schmela<br />

in Düsseldorf. Während der Performance waren<br />

die Besucher vom Ausstellungsraum ausgeschlos-<br />

06. 06. 06. MAI MAI MAI - - 14. 14. - - 14. MAI MAI MAI 2006 2006 2006 KUNSTHALLE KUNSTHALLE KUNSTHALLE FRIDERICIANUM<br />

FRIDERICIANUM<br />

FRIDERICIANUM<br />

sen <strong>und</strong> konnten die Aktion nur durch Fenster sprochen Kräfte zehrende, sehr vielschichtige<br />

beobachten. Das Gesicht des Künstlers war mit <strong>und</strong> stark durch rituelles Handeln geprägte Per-<br />

Blattgold, Goldstaub <strong>und</strong> Honig bedeckt. Auf seiformance. In der ursprünglichen Version, die<br />

nem Arm hielt er einen toten Hasen, mit dem er nach zwei St<strong>und</strong>en von den Zuschauern beendet<br />

von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung ging wurde, aß die Künstlerin ein Kilo Honig, trank<br />

<strong>und</strong> die Bilder erklärte. Erst nach drei St<strong>und</strong>en eine Flasche Wein, peitschte sich den Rücken,<br />

wurden die Besucher in die Ausstellungsräume ritzte sich mehrmals mit Rasierklingen einen<br />

gebeten <strong>und</strong> Beuys saß mit dem Hasen im Arm, fünfzackigen Stern in den Bauch, legte sich auf<br />

aber den Besuchern seinen Rücken zugewandt, kreuzförmig angeordnete Eisblöcke, ließ das<br />

im Eingangsbereich. Die Symbolträchtigkeit der<br />

Performance samt ihrer Attribute – der Hase als<br />

germanisches Symbol für Fruchtbarkeit <strong>und</strong><br />

christliches Symbol der Auferstehung, Gold als<br />

altes Symbol der Reinheit <strong>und</strong> Weisheit <strong>und</strong> der<br />

Honig als Fruchtbarkeitssymbol sowie als Mittel<br />

zur Regeneration <strong>und</strong> Wiederbelebung – hat<br />

Abramović in ihre Re-Interpretation übertragen.<br />

Mit der Aufführung von The Lips of Thomas am<br />

sechsten Tag war die Serie der Re-Interpretationen<br />

historischer Performances abgeschlossen. Weinglas in ihrer Hand zerklirren <strong>und</strong> wippte<br />

Ursprünglich plante Abramović für diesen Tag manisch auf dem Boden kniend hin <strong>und</strong> her bis<br />

die Wiederaufführung ihres berühmten Stückes sie weinte. Der Guggenheim-Aufführung hatte<br />

Rhythm 0, das sie erstmalig 1974 in der Studio Abramović eine veränderte Dramaturgie zugrun-<br />

Mona Galerie in Neapel performte. Bei dieser de gelegt. Die einzelnen Sequenzen der dama-<br />

Performance bestimmte sie sich selbst als Objekt ligen Performance wurden stark verkürzt <strong>und</strong> ei-<br />

neben 72 weiteren Gegenständen <strong>und</strong> forderte die ner neuen Reihenfolge zugeordnet. Zudem er-<br />

Besucher auf, diese nach eigenem Belieben an ihr gänzte sie Komponenten, wie die militärische<br />

zu benutzen. 1974 wurde die Performance been- Kappe, einen Holzstab <strong>und</strong> Wanderschuhe<br />

det, nachdem jemand Abramović die geladene<br />

Pistole an den Kopf gehalten hatte. Diese Waffe<br />

war der Gr<strong>und</strong>, warum die Performance im Guggenheim<br />

Museum nicht zugelassen wurde. Stattdessen<br />

entschied sich Abramović für die Wiederaufführung<br />

von The Lips of Thomas, das sie erstmalig<br />

1975 in der Galerie Krinzinger in Innsbruck<br />

gezeigt hatte. The Lips of Thomas rekurriert<br />

auf Abramovićs Biografi e. Sie ist eine ausge-<br />

6 sen <strong>und</strong> konnten die Aktion nur durch Fenster sprochen Kräfte zehrende, sehr vielschichtig<br />

beobachten. Das Gesicht des Künstlers war mit <strong>und</strong> stark durch rituelles Handeln geprägte Per<br />

Blattgold, Goldstaub <strong>und</strong> Honig bedeckt. Auf sei- formance. In der ursprünglichen Version, di<br />

nem Arm hielt er einen toten Hasen, mit dem er nach zwei St<strong>und</strong>en von den Zuschauern beende<br />

von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung ging wurde, aß die Künstlerin ein Kilo Honig, tran<br />

<strong>und</strong> die Bilder erklärte. Erst nach drei St<strong>und</strong>en eine Flasche Wein, peitschte sich den Rücken<br />

wurden die Besucher in die Ausstellungsräume ritzte sich mehrmals mit Rasierklingen eine<br />

gebeten <strong>und</strong> Beuys saß mit dem Hasen im Arm, fünfzackigen Stern in den Bauch, legte sich au<br />

aber den Besuchern seinen Rücken zugewandt, kreuzförmig angeordnete Eisblöcke, ließ da<br />

im Eingangsbereich. Die Symbolträchtigkeit der<br />

Performance samt ihrer Attribute – der Hase als<br />

germanisches Symbol für Fruchtbarkeit <strong>und</strong><br />

christliches Symbol der Auferstehung, Gold als<br />

altes Symbol der Reinheit <strong>und</strong> Weisheit <strong>und</strong> der<br />

Honig als Fruchtbarkeitssymbol sowie als Mittel<br />

zur Regeneration <strong>und</strong> Wiederbelebung – hat<br />

Abramović in ihre Re-Interpretation übertragen.<br />

Mit der Aufführung von The Lips of Thomas am<br />

sechsten Tag war die Serie der Re-Interpretationen<br />

historischer Performances abgeschlossen. Weinglas in ihrer Hand zerklirren <strong>und</strong> wippt<br />

Ursprünglich plante Abramović für diesen Tag manisch auf dem Boden kniend hin <strong>und</strong> her bi<br />

die Wiederaufführung ihres berühmten Stückes sie weinte. Der Guggenheim-Aufführung hatte<br />

Rhythm 0, das sie erstmalig 1974 in der Studio Abramović eine veränderte Dramaturgie zugrun<br />

Mona Galerie in Neapel performte. Bei dieser de gelegt. Die einzelnen Sequenzen der dama<br />

Performance bestimmte sie sich selbst als Objekt ligen Performance wurden stark verkürzt <strong>und</strong> ei<br />

neben 72 weiteren Gegenständen <strong>und</strong> forderte die ner neuen Reihenfolge zugeordnet. Zudem er<br />

Besucher auf, diese nach eigenem Belieben an ihr gänzte sie Komponenten, wie die militärische<br />

zu benutzen. 1974 wurde die Performance been- Kappe, einen Holzstab <strong>und</strong> Wanderschuhe sodet,<br />

nachdem jemand Abramović die geladene wie das Lied Slavic Souls. Das Hinzufügen dieser<br />

Pistole an den Kopf gehalten hatte. Diese Waffe neuen Elemente hat die inhaltliche Vermittlung<br />

war der Gr<strong>und</strong>, warum die Performance im Gug- gegenüber der ursprünglichen Version verändert<br />

ohne dabei an Provokativität eingebüßt zu haben.<br />

Beendet wurde das New Yorker Spektakel mit<br />

Abramovićs speziell für diesen Performance-Zyklus<br />

konzipierten Stück Entering the Other Side<br />

(2005). Nachdem sie mit sechs Arbeiten die Vergangenheit<br />

in die Gegenwart transferierte, die<br />

Veränderungen ihrer Person <strong>und</strong> Kunst im Kongenheim<br />

Museum nicht zugelassen wurde. Statttext des geschichtlichen Prozesses verortete,<br />

dessen entschied sich Abramović für die Wieder- blickte sie mit Entering the Other Side in die Zuaufführung<br />

von The Lips of Thomas, das sie erstkunft; <strong>und</strong> zwar nicht nur in ihre persönliche Zumalig<br />

1975 in der Galerie Krinzinger in Innskunft, sondern auch in die Zukunft der Live-Perbruck<br />

gezeigt hatte. The Lips of Thomas rekurformance. Über sechs Tage hatte sie ihren Körper<br />

riert auf Abramovićs Biografi e. Sie ist eine ausge- schwersten Anstrengungen <strong>und</strong> Schmerzen aus-<br />

6 sen <strong>und</strong> konnten die Aktion nur durch Fenster sprochen Kräfte zehrende, sehr vielschichtige<br />

beobachten. Das Gesicht des Künstlers war mit <strong>und</strong> stark durch rituelles Handeln geprägte Per-<br />

Blattgold, Goldstaub <strong>und</strong> Honig bedeckt. Auf seiformance. In der ursprünglichen Version, die<br />

nem Arm hielt er einen toten Hasen, mit dem er nach zwei St<strong>und</strong>en von den Zuschauern beendet<br />

von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung ging wurde, aß die Künstlerin ein Kilo Honig, trank<br />

<strong>und</strong> die Bilder erklärte. Erst nach drei St<strong>und</strong>en eine Flasche Wein, peitschte sich den Rücken,<br />

wurden die Besucher in die Ausstellungsräume ritzte sich mehrmals mit Rasierklingen einen<br />

gebeten <strong>und</strong> Beuys saß mit dem Hasen im Arm, fünfzackigen Stern in den Bauch, legte sich auf<br />

aber den Besuchern seinen Rücken zugewandt, kreuzförmig angeordnete Eisblöcke, ließ das<br />

im Eingangsbereich. Die Symbolträchtigkeit der<br />

Performance samt ihrer Attribute – der Hase als<br />

germanisches Symbol für Fruchtbarkeit <strong>und</strong><br />

christliches Symbol der Auferstehung, Gold als<br />

altes Symbol der Reinheit <strong>und</strong> Weisheit <strong>und</strong> der<br />

Honig als Fruchtbarkeitssymbol sowie als Mittel<br />

zur Regeneration <strong>und</strong> Wiederbelebung – hat<br />

Abramović in ihre Re-Interpretation übertragen.<br />

Mit der Aufführung von The Lips of Thomas am<br />

sechsten Tag war die Serie der Re-Interpretationen<br />

historischer Performances abgeschlossen. Weinglas in ihrer Hand zerklirren <strong>und</strong> wippte<br />

Ursprünglich plante Abramović für diesen Tag manisch auf dem Boden kniend hin <strong>und</strong> her bis<br />

die Wiederaufführung ihres berühmten Stückes sie weinte. Der Guggenheim-Aufführung hatte<br />

Rhythm 0, das sie erstmalig 1974 in der Studio Abramović eine veränderte Dramaturgie zugrun-<br />

Mona Galerie in Neapel performte. Bei dieser de gelegt. Die einzelnen Sequenzen der dama-<br />

Performance bestimmte sie sich selbst als Objekt ligen Performance wurden stark verkürzt <strong>und</strong> ei-<br />

neben 72 weiteren Gegenständen <strong>und</strong> forderte die ner neuen Reihenfolge zugeordnet. Zudem er-<br />

Besucher auf, diese nach eigenem Belieben an ihr gänzte sie Komponenten, wie die militärische<br />

zu benutzen. 1974 wurde die Performance been- Kappe, einen Holzstab <strong>und</strong> Wanderschuhe so<br />

det, nachdem jemand Abramović die geladene wie das Lied Slavic Souls. Das Hinzufügen diese<br />

Pistole an den Kopf gehalten hatte. Diese Waffe neuen Elemente hat die inhaltliche Vermittlung<br />

war der Gr<strong>und</strong>, warum die Performance im Gug- gegenüber der ursprünglichen Version veränder<br />

ohne dabei an Provokativität eingebüßt zu haben<br />

Beendet wurde das New Yorker Spektakel mi<br />

Abramovićs speziell für diesen Performance-Zy<br />

klus konzipierten Stück Entering the Other Side<br />

(2005). Nachdem sie mit sechs Arbeiten die Ver<br />

gangenheit in die Gegenwart transferierte, die<br />

Veränderungen ihrer Person <strong>und</strong> Kunst im Kongenheim<br />

Museum nicht zugelassen wurde. Statttext des geschichtlichen Prozesses verortete<br />

dessen entschied sich Abramović für die Wieder- blickte sie mit Entering the Other Side in die Zuaufführung<br />

von The Lips of Thomas, das sie erstkunft; <strong>und</strong> zwar nicht nur in ihre persönliche Zumalig<br />

1975 in der Galerie Krinzinger in Innskunft, sondern auch in die Zukunft der Live-Perbruck<br />

gezeigt hatte. The Lips of Thomas rekurformance. Über sechs Tage hatte sie ihren Körper<br />

riert auf Abramovićs Biografi e. Sie ist eine ausge- schwersten Anstrengungen <strong>und</strong> Schmerzen aus-<br />

6 sen <strong>und</strong> konnten die Aktion nur durch Fenster sprochen Kräfte zehrende, sehr vielschichtige<br />

beobachten. Das Gesicht des Künstlers war mit <strong>und</strong> stark durch rituelles Handeln geprägte Per-<br />

Blattgold, Goldstaub <strong>und</strong> Honig bedeckt. Auf seiformance. In der ursprünglichen Version, die<br />

nem Arm hielt er einen toten Hasen, mit dem er nach zwei St<strong>und</strong>en von den Zuschauern beendet<br />

von Objekt zu Objekt durch die Ausstellung ging wurde, aß die Künstlerin ein Kilo Honig, trank<br />

<strong>und</strong> die Bilder erklärte. Erst nach drei St<strong>und</strong>en eine Flasche Wein, peitschte sich den Rücken,<br />

wurden die Besucher in die Ausstellungsräume ritzte sich mehrmals mit Rasierklingen einen<br />

gebeten <strong>und</strong> Beuys saß mit dem Hasen im Arm, fünfzackigen Stern in den Bauch, legte sich auf<br />

aber den Besuchern seinen Rücken zugewandt, kreuzförmig angeordnete Eisblöcke, ließ das<br />

im Eingangsbereich. Die Symbolträchtigkeit der<br />

Performance samt ihrer Attribute – der Hase als<br />

germanisches Symbol für Fruchtbarkeit <strong>und</strong><br />

christliches Symbol der Auferstehung, Gold als<br />

altes Symbol der Reinheit <strong>und</strong> Weisheit <strong>und</strong> der<br />

Honig als Fruchtbarkeitssymbol sowie als Mittel<br />

zur Regeneration <strong>und</strong> Wiederbelebung – hat<br />

Abramović in ihre Re-Interpretation übertragen.<br />

Mit der Aufführung von The Lips of Thomas am<br />

sechsten Tag war die Serie der Re-Interpretationen<br />

historischer Performances abgeschlossen. Weinglas in ihrer Hand zerklirren <strong>und</strong> wippte<br />

Ursprünglich plante Abramović für diesen Tag manisch auf dem Boden kniend hin <strong>und</strong> her bis<br />

die Wiederaufführung ihres berühmten Stückes sie weinte. Der Guggenheim-Aufführung hatte<br />

Rhythm 0, das sie erstmalig 1974 in der Studio Abramović eine veränderte Dramaturgie zugrun-<br />

Mona Galerie in Neapel performte. Bei dieser de gelegt. Die einzelnen Sequenzen der dama-<br />

Performance bestimmte sie sich selbst als Objekt ligen Performance wurden stark verkürzt <strong>und</strong> ei-<br />

neben 72 weiteren Gegenständen <strong>und</strong> forderte die ner neuen Reihenfolge zugeordnet. Zudem er-<br />

Besucher auf, diese nach eigenem Belieben an ihr gänzte sie Komponenten, wie die militärische<br />

zu benutzen. 1974 wurde die Performance been- Kappe, einen Holzstab <strong>und</strong> Wanderschuhe sodet,<br />

nachdem jemand Abramović die geladene wie das Lied Slavic Souls. Das Hinzufügen dieser<br />

Pistole an den Kopf gehalten hatte. Diese Waffe neuen Elemente hat die inhaltliche Vermittlung<br />

war der Gr<strong>und</strong>, warum die Performance im Gug- gegenüber der ursprünglichen Version verändert<br />

ohne dabei an Provokativität eingebüßt zu haben.<br />

Beendet wurde das New Yorker Spektakel mit<br />

Abramovićs speziell für diesen Performance-Zyklus<br />

konzipierten Stück Entering the Other Side<br />

(2005). Nachdem sie mit sechs Arbeiten die Vergangenheit<br />

in die Gegenwart transferierte, die<br />

Veränderungen ihrer Person <strong>und</strong> Kunst im Kongenheim<br />

Museum nicht zugelassen wurde. Statttext des geschichtlichen Prozesses verortete,<br />

dessen entschied sich Abramović für die Wieder- blickte sie mit Entering the Other Side in die Zuaufführung<br />

von The Lips of Thomas, das sie erstkunft; <strong>und</strong> zwar nicht nur in ihre persönliche Zumalig<br />

1975 in der Galerie Krinzinger in Innskunft, sondern auch in die Zukunft der Live-Perbruck<br />

gezeigt hatte. The Lips of Thomas rekurformance. Über sechs Tage hatte sie ihren Körper<br />

riert auf Abramovićs Biografi e. Sie ist eine ausge- schwersten Anstrengungen <strong>und</strong> Schmerzen aus-<br />

6 sowie<br />

das Lied Slavic Souls. Das Hinzufügen dieser<br />

neuen Elemente hat die inhaltliche Vermittlung<br />

gegenüber der ursprünglichen Version verändert<br />

ohne dabei an Provokativität eingebüßt zu haben.<br />

Beendet wurde das New Yorker Spektakel mit<br />

Abramovićs speziell für diesen Performance-Zyklus<br />

konzipierten Stück Entering the Other Side<br />

(2005). Nachdem sie mit sechs Arbeiten die Vergangenheit<br />

in die Gegenwart transferierte, die<br />

Veränderungen ihrer Person <strong>und</strong> Kunst im Kontext<br />

des geschichtlichen Prozesses verortete,<br />

blickte sie mit Entering the Other Side in die Zukunft;<br />

<strong>und</strong> zwar nicht nur in ihre persönliche Zukunft,<br />

sondern auch in die Zukunft der Live-Performance.<br />

Über sechs Tage hatte sie ihren Körper<br />

schwersten Anstrengungen <strong>und</strong> Schmerzen aus-<br />

Sie Sie Sie trank trank trank eine eine eine Flasche Flasche<br />

Flasche<br />

Wein Wein Wein <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> peitschte peitschte<br />

peitschte<br />

sich sich sich den den den Rücken Rücken<br />

Rücken<br />

Über Über Über sechs sechs sechs Tage Tage<br />

Tage<br />

hatte hatte hatte sie sie sie ihren ihren<br />

ihren<br />

Körper Körper Körper schwersten schwersten<br />

schwersten<br />

Anstrengungen Anstrengungen Anstrengungen <strong>und</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>und</strong><br />

Schmerzen Schmerzen Schmerzen ausgesetzt ausgesetzt<br />

ausgesetzt


gesetzt, gesetzt, bevor bevor sie sie sie zu zu zu diesem diesem Abschlussevent Abschlussevent in in in<br />

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aus aus aus dem dem dem nur nur nur ihr ihr ihr Oberkörper Oberkörper herausreckte, herausreckte, überüberüberdecktedeckte nicht nicht nicht nur nur nur alle alle alle W<strong>und</strong>en, W<strong>und</strong>en, sondern sondern vor vor vor allem allem<br />

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<strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> Neuanfang Neuanfang vereint vereint in in in einer einer einer Performance Performance – – der der – der<br />

Zyklus Zyklus wurde wurde geschlossen.<br />

geschlossen.<br />

Andrea Andrea Linnenkohl Linnenkohl studierte studierte Kunstgeschichte,<br />

Kunstgeschichte,<br />

Soziologie Soziologie <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> Kulturanthropologie Kulturanthropologie / / EuropäEuropä- / Europäischeischeische<br />

Ethnologie Ethnologie in in in Göttingen. Göttingen. Die Die Die spezielle spezielle BeBeBeschäftigungschäftigung mit mit mit Avantgardismus Avantgardismus <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> AktionsAktionskunstkunst führte führte sie sie sie zur zur zur Thematik Thematik ihrer ihrer ihrer MagisterarMagisterarbeitbeitbeit<br />

unter unter dem dem dem Titel Titel Titel Fluxus Fluxus <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> Dada Dada – – Aspekte Aspekte – Aspekte<br />

der der der Dadarezeption Dadarezeption in in in Fluxus. Fluxus. Im Im Im Anschluss Anschluss arararbeitetebeitete sie sie sie in in in der der der Bibliothek Bibliothek des des des kunstgeschichtkunstgeschichtlichenlichen<br />

Seminars Seminars <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> der der der Kunstsammlung Kunstsammlung der der der<br />

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Fotos: Fotos: Nils Nils Nils Klinger Klinger<br />

SEITE SEITE 33 33 33<br />

¹ ¹ Marina Marina ¹ Marina Abramović Abramović zitiert zitiert zitiert nach nach nach David David Elliott, Elliott, in: in: in: Birnie Birnie<br />

Danzker, Danzker, Jo-Anne Jo-Anne (Hg.): (Hg.): (Hg.): Marina Marina Abramović. Abramović. Ausst.-Kat. Ausst.-Kat.<br />

Museum Museum Villa Villa Villa Stuck, Stuck, München, München, 1996, 1996, 1996, S. S. S. 63. 63. 63.<br />

² ² Heiser, Heiser, ² Heiser, Jörg: Jörg: Jörg: Do Do Do it it it again. again. Interview Interview mit mit mit Marina Marina<br />

Abramović Abramović <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> Monica Monica Bonvicini, Bonvicini, in: in: in: frieze, frieze, Oktober Oktober<br />

2005, 2005, 2005, S. S. S. 179. 179. 179.<br />

³ ³ Sandra Sandra ³ Sandra Umathum Umathum hat hat hat die die die New New New Yorker Yorker Performances<br />

Performances<br />

besucht besucht <strong>und</strong> <strong>und</strong> <strong>und</strong> ihre ihre ihre persönlichen persönlichen Eindrücke Eindrücke als als als<br />

„Tagebuchaufzeichnungen“ „Tagebuchaufzeichnungen“ mit mit mit dem dem dem Titel Titel Titel Seven Seven Seven Easy Easy Easy<br />

Pieces Pieces von von von Marina Marina Abramovic Abramovic – – Sieben Sieben – Sieben kurze kurze kurze Notizen Notizen von von von<br />

Sandra Sandra Umathum Umathum notiert. notiert.<br />

4 4 4 Acconci Acconci zitiert zitiert zitiert nach nach nach Nancy Nancy Princenthal, Princenthal, in: in: in: Nanc Nanc Nanc<br />

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2006, 2006, 2006, New New New York, York, York, S. S. S. 91. 91. 91.<br />

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Videodokumentation Videodokumentation von von von Wie Wie Wie man man man dem dem dem toten toten toten Hasen Hasen die die die<br />

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gezeigt. gezeigt.<br />

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sind.


SAMSTAG, 6. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 34<br />

Marina Abramović: How to perform?<br />

Symposium zur Dokumentation <strong>und</strong> Wiederaufführung<br />

in der Performance-Kunst<br />

Begleitend zur Ausstellung Seven Easy Pieces<br />

von Marina Abramović veranstaltete die <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum am Samstag, den 6. Mai 2006<br />

im Hessischen Landesmuseum ein internationales<br />

Symposium. Unter dem Titel How to perform?<br />

Dokumentation <strong>und</strong> Wiederaufführung in der<br />

Performance-Kunst diskutierten die eingeladenen<br />

Referentinnen <strong>und</strong> Referenten Fragen der<br />

Autorschaft <strong>und</strong> Authentizität sowie Möglichkeiten<br />

der Dokumentation von Performances<br />

Kann man noch von<br />

einer „originalen“<br />

Performance sprechen?<br />

durch Wiederaufführung <strong>und</strong> beleuchteten aktuelle<br />

Entwicklungen innerhalb der Performance-<br />

Kunst. Woher stammt der Wunsch, historische<br />

Performances erneut aufzuführen? Wie werden<br />

Bedeutung <strong>und</strong> Erfahrung durch die Wiederholung<br />

einer Performance neu vermittelt? Kann<br />

man dann noch von einer „originalen“ Performance<br />

sprechen?<br />

Zum Auftakt des Symposiums schilderte Sandra<br />

Umathum (Theaterwissenschaftlerin an der Freien<br />

Universität Berlin <strong>und</strong> seit 2003 Mitglied im<br />

Sonderforschungsbereich “Ästhetische Erfahrung<br />

im Zeichen der Entgrenzung der Künste”) in<br />

einem Erfahrungsbericht ihre persönlichen Eindrücke<br />

der Performance-Reihe Seven Easy Pieces<br />

von Marina Abramović.<br />

Im November 2005 besuchte Umathum die Aufführung<br />

der Performance-Reihe im Solomon R.<br />

Guggenheim Museum in New York. Neben Schilderungen<br />

zur Situation im Museum (der Aufbau<br />

für die einzelnen Performances, die strengen Sicherheitsvorschriften)<br />

<strong>und</strong> zum Verhalten des Publikums<br />

(die vereinzelten Versuche mit Abramović<br />

in Interaktion zu treten) konzentrierte Umathum<br />

sich sehr stark auf ihre eigene Wahrnehmung <strong>und</strong><br />

beobachtete, wie eigene Vorstellungen von <strong>und</strong><br />

Erwartungen an die Wiederaufführung mit den<br />

Eindrücken der aktuellen Ereignisse im Widerspruch<br />

standen. Das Wissen um die Original-Performances<br />

bestimmte zu weiten Teilen ihre Rezeption,<br />

so dass sie bei der Gegenüberstellung<br />

von Geschichte <strong>und</strong> Gegenwart („Original“ <strong>und</strong><br />

Wiederaufführung) an vielen Stellen Abweichungen<br />

registrierte. So zum Beispiel bei der Performance<br />

Aktionshose: Genitalpanik von VALIE<br />

EXPORT, die sich hauptsächlich auf Fotografi en<br />

von EXPORT bezog, nicht aber auf die Performance<br />

selbst. In diesem Zusammenhang warf sie<br />

die Frage auf, ob Abramović nicht eher die Dokumentation<br />

als die eigentliche Performance zum<br />

Leben erwecke. Auch Abramović müsse der Einfl<br />

uss, den Fotografi en <strong>und</strong> Videoaufzeichnungen<br />

in der Erinnerung an Performances der 1960er<br />

<strong>und</strong> 1970er Jahre einnehmen, bewusst gewesen<br />

sein, als sie den Ablauf der Wiederaufführungen<br />

plante. Dem fi lmischen Prinzip des Loops folgend<br />

wiederholt sie bestimmte Bestandteile in<br />

stündlich wechselnden Abläufen innerhalb einer<br />

siebenstündigen Aufführung <strong>und</strong> schafft dadurch<br />

eine auf den Betrachter ausgerichtete Präsentation.<br />

Das Publikum hat immer wieder die Möglichkeit,<br />

auch weit nach dem eigentlichen Beginn der<br />

Performance, einzusteigen. Das eigentliche Anliegen<br />

der siebenstündigen Dauer, nämlich das<br />

Es handelt sich<br />

dabei aber um eine<br />

produktive Form der<br />

Enttäuschung<br />

Gefühl für die Zeit zu verlieren, wird nur teilweise<br />

eingelöst. Die gleichzeitige Dokumentation<br />

<strong>und</strong> Präsentation der vergangenen Wiederaufführungen<br />

auf Monitoren im Guggenheim Museum<br />

verstärkten diesen Eindruck zusätzlich. Am Ende<br />

konstatiert Umathum, dass ihre Erwartungen im<br />

Vorfeld zwar enttäuscht wurden, es sich dabei<br />

aber um eine produktive Form der Enttäuschung<br />

handelte, aus der wieder viel Neues entstanden<br />

sei.<br />

Zu Beginn des Gesprächs mit Marina Abramović<br />

griff Steven Henry Madoff (Kunstkritiker <strong>und</strong>


SAMSTAG, 6. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 35<br />

Autor, New York) noch einmal die zentralen Diskussionspunkte<br />

– die Frage nach dem Copyright<br />

<strong>und</strong> dem Verständniswandel des Begriffes „Original“<br />

– auf. Zur Verdeutlichung der rechtlichen<br />

Aspekte, die mit dem Begriff des Copyrights verb<strong>und</strong>en<br />

sind, führte er die Berner Übereinkunft<br />

zum internationalen Schutz von Werken der Literatur<br />

<strong>und</strong> Kunst aus dem Jahr 1986 heran, die dem<br />

„Urheber das Recht gibt, die Urheberschaft am<br />

Werk für sich in Anspruch zu nehmen <strong>und</strong> sich<br />

jeder Entstellung, Verstümmelung, sonstigen Änderung<br />

oder Beeinträchtigung des Werkes zu widersetzen,<br />

die seiner Ehre oder seinem Ruf nachteilig<br />

sein könnten“. Er betrachtet den Autor als<br />

ein stabiles Konstrukt, das sich durch seine Werte<br />

<strong>und</strong> einen individuellen Stil auszeichnet. Wiederaufführung<br />

defi niert Madoff als die Reproduktion<br />

des geistigen Eigentums eines Autors. Mit Seven<br />

Easy Pieces ist Abramović selber zum Autor<br />

der Performances geworden. Die Zeit, die zwischen<br />

der Original-Performance <strong>und</strong> ihrer Wiederaufführung<br />

liegt, macht eine identische Wiederholung<br />

unmöglich. Als literarische Illustration<br />

führt er die Geschichte Pierre Menard. Autor des<br />

Quijote von Jorge Luis Borges an. Borges schreibt<br />

Menard ging viel<br />

weiter als Don Quijote<br />

nur zu übersetzen oder<br />

zu kopieren<br />

darin eine Kritik über das Werk des fi ktiven Autors,<br />

Pierre Menard, dessen Meisterwerk vor<br />

allem darin bestand, das bekannte Werk Don<br />

Quijote von Miguel de Cervantes aus dem 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert wieder erschaffen zu haben. In den<br />

Augen von Borges allerdings ging Menard viel<br />

weiter als es nur zu übersetzen oder zu kopieren:<br />

Er hat es Zeile für Zeile neu erschaffen. Menards<br />

Zeilen, die eins zu eins von Cervantes übernommen<br />

wurden, sind für Borges viel reichhaltiger<br />

<strong>und</strong> intensiver, denn immerhin fehlten Menard im<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>ert die gleichen Erfahrungen <strong>und</strong> historischen<br />

Hintergründe, die Cervantes Roman<br />

prägten. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> sieht Madoff<br />

das Werk von Abramović: Es ist die Neuerschaffung<br />

eines Originals, beeinfl usst durch die Veränderungen<br />

der Zeit. Der zeitliche Faktor ist es<br />

auch, der den Wunsch nach einer Dokumentation<br />

hervorruft. Was in einer musikalischen Partitur<br />

die Noten darstellen, sind für die Performances<br />

Fotos <strong>und</strong> Videos. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e macht es<br />

für Madoff also durchaus Sinn, sich bei der Wiederaufführung<br />

von Aktionshose: Genitalpanik<br />

auf Fotografi en VALIE EXPORTs zu beziehen.<br />

Auch Marina Abramović hob im Gespräch diesen<br />

Aspekt noch einmal besonders hervor. Sie verwies<br />

auf die Einprägsamkeit dieser Fotografi en<br />

<strong>und</strong> beschrieb, wie sie ihre Wahrnehmung beeinfl<br />

usst hätten. In einer ausführlichen Schilderung<br />

der einzelnen Performances von Seven Easy<br />

Pieces berichtete sie von den Schwierigkeiten bei<br />

der Vorbereitung aufgr<strong>und</strong> fehlender Dokumentationsmaterialien,<br />

von der praktischen Umsetzung<br />

<strong>und</strong> von den Variationen, die sie an den Performances<br />

vornahm. Als Ort für dieses Projekt<br />

entschied sie sich ganz bewusst für das Guggenheim<br />

Museum, dessen Sammlung den Teil des<br />

kunstgeschichtlichen Kanons repräsentiert, in<br />

dem nach Meinung von Abramović Performances<br />

noch immer eine untergeordnete Rolle spielen.<br />

Zum Abschluss gab sie einen kurzen Einblick in<br />

die 90-minütige Videodokumentation von Babette<br />

Mangolte, die während der Performance-<br />

Reihe entstand.<br />

Den Auftakt des zweiten Teils des Symposiums<br />

bildete der Vortrag von Erika Fischer-Lichte<br />

(Theaterwissenschaftlerin, seit 1996 Professorin<br />

<strong>und</strong> Geschäftsführende Direktorin des Instituts<br />

für Theaterwissenschaft der Freien Universität<br />

Berlin <strong>und</strong> Leiterin des Sonderforschungsbereiches<br />

„Kulturen des Performativen“).<br />

Ihr Anliegen war es, Seven Easy Pieces als kontinuierliche<br />

Fortführung des eigenständigen Werks<br />

von Abramović zu betrachten. Um diese Entwicklung<br />

zu verdeutlichen, verglich sie in ihrem Vor-<br />

trag frühere Performances der 1960er <strong>und</strong><br />

1970er Jahre mit den Wiederaufführungen <strong>und</strong><br />

hob Gemeinsamkeiten zwischen ihnen hervor.<br />

Neben Abramovićs starker Fokussierung auf<br />

den eigenen Körper gehört dazu auch die Erfahrung<br />

des Publikums. Sie schilderte dies anhand<br />

der frühen Performances Lips of Thomas<br />

(1974) <strong>und</strong> Rhythm 0 (1974). In beiden Fällen<br />

macht Abramović ihren eigenen Körper zum<br />

Gegenstand der Performance, indem sie sich<br />

großen physischen <strong>und</strong> psychischen Belastungen<br />

aussetzt.<br />

Gleichzeitig versetzt sie das Publikum in eine<br />

ungewohnte <strong>und</strong> schwierige Situation. Erwartet<br />

der Besucher einer Galerie oder eines Museums<br />

in der Regel, dass er lediglich Zuschau-<br />

Künstlerin fügt sich<br />

selbst Verletzungen<br />

<strong>und</strong> Schmerzen zu<br />

er ist, sieht er in der Performance, wie sich die<br />

Künstlerin selbst Verletzungen <strong>und</strong> Schmerzen<br />

zufügt. Die soziale Norm erwartet ein Eingreifen<br />

<strong>und</strong> eine Beendigung. Aber gilt das auch<br />

für die Galerieräume? Will die Künstlerin<br />

überhaupt, dass eingegriffen wird? Wie soll<br />

sich der Besucher verhalten? Er befi ndet sich<br />

einer Situation, in der den Konventionen entsprechende<br />

Reaktionen nicht unbedingt oder<br />

uneingeschränkt akzeptiert sind, andere aber<br />

nicht formuliert wurden. In Anlehnung an die<br />

Ritualforschung bezeichnet Fischer-Lichte<br />

diesen nicht defi nierten Raum oder Zustand als<br />

Schwellenzustand oder Phase der Liminalität.<br />

Auch während der Performances im Guggenheim<br />

Museum befand sich das Publikum in<br />

einer solchen Situation. Obwohl ein direktes<br />

Eingreifen in diesem Fall auf Gr<strong>und</strong> der besonderen<br />

Sicherheitsvorschriften von vornherein<br />

ausgeschlossen war, war das Publikum in<br />

einem moralischen Zwiespalt ausgesetzt.<br />

Aus einem anderen Gr<strong>und</strong> hält Fischer-Lichte<br />

die Copyright-Diskussion für unangebracht.<br />

Für sie ist das Phänomen der Wiederholung


SAMSTAG, 6. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 36<br />

Performances inhärent. Die Suche nach Abweichungen<br />

zwischen der „Original-Performance“<br />

<strong>und</strong> ihrer Wiederaufführung hält sie für falsch.<br />

Denn, wie sie nach Kierkegaards Überlegungen<br />

ausführte, impliziert Wiederholung immer auch<br />

eine Abweichung vom Original. Die „perfekte“<br />

Wiederholung ist unmöglich, da sie den Faktor<br />

Zeit außer Acht lässt. Für Fischer-Lichte greift<br />

Abramović auf kulturelle Bestände zurück, aus<br />

denen ein neues, originäres Werk entsteht. Und<br />

letztlich seien diese performativen Akte eigene,<br />

die die Erinnerung an einen anderen Künstler <strong>und</strong><br />

gleichzeitig auch an die Künstlerin Abramović<br />

vor 30 Jahren heraufbeschwören.<br />

Das Symposium endete mit einer Diskussionsr<strong>und</strong>e<br />

zwischen den Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstlern<br />

Maja Bajević, Jaroslaw Kozlowski, Stefanie Tro-<br />

jan <strong>und</strong> Marina Abramović. Moderation: Dorothea<br />

von Hantelmann.<br />

In ihrer Einleitung riss die Theaterwissenschaftlerin<br />

<strong>und</strong> Kuratorin Dorothea von Hantelmann –<br />

ausgehend von eigenen Erfahrungen mit Bildender<br />

Kunst – die zentralen Fragen <strong>und</strong> Gesprächspunkte<br />

an: Welche Rolle nimmt Performance<br />

heute ein? Was bedeutet es, die Performances, die<br />

ursprünglich außerhalb der Museen initiiert wurden,<br />

in die hegemoniale Situation eines Guggenheim<br />

Museums zu holen? Welche Rolle spielt die<br />

Dokumentation? Wie bewerten die anwesenden<br />

Künstler das Wiederaufführen von Performances?<br />

Für Jaroslaw Kozlowski (Künstler, Professor an<br />

der Akademie für Bildende Künste, Poznan <strong>und</strong><br />

an der Rijksakademie van Beeldende Kunsten in<br />

Amsterdam) ist das Wiederaufführen von Perfor-<br />

mances nicht ungewöhnlich. Seit vielen Jahren<br />

wiederholt er eine einzige Performance in unterschiedlichen<br />

Zusammenhängen, an verschiedenen<br />

Orten <strong>und</strong> unter wechselndem Publikum.<br />

Er beschreibt mit Kreide eine Tafel in vielen Lagen,<br />

wobei die Begriffe <strong>und</strong> Inhalte in Abhängigkeit<br />

der Situation verschieden sind. Nach einer<br />

Er beendet die<br />

Performance, indem er<br />

einen Wecker auf die<br />

Tafel schmettert<br />

bestimmten Zeit wischt er die Kreide mit einem<br />

Schwamm von der Tafel <strong>und</strong> beendet die Performance,<br />

indem er einen Wecker auf die Tafel<br />

schmettert. Die Dauer einer Performance wird


SAMSTAG, 6. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 37<br />

jeweils von den äußeren Faktoren bestimmt <strong>und</strong><br />

ist auf eine konkrete Situation ausgerichtet.<br />

Maja Bajevićs (Künstlerin, Paris <strong>und</strong> Sarajevo)<br />

Arbeitsweise schließt eine Wiederholbarkeit aus,<br />

da ihre Interventionen immer ortspezifi sch angelegt<br />

sind <strong>und</strong> sich auf eine ganz konkrete Situation<br />

beziehen. Sie leben von der Einmaligkeit ihrer<br />

Durchführung. Die Videofi lme, die von ihren<br />

Performances aufgenommen werden, funktionieren<br />

als eigenständige künstlerische Arbeiten, die<br />

über das Ereignis als solches hinaus bestehen<br />

bleiben. Als Beispiel, wie unterschiedlich Künstler<br />

heute mit der Frage nach der Dokumentation<br />

umgehen, führt sie in der Diskussion die Arbeitsweise<br />

des Künstlers Tino Sehgal an. Das Gr<strong>und</strong>prinzip<br />

seiner Arbeit ist es, keine materiellen<br />

Dinge herzustellen – also auch keine Filmaufnahmen,<br />

Fotografi en oder Kataloge zu produzieren –<br />

um damit die Anforderungen des Marktes zu unterlaufen.<br />

Für Marina Abramović nimmt die Dokumentati-<br />

on ihrer Performances dagegen einen sehr wichtigen<br />

Stellenwert ein, denn nur so lässt sich die<br />

Erinnerung daran aufrechterhalten. Sie bedauerte<br />

es sehr, dass die Performance-Künstler in den<br />

1960er <strong>und</strong> 1970er Jahren so wenig Wert auf die<br />

Performances leben<br />

von der Einmaligkeit<br />

ihrer Durchführung<br />

Dokumentation ihrer Arbeiten legten. Die Erinnerungen<br />

an viele Performances diese Zeit gingen<br />

dadurch verloren. Die Wiederaufführung ist<br />

für sie eine Möglichkeit, die Erinnerung wach zu<br />

halten. Die Rolle des Künstlers in einer Performance<br />

ist für sie nicht unbedingt an die Person<br />

geb<strong>und</strong>en. Als Beispiel führte sie ihr Projekt Biography<br />

an, welches sie seit 1989 entwickelt. Sie<br />

bringt darin Teile ihres eigenen Lebens auf die<br />

Bühne <strong>und</strong> lässt die unterschiedlichen Rollen<br />

(auch ihre eigene) von Studenten <strong>und</strong> Schauspielern<br />

ausfüllen. Für sie spiele es keine Rolle, wer<br />

„performt“, es gilt nur, die spezifi sche Sprache<br />

der Performance zu erlernen.<br />

Die Performances von Stefanie Trojan (Künstlerin,<br />

Frankfurt/M. <strong>und</strong> München) lassen sich auch<br />

als soziale Interventionen begreifen die bestehende<br />

Normen <strong>und</strong> Regeln hinterfragen <strong>und</strong> das Publikum<br />

bzw. die Teilnehmer mit ihren eigenen<br />

Gewohnheiten konfrontieren. Für ihre oftmals im<br />

öffentlichen Raum stattfi ndenden Performances<br />

ist es ihr wichtig, nicht an die Dokumentation zu<br />

denken, da es den weiteren Verlauf beeinfl ussen<br />

könnte. Sie befürchtet, sie <strong>und</strong> die Teilnehmer<br />

könnten sich durch die Anwesenheit einer Kamera<br />

anders verhalten.<br />

Zum Abschluss des Symposiums-Tages gab es<br />

noch einmal die Möglichkeit, in der <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum die Videodokumentationen der<br />

Performance-Reihe Seven Easy Pieces zu sehen<br />

<strong>und</strong> in informeller R<strong>und</strong>e Diskussionen fortzuführen.<br />

Beate Anspach


FREITAG, 12. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM<br />

Langer Abend in der <strong>Kunsthalle</strong> Fride<br />

3durch3. Reihe Sprachkunst mit Johannes Auer, G<strong>und</strong>i Feyrer <strong>und</strong><br />

Anlässlich der Finissage der Ausstellung weit<br />

weg <strong>und</strong> ganz nah von Gerhard Rühm fand am<br />

12. Mai 2006 in Kooperation mit dem Kunsttempel<br />

<strong>und</strong> der Stiftung Brückner – Kühner in der<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum eine Sonderveranstaltung<br />

der Reihe 3durch3 statt. Während sich die<br />

Ausstellung vor allem auf das bildkünstlerische<br />

Werk Rühms konzentrierte, stellte 3durch3 nun<br />

Wort, Bild <strong>und</strong> Klang<br />

seine literarischen Arbeiten in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Zusammen mit Monika Lichtenfeld trug er neben<br />

älteren Texten der Sprech- <strong>und</strong> Lautpoesie auch<br />

neue Arbeiten vor <strong>und</strong> gab einen Einblick in die<br />

Entwicklungen seines Werkes. G<strong>und</strong>i Feyrers Po-<br />

Links: G<strong>und</strong>i Feyrer<br />

Rechts: Free Lutz! Internetperformance von<br />

Johannes Auer


icianum<br />

Gerhard Rühm<br />

SEITE 38 FREITAG, 12. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM<br />

esie-Aufführung zeigte, auf welch ungewöhnliche,<br />

sinnliche <strong>und</strong> zugleich präzise Weise ihre<br />

Texte Wort, Bild <strong>und</strong> Klang ineinander verschränken,<br />

das heißt wie hier Beobachten, Sehen,<br />

Verstehen <strong>und</strong> Denken in ihrer Sprachlichkeit zusammenkommen.<br />

Johannes Auer veranstaltete<br />

Die Schauspielerin Christiane Maschajechi im Rahmen<br />

der Free Lutz! Internetperformance<br />

gemeinsam mit der Schauspielerin Christiane<br />

Maschajechi die Netzliteratur-Performance Free<br />

Lutz! unter Einbeziehung des Publikums, die den<br />

ersten computergenerierten Text aus den 1950er<br />

Gerhard Rühm<br />

Jahren neu inszeniert <strong>und</strong> so die veränderten<br />

Möglichkeiten für die Sprachkunst durch die<br />

Auseinandersetzung mit Digitalmedien vorführt.<br />

Fotos: Nils Klinger


SAMSTAG, 13. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 40<br />

Eine Flyer-Action von Endre Tót<br />

„Ich freue mich, dass wir Flyer verteilen können“


SAMSTAG, 13. MAI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 41<br />

Zum Ende der Überblicksausstellung Semmi sem<br />

Semmi in der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum führte<br />

Endre Tót am Samstag, den 13. Mai eine Flyer-<br />

Action in der Kasseler Innenstadt durch. Vor der<br />

Königsgalerie in der Königsstraße verteilte er –<br />

mit einer schwarzen Strumpfmaske über seinem<br />

Gesicht – zusammen mit Katrin Leitner verschiedene<br />

Flyer, die nur auf die Aktion als solche hinwiesen.<br />

Versehen mit dem Hinweis „Ich freue<br />

mich, dass wir Flyer verteilen können“ enthielten<br />

sie keine weiteren nützlichen Informationen. Sie<br />

verwiesen weder auf ein bestimmtes Angebot<br />

oder eine Veranstaltung, wie man das normalerweise<br />

von Flyern erwartet. Auf diese Weise ge-<br />

Die Polizei stellte sich<br />

der Aktion in den Weg<br />

lang es Tót, Irritationen bei den Passanten hervorzurufen<br />

<strong>und</strong> die Nützlichkeit der Vielzahl an<br />

täglichen Informationen, der wir ausgesetzt sind,<br />

zu hinterfragen. Aber nicht nur die Passanten<br />

wurden auf ihn aufmerksam. Die vom Sicherheitsservice<br />

der Königsgalerie gerufene Polizei<br />

wies ihn darauf hin, dass er sich einerseits auf<br />

Privatgr<strong>und</strong>stück befände <strong>und</strong> dort ohne Genehmigung<br />

keine Flyer verteilen dürfe <strong>und</strong> außerdem<br />

gegen das Vermummungsgesetz verstoße.<br />

Beate Anspach<br />

Fotos: Nils Klinger


3. JUNI - 26. NOVEMBER 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 42<br />

Fünf Tage bis zum Ende der Kunst<br />

Ein Projekt der Kuratorenwerkstatt <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

Unter das frei nach Joseph Beuys zitierte Motto<br />

5 Tage bis zum Ende der Kunst stellt die <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum ab Anfang Juni 2006 fünf<br />

Ausstellungen. In dieser Reihe, die thematisch<br />

<strong>und</strong> zeitlich ineinander greift, geben vier Mitglieder<br />

der Kuratorenwerkstatt <strong>und</strong> der künstlerische<br />

Leiter René Block in je eigenständigen Aus-<br />

Wie kann eine Kuratorenausbildung<br />

heute<br />

aussehen?<br />

stellungen Einblick in ihre aktuelle Arbeit. Der<br />

apodiktische Titel 5 Tage bis zum Ende der Kunst<br />

möchte hier keineswegs das schon so häufi g beschworene<br />

„Ende der Kunst“ proklamieren, sondern<br />

sucht nach den Bedingungen einer zeitgemäßen<br />

künstlerischen <strong>und</strong> kuratorischen Praxis.<br />

Welche gesellschaftliche <strong>und</strong> politische Relevanz<br />

hat zeitgenössische Kunst? Worin liegt die Zukunft<br />

des Ausstellens <strong>und</strong> Kuratierens? Wie kann<br />

eine Kuratorenausbildung heute aussehen?<br />

In Kassel<br />

Die Diskussion praktischer <strong>und</strong> theoretischer<br />

Fragen des Kuratierens <strong>und</strong> Ausstellens sowie die<br />

Umsetzung einer umfassenden Ausstellungskonzeption<br />

sind seit der documenta 5 von Harald<br />

Szeemann 1972 fester Bestandteil der internationalen<br />

Großausstellung <strong>und</strong> haben sich von hier<br />

aus schnell in alle Welt weiter getragen. Die Posi-<br />

Der künstlerische Leiter René Block mit den Mitgliedern der Kuratorenwerkstatt Thomas Niemeyer, Alina Şerban,<br />

Birgit Eusterschulte <strong>und</strong> Solvej Helweg Ovesen sowie der fi nnischen Mitarbeiterin Kaisa Heinänen (v.l.o.n.r.u)<br />

Foto: Nils Klinger<br />

tion des Kurators ist aus zeitgenössischen Ausstellungsprojekten<br />

heute nicht mehr wegzudenken.<br />

Das lässt sich nicht nur auf den starken<br />

Wunsch nach weiterer Professionalität zurückführen,<br />

sondern ist als Reaktion auf neue Anforderungen<br />

im Zusammenhang mit den Entwicklungen<br />

der zeitgenössischen Kunst zu sehen.<br />

Noch immer schwankt das gängige Kuratorenbild<br />

zwischen zwei gegensätzlichen Polen. Auf der einen<br />

Seite der Kurator als Künstler, der Ausstellungen<br />

im Sinne eines Gesamtkunstwerkes inszeniert<br />

– zu Lasten der Autonomie der Künstler –<br />

<strong>und</strong> auf der anderen Seite die Vorstellung des nur


3. JUNI - 26. NOVEMBER 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 43<br />

wenig eingreifenden <strong>und</strong> lenkenden Kurators, der<br />

den Künstlern das Feld überlässt. Diese Dichotomie<br />

aufzubrechen ist ein zentrales Interesse der<br />

Kuratorenausbildung bzw. deren Vermittlung<br />

nach außen sein. Kassel als Ort der documenta ist<br />

Ein Ort für neue Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Ansätze<br />

in der Vermittlung der<br />

Kunstproduktion <strong>und</strong><br />

des Kuratierens<br />

somit nicht nur ein wichtiger Ort für neueste Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> Tendenzen der zeitgenössischen<br />

Kunst, sondern auch ein Ort für neue Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Ansätze in der Vermittlung der Kunstproduktion<br />

<strong>und</strong> des Kuratierens.<br />

Die Kuratorenwerkstatt<br />

In diesem Sinne ist die Kuratorenwerkstatt die<br />

praktische Umsetzung der Idee René Blocks, an<br />

der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum – als einer der<br />

großen internationalen Institutionen für zeitgenössische<br />

Kunst – einer jungen Kuratorengeneration,<br />

Wissen zu vermitteln <strong>und</strong> ihr die Möglichkeit<br />

zu geben, Erfahrungen zu sammeln <strong>und</strong> erste<br />

eigene Projekte zu realisieren.<br />

Seit 2003 nimmt die Kuratorenwerkstatt einen<br />

zentralen Bestandteil der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

ein. Junge internationale Kuratoren <strong>und</strong> Kuratorinnen<br />

haben in dieser Zeit das Programm der<br />

<strong>Kunsthalle</strong> begleitet <strong>und</strong> um eigenständige Ausstellungsprojekte<br />

erweitert. Der Ansatz der Kas-<br />

seler Kuratorenwerkstatt ist die praxisnahe Einbindung<br />

junger Kuratoren in den kuratorischen<br />

Alltag der Institution <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum.<br />

Über den theoretischen Diskurs universitärer Kuratorenprogramme<br />

hinaus ermöglicht sie die Erprobung<br />

des eigenen kuratorischen Handelns <strong>und</strong><br />

Experimentierens im Bereich der Ausstellung<br />

von der ersten Skizzierung einer Idee bis hin zur<br />

Realisierung der Ausstellung <strong>und</strong> unterscheidet<br />

sich hierin deutlich von anderen Programmen.<br />

Das Projekt<br />

Im letzten Jahr unter der künstlerischen Leitung<br />

von René Block <strong>und</strong> bevor die documenta 12 die<br />

Arbeit der <strong>Kunsthalle</strong> für ein Jahr unterbricht,<br />

geht die Kuratorenwerkstatt noch einen Schritt<br />

weiter <strong>und</strong> gestaltet mit einem gemeinsamen Projekt<br />

das gesamte Ausstellungsprogramm von Juni<br />

bis Dezember 2006.<br />

Die offene Struktur der Kuratorenwerkstatt ermöglicht<br />

es jedem Mitglied für die Reihe 5 Tage<br />

bis zum Ende der Kunst, eine eigene Ausstellungsidee<br />

zu entwickeln <strong>und</strong> umzusetzen. Der ge-<br />

Alle fünf Ausstellungen<br />

werden zeitlich<br />

ineinander greifen<br />

meinsame Dialog im Entstehungsprozess der individuellen<br />

Projekte schafft den Rahmen, der<br />

sich in der Struktur der Ausstellungsreihe niederschlägt.<br />

Alle fünf Ausstellungen werden zeitlich<br />

ineinander greifen <strong>und</strong> so auch die inhaltlichen<br />

Bezüge <strong>und</strong> Querverweise, die sich aus dem prozessualen<br />

<strong>und</strong> gemeinschaftlichen Arbeiten der<br />

Werkstatt entwickeln, sichtbar werden lassen.<br />

Gleichzeitig wird die Unterschiedlichkeit der individuellen<br />

Ansätze die verschiedenen Perspektiven,<br />

Interessen <strong>und</strong> Vorgehensweisen einer jungen<br />

Kuratorengeneration spiegeln.<br />

Auf den nächsten Seiten stellen wir Ihnen die einzelnen<br />

Ausstellungsprojekte <strong>und</strong> die neuen Mitglieder<br />

der Kuratorenwerkstatt ausführlich vor.<br />

Termine:<br />

<strong>und</strong>o redo<br />

03.Juni-16.Juli <strong>und</strong> 02.–17.September<br />

Die andere Seite<br />

28.Juni–16.Juli <strong>und</strong> 02.September- 03.Oktober<br />

indirect speech<br />

02.September–29.Oktober<br />

Yael Bartana. Amateur Anthropologist<br />

24.September–26.November<br />

Fremd bin ich eingezogen<br />

11.–26. November<br />

Die Austellung von René Block bleibt eine<br />

Überraschung


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 44<br />

Die Ausstellung <strong>und</strong>o redo ist dem Präfi x „re“ gewidmet:<br />

record, recode, reconstruct, repair, redo,<br />

repeat, reply, re-sample, re-create, represent, recover,<br />

revolve…Worum geht es bei der „Re-Kultur“,<br />

<strong>und</strong> warum ist es wichtig?<br />

Um gleich zum Schluss zu kommen, endet die<br />

Ausstellung mit einer neuen Fassung des Liedes<br />

Into the Void der britischen Heavy-Metal-Band<br />

Black Sabbath, die von einem Orchester in Los<br />

Angeles im Jahr 2006 aufgenommen <strong>und</strong> rückwärts<br />

gespielt <strong>und</strong> gesungen wurde. Deshalb ist<br />

das Werk keine bloße Wiederholung des Ozzy-<br />

Ozbourne-Liedes, sondern eine Zurückspulung<br />

<strong>und</strong> Rekontextualisierung der Geschichte des<br />

Lieds <strong>und</strong> seines Textes:<br />

“Rocket engines burning fuel so fast<br />

Up into the night sky they blast<br />

Through the universe the engines whine<br />

Could it be the end of man and time<br />

Back on earth the fl ame of life burns low<br />

Everywhere is misery and woe<br />

Pollution kills the air, the land and sea<br />

Man prepares to meet his destiny”<br />

(Black Sabbath, Into the Void, Master of Reality,<br />

1971)<br />

<strong>und</strong>o redo<br />

record, recode, reconstruct, repair, redo, repeat, reply, re-sample, re-create...<br />

Britische Heavy-Metal-<br />

Band Black Sabbath<br />

Mads Lynnerup, Untying a Shoe with an Erection, 2003,<br />

Still<br />

Der Titel der Ausstellung <strong>und</strong>o redo bezieht sich<br />

auf den kreativen Akt der gekoppelten De- <strong>und</strong><br />

Rekonstruktion von einer schriftlichen Erzählung,<br />

von bestehenden Bildern oder von einem<br />

Musikstück. Dem rekontextualisierten Werk fügt<br />

Der kreative Akt der<br />

gekoppelten De- <strong>und</strong><br />

Rekonstruktion<br />

der Künstler mit einer <strong>und</strong> derselben Bewegung<br />

eine refl exive Dimension zu.<br />

Also lädt <strong>und</strong>o redo das Publikum dazu ein, über<br />

diese als Komponenten einer sich ständig erweitenden<br />

Re-Kultur vorgeführten Prozesse <strong>und</strong><br />

Praktiken nachzudenken <strong>und</strong> darauf zu reagieren.<br />

Entsprechend der Konzeption des Projektes gehören<br />

nicht nur Künstler, Kurator <strong>und</strong> Kritiker, son-<br />

Ein Angebot an das<br />

Publikum<br />

dern auch die Besucher der Ausstellung zu den<br />

Mitautoren. Nach dieser Vorstellung wird jede<br />

Ausstellung gr<strong>und</strong>sätzlich bei jedem Besuch de-<br />

<strong>und</strong> rekonstruiert. In diesem Sinne ist <strong>und</strong>o redo<br />

ein Angebot an das Publikum, an der endlosen<br />

Recodierung <strong>und</strong> Bearbeitung der ausgestellten<br />

Werke teilzunehmen.<br />

Das Präfi x „re“ bedeutet „zurück, wieder oder<br />

weiter“. Die Ausstellung <strong>und</strong>o redo präsentiert 10<br />

Künstler, die sich alle mit der Tatsache auseinandersetzen,<br />

dass wir in der Informationsgesellschaft<br />

in einer „vorgemischten“ Welt leben – in<br />

der online Bilder, Texte <strong>und</strong> Musik überall, zu jeder<br />

Tageszeit zum Herunterladen, Ändern <strong>und</strong><br />

Recodieren zur Verfügung stehen. Dies beeinfl<br />

usst die Produktion von Kunst <strong>und</strong> unsere Wahrnehmung<br />

davon – das bloße Wissen um die Möglichkeit,<br />

dass fast alle Informationen oder aufgenommenen<br />

Erlebnisse wiederholt <strong>und</strong> nachgeladen<br />

werden können, beeinfl usst unsere Erinne


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 45<br />

rungen an die Welt <strong>und</strong> ihre Deutung <strong>und</strong> erzeugt<br />

eine Re-Kultur. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> ist <strong>und</strong>o<br />

redo zu verstehen. Wenn der Modernismus ‚das<br />

Neue‘, ‚das Originale‘ in der Kunst betonte, ist<br />

heute das Sampeln von bestehenden Materialien<br />

mit seinem Wiederholungsmoment (Recodieren,<br />

Montage, Zitieren) als genauso innovativ anerkannt.<br />

Re-Kultur<br />

Also bezieht sich Re-Kultur auf die vielen Arten<br />

<strong>und</strong> Weisen, wie die Menschen auf Informationen<br />

über das Gemachte, auf die benutzen Formen antworten,<br />

reagieren, wie sie zitieren. So werden<br />

verschiedene Wiederholungsmuster <strong>und</strong> -formen<br />

erf<strong>und</strong>en, z.B. das Recyceln von Materialien, die<br />

Re-Interpretation von vorhandenen Darstellungen<br />

<strong>und</strong> Liedern <strong>und</strong> das Neu-Zusammenschneiden<br />

von bestehendem Material. Was wie eine Wiederholung<br />

aussieht, ist es oft nicht, denn der kreative<br />

Akt besteht in der Auswahl von dem, was dargestellt<br />

werden soll (worauf Duchamp Anfang des<br />

20. Jahrh<strong>und</strong>erts hingewiesen hat) sowie in der<br />

Postproduktion (wie Bourriaud Anfang des 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts erläutert hat).<br />

Die Entwicklung von neuen, ethisch verantwortlichen<br />

Ansätzen im Umgang mit vorhandenem<br />

Material <strong>und</strong> im Gebrauch von Objekten ist selbst<br />

ein schöpferischer Akt. Von ihren „Bewohnern“<br />

verlangt die Informationsgesellschaft zunehmende<br />

Bearbeitung – was einen aktiven, permanenten<br />

Auswahlprozess voraussetzt. <strong>und</strong>o redo<br />

beschäftigt sich mit der Wahrnehmung des Betrachters<br />

in Recodierungs- <strong>und</strong> Re-Interpretationsprozessen<br />

je nach Darstellungsart, je nach der<br />

„Logik der Mischung“, wie der Kurator Raim<strong>und</strong>as<br />

Malasauskas die Architektur eines Samplings<br />

nennt. Die Gefahr von postmodernistischem<br />

Eklektizismus besteht bekanntlich im<br />

Mangel an Ethik <strong>und</strong> dem dekontextualisierten<br />

<strong>und</strong> erinnerungslosen Vergleich von allem mit<br />

allem. Mit einfachen Technologien können Filme,<br />

Bilder <strong>und</strong> Lieder neu gemischt werden. Die<br />

Möglichkeit, eine eigene Fassung eines Lieds zu<br />

schaffen oder ein Lied mit einem anderen zu vermischen,<br />

wird zunehmend in Anspruch genommen.<br />

Diese Möglichkeit beeinfl usst, wie wir mit<br />

der Informationsrecherche, der Kreativität <strong>und</strong><br />

der Geschichte zurechtkommen: Wie oft klicken<br />

wir jeden Tag auf „Rückgängig“, auf „Wiederherstellen“<br />

oder auf „Kopieren“ <strong>und</strong> „Einfügen“?<br />

Wiederholung bedeutet Veränderung!<br />

Für die Ausstellung <strong>und</strong>o redo ist es aber wichtig,<br />

das Verwandlungspotenzial von Wiederholung<br />

<strong>und</strong> Zitieren herauszustellen als eine Art <strong>und</strong><br />

Weise, nicht nur ein „Drehbuch“ oder eine bestehende<br />

Form zu kopieren oder nachzuahmen, sondern<br />

auch zu recodieren – um so neuen Sinn herzustellen.<br />

Hier sind der Stil <strong>und</strong> die Ethik von<br />

Wiederholung <strong>und</strong> Zitieren oder, wie man in der<br />

Sprachwissenschaft sagt, die „Iteration“ ein für<br />

eine „Typologie der Formen-Iteration“ relevantes<br />

Thema, wie es Derrida in sprachlicher Hinsicht<br />

in Signatur Ereignis Kontext (1971) vorschlägt:<br />

„… man hätte dann mit verschiedenen Arten von<br />

Zeichen oder Ketten von iterierbaren Zeichen zu<br />

tun <strong>und</strong> nicht mit einem Gegensatz von zitierten<br />

Von ihren „Bewohnern“<br />

verlangt die Informationsgesellschaft<br />

zunehmende Bearbeitung<br />

Aussagen auf der einen Seite <strong>und</strong> singulären <strong>und</strong><br />

originalen Aussagen-Ereignissen auf der anderen<br />

Seite.“<br />

Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> untersucht <strong>und</strong>o redo<br />

ausgewählte Formate von <strong>und</strong> Refl ektionen über<br />

„iterierbare Zeichen“ als Komponenten einer<br />

wachsenden Re-Kultur: Navigation in einer Welt<br />

von vorgemischten Informationen, die in den bildenden<br />

Künsten wie in der Musik <strong>und</strong> im Film<br />

ständig <strong>und</strong> oft sehr differenziert neu vermischt<br />

werden.<br />

Das „<strong>und</strong>o-redo“-Prinzip in Bezug auf bestehendes<br />

Bild- <strong>und</strong> Tonmaterial oder Text hat eine lange<br />

Tradition in der bildenden Kunst in der Form<br />

von Fotocollage, Filmmontage <strong>und</strong> Appropriati-


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 46<br />

on in der Avantgarde-, Pop- <strong>und</strong> Konzeptkunst.<br />

<strong>und</strong>o redo ist ein zeitgenössisches Nachsinnen<br />

durch Wiederverwendung über Ideen, die die<br />

Erde – dank des Internets, heute schneller denn je<br />

– umkreisen <strong>und</strong> über die vielfältigen, tagtäglichen<br />

Möglichkeiten, geringfügige Veränderungen<br />

in der Welt zu erwirken.<br />

5 Hindernisse<br />

Inspiriert wird <strong>und</strong>o redo schließlich von dem<br />

Wie oft klicken wir<br />

jeden Tag auf „Rückgängig“?<br />

Film The Five Obstructions (2003) (5 Hindernisse)<br />

des dänischen Filmemachers Lars von Trier.<br />

In diesem Film (fünf Hindernisse) beauftragt<br />

er seinen Kollegen <strong>und</strong> Idol Jørgen Leth, sein<br />

Meisterwerk aus dem Jahr 1967 The Perfect Human<br />

unter Beachtung einschränkender Regeln<br />

fünf Male neu zu drehen. Der halb-dokumentarische<br />

Film zeigt Jørgen Leths neue Fassungen<br />

von The Perfect Human („Det perfekte<br />

menneske“) unter dem Einfl uss von fünf verschiedenen,<br />

auch für Leths’ Praxis als Filmema-<br />

Martha Colburn, Cosmetic Emergency, 2005<br />

Stills, Courtesy Galerie Diana Stigter<br />

cher hinderlichen Regeln. Diese Regeln sollen<br />

dazu dienen, Leths Meisterwerk auf vielen Ebenen<br />

zu dekonstruieren <strong>und</strong> zu rekonstruieren –<br />

beispielsweise bezüglich der Perfektionierung<br />

der Filmsprache eines Autors (Leth) <strong>und</strong> des<br />

Drehbuchs. Diese Hindernisse erweisen sich aber<br />

als hoch produktiv <strong>und</strong> anregend für den Arbeitsprozess<br />

von Leth. Was die umgesetzte künstlerische<br />

Strategie angeht, so zielt <strong>und</strong>o redo im Allgemeinen<br />

darauf, die für die Re-Kultur relevanten<br />

Herausforderungen von fünf zeitgenössischen<br />

Belangen aufzugreifen. Dies sind der postmoderne<br />

Eklektizismus der Sampling-Kultur, die Verteilung<br />

von Urheberschaft, die Schaffung von<br />

räumlichen <strong>und</strong> phänomenalen Erlebnissen, die<br />

die Recodierung verlangsamen <strong>und</strong> den körperlichen<br />

Aspekt der Wahrnehmung in Deutungsprozessen<br />

miteinbeziehen (sich selbst berechnen!).<br />

Eine weitere Herausforderung ist die Hinterfragung<br />

der mangelnden Ethik von Zitieren<br />

<strong>und</strong> Widerholen <strong>und</strong> die Suche nach immer neuen<br />

Wegen, Konventionen „rückgängig zu machen“,<br />

zu dekonstruieren. Ob die Kunstwerke diesen<br />

Herausforderungen gerecht werden, wird dem<br />

Betrachter überlassen. Im Folgenden werden die<br />

ausgestellten Werke in der Reihenfolge der Präsentation<br />

vorgestellt.<br />

Tino Sehgal, Großbritannien (*1976). In seinen<br />

performativen Werken, die weltweit in Museen<br />

gezeigt worden sind, refl ektiert Sehgal „Ideologien<br />

des Handelns“. Ausgehend von seinen Wur-<br />

<strong>und</strong>o redo ist ein zeitgenössischesNachsinnen<br />

durch Wiederverwendung<br />

zeln in den Performance-Künsten ist er dazu<br />

übergegangen, andere in die Aufführung seiner<br />

Werke einzuweisen – Schauspieler, Tänzer,<br />

Opernsänger, Kinder <strong>und</strong> Museumswärter. Dabei<br />

hat er sich noch weiter von den überkommenen


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 47<br />

institutionalisierten Kategorien der Kunst entfernt,<br />

indem er keine Objekte, Dokumentationen,<br />

schriftlichen Anweisungen produziert oder Verträge<br />

mit zum Beispiel Schauspielern, Sammlern<br />

oder Museen abschließt. Zudem signiert er seine<br />

Werke (gedruckt, auf Papier) nicht; <strong>und</strong> indem er<br />

die Werke nicht selbst aufführt, lehnt er die Ge-<br />

Inspiriert wird <strong>und</strong>o<br />

redo schließlich von<br />

dem Film The Five<br />

Obstructions<br />

b<strong>und</strong>enheit des (Performance-)Kunstwerks an<br />

das ‚verkörperte Selbst’ des Künstlers ab. Die<br />

Anweisungen zu seinen Werken werden ausschließlich<br />

„von Körper zu Körper“ gegeben.<br />

This is New ist kein neues Werk von Tino Sehgal,<br />

es stammt aus dem Jahr 2003. Es wird durch das<br />

Museumspersonal an der Kasse aufgeführt. Gibt<br />

der Kassierer dem Besucher seine Eintrittkarte,<br />

sagt er gleichzeitig die Nachrichtenschlagzeile<br />

des Tages auf. Die sprachliche <strong>und</strong> inhaltliche<br />

Dichte der Schlagzeilen fallen in ihrer Absurdität<br />

auf – ist dies neu?<br />

Mads Lynnerup, Dänemark (*1976). In der Arbeit<br />

an sich selbst <strong>und</strong> der Anpassung an seine<br />

Umwelt fängt Mads Lynnerup die Absurdität des<br />

alltäglichen Lebens dadurch ein, dass er über alltägliche<br />

Gesten <strong>und</strong> über unsere diesbezüglichen<br />

Lucas Ajemian, Out of Nowhere / From Beyond, 2006, Courtesy Gallery Kirkhoff<br />

Annahmen refl ektiert. In <strong>und</strong>o redo präsentiert er<br />

eine Schleife von 4 kurzen Videos aus seinen Performance-Werken.<br />

In Running (Laufen) durchkreuzt<br />

er von Anfang an seine eigene Handlung,<br />

indem er das eine Bein an einen Baum mit einer<br />

Leine anbindet <strong>und</strong> losläuft bis die Leine ihn an<br />

den Stamm zurückzerrt. In Hat (Hut), das in Havana<br />

gedreht wurde, spult er die Herstellung eines<br />

Palmenblatthutes zurück - so als ob er die Ursprünge<br />

der Materialien zum direkt hinter ihm<br />

stehenden Baum zurückverfolgen würde, wodurch<br />

er eine schnelle, parodistische <strong>und</strong> fi ktive<br />

Verbindung mit seiner unmittelbaren Umgebung<br />

herstellt. In Tank (Panzer) hat Lynnerup eine<br />

Panzerattrappe aus Karton gebastelt <strong>und</strong> an ein<br />

Auto, mit dem er durch die Straßen San Franciscos<br />

fährt, befestigt – der Kopf ist dabei mit einem<br />

Topf als Helm durch das Dach gesteckt! Schließlich<br />

vertritt das Video Untying a Shoe with an<br />

Erection (Einen Schuh mit einer Erektion losbinden)<br />

…die Kategorie der Spannungskomödie. Die<br />

Kamera fi xiert den lose geb<strong>und</strong>enen rechten<br />

Turnschuh des Künstlers. Die erotische Handlung<br />

sehen wir nicht direkt. Der offensichtliche historische<br />

Bezugspunkt: Andy Warhols ereignisstrukturierter<br />

Film Blow Job aus dem Jahr 1963,


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 48<br />

Melik Ohanian, Slowmotion, 2003, Courtesy the artist, Galerie Chantal Crousel <strong>und</strong> Yvon Lambert, New York, Foto: André Morin


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 49<br />

wo „die vermeintliche Handlung im Off ausschließlich<br />

durch die Mimik des Empfängers erzählt<br />

wird“ (Kenneth Baker).<br />

Mariana Castillo Deball, Mexico (*1976). Never<br />

Odd or Even ist eine sich ständig ändernde<br />

Lesung von imaginären, noch nicht geschrie-<br />

Die Anweisungen zu<br />

seinen Werken werden<br />

ausschließlich „von<br />

Körper zu Körper“<br />

gegeben<br />

benen Büchern, die in Zusammenarbeit mit Autoren,<br />

Kritikern <strong>und</strong> Dichtern entstehen. Diesmal<br />

hat Deball deutsche Schriftsteller dazu eingeladen,<br />

am Projekt teilzunehmen, das auf einem<br />

Multiple von 24 Buchdeckeln nichtexistierender<br />

Bücher basiert. Die 24 von verschiedenen Künstlern,<br />

Designern <strong>und</strong> Theoretikern entworfenen<br />

Buchdeckel werden als eine Publikation (Buch im<br />

Buch) präsentiert <strong>und</strong> weisen auf Themen wie Archäologie,<br />

zeitgenössische Gartenkunst, Magie,<br />

Geschichte der Technologie, Mystizismus, Reiseführer,<br />

Autobiographie, Archivierungstechniken<br />

oder Monumente in Bewegung hin. Never Odd or<br />

Even ist, z.B. in den Niederlanden, schon präsen-<br />

tiert worden. Jedes Mal werden neue Autoren eingeladen,<br />

3 oder 4 Buckdeckel auszuwählen <strong>und</strong><br />

den Inhalt dazu zu entwerfen, den sie dann an<br />

einem besonderen Lesungsabend vortragen. Mit<br />

der Realisation von Never Odd or Even in Kassel<br />

sind die Autorin, Komikerin <strong>und</strong> TAZ-Kolumnistin<br />

Kirsten Fuchs, die Kulturtheoretikerin Katrin<br />

Soldjhu, die sich mit Selbst-Experimentierung<br />

<strong>und</strong> religiösen Praktiken beschäftigt, sowie<br />

der Dichter Jan Wagner betraut worden. Never<br />

Odd or Even fand an einem besonderen Jour Fixe<br />

im Foyer der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum am 7. Juni<br />

um 17.00 Uhr statt. Das Projekt wurde auf einem<br />

eigens entworfenen Plakat im Foyer der <strong>Kunsthalle</strong>,<br />

wo zusätzliche Informationen zum Projekt<br />

vor <strong>und</strong> nach der Lesung zur Verfügung stehen<br />

werden, entfaltet.<br />

Martha Colburn, USA (*1971). Martha Colburn<br />

ist eine unabhängige Filmemacherin, die eine eigene<br />

Art von Filmcollage erf<strong>und</strong>en hat: Sie übermalt<br />

gef<strong>und</strong>enes Material (alles von Filmaus-<br />

Einen Schuh mit einer<br />

Erektion losbinden<br />

schnitten bis zu bekannten Gemälden), <strong>und</strong> auf<br />

diese Weise fügt sie dem vorhandenen Material<br />

eine Animationsschicht hinzu. Kein Bild ist ruhig<br />

oder heilig, wenn es zu einem ihrer Themen passt:<br />

in diesem Fall handelt es sich um die Anprangerung<br />

der zwanghaften <strong>und</strong> hedonistischen Selbstästhetisierungs-Manie<br />

unserer Tage. Cosmetic<br />

Emergency setzt sich in einer Collage von Live-<br />

Handlung <strong>und</strong> lyrischen Animationen mit der<br />

Idee der Schönheit auseinander. In freier Form<br />

werden die aktuelle Tendenz zur Obsession mit<br />

der Kosmetik sowie die unsterbliche Beschaffenheit<br />

der Malerei untersucht: Der Film ist auf der<br />

Suche nach dem, „was innen drin ist“. Malereiauf-Glas,<br />

gef<strong>und</strong>enes Material <strong>und</strong> dokumentarische<br />

Techniken werden benutzt, um aktuelle<br />

Nachrichten (dass zum Beispiel das US-Militär<br />

Lesung von imaginären,<br />

noch nicht<br />

geschriebenen Büchern<br />

Schönheitschirurgie gratis anbietet) <strong>und</strong> musikalische<br />

Filmsequenzen darzustellen.“ (Marijke<br />

Helwegen)<br />

Melik Ohanian, Frankreich (*1969). Das Werk<br />

SLOWMOTION (ZEITLUPE) besteht aus einem<br />

im Ausstellungsraum aufgestellten prähistorischen<br />

Rechner in der Form von fünf Lichtbret-


03. JUNI - 16. JULI + 02. - 17. SEPT 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 50<br />

tern <strong>und</strong> einem einfachen Steuergerät, wo jedes<br />

Pixel von einer Glühbirne dargestellt wird. Der<br />

Besucher wird dazu aufgefordert, die Lichtbretter<br />

mit Buchstaben, Zeichen oder Wörtern zu codieren.<br />

Am Eröffnungstag erscheint das Wort „SLA-<br />

VE“ auf den Brettern <strong>und</strong> bei der Finnisage das<br />

Wort „VALSE“ als hypothetischer Fluchtpunkt,<br />

bevor das Werk erneut ausgestellt wird <strong>und</strong> der<br />

Verwobenheit von Zeit<br />

<strong>und</strong> Raum<br />

Prozess wieder anfängt. In der Zwischenzeit sind<br />

Besucher dazu eingeladen, an der Codierung des<br />

Lichtbretts mitzumachen <strong>und</strong> ihre Aussagen in<br />

fünf Wörtern oder Zeichen einzugeben. Im Allgemeinen<br />

setzten sich die Werke Melik Ohanians<br />

mit der Verwobenheit von Zeit <strong>und</strong> Raum, der<br />

Herstellung von Zeiträumen, den Abständen, die<br />

Kontinuitäten <strong>und</strong> Diskontinuitäten schaffen,<br />

auseinander.<br />

Susan Philipsz, Großbritannien (*1965). In ihrer<br />

viel länger als im Genre üblichen Interpretation<br />

des Punk-Schlagers aus den siebziger Jahren Something<br />

Better Change von The Stranglers wiederholt<br />

die schottische Künstlerin Susan Philipsz<br />

auf hypnotische Art <strong>und</strong> Weise den Refrain „I<br />

said something better change“. Nur von einem<br />

Gitarristen (Egill Sæbjörnsson) begleitet, isoliert<br />

Philipsz die Aussage Something better change als<br />

Mantra, wobei ihre steigende Intonation die Frage<br />

„Wird sich je etwas ändern?“ suggeriert. „Meine<br />

Arbeit befasst sich mit den räumlichen Eigenschaften<br />

von Klang <strong>und</strong> mit den Beziehungen<br />

zwischen Klang <strong>und</strong> Architektur. Was mich interessiert<br />

sind die emotionalen <strong>und</strong> psychischen<br />

Eigenschaften von Klang <strong>und</strong> wie er als Instrument<br />

zur individuellen Bewusstseinsveränderung<br />

eingesetzt werden kann. … Durch meine eigene<br />

Stimme versuche ich ein Bewusstsein im Hörer<br />

zu erwecken, seine Selbstwahrnehmung an einem<br />

Something better<br />

change<br />

gewissen Ort <strong>und</strong> zu einem gewissen Zeitpunkt<br />

vorübergehend zu verändern.“ (Susan Philipsz).<br />

Gabriel Lester, Niederlande (*1972). Gabriel<br />

Lester ist ein sehr geschickter Konzept-Sampler,<br />

der oft Kunstwerke, Filme oder Vorstellungen<br />

von anderen in seiner Arbeit sampelt <strong>und</strong> parallelisiert<br />

– nicht wie Sherry Levine, sondern eher<br />

wie Tarentino ohne Kamera! Im völlig post-produzierten<br />

Film All Wrong (Alles falsch) hat Lester<br />

zusammen mit dem Künstler <strong>und</strong> Kunstkritiker<br />

Aaron Schuster ein seltsames Drehbuch (allerdings<br />

mit einem klassischen narrativen Anfang<br />

<strong>und</strong> Ende) für einen Film mit Bildern <strong>und</strong> Filmsequenzen<br />

aus dem Internet geschrieben. Zudem


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scheint es für die seltsamen F<strong>und</strong>e, die man im<br />

Internet machen kann, geschrieben zu sein. Allerdings<br />

basiert der Film auf einer sehr genauen<br />

Auswahl von gef<strong>und</strong>enem Material, sporadischen<br />

Floating-Images <strong>und</strong> Amateur-Film-Clips, die,<br />

zum Film zusammengefügt, alle Dreharbeiten erübrigen.<br />

Die Frage ist, ob die Geschichte oder der<br />

Film „ganz falsch“ ist, wenn die Bilder aus dem<br />

immensen Datenf<strong>und</strong>us des Internets heruntergeladen<br />

werden.<br />

Ján Mancuška, Slowakei (*1972). Jana’s Story<br />

ist eine sehr persönliche Geschichte, die in konzeptueller<br />

Form erzählt wird. Beim Lesen des in<br />

Augenhöhe waagerecht auf Drähten aufgehängten<br />

Wie Tarentino ohne<br />

Kamera!<br />

metallenen Textes durchquert der Betrachter den<br />

Ausstellungsraum. In seiner Arbeit richtet sich<br />

die Aufmerksamkeit Jan Mancuškas auf Sprache,<br />

Interpretation <strong>und</strong> Architektur. Das Werk Jana’s<br />

Story besteht aus neun Sätzen, die einen trauma-<br />

Waagerecht auf<br />

Drähten aufgehängter<br />

metallener Text<br />

tischen, von einer Frau erlebten Vorfall aus verschiedenen<br />

Perspektiven erzählen.<br />

/ sie blieb länger als sie eigentlich wollte <strong>und</strong><br />

musste also den Nachtzug nehmen sie war etwas<br />

nervös also haben sie sie zum Zug begleitet /<br />

/ sie setzt sich neben ein Mädchen sitzt allein im<br />

Abteil <strong>und</strong> nach einer Weile erzählt sie ihr /<br />

/ dass jemand sie vergewaltigt hat aber es hört<br />

sich seltsam an als ob sie eigentlich nicht darüber<br />

hat reden wollen also zieht sie es vor von ihr keine<br />

Notiz zu nehmen <strong>und</strong> schweigt die verbleibende<br />

Zeit /<br />

Mancuškas Werk beschäftigt sich mit den vielen<br />

verschiedenen Möglichkeiten, die Welt zu beschreiben<br />

<strong>und</strong> diese Beschreibung in die Echtzeit<br />

<strong>und</strong> in den Echtraum des Betrachters zu übermitteln.<br />

Indem der Betrachter die Geschichte als Installation<br />

im Gehen liest, wird er zum Koproduzenten<br />

einer persönlichen Fassung von den<br />

Geschehnissen. Während sich „Janas Geschichte“<br />

zu einem anderen Zeitpunkt <strong>und</strong> an einem anderen<br />

Ort als die Installation ereignet, lässt die<br />

Tatsache, dass der Betrachter in seiner eigenen<br />

Zeitdimension in der räumlich ausgebreiteten Geschichte<br />

körperlich herumwandert, die mehrfachen<br />

Temporalitäten <strong>und</strong> die komplizierte Erzählung<br />

auf faszinierende Art <strong>und</strong> Weise in einem<br />

<strong>und</strong> demselben Ausstellungsraum aufscheinen.<br />

Kristine Roepstorff, Dänemark (*1972). When<br />

You Light a Lantern in Summernight Strange<br />

Things Come Flying! (Wenn Du eine Laterne anzündest<br />

in einer Sommernacht, kommen seltsame<br />

Dinge angefl ogen!) So heißt eine explosive Collagen-Installation,<br />

die Kristine Roepstorff für die<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum entwickelt hat. Aus einer<br />

Ecke des Ausstellungsraumes strahlt eine hel-


le Sonne (als Wandbild) – von einer Collagenkonstellation<br />

überragt, die populistische Eye-<br />

Flies, verlorene Wahrheiten, Politiker <strong>und</strong> gekippte<br />

Machtspiele in den Museumsraum schleudert.<br />

Jede Collage erzeugt eine eigene, vorübergehende<br />

Erzählung aus Zeitungs-, Pappe- <strong>und</strong> Illustriertenausschnitten,<br />

die im ureigenen „Appropriarranging“-Stil<br />

der Künstlerin gestaltet<br />

sind. „Appropriarranging“ – eine Zusammensetzung<br />

aus „Appropriation“ (Aneignung) <strong>und</strong> „Arranging“<br />

(Anordnen) – ist eine Art handwerkliche<br />

Sinnproduktion, die als „Aneignung der Welt, so<br />

wie ich sie anordnen kann“, defi niert werden<br />

könnte. Die ausgestellten Collagen stammen aus<br />

verschiedenen Werkserien der Künstlerin. Parliament<br />

contra Ships (Parlament gegen Schiffe),<br />

zum Beispiel, stammt aus einer Reihe, in welcher<br />

die Schifffahrt den neoliberalen Wirtschafts-<br />

wind, der um die Welt weht, symbolisiert. Eel of<br />

Unfortune (Aal des Unglücks) <strong>und</strong> Dawn upon<br />

Europe (Morgendämmerung über Europa) befassen<br />

sich zusammen mit der Collage, die der Installation<br />

ihren Titel gibt When You Light a Lantern<br />

in Summernight Strange Things Come Flying<br />

unmittelbar mit der populistischen Welle, auf<br />

der sich europäische Parlamente gegenwärtig<br />

wiegen. Parliament (Stop Woman) (Parlament<br />

(Halt Frau)) könnte als Sinnbild für Roepstorffs<br />

feministisches Anliegen verstanden werden.<br />

Lucas Ajemian, USA (*1975). Um zum Ausgangspunkt<br />

dieses Artikels zurückzukommen,<br />

kommentiert der Künstler Lucas Ajemian sein<br />

Musikstück Out of Nowhere/From Beyond (Von<br />

nirgendwo/von jenseits), welches das Black-Sabbath-Lied<br />

Into the Void rückwärts spielt: „Einige<br />

Dinge, die ich in den letzten Jahren gemacht habe,<br />

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Aal des Unglücks<br />

Ján Mancuška, A Fragment of asynchronised History: Jana’s Story 1/2, 2004, Courtesy Andrew Krebs Gallery<br />

sind appropriativ <strong>und</strong> haben mit „De-Artikulationen“,<br />

wie ich sie nenne, zu tun. Im Gr<strong>und</strong>e ist<br />

das Projekt Out of Nowhere/From Beyond der<br />

Versuch, ein neues Musikstück zu schaffen, das<br />

sich allerdings von einem bestehenden ableitet;<br />

aber in dieser Hinsicht empfand ich es als witzig,<br />

das Vorhaben im Sinne einer globalisierten Folk-<br />

Tradition anzugehen. Die Idee stammt eigentlich<br />

vom Lied selbst. Es ist wohl eines der coolsten<br />

Black Sabbath Lieder, die es gibt, <strong>und</strong> sein Thema<br />

ist riesig <strong>und</strong> mahnend <strong>und</strong> letzten Endes vollkommen<br />

utopisch. Und dann gibt es den Titel<br />

INTO the Void – „INS Nichts“ – eine Art Drang<br />

ins Unwahrnehmbare <strong>und</strong> zu einem unbekannten<br />

Ort/Nichtort, den man nicht erleben kann – dann<br />

habe ich mir vorgestellt, wenn man die Richtung<br />

des Lieds umdreht, hätten wir eine orphische<br />

Rückkehr. Ich habe mir auch die Arbeit von Yves<br />

Klein angeschaut <strong>und</strong> sein Werk Theatre of the<br />

Void – in welchem er einen Tag im Jahre 1960 zu<br />

einer diffusen, in einer „S<strong>und</strong>ay“ genannten Zeitung<br />

diesen Datums dokumentierten Darbietung<br />

des Alltags erklärte. Irgendwie sind Aufnahmen<br />

von Black Sabbath, Judas Priest oder Led Zeppelin<br />

dazu bestimmt, rückwärts gespielt zu werden<br />

– das war so eine Sache mit den Hard-Rock-<br />

Gruppen jener Zeit <strong>und</strong> dem Reiz, den das Okkulte<br />

auf die Popkultur ausübt <strong>und</strong> auch der Verfolgungswahn<br />

einer korrupten Jugend, der unterschwelligen<br />

Botschaften – es ist als ob es einen<br />

inhärenten Glauben an eine wie auch immer gestalteten<br />

geheimen, fragwürdigen Kodex gäbe.“<br />

Kuratiert von Solvej Helweg Ovesen


Die Kunst gibt zuweilen den Blick darauf frei,<br />

dass die Welt der Menschen eine genau so disparate,<br />

w<strong>und</strong>erliche <strong>und</strong> absurde ist, wie wir uns das<br />

vielleicht schon immer gedacht haben. Das ist insofern<br />

eine unbequeme Erkenntnis, als wir normalerweise<br />

darauf bedacht sind, stets die Dinge<br />

mit Hilfe unseres Wissens <strong>und</strong> unseres Urteilsvermögens<br />

sinnvoll zu ordnen. Nur die Klarheit<br />

gibt Sicherheit <strong>und</strong> macht handlungsfähig – jedenfalls<br />

glauben wir daran <strong>und</strong> wollen deshalb<br />

immer gerne wissen woran wir sind. Für die<br />

Kunst geht es jedoch gar nicht darum, dass wir<br />

endlich die Wahrheit erfahren sollten, <strong>und</strong> genau<br />

genommen wäre das sogar ein historisches Miss-<br />

verständnis mit der Aufklärung. Zwar teilen<br />

Künstler natürlich eine generelle Neugier der<br />

Menschen an der Welt <strong>und</strong> am Dasein, doch es<br />

fällt auf, dass gerade die Kunst die Wirklichkeit<br />

nicht erklärt, sondern häufi g genug ein Ausdruck<br />

des Staunens über deren Rätselhaftigkeit ist. Dagegen<br />

ist die alltägliche, von den Medien bestimmte<br />

<strong>und</strong> alles durchdringende Bildkultur<br />

schon seit langem wesentliche Trägerin unseres<br />

Zeitwissens <strong>und</strong> das, obwohl die meisten Menschen<br />

noch immer wenig Ahnung vom Wesen jener<br />

Bilder haben, mit denen sie leben müssen.<br />

Die andere Sei<br />

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Henry VIII‘s Wives | Jens Kloppmann | Susanne Kutter<br />

Woran wir sind


te<br />

SEITE 54<br />

| Julien Maire | Pia Maria Martin<br />

Henry VIII‘s Wives, aus der Serie Ironic Moments, 1999,<br />

Courtesy Galerie Iris Kadel, Karlsruhe<br />

28. JUNI - 16. JULI + 02. SEPT. - 03. OKT. 06 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM<br />

Siegfried Kracauer attestierte dem heraufziehenden<br />

visuellen Zeitalter bereits in den 1920er<br />

Jahren, als das Fernsehen noch nicht einmal in<br />

Sicht war, dass noch niemals eine Zeit so viel <strong>und</strong><br />

zugleich so wenig über sich gewusst habe. Man<br />

Wenig Ahnung vom<br />

Wesen jener Bilder<br />

muss nicht Medienwissenschaftler sein um zu erkennen,<br />

dass sich dieser paradox wirkende Bef<strong>und</strong><br />

seitdem noch verschärft hat. Die Künstlerinnen<br />

<strong>und</strong> Künstler dieser Ausstellung sezieren<br />

nicht die Wahrheit, sondern sie transformieren<br />

Bilder oder Bildvorstellungen, wie sie längst Teil<br />

des gesellschaftlichen Prozesses der Entstehung<br />

<strong>und</strong> Vermittlung von Wissen <strong>und</strong> Meinung sind.<br />

Das können entweder Bilder aus Journalismus,<br />

Kunst oder Werbung sein, aber auch solche aus<br />

den so genannten bildgebenden Verfahren der<br />

Wissenschaft. Sie kehren dabei den Herstellungsvorgang<br />

um, oder sie nehmen diesen allzu wörtlich,<br />

oder sie bringen Bildwelten zusammen, die<br />

scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Vor<br />

allem aber verändern sie bildnerische Funktionsweisen<br />

mal spielerisch, mal mit Ironie <strong>und</strong> mal<br />

mit Sinn für das Absurde. Mit jeder Transformation<br />

entstehen neue Wirklichkeiten, aber auch<br />

Widersprüche. Allerdings werden uns diese nicht<br />

demonstrativ <strong>und</strong> entlarvend serviert <strong>und</strong> schon<br />

gar nicht mit der Absicht, sie für uns aufzulösen.<br />

Das geschieht offensichtlich vielmehr produktiv,<br />

lustvoll <strong>und</strong> mit der ganzen souveränen Freiheit<br />

der Kunst, die Komplexität des Bilderkosmos immer<br />

noch erweitern zu können. Und wenn man als<br />

Betrachter das Staunen teilen möchte, dann kann<br />

man entdecken, dass auch die vermeintlich selbstverständlichsten<br />

<strong>und</strong> klarsten Dinge stets noch<br />

eine andere Seite haben <strong>und</strong> natürlich, dass Bilder<br />

auch Realitäten schaffen. Der Wissenschaftsphilosoph<br />

Paul Feyerabend, ein Bew<strong>und</strong>erer von<br />

Marcel Duchamp übrigens, sagte es so: „Gegen<br />

die Vernunft habe ich nichts, ebenso wenig, wie<br />

gegen Schweinebraten. Aber ich möchte nicht ein<br />

Leben leben, in dem es tagaus tagein nichts anderes<br />

gibt als Schweinebraten.“<br />

Jens Kloppmann, Fries, 2006,<br />

Sperrholz (Detail)


28. JUNI - 16. JULI + 02. SEPT. - 03. OKT. 06 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 56<br />

Die Künstlergruppe Henry VIII‘s Wives wurde<br />

1997 in Glasgow von Rachel Dagnall, Robert<br />

Grieve, Sirko Knüpfer, Simon Polli, Per Sander<br />

<strong>und</strong> Lucy Skaer gegründet. Die Ideen zu ihren<br />

Momente absurden<br />

Humors<br />

zahlreichen gemeinsamen Projekten entzünden<br />

sich meist an vorgef<strong>und</strong>enen Geschichten, Bildern,<br />

historischen <strong>und</strong> aktuellen Ereignissen oder<br />

auch an räumlichen Situationen. In ihren einzel-<br />

Henry VIII‘ Wives, aus der Serie: Ironic Moments, 1999,<br />

Courtesy Galerie Iris Kadel, Karlsruhe<br />

Jens Kloppmann, Luftkampf, 2004<br />

Jens Kloppmann, aus der Serie: Im fotografi schen Exil<br />

(Rache für Trotzki), 2002<br />

nen Arbeiten treffen häufi g Motive oder Erzählweisen<br />

aufeinander, die auf den ersten Blick<br />

überhaupt nichts miteinander zu tun haben, woraus<br />

dann nicht nur überraschend Neues entsteht,<br />

sondern mitunter auch Momente absurden Humors.<br />

Jens Kloppmann misstraut seit jeher den vordergründigen<br />

Bedeutungen von Begriffen <strong>und</strong> Bildern<br />

<strong>und</strong> hat daraus zwei ganz unterschiedliche<br />

künstlerische Konsequenzen gezogen. Auf der einen<br />

Seite arbeitet er mit den auf das Wesentliche<br />

reduzierten Methoden der Konkreten Kunst. Dem<br />

steht bei ihm eine lange Reihe künstlerischer Ca-


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Susanne Kutter, Flooded Home, 2003, stills, Courtesy Galerie Stefan Rasche, Münster


ne Bildmaschinen refl ektieren die bildnerische<br />

Krise der Moderne, die sich aus der analytischen,<br />

wissenschaftlichen <strong>und</strong> vermeintlich objektiven<br />

Verwendung neuer Bildtechniken wie der Fotografi<br />

e <strong>und</strong> dem Computer ergeben hat. Indem er<br />

das Unsichtbare sichtbar macht, gibt er der Technologie<br />

<strong>und</strong> damit aber auch dem Bild einen poetischen<br />

Sinn zurück. Dabei schlüpft er für das<br />

staunende Publikum in eine ähnliche Rolle, wie<br />

sie früher ein Magier oder ein Gaukler innehatte.<br />

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Susanne Kutter, Le Jardin de Fanny, 2000<br />

Courtesy Galerie Gianluca Ranzi, Antwerpen<br />

priccios gegenüber, die den Dingen zu Leibe rücken,<br />

indem sie zum Beispiel die Form oder den<br />

Inhalt bis auf einen tautologischen Kern reduzieren,<br />

oder aber, indem sie den bildnerischen Spieß<br />

herumdrehen.<br />

Susanne Kutter ist in einer geradezu destruktiven<br />

Liebe jenen Idyllen verb<strong>und</strong>en, in denen die<br />

Menschen sich gerne irgendwann einrichten oder<br />

Die totale Katastrophe<br />

die zum Repertoire der unterschiedlichsten Träume<br />

<strong>und</strong> Klischeevorstellungen gehören. Ihre Installationen<br />

<strong>und</strong> Videos zeigen subversive Eingriffe<br />

in heile Welten, <strong>und</strong> das nicht nur in solche<br />

von Spießern, sondern eben auch von jenen, die<br />

vielleicht von sich meinen, sie stünden darüber.<br />

Hin <strong>und</strong> wieder münden die Szenarien ihrer<br />

Werke dabei sogar in die totale Katastrophe.<br />

Julien Maire ist ein Materialforscher <strong>und</strong> Erfi nder.<br />

Seine Fotografi en, Objekte <strong>und</strong> vor allem sei-<br />

Pia Maria Martin dreht Trickfi lme in klassischer<br />

Pia Maria Martin, marche au supplice, 2004, still<br />

Courtesy Galerie Reinhard Hauff, Stuttgart


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Stop-Motion-Technik <strong>und</strong> mit analogem Filmmaterial.<br />

Ihre Motive stammen ursprünglich aus der<br />

sehr realen Welt der Alltagsdinge, entweder aus<br />

der Gegenwart oder auch aus der Kunstgeschichte,<br />

dem Genre des Stilllebens etwa. Doch die stets<br />

fi ktiven <strong>und</strong> oft mit schwarzem Humor gewürzten<br />

Geschichten enthalten dabei noch einen ab-<br />

Sie spielen mit der Zeit<br />

strakten Aspekt der vor allem auch in der Form<br />

sehr spezifi sch auf das Medium Film bezogen ist:<br />

sie spielen mit der Zeit, zeigen sie als Prozess der<br />

Veränderung oder aber machen ihren Ablauf sogar<br />

rückgängig.<br />

Kuratiert von Thomas Niemeyer<br />

Pia Maria Martin, Kalakeittos, 2003, still<br />

Courtesy Galerie Reinhard Hauff, Stuttgart<br />

Julien Maire, Les Instantanés, 1998, still


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 60<br />

Interview mit Thomas Niemeyer<br />

Thomas Niemeyer<br />

Geb. 1967, lebt <strong>und</strong> arbeitet in Kassel <strong>und</strong> Hanau<br />

Studium:<br />

1988 – 1996 Studium der Kunstwissenschaft, Erziehungswissenschaft<br />

<strong>und</strong> Medienwissenschaft<br />

an der Universität Kassel <strong>und</strong> der Université de<br />

Bourgogne, Dijon<br />

2004 Promotion an der Universität Kassel<br />

Tätigkeiten:<br />

1997 – 1999 Assistent in der Galerie Françoise<br />

Knabe in Frankfurt/Main<br />

1998 – 2003 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an<br />

der Kunsthochschule Kassel<br />

seit 2004 Kuratorenwerkstatt <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum,<br />

Mitarbeit unter anderem an der 5. Cetinje<br />

Biennale (2004) <strong>und</strong> der Ausstellung behind<br />

the facts. interfunktionen 1968 – 1975 (2005)<br />

Du warst von 1998 bis 2003 wissenschaftlicher<br />

Mitarbeiter im Studiengang Kunstwissenschaft<br />

an der Kunsthochschule Kassel. Ob an der<br />

Hochschule oder an der <strong>Kunsthalle</strong>, in beiden<br />

Fällen nimmt die Vermittlung von zeitgenössischer<br />

Kunst einen wichtigen Stellenwert ein.<br />

Aus deinen Erfahrungen an beiden Institutionen:<br />

welche Tendenzen in der Vermittlung<br />

zeitgenössischer Kunst lassen sich feststellen<br />

Kuratorenwerkstatt<br />

<strong>und</strong> sind sie anwendbar auf beide Bereiche?<br />

Vermittlung wird in unserem Zusammenhang ja<br />

gerne als didaktische Zulieferung von Informationen<br />

verstanden. Dabei ist das Vermitteln eigentlich<br />

ein sensibler Vorgang im Sinne einer Herstellung<br />

von Verbindungen. Man denke da nur an die<br />

Diplomatie. Meine Erfahrung mit Kunstvermittlung<br />

hat mich jedenfalls gelehrt, dass diese immer<br />

ganz wesentlich darin besteht, Dialoge zu<br />

ermöglichen <strong>und</strong> zu pfl egen, denn das Studium an<br />

einer Kunsthochschule ist letztlich genauso eine<br />

Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Wissen bedingen sich<br />

immer gegenseitig<br />

soziale Erscheinung wie eine Kunstausstellung,<br />

<strong>und</strong> Wissen muss man sich ohnehin selbständig<br />

aneignen. Wichtig ist deshalb vor allem die Frage,<br />

warum man sich überhaupt mit zeitgenössischer<br />

Kunst auseinandersetzen soll. Wenn man<br />

zum Beispiel bedenkt, dass heute ein großer Teil<br />

unseres Wissens <strong>und</strong> unserer Kultur sich unhinterfragt<br />

über Bilder aller Art konstituiert, dann<br />

kann man zeitgenössische Kunst als wertvollen<br />

Freiraum nutzen, um Erfahrungen <strong>und</strong> Gedanken<br />

darüber auszutauschen, was das Wesen von Bildern<br />

ist, wie wir mit ihnen leben <strong>und</strong> welche Rolle<br />

sie dabei spielen können, ganz reale Aspekte<br />

der Welt der Menschen zu verstehen. Während es<br />

nun in der Kunstwissenschaft darauf ankommt,<br />

anhand des Gesehenen sprachliche Qualität zu<br />

entwickeln, ist die Ausstellung der Ort beziehungsweise<br />

das Ereignis, wo etwas sichtbar wird.


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 61<br />

Beide Formen sind aber viel enger miteinander<br />

verknüpft, als der oft bemühte Gegensatz von<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis suggeriert. Erfahrungen <strong>und</strong><br />

Wissen bedingen dabei immer einander gegenseitig,<br />

<strong>und</strong> beides bietet gleichermaßen die Chance<br />

zu erkennen, was andere Menschen mit Bildern<br />

bewegt. Und beides ist natürlich auch ein Weg,<br />

für diejenigen eine Brücke zur zeitgenössischen<br />

Kunst zu bauen, die mit ihren Formen nicht so<br />

vertraut sind. Nur ist gerade das ein ungeheuer<br />

schwieriges Unterfangen, für das es wahrscheinlich<br />

kein sicheres Rezept gibt, das aber, soviel<br />

steht fest, immer sowohl mit Sehen zu tun hat als<br />

auch mit Zuhören, Nachdenken <strong>und</strong> Sprechen.<br />

Du hast bereits 2004/2005 im Team der <strong>Kunsthalle</strong><br />

Fridericianum gearbeitet <strong>und</strong> unter anderem<br />

die Ausstellung behind the facts. interfunktionen<br />

1968 – 1975 mit betreut. Im Juni<br />

2006 wirst du im Rahmen der Ausstellungsreihe<br />

5 Tage bis zum Ende der Kunst ein eigenes<br />

Ausstellungsprojekt realisieren. Welche Erwartungen<br />

hast du an die Mitarbeit in der Kuratorenwerkstatt<br />

in der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum?<br />

Was reizt dich an der Arbeit?<br />

Die Arbeit an meinem aktuellen Projekt unterscheidet<br />

sich in den Abläufen eigentlich nicht wesentlich<br />

von dem, was ich vorher für die <strong>Kunsthalle</strong><br />

gemacht habe. Zwei Aspekte sind jedoch<br />

anders. Zum einen ist es sehr spannend, in einem<br />

bedeutenden Haus, wo es große Erfahrung <strong>und</strong><br />

professionelle Bedingungen gibt, für eine Ausstellung<br />

konzeptionelle <strong>und</strong> organisatorische<br />

Verantwortung zu übernehmen, <strong>und</strong> zugleich ist<br />

es ein w<strong>und</strong>erbares Privileg, auch die Kunst dafür<br />

aussuchen zu dürfen. Die andere Sache ist ein wenig<br />

subtiler, aber nicht weniger wichtig: Bei der<br />

sehr prominent besetzten Ausstellung zu „interfunktionen“<br />

nahmen vor meinen Augen Dinge<br />

aus den 1960er <strong>und</strong> 70er Jahren Gestalt an, mit<br />

denen ich mich bisher nur aus der Ferne, mit Hilfe<br />

von Texten <strong>und</strong> Reproduktionen befasst hatte,<br />

die gleichwohl für meine Arbeit als Kunstwissenschaftler<br />

in den letzten Jahren ganz zentral waren.<br />

Ich stand also plötzlich einer ganzen Reihe<br />

meiner künstlerischen Helden <strong>und</strong> ihren Werken<br />

leibhaftig gegenüber.<br />

Jetzt sind dagegen die von mir eingeladenen<br />

So einfach kann es<br />

gehen<br />

Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstler in meinem Alter <strong>und</strong><br />

jünger, das heißt, sie schauen aus der gleichen<br />

aktuellen Situation wie ich auf die vergangene<br />

Kunstentwicklung, <strong>und</strong> ich kann sagen, ich genieße<br />

diese Zusammenarbeit. Und dann ist da ja<br />

nicht zuletzt dieses besondere Projekt der Kuratorenwerkstatt,<br />

ein junges Team mit sehr verschiedenen<br />

Ausbildungen <strong>und</strong> Berufswegen, das<br />

dennoch ohne Probleme eine ganze Ausstellungsreihe<br />

auf die Beine stellt, in welcher auch der Zusammenhang<br />

nicht verloren geht. Man möchte<br />

mit Blick auf eine international wachsende Diskussion<br />

um relevante Inhalte von Kuratorenausbildung<br />

sagen: So einfach kann es gehen.<br />

In deiner wissenschaftlichen Arbeit beschäftigst<br />

du dich schwerpunktmäßig mit Fotografi e,<br />

den historischen als auch den aktuellen Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> Tendenzen. Welchen Einfl uss<br />

hat dieses primär theoretische Interesse auf<br />

dein kuratorisches Arbeiten?<br />

Texte <strong>und</strong> Ausstellungen haben dasselbe Objekt<br />

der Begierde. Ich weiß, ehrlich gesagt, gar nicht<br />

genau, was für mich zuerst da war. Ich glaube<br />

nur, dass es ein Fehler wäre, ausschließlich aufgr<strong>und</strong><br />

sprachlichen Mitteilungsbedürfnisses eine<br />

Ausstellung zu konzipieren. Wenn ich über ein<br />

Thema genauso gut einen Essay schreiben könnte,<br />

dann sollte ich keine Kunstausstellung dazu machen.<br />

Ansonsten bestünde die Gefahr, dass<br />

Kunstwerke nur als Illustrationen vorgeführt werden,<br />

<strong>und</strong> nebenbei würde damit der Irrglaube genährt,<br />

Kunst müsse unbedingt eine Botschaft enthalten.<br />

Wenn ich wissen will, wie die politische<br />

oder gesellschaftliche Situation irgendwo in der<br />

Welt sich entwickelt, dann greife ich lieber zur<br />

Zeitung oder lese ein Buch darüber. Das mit der<br />

Fotografi e ist auf jeden Fall eine persönliche Vorliebe,<br />

es hat jedoch sicher auch damit zu tun, dass<br />

man beizeiten das Gefühl bekommt, man müsse<br />

sich auf irgendeinem Gebiet mal als Spezialist<br />

profi lieren. Aber unabhängig davon, ob man zu


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 62<br />

einem Thema immer wieder zurückkehrt, ist es<br />

schon interessant, wie sich die Dinge entwickeln,<br />

wenn man sie nur lässt. Zum Beispiel habe ich als<br />

Abschluss meines Studiums einen langen Essay<br />

zu Man Rays Malerei geschrieben <strong>und</strong> erst da-<br />

Das Objekt der<br />

Begierde<br />

durch wirklich Zugang zu seinem fotografi schen<br />

Werk gef<strong>und</strong>en (bei ihm selbst war die Reihenfolge<br />

übrigens die gleiche). Bei der Arbeit an meiner<br />

Dissertation bin ich dann über die Fotografi e zu<br />

einer intensiven Auseinandersetzung mit konzeptueller<br />

Kunst gelangt. Inzwischen brüte ich über<br />

einem neuen Buch, das sich um den Begriff<br />

„Sampling“ dreht. Ich kann aber nicht genau sagen,<br />

ob das etwas mit meiner Ausstellung im Fridericianum<br />

zu tun hat.<br />

Von dir ist 2004 das Buch You Press the Button.<br />

Fotografi e <strong>und</strong> Konzeptkunst erschienen.<br />

Welche Entwicklungen zeigst du darin auf? Zu<br />

welchen zentralen Aussagen führen deine Untersuchungen?<br />

„You Press the Button, We Do the Rest“ – Dieser<br />

Satz von George Eastman war 1888 in doppelter<br />

Hinsicht der Ausdruck einer Revolution, weil er<br />

erstens nicht der Feder eines Kunsthistorikers<br />

entstammte, sondern der Werbeslogan eines Unternehmens<br />

war. Zweitens sprach er von nichts<br />

Keine Werke der<br />

bildenden Kunst<br />

geringerem, als dass die Kunst offenbar gerade<br />

ihr jahrh<strong>und</strong>ertealtes Monopol der Bildherstellung<br />

an alle Menschen verloren hatte, die den<br />

Knopf eines Fotoapparates drücken konnten. Tatsächlich<br />

sind heute ungeachtet der Forderung “Jeder<br />

Mensch ein Künstler” 99 Prozent der weltweiten<br />

Bildproduktion defi nitiv keine Werke der bildenden<br />

Kunst. Mich hatte schon lange irritiert,<br />

dass es mittlerweile zwar Berge an kunstge-


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 63<br />

schichtlicher Literatur darüber gibt, wie die Fotografi<br />

e sich zur Kunst entwickelt hat – als wäre das<br />

eine Aufholjagd gewesen, um mit der Malerei<br />

gleichzuziehen – kaum aber f<strong>und</strong>ierte Untersuchungen,<br />

wann <strong>und</strong> wie eigentlich die Kunst auf<br />

den oben beschriebenen Zustand eine passende<br />

Antwort gef<strong>und</strong>en hat. Der Schlüssel zum Verständnis<br />

dieses Prozesses sind die 1960er Jahre<br />

<strong>und</strong> die damals sichtbar gewordene, sehr weit reichende<br />

Befreiung der künstlerischen Formen.<br />

Damals rückten die Massenmedien praktisch zur<br />

gleichen Zeit in den Blick von Gesellschaft, Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Kunst. Die Konzeptkunst war es<br />

dann, die sich der seit längerem schon gängigen<br />

Praxis der Bildmedien entsprechend die Frage<br />

nach dem Verhältnis von Original <strong>und</strong> Reproduktion<br />

zu Eigen machte.<br />

Ein einfaches Beispiel: Die in einem Buch abgedruckte<br />

Fotografi e eines Gemäldes von Rubens<br />

Eine Idee existiert ja<br />

wohl nur im Kopf<br />

lässt ein eindeutiges Urteil darüber zu, was das<br />

Original ist. Das Museum hat es, ich aber nicht.<br />

Dieses Original existiert auch dann, wenn es im<br />

Depot steht <strong>und</strong> niemand es anschauen kann.<br />

Doch was oder wo ist das Original des gedruckten<br />

Pressefotos von einer Ausstellungseröffnung,<br />

oder gar der Übertragung eines Fußballspiels im<br />

Fernsehen? Oder was ist, wenn nur die Beschreibung<br />

einer künstlerischen Idee publiziert wird?<br />

Ein Ereignis als solches kann man nicht aufheben<br />

<strong>und</strong> eine Idee existiert ja wohl nur im Kopf. Die<br />

wirklich bahnbrechende Antwort der Konzeptkunst<br />

lautete: Dem traditionellen Original, das<br />

man im Museum aufsuchen muss, entspricht stets<br />

aufs Neue jene Situation, in der ein Betrachter<br />

mittels Bildmedium eine aktuelle Verbindung mit<br />

einer künstlerischen Idee beziehungsweise einem<br />

Ereignis herstellen kann. Mein Buch erläutert<br />

diesen Gedanken ausführlich in zwei Teilen, von<br />

denen wie gesagt der eine beschreibt, wie die bildende<br />

Kunst im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert allmählich auf<br />

die Bildwelt der Massenmedien zuging. Der andere<br />

Teil zeigt an einer Reihe von Beispielen,<br />

welche spezifi schen Eigenschaften des fotografi<br />

schen Bildes es waren, die diese Entwicklung<br />

erst ermöglicht haben.


02 SEPT. - 29. OKT. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 64<br />

Der Wert von Denkbruchstücken ist umso entscheidender,<br />

je weniger sie unmittelbar an der<br />

Gr<strong>und</strong>konzeption sich zu messen vermögen.<br />

Walter Benjamin (1925)<br />

Die Ausstellung indirect speech (Indirekte Rede)<br />

basiert auf sieben individuellen Geschichten, die<br />

sich mit der Übersetzung in der Produktion von<br />

kulturellen Formen beschäftigen. In diesen Formen<br />

codifi ziert sind Inhalte aus verschiedenen<br />

offenen Quellen (Disziplinen), die verschiedene<br />

Themen oder Charaktere analysieren oder erörtern.<br />

Der Schwerpunkt liegt weder auf einer Typologie<br />

der Quellen noch auf der konkreten, vom<br />

Künstler bestimmten Handlung zur Umfunktionalisierung<br />

des Quellenmaterials, sondern auf<br />

ihrer Deutung, Handhabung oder Übertragung;<br />

hingewiesen wird auf das, was im Übersetzungsprozess<br />

verloren geht, auf das, was ein Kunstwerk<br />

nicht völlig einfangen kann oder was ein Künstler<br />

hinzufügt um den Prozess zu vervollständigen.<br />

indirect speech befasst sich mit dem Verständnis<br />

indirect speech<br />

Nevin Aladag | Victor Alimpiev | Ştefan Constantinescu | Ciprian Mureşan |<br />

Ioana Nemeş | Ovekk_Finn | Pablo Pijnappel<br />

eines Kunstwerks als eines indirekten Sprechakts<br />

– Ergebnis eines Übersetzungsprozesses von einer<br />

Sprechakt-Form in eine andere. Die Aufmerksamkeit<br />

soll auf das, was während der Codi-<br />

Ergebnis eines Übersetzungsprozesses<br />

von<br />

einer Sprechakt-Form<br />

in eine andere<br />

fi kation der Quelle in der gegebenen Kunstform<br />

passiert, gerichtet werden. Das Projekt durchleuchtet<br />

das Problem von Verstehen/Missverstehen<br />

in der Kunst, wie wir den unmöglichen Bruch<br />

zwischen dem, „was gesagt wird“, <strong>und</strong> dem, „was<br />

präsentiert wird“, artikulieren.<br />

In der Ausstellung werden künstlerische Positionen,<br />

die sich nicht mit einer überkommenen Interpretation<br />

oder einem etablierten Kontext be-<br />

schäftigen, sondern Formen von Aushandlung<br />

oder Verlagerung zwischen Visualität, Textualität<br />

<strong>und</strong> Klang darstellen, zusammengebracht. Die<br />

Werke machen es sich nicht in einer festen Lage<br />

bequem. Die Ausstellung setzt sich kritisch mit<br />

der Steuerung <strong>und</strong> Einschätzung von Textualität<br />

<strong>und</strong> Klang in visuellen Mechanismen auseinander.<br />

Die Untersuchungen der Künstler sind keine<br />

einheitliche Formulierungen, sondern persönliche<br />

Strategien die als Ausgangspunkt ein Verständnis<br />

von der Kunst als sprachliche Realität<br />

haben. Wenn das Kunstwerk nicht auf der ersten<br />

Kommunikationsebene betrachtet wird, wird es<br />

zu einem indirekten Akt, zu einer Sprache, die es<br />

dem Künstler ermöglicht, das, was der ursprüngliche<br />

Sprechakt artikuliert, zu übersetzen, zusammenzufassen.<br />

In der Ausstellung indirect<br />

speech soll die Fähigkeit der Künstler, den Mechanismus<br />

zur Übersetzung durch Selbst-Refl ektion<br />

neu zu strukturieren, betont werden. Die


02 SEPT. - 29. OKT. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 65<br />

Ausstellung untersucht auch Fragen wie Unsicherheit<br />

in der Kunst, Sinndissonanzen als Refl ex<br />

eines kommunikativen Akts.<br />

Sinndissonanzen als<br />

Refl ex eines kommunikativen<br />

Akts<br />

Nevin Aladag<br />

Geboren 1972 in der Türkei. Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Berlin, ausgewählte Einzelausstellungen: Gemeinschaft<br />

des Augenblicks, Hebbel am Ufer,<br />

Berlin, 2006; ausgewählte Gruppenausstellungen:<br />

Check in-Europe, EPO, München, 2006;<br />

Coolhunters, ZKM, Karlsruhe, 2005; Love it or<br />

leave it, 5. Cetinje Biennale, Montenegro, 2004.<br />

Victor Aliempiev<br />

Geboren 1973 in Russland. Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Moskau. Ausgewählte Einzelausstellungen: Badischer<br />

<strong>Kunstverein</strong> Karlsruhe, 2006; OK Centrum<br />

für Gegenwartskunst, Linz, 2006, ausgewählte<br />

Gruppenausstellungen: 5. Berlin Biennale,<br />

2006; Venedig Biennale (zusammen mit Marian<br />

Zhunin) 2005; Manifesta 5, Donostia-San Sebastian,<br />

2005.<br />

Ştefan Constantinescu<br />

Geboren 1968 in Rumänien. Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Stockholm. Ausgewählte Einzelausstellungen:<br />

Malmö Konstmuseum, 2004; ausgewählte Gruppenausstellungen:<br />

Bukarest Biennale, 2006; Minnesbilder,<br />

Skulpturens Hus, Stockholm, 2005;<br />

Blick 2004, Moderna Museet, Stockholm, 2004.<br />

Ciprian Mureşan<br />

Geboren 1977 in Rumänien. Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Cluj. Ausgewählte Einzelausstellungen: Choose,<br />

plan b gallery, Cluj (RO), 2006; ausgewählte<br />

Gruppenausstellungen: Periferic Biennale, Iasi<br />

(RO), 2006; Motion Parade, Fotogalerie Wien,<br />

2005; Formate/Moving Patterns, <strong>Kunsthalle</strong><br />

Wien, 2004.<br />

Ioana Nemeş<br />

Geboren 1979 in Rumänien. Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Bukarest. Ausgewählte Einzelausstellungen: Title<br />

in work, Ellen de Buijne Projects, Amsterdam,<br />

2006; ausgewählte Gruppenausstellungen: Periferic<br />

Biennale, Iasi (RO), 2006; Fama Fluxus My-<br />

thos Beuys, Kunst+Projekte, Sindelfi ngen, 2006;<br />

On Difference 1, Württembergischer <strong>Kunstverein</strong><br />

Stuttgart, 2005.<br />

Ovekk_Finn<br />

Peter Szabo & Csaba Csiki, geboren 1978 / 1977<br />

in Ungarn <strong>und</strong> Rumänien. Leben <strong>und</strong> arbeiten in<br />

Budapest. Ausgewählte Klang-Projekte: Alapfok,<br />

Artpool, Budapest, 2006; BildMusic, M12, Berlin,<br />

2006; Gigazone, Millenáris, Budapest, 2005;<br />

AV 02 Motional, Cluj (RO), 2005; So<strong>und</strong>works<br />

(zusammen mit Susan Taylor, UK) Barcsay Room,<br />

Budapest, 2004.<br />

Pablo Pijnappel<br />

Geboren 1979 in Frankreich . Lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Amsterdam <strong>und</strong> Berlin. Ausgewählte Einzelausstellungen:<br />

Felicitas, SMBA, Amsterdam, 2005;<br />

ausgewählte Gruppenausstellungen: Mon image<br />

et moi, MAC/VAL, Paris, 2005; Present Tense,<br />

Fons Welters Gallery, Amsterdam, 2004.<br />

Kuratiert von Alina Şerban<br />

Übersetzung: Rhodes Barett


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 66<br />

Interview mit Alina Şerban<br />

Alina Şerban (geboren 1978 in Rumänien) arbeitet<br />

als Kunsthistorikerin <strong>und</strong> freischaffende Kuratorin<br />

in Bukarest <strong>und</strong> ist seit März 2006 Mitglied<br />

der Kuratorenwerkstatt der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum.<br />

Studium: 1998-2002 Studium der Kunstgeschichte<br />

<strong>und</strong> -theorie an der Nationalen Universität<br />

der Künste, Bukarest; 2002 -2005 Masterstudiengang<br />

Visuelle Studien an der Nationalen Universität<br />

der Künste, Bukarest<br />

Stipendien:<br />

IFA Rave Stipendium 2006; Felix Meritis Fo<strong>und</strong>ation<br />

- Gulliver Connect Grant an der Moderna<br />

Galerjia, Ljubljana 2005; Curator in Residence,<br />

Künstlerhaus Buchsenhausen, Innsbruck 2005;<br />

SICA-Stipendium für KuratorInnen <strong>und</strong> KunstjournalistInnen,<br />

Amsterdam 2004; Curator in<br />

Residence, KulturKontakt Wien 2004.<br />

Tätigkeiten:<br />

Herausgeberin von Arhitext. Architektur, Design<br />

<strong>und</strong> Kunst in Bukarest<br />

2002-2003 Kuratorin der Galerie Gallery, Bukarest<br />

Kuratorenwerkstatt<br />

2002-2003 Kuratorin des Studio 35, Bukarest<br />

Schreibt für inländische <strong>und</strong> internationale<br />

Kunstzeitschriften<br />

Ausstellungen: Minimal Diversions, Vector-Galerie,<br />

Iasi (Rumänien) 2006; Motion Parade, Fotogalerie<br />

Wien, 2005; In Between, Sibiu (Rumänien)<br />

2005; Longtime, Trafo, Budapest 2005.<br />

Kommende Projekte:<br />

15-22. Oktober 2006: AICA Kongress Paris,<br />

Critical Evaluation Reloaded<br />

17. November 2006: Henry Moore Institute<br />

Leeds, Assemblage, Bricolage and the Obsolete:<br />

A Symposium<br />

Seit März 2006 bist du Mitglied der Kuratorenwerkstatt<br />

der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum. Im<br />

September wirst du dein eigenes Ausstellungsprojekt<br />

in der Ausstellungsreihe 5 Tage bis zum<br />

Ende der Kunst präsentieren. Was versprichst<br />

du dir von der Beteiligung an der Kuratorenwerkstatt?<br />

Was interessiert dich am meisten an<br />

dieser Arbeit?<br />

Auf Gr<strong>und</strong> meines kunstgeschichtlichen <strong>und</strong> –<br />

theoretischen Hintergr<strong>und</strong>s bezieht sich mein<br />

Hauptinteresse in der Arbeit als Kurator auf die<br />

Performativität des kuratorischen Gestus, auf die<br />

Grenzlage zwischen Kunstpraktiken, Theorie<br />

Eine „Polyphonie von<br />

Stimmen“<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichem Eingriff. Ich betrachte sie<br />

als ein Mittel, um sich mit verschiedenen gesellschaftlichen<br />

Gruppen auseinanderzusetzen, um<br />

die Öffentlichkeit zu einer Reaktion zu bewegen<br />

oder um gewisse Fragen, die sich in einem ästhetischen<br />

oder gesellschaftlichen Zusammenhang<br />

stellen, zu beantworten. Gleichzeitig betrachte<br />

ich die kuratorische Arbeit als eine andere Art<br />

<strong>und</strong> Weise, eine Aussage zu treffen. Ich fi nde es<br />

J


UNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 67<br />

Ştefan Constantinescu, Dacia - My Generation (2004), Still


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 68<br />

eine wirklich gute Idee, eine Ausstellung als ein<br />

„offenes Werk“ zu verstehen, das nicht auf einem<br />

monologischen Diskurs, sondern auf einer „Polyphonie<br />

von Stimmen“ (nach Bakhtin), auf der Beteiligung<br />

von Künstlern <strong>und</strong> Kuratoren in der<br />

gleichen Art von Produktivität basiert. Bei mei-<br />

Ein Prozess der Einschläferung<br />

ner kuratorischen Arbeit geht es mir um die<br />

Schaffung einer Verbindung zwischen Einzelpersonen,<br />

zwischen eigenständigen Strukturen; es<br />

geht um eine unabhängige Einstellung zur Kultur.<br />

Für mich müssen sich Kuratorinnen <strong>und</strong> Kuratoren<br />

auf Gr<strong>und</strong> ihres geschichtlichen Verstandes<br />

bewusst sein, dass gewisse Fragen nicht durch einen<br />

Prozess der Einschläferung, sondern nur<br />

durch Engagement, durch Verpfl ichtung zum kul-<br />

Nevin Aladag, Voice Over, 2006


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 69<br />

turellen Experiment angegangen werden können.<br />

Ich verstehe die Einladung zur Teilnahme an der<br />

Kuratorenwerkstatt als eine große Herausforderung.<br />

Sie bietet mir nicht nur eine Gelegenheit in<br />

einem professionellen Zusammenhang zu arbei-<br />

ten, sondern auch durch die praktische Arbeit in<br />

der Kuratorenwerkstatt nach gewissen Antworten<br />

in Bezug auf die aktuelle Lage des Kuratorenberufs<br />

zu suchen.<br />

Du lebst als freischaffende Kuratorin in Bu-<br />

Ciprian Mureşan, Rhinoceros (2006), Still, Foto: Dan Acostioaei<br />

karest. An welchen Projekten hast du in letzter<br />

Zeit gearbeitet? Welche Ausstellungen hast du<br />

in der Vergangenheit kuratiert?<br />

Im Januar 2006 organisierte ich in der vom Vector-Verein<br />

in Iasi (Rumänien) betriebenen Vector-<br />

Galerie die Ausstellung Minimal Diversions. Bei<br />

diesem Projekt ging es um die verschiedenen Aspekte<br />

von spontanen Ablenkungen, die sich im<br />

Rahmen der künstlerischen Praxis als Reaktion<br />

Die verschiedenen<br />

Aspekte von spontanen<br />

Ablenkungen<br />

gegen Formen der Autorität entwickeln können.<br />

Die Ausstellung Motion Parade in der Fotogalerie<br />

Wien wurde als Einblick in die aktuellen<br />

Praktiken der zeitgenössischen Kunst in Rumänien<br />

konzipiert. Das Projekt beschäftigte sich mit<br />

der Identitätsumgestaltung bei der jüngeren Generation<br />

von Künstlern, die sich nicht mehr mit<br />

der nachkommunistischen Situation beschäftigen,<br />

sondern danach streben, sich die aktuelle<br />

Lage Rumäniens persönlich anzueignen. Das<br />

Projekt versuchte, den gegenwärtigen ästhetischen<br />

Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> den neuen Bezugsrahmen<br />

durch Aussagen von Künstlern darzustellen.<br />

Wie sehen die aktuellen Richtungen in der Bukarester<br />

Kunstszene aus? Welche Themen oder<br />

Fragen sind für die zeitgenössischen Künstler<br />

wichtig?


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 70<br />

Ioana Nemeş, Diorama of 20march_05_72 (2005)<br />

Mixed Media<br />

Ioana Nemeş, The Wall project (2004), Mixed Media<br />

Das ist eine problematische Frage, denn die<br />

Kunstszene ist gegenwärtig sehr anspruchsvoll,<br />

aber gleichzeitig sehr fragmentiert. Angesichts<br />

der Veränderungen, die stattfi nden, befi ndet sich<br />

die rumänische Kunstszene immer noch in einer<br />

Phase der Verunsicherung; sie ist auf der Suche<br />

Die Kunstszene Bukarests<br />

ist auf der Suche<br />

nach ihrer Position<br />

nach ihrer Position <strong>und</strong> fängt damit an, ihren geschichtlichen<br />

Weg zu überdenken. Ich glaube,<br />

dass die Künstler sich ihrer Rolle jetzt besser bewusst<br />

werden. Aus einer zwischenmenschlichen<br />

Perspektive beschäftigen sie sich mit öffentlichen<br />

Belangen; ihre Interventionen stören die in der<br />

Gesellschaft immer noch gehegten Gewohnheiten<br />

<strong>und</strong> Klischees. Die formale <strong>und</strong> konzeptionelle<br />

Sprache, die sie verwenden, ist durch einen alternativen<br />

Umgang mit dem gesellschaftlichen <strong>und</strong><br />

städtischen Raum charakterisiert, der mit dem<br />

vorherrschenden Verständnis von der Art <strong>und</strong><br />

Weise, wie die Kultur Teil des öffentlichen Raums<br />

sein kein, bricht.<br />

Während der diesjährigen Berliner Biennale<br />

hast du an einer internationalen Kuratorworkshop<br />

teilgenommen. Worum ging es? Welche<br />

Themen wurden diskutiert?<br />

Das Fast-Forward-Programm bestand aus einer<br />

Reihe von internen Workshops <strong>und</strong> Treffen mit<br />

Gastreferenten. Im Gr<strong>und</strong>e bestand die Werkstatt<br />

aus Präsentationen von Referenten <strong>und</strong> freien<br />

Diskussionen über Themen wie etwa: Wie defi -<br />

Was die Welt jetzt<br />

braucht, sind mehr<br />

Biennalen<br />

nieren Kuratoren ihre Rolle <strong>und</strong> Zuständigkeiten?<br />

Wo trifft sich die Ausstellungsarbeit von Künst-


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 71<br />

Ştefan Constantinescu, El Pasaje (2005), Still Pablo Pijnappel, Felicitas (2005), Courtesy carlier|<br />

gebauer<br />

lern <strong>und</strong> Kuratoren? Wie unzureichend sind die<br />

tradierten Ausbildungsmodelle von Kunstakademien,<br />

<strong>und</strong> wie haben sich kuratorische Schulen<br />

entwickelt? Was die Welt jetzt braucht, sind mehr<br />

Biennalen. Eine Besonderheit des Workshops wa-<br />

ren die „Künstlerpräsentationen“, wo wir dem<br />

Publikum einige der Positionen von Künstlern<br />

<strong>und</strong> Künstlerinnen, die bei der Biennale dabei<br />

waren, vorstellten. Meines Erachtens kündigt der<br />

Erfolg dieses Berliner Workshops einen neuen<br />

Generationsgeist an mit gemeinsamen Sorgen,<br />

Wünschen <strong>und</strong> Kritik.<br />

Übersetzung: Rhodes Barrett


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 72<br />

Amateur Anthropologist<br />

Die Kamera zeigt den Blick auf eine vierspurige<br />

Straße bei Dunkelheit, aufgenommen von der<br />

erhöhten Position einer Brücke. In einem endlosen<br />

Strom zieht der Verkehr, von dem nicht viel mehr<br />

wahrzunehmen ist als die Lichter der Scheinwerfer<br />

<strong>und</strong> das lärmende Rauschen der Autos, unter der<br />

Brücke hinweg. Filmische Überblendungen der<br />

Bilder vermehren die Anzahl der Autos <strong>und</strong><br />

Lichtkegel, der immer gleiche Strom vervielfältigt<br />

sich. Was zunächst aussieht wie der einfache<br />

Blick von einer Brücke, wird in der Wiederholung<br />

Starr neben ihren<br />

Wagen<br />

zu einem geisterhaft andauernden Moment<br />

gedehnt, bis der Verkehr ohne einen von Außen<br />

erkennbaren Gr<strong>und</strong> zum Erliegen kommt,<br />

Autotüren sich öffnen <strong>und</strong> die Insassen starr<br />

neben ihren Wagen stehen. Mysteriös erscheint<br />

die Handlung, die an eine Szene aus<br />

einem Science-Fiction-Film erinnert, in der<br />

die Menschen einer unbekannten Macht<br />

gegenüberstehen. Schließlich setzt sich der<br />

Verkehr wieder in Bewegung <strong>und</strong> mit ihm das<br />

Bild. Wie suchend schweift die Kamera über die<br />

Autos hinweg, als wolle man nach der Ursache<br />

des zuvor Geschehenen forschen oder eine<br />

Veränderung feststellen. Am Gedenktag der<br />

Gefallenen Soldaten (Soldier’s Memorial Day)<br />

rufen in Israel im ganzen Land aber Tausende von<br />

Sirenen dazu auf, die Arbeit für einen Moment<br />

lang niederzulegen <strong>und</strong> in einer Schweigeminute<br />

innezuhalten, um den gefallenen Soldaten Israels<br />

zu gedenken. Dieser Tag ist wie viele<br />

andere staatliche Gedenkveranstaltungen <strong>und</strong><br />

militärische Feiern identitätstiftendes Element<br />

<strong>und</strong> Teil nationaler Tradition, ein Akt, der<br />

innerstaatliche Einmütigkeit demonstriert <strong>und</strong><br />

Yael Bartana<br />

Yael Bartana, Trembling Time, 2001, Einkanal-Video- <strong>und</strong> So<strong>und</strong>-Installation, Videoprojektion, Farbe, 6.20 min.,<br />

So<strong>und</strong>track von Tao G. Vrhovec, Sambolec<br />

der staatlichen Selbstversicherung dient.<br />

Die israelische Künstlerin Yael Bartana nimmt<br />

diesen Moment des Innehaltens als Ausgangspunkt<br />

für ihre Videoarbeit Trembling Time. Es ist<br />

der Moment, in dem das gesamte Land nach<br />

staatlichen Vorgaben für eine Minute zum Stillstand<br />

kommt. Es scheint als komme in Trembling<br />

Time die Zeit zum Stillstand. Doch welchem<br />

Zweck folgt eine staatlich verordnete Gedenkminute<br />

tatsächlich? Welche Bedeutung hat diese<br />

Form des Gedenkens, diese öffentliche Bek<strong>und</strong>ung<br />

von Anteilnahme? Wenige Aufnahmen genügen<br />

Yael Bartana, um in Überblendungen <strong>und</strong><br />

Wiederholungen der Bilder der kollektiven Handlung<br />

des Gedenkens neue Lesarten hinzuzufügen<br />

(oder aufzudecken) <strong>und</strong> die Bedeutung eines solchen<br />

oktroyierten Staatsaktes gr<strong>und</strong>legend zu<br />

hinterfragen.<br />

Geboren 1970 in Afula studierte Yael Bartana zu-


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 73<br />

nächst in Jerusalem, bevor sie ihr Studium in<br />

New York fortsetzte. Heute lebt <strong>und</strong> arbeitet die<br />

Künstlerin in Amsterdam <strong>und</strong> Israel. Wie in<br />

Trembling Time, ihrer ersten Videoarbeit aus dem<br />

Jahr 2001, nimmt Bartana in vielen ihrer Videoarbeiten<br />

<strong>und</strong> –installationen die Position einer<br />

Die künstlerische Verfremdung<br />

des dokumentarischenMaterials<br />

Beobachterin ein, eine Perspektive, die Distanz<br />

einnimmt oder einen Abstand gewonnen hat zu<br />

etwas, was ehedem vertraut <strong>und</strong> alltäglich war.<br />

Oftmals richtet sich der Blick auf die Heimat, auf<br />

das alltägliche Leben in Israel <strong>und</strong> die Rituale<br />

<strong>und</strong> Repräsentationen eines Staates <strong>und</strong> seiner<br />

Bürger <strong>und</strong> fragt, was es mit solchen gemeinschaftlich<br />

vollzogenen Ritualen auf sich hat <strong>und</strong><br />

was sie über das Verhältnis von Staat <strong>und</strong> Individuum<br />

zum Ausdruck bringen:<br />

„Insbesondere im heutigen politischen Klima ist<br />

es wichtig, die Frage zu stellen, ob diese Rituale<br />

uns als Nation stärken, oder ob sie lediglich unsere<br />

Loyalität gegenüber dem Staat erhöhen, während<br />

sie unsere Fähigkeit, uns ein individuelles<br />

Urteil über die Situation zu bilden, aushöhlen.¹“<br />

Viele ihrer Arbeiten befragen die Konstitution<br />

der nationalen <strong>und</strong> kulturellen Identität des<br />

Staates Israel. Anhand von kleinsten Momentaufnahmen<br />

von Menschen, Handlungen <strong>und</strong> Ereignissen<br />

gelingt es ihr Fragen zu stellen, ohne sich<br />

einer einseitigen Kritik zu bedienen. Ihre Arbeiten<br />

geben keine unmittelbaren Antworten, vielmehr<br />

stellt sie ihre Beobachtungen dem Betrachter<br />

zur Verfügung. Ihre Methode ist die Beobachtung<br />

eines Ausschnitts oder eines Momentes,<br />

dessen Vieldeutigkeit oder Tiefgründigkeit Bartana<br />

entfaltet <strong>und</strong> lesbar macht. Die künstlerische<br />

Verfremdung des dokumentarischen Materials –<br />

die Überblendung, Verlangsamung <strong>und</strong> Wiederholung<br />

der Bilder, die Bearbeitung des So<strong>und</strong>s –<br />

lenkt den Blick auf dasjenige, das dem Gesehenen<br />

zugr<strong>und</strong>e liegt. Eine Suche nach dem Ursächlichen,<br />

nach dem durchscheinenden Abwesenden,<br />

nach dem, was nicht direkt ausgesprochen<br />

wird.<br />

Yael Bartana spricht in diesem Zusammenhang<br />

von „amateurhafter Anthropologie“, ein Ausdruck,<br />

entlehnt bei der kanadischen Schriftstellerin<br />

Eva Hoffman, die so das besondere Verhältnis<br />

von Immigranten zu alter <strong>und</strong> neuer Heimat<br />

umschreibt:„Eva Hoffman sagt, dass jeder Im-<br />

migrant zu einer Art von Amateur-Anthropologe<br />

wird. Amateur stammt von ‚amor’ ab, worin die<br />

Liebe als Motivation für Handlung <strong>und</strong> Praxis<br />

zum Ausdruck kommt. Ich habe in Bezug auf<br />

meine Arbeiten darüber nachgedacht. […] Die Intensität<br />

des täglichen Lebens macht es unmöglich,<br />

einen distanzierten oder kritischen Blick<br />

einzunehmen.“²<br />

Nach Jahren im Ausland erlaubt es Yael Bartana<br />

umgekehrt die Rückkehr nach Israel eine solche<br />

kritische Distanz zur Heimat einzunehmen. Etwa,<br />

wenn sie in der Videoinstallation Profi le (2000)<br />

junge Frauen beim Schießtraining im Rahmen ihres<br />

Wehrdienstes der IDF (Israel Defence Forces)<br />

in den Mittelpunkt ihrer Beobachtung stellt, einen<br />

Militärdienst, den sie selbst als junges Mäd-<br />

Yael Bartana, Profi le, 2000, Einkanal-Video- <strong>und</strong> So<strong>und</strong>-Installation, Monitor, Kopfhörer, Farbe, 3 min., geloopt<br />

Amateur stammt von<br />

‚amor’ ab<br />

chen absolvierte. Profi le zeigt junge Frauen bei<br />

Schießübungen. In Nahaufnahme sehen wir eine<br />

Frau im Profi l, die in konzentrierter Vertiefung<br />

einstudierte Handlungsabläufe mit der Waffe ausführt:<br />

das Bereitmachen des Gewehrs, das Zielen,<br />

Warten, Schießen, um schließlich erneut die Waffe<br />

für den nächsten Schuss bereit zu machen, unterbrochen<br />

nur von Bildern der Pappfi guren mit<br />

Zielfeldern, auf die geschossen wird. Es entsteht<br />

eine unmittelbare Nähe zu der Frau auf dem Monitor,<br />

der wir quasi zur Seite stehen, <strong>und</strong> nicht<br />

zuletzt durch die Ähnlichkeit der Kopfhörer fühlen<br />

wir uns in die Reihe der Schießenden aufgenommen.<br />

Charles Esche kommentiert: „ So fühlen<br />

wir die simulierte Konfrontation mit dem<br />

Feind nach, erfahren die Begegnung <strong>und</strong> besetzen<br />

die fremdartige Rolle des Soldaten, des Gesetzesvollstreckers<br />

<strong>und</strong> des potentiellen Mörders.“³ In<br />

der unmittelbaren <strong>und</strong> einfachen Beobachtung ei-


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 74<br />

ner Soldatin offenbart sich Bartanas Kritik an der<br />

als Normalität angenommenen allgegenwärtigen<br />

Militarisierung Israels <strong>und</strong> der mythischen Überhöhung<br />

von Militär <strong>und</strong> Feindbild.<br />

Wie sich in Bartanas Verweis auf die Anthropologie<br />

als Referenz ihres Interesses <strong>und</strong> ihrer<br />

Arbeitsweise bereits andeutete, untersucht die<br />

Künstlerin das weite Feld der kulturellen Traditionen<br />

<strong>und</strong> Institutionen, deren Konventionen <strong>und</strong><br />

Verhaltensweisen Einfl uss auf das Handeln <strong>und</strong><br />

Denken des Einzelnen nehmen <strong>und</strong> unmittelbar<br />

einengen <strong>und</strong> festlegen. Und so lässt sich im Blick<br />

auf die Arbeiten Trembling Time <strong>und</strong> Profi le darüber<br />

hinaus die Frage stellen, welche Bedeutung<br />

kollektive Erfahrungen in Bezug auf die natio-<br />

nale, aber auch die individuelle Identität haben.<br />

Die traditionellen Wurzeln können wie in der Videoarbeit<br />

When Adar enters auch viel weiter zurückliegen.<br />

When Adar enters verfolgt das bunte<br />

When Adar enters verfolgt<br />

das bunte Treiben<br />

an Purim<br />

Treiben an Purim. Das Purimfest wird nach dem<br />

jüdischen Kalender im Monat Adar (Februar/<br />

März) gefeiert <strong>und</strong> erinnert an die „Errettung des<br />

jüdischen Volkes aus der drohenden Gefahr in der<br />

persischen Diaspora“. Nach der Überlieferung<br />

des Buches Esther wird die drohende Vernich-<br />

tung der Juden im Perserreich auf Befehl Hamans<br />

mit Hilfe der Königin Esther abgewendet. Am<br />

Purimfest nehmen die Verkleidungen Bezug auf<br />

die biblische Geschichte: Esther <strong>und</strong> der König<br />

Ahasveros sind ebenso vertreten wie der persische<br />

Befehlshaber Haman <strong>und</strong> die einfache jüdische<br />

Bevölkerung – man feiert ausgelassene<br />

Feste, zu denen man sich mit Speisen <strong>und</strong> Getränken<br />

beschenkt, <strong>und</strong> zieht durch die Straßen.<br />

Beobachtungen dieses Festes in Jerusalem <strong>und</strong><br />

Bney Brak, in Vierteln die mehrheitlich von<br />

Chassidim 4 bewohnt sind, sind die Gr<strong>und</strong>lage für<br />

Bartanas Film When Adar enters. Szenen des alltäglichen<br />

Lebens auf der Straße vermischen sich<br />

mit denen des Festes <strong>und</strong> lassen eine seltsam<br />

fremdartiges Bild entstehen, in dem verschiedene<br />

Welten aufeinander treffen (der moderne, westlich<br />

orientierte Staat, der Bezug auf die biblische<br />

Geschichte <strong>und</strong> die verschiedenen Ausprägungen


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 75<br />

des Judentums sind hierbei wohl die augenfälligsten).<br />

Ohne Narration oder eine unmittelbar<br />

auf einen Höhepunkt zulaufende Dramaturgie<br />

vermittelt der Film das Gefühl, dass etwas Un-<br />

man feiert ausgelassene<br />

Feste, zu denen<br />

man sich mit Speisen<br />

<strong>und</strong> Getränken beschenk<br />

heilvolles oder Bedrohliches bevorsteht. Überblendungen<br />

<strong>und</strong> das wiederholte Aufscheinen<br />

einzelner Personen, die Verlangsamung des Materials<br />

sowie die Bewegungen der Handkamera<br />

unterstreichen die latente Unruhe <strong>und</strong> die vorherrschende<br />

hektische Atmosphäre. Insbesondere<br />

durch die Unmittelbarkeit des So<strong>und</strong>s, in dem<br />

sich Polizeisirenen, Straßenlärm <strong>und</strong> Autohupen<br />

mit Oboenmusik vermischen, wird man in die<br />

Geschehnisse vor Ort aufgesogen, <strong>und</strong> schaut<br />

Yael Bartana, Kings of the Hill, 2003, Einkanal-Videoinstallation, Videoprojektion, Farbe, 7.30 min.


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 76<br />

Yael Bartana, When Adar Enters, 2003, Einkanal-Video-<br />

<strong>und</strong> So<strong>und</strong>-Installation, Videoprojektion, Farbe,<br />

7 min.<br />

doch von Außen. Mehr <strong>und</strong> mehr drängt sich das<br />

Gefühl des Verhängnisvollen auf <strong>und</strong> der Eindruck<br />

der Ausgelassenheit des Festes wird zunehmend<br />

von einer unterschwelligen Unsicherheit<br />

Man wird in die Geschehnisse<br />

vor Ort<br />

aufgesogen<br />

getrübt. Zeichnen sich hier die inneren Risse, die<br />

gesellschaftlichen <strong>und</strong> kulturellen Widersprüche<br />

der komplexen <strong>und</strong> konfl iktgeladenen Konstruktion<br />

von Land, Volk <strong>und</strong> Staat Israel ab?<br />

Das Verhältnis zum „Land“ ist auch in der Videoarbeit<br />

Kings of the Hill (2003) vielschichtig lesbar.<br />

Kings of the Hill zeigt die (all-)abendliche<br />

Freizeitbeschäftigung israelischer Männer der<br />

oberen Mittelschicht. An einem hügeligen Kü-<br />

stenstreifen in der Nähe Tel-Avivs demonstrieren<br />

sie Geschicklichkeit <strong>und</strong> Kraft, wenn sie Steilhänge<br />

<strong>und</strong> unwegbares Gelände mit ihren Jeeps<br />

bewältigen. Die symbolischen <strong>und</strong> politischen<br />

Implikationen dieser Form der modernen Land-<br />

Die (all-)abendliche<br />

Freizeitbeschäftigung<br />

israelischer Männer<br />

nahme <strong>und</strong> Eroberung, in der das allradgetriebene<br />

Geländefahrzeug Zeichen ökonomischer<br />

Kraft, des sozialen Status <strong>und</strong> vor allem aber der<br />

männlichen Potenz ist, bleibt den wetteifernden<br />

Männern sicher verborgen. Das als besonders angenommene<br />

Verhältnis der jüdischen Kultur zum<br />

Land – des Volkes, das nach biblischer Geschichte<br />

von Gott in das ‚gelobte Land’ geführt wurde<br />

– fi ndet seinen Ausdruck unter anderem in der<br />

Figur des Siedlers, der sein Land kultiviert. Ein<br />

Bild, das auf groteske Weise verkehrt wird, wenn<br />

um seiner selbst willen das Land mit Maschinenkraft<br />

bezwungen wird <strong>und</strong> nichts als Verwüstung<br />

zurückbleibt. Die israelische Autorin Galit Eilat<br />

erkennt in diesem ritualisierten <strong>und</strong> motorisierten<br />

Bezwingen der Hügel Ideale, die im Zusammenhang<br />

mit der modernen israelischen Gesellschaft<br />

konstruiert wurden:„Eines dieser Ideale ist das<br />

des ‚neuen Juden’ als ‚Pionier’ <strong>und</strong> ‚Farmer <strong>und</strong><br />

Soldat’. Dieses Ideal, das von der zionistischen<br />

Arbeiterbewegung in den 1920er Jahren geformt<br />

wurde, sah den ‚neuen Juden’ gleichzeitig als<br />

Kämpfer gegen die Erde, die Araber <strong>und</strong> die<br />

Bourgeoisie der Mittelstands, der die Wüste erobert<br />

<strong>und</strong> die Wildnis kultiviert. Diese Repräsentation<br />

verbindet sich mit dem revisionistischen<br />

Ideal, welches großen Wert auf Evolution <strong>und</strong> Reform<br />

legte, um das Bild des ‚kämpfenden Gentleman’,<br />

des ‚großmütigen <strong>und</strong> zugleich schonungslosen<br />

Helden’ zu formen, der sich nach dem Prinzip<br />

‚herrsche oder stirb’ leiten lässt.“ 5<br />

Wie in diesen kurz vorgestellten Arbeiten von<br />

Yael Bartana ist auch in vielen anderen ihrer<br />

Filme <strong>und</strong> Videoinstallationen die israelische<br />

Heimat Ausgangspunkt der Frage, wie sich individuelle,<br />

kulturelle <strong>und</strong> nationale Identität formen,<br />

welchen Einfl uss kollektive Erfahrungen<br />

nehmen, wie sie sich scheinbar unbemerkt ab-<br />

‚Herrsche oder stirb’<br />

zeichnen. Bartanas Arbeiten gelingt es, einen<br />

Einblick in die israelische Gesellschaft, in jüdische<br />

Kultur <strong>und</strong> das alltägliche Leben zu geben,<br />

der uns in der Regel in dieser Form nicht<br />

bekannt ist. Israel ist in den Medien nur durch<br />

den andauernden Konfl ikt mit Palästina präsent,<br />

etwa über erneute oder gescheiterte Friedensverhandlungen,<br />

die Auseinandersetzungen jüdischer<br />

Siedler mit dem israelischen Militär in den besetzten<br />

Gebieten oder durch Selbstmordattentate<br />

in Israels urbanen Zentren. Auch Bartanas Arbeiten<br />

verschweigen diesen Konfl ikt nicht, sondern<br />

spüren den Auswirkungen, der Schwere, der Intensität,<br />

aber auch den Eigenartigkeiten, die diese


24.SEPT. - 26.NOV. 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 77<br />

Situation nach sich ziehen kann, nach. Mit der<br />

Kamera isoliert sie stereotypisierte Handlungen,<br />

Rituale oder Elemente des Alltags <strong>und</strong> seziert diese<br />

in der Verfremdung des dokumentarischen Materials<br />

weiter. Was zum Vorschein kommt, sind die<br />

Dinge, die unter der Oberfl äche schwelen. Und so<br />

sind ihre Beobachtungen zwar in Israel gemacht,<br />

lassen sich aber in ihrer Durchdringung gesellschaftlicher<br />

Strukturen <strong>und</strong> deren Erscheinungsformen<br />

auch auf andere Kontexte übertragen.<br />

Kuratiert von Birgit Eusterschulte<br />

Alle Abbildungen: Courtesy Annet Gelink<br />

Gallery, Amsterdam<br />

1 Manifesta 4, Frankfurt / M., Ausst.-Kat., Ostfi ldern-<br />

Ruit 2002, S. 170<br />

2 „A Conversation with Yael Bartana. Galit Eilat“, in:<br />

Yael Bartana, Ausst.-Kat. Van Abbemuseum, Eindhoven<br />

2005 [Übersetzung B.E.]<br />

3 Charles Esche, “Yael Bartana”, in: Cream 3, New<br />

York, S. 59 [Übersetzung B.E.]<br />

4 Anhänger des Chassidismus, einer im 18. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

entstandenen religiösen Bewegung des osteuropäischen<br />

Judentums, die der starren Gesetzeslehre eine lebendige<br />

Frömmigkeit entgegensetzt.<br />

5 Galit Eilat, „Yael Bartana“, in: Wherever I am,<br />

Ausst.-Kat., Modern Art Oxford, Oxford 2004, S. 17<br />

[Übersetzung B.E.]


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 78<br />

Olaf Metzel über die Kunst des Sporttreibens<br />

Es gibt Leute, die gehen ins Stadion, <strong>und</strong> es gibt Leute, die gehen ins Museum.<br />

Manche tun beides<br />

Olaf Metzel, 1998, Foto: Roman Mensing/ artdoc.de<br />

Im Sommer 2006 werden die kulturellen Institutionen<br />

in Deutschland noch härter als sonst<br />

darum kämpfen müssen, Publikum oder Touristen<br />

in ihre Häuser zu ziehen. Hauptkonkurrent<br />

ist die vom 9. Juni bis 9. Juli stattfi<br />

ndende Fußballweltmeisterschaft. Hervorragendes<br />

Sommerwetter wird sein übriges dazu<br />

beitragen, das Interesse der gewohnten Besucher<br />

zu verlagern. Auch die Medien werden<br />

sich ausschließlich den Spielen widmen. Wird<br />

es also überhaupt ein anderes Gesprächsthema<br />

geben in diesem Sommer? Auch unser Frideri-<br />

Wird es also überhaupt<br />

ein anderes<br />

Gesprächsthema geben<br />

in diesem Sommer?<br />

cianum Magazin ein+alle will sich nicht länger<br />

diesem außerordentlich wichtigen Thema entziehen<br />

<strong>und</strong> sprach mit dem Künstler Olaf Metzel,<br />

der sich immer wieder mit dem Thema Sport<br />

beschäftigt hat.<br />

Es gibt Menschen, die niemals ein Stadion be-<br />

Olaf Metzel, Velodromo, 1998, Arte all’Arte,, Montalcino<br />

treten würden, genauso gibt es Menschen, die<br />

niemals ihren Fuß in ein Museum setzen, geschweige<br />

denn eine kulturelle Veranstaltung<br />

aufsuchen würden. Gibt es etwas, oder könnte<br />

man etwas tun, um die Menschen in der kommenden<br />

Zeit vor einem Dasein vor dem Fernseher<br />

zu bewahren? Meinen Sie, dass die „Fußballklientel“<br />

normalerweise auch ständiger<br />

Gast bei Kulturveranstaltungen ist?<br />

Bevor die WM überhaupt angefangen hat, kann<br />

kaum noch jemand das Wort Fußball hören. Mir<br />

geht es genauso. Spannend wird es aber trotzdem.<br />

Ich denke dabei u. a. an die Reisewarnungen für<br />

Farbige, sich in bestimmten Teilen Deutschlands<br />

aufzuhalten. Mit anderen Worten: die begleitenden<br />

Ereignisse könnten das Motto „zu Gast bei<br />

Fre<strong>und</strong>en“ erheblich überlagern. Sport als gesellschaftliches<br />

Phänomen, als Ventil für die Gewaltbereitschaft.<br />

Die Hooligans interessieren sich<br />

doch gar nicht mehr fürs Fußballspiel, kommen<br />

auch gar nicht mehr in die Stadien rein. Sie sind


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 79<br />

die Fre<strong>und</strong>e der dritten Halbzeit.<br />

Andererseits dürfen wir die Massen an Touristen,<br />

die bald deutsche Städte überfl uten werden<br />

auch nicht außer Acht lassen. Diese Tatsache<br />

haben sich ja schon einige kulturelle Institutionen<br />

zunutze gemacht. In den Opelvillen,<br />

Bevor die WM überhaupt<br />

angefangen hat,<br />

kann kaum noch jemand<br />

das Wort Fußball<br />

hören<br />

im Rüsselsheimer Zentrum, widmet sich zum<br />

Beispiel eine ganze Ausstellung zeitgenössischer<br />

Kunst dem Phänomen Fußball. Unter<br />

dem Titel Geld schießt keine Tore! stellen 20<br />

deutsche <strong>und</strong> internationale Künstler sowie<br />

Künstlergruppen ihre themenbezogenen Werke<br />

aus <strong>und</strong> in Berlin zeigt das Museum für Fotografi<br />

e Bilder der Fotografi n Regina Schmeken<br />

mit dem Titel Unter Spielern. In Nürnberg<br />

sorgte die Ausstellung Das große Rasenstück<br />

im öffentlichen Raum bereits für erheblichen<br />

Wirbel. Speziell Ihre Installation Auf Wiedersehen<br />

löste unter den Nürnbergern hitzige Debatten<br />

aus. Die auf dem Schönen Brunnen am<br />

Hauptmarkt angebrachten 780 Stadionsitze aus<br />

dem Berliner Olympiastadion sind eher ein<br />

Schock für die Bevölkerung, ist der Brunnen<br />

doch ihr Wahrzeichen <strong>und</strong> damit tief in ihre<br />

Emotionen eingebettet. Was war Ihr ursprünglicher<br />

Beweggr<strong>und</strong> für diese Skulptur? Wie war<br />

ihre Reaktion auf die zum Teil sehr schroffen<br />

Beschimpfungen?<br />

Der Hauptmarkt, also der Platz, auf dem sich die<br />

Skulptur befi ndet, sieht nicht anders aus als andere<br />

Innenstadtbereiche deutscher Städte: zugemüllt<br />

mit der Einheitsarchitektur der großen Warenhausketten<br />

sowie der üblichen Sek<strong>und</strong>ärarchitektur,<br />

eben dem Warenkorb der Alltagsästhetik.<br />

Olaf Metzel, Auf Wiedersehen, 2006<br />

Foto: Wolfgang Günzel<br />

Das einzige Juwel ist der schöne Brunnen <strong>und</strong> das<br />

ist auch nur eine Replik. Während des Krieges<br />

wurde er zum Schutz ummantelt, als ringsherum<br />

die Stadt in Schutt <strong>und</strong> Asche fi el. Während der<br />

WM werden Großbildleinwände, Biertische <strong>und</strong><br />

Zelte auf dem Hauptmarkt – so etwas wie die gute<br />

Stube Nürnbergs – aufgestellt. Das Projekt besteht<br />

aber nicht nur aus einer Skulptur im herkömmlichen<br />

Sinne, sondern war <strong>und</strong> ist eher als<br />

mediale Arbeit angelegt, eine wirkliche Reality<br />

Soap, nicht im Container, sondern auf dem Hauptmarkt<br />

<strong>und</strong> beendet ist die Arbeit erst dann, wenn<br />

sie wieder abgebaut wird.<br />

Sport hat immer etwas mit Nationalität <strong>und</strong> Patriotismus<br />

zu tun. Wenn es um Sport geht, erfährt<br />

nationale <strong>und</strong> lokale Identität ein erhebliches<br />

Wachstum, nicht selten ohne Gewalt.<br />

Lieder, Parolen, in den Landesfarben bemalte<br />

Gesichter <strong>und</strong> entsprechenden Outfi ts lassen zu<br />

Zeiten sportiver Events Rückschlüsse auf die<br />

Haltung <strong>und</strong> Positionierung einer jeweiligen<br />

Person ziehen. H<strong>und</strong>erte, gar tausende Menschen<br />

hocken vor dem Fernseher oder versammeln<br />

sich auf öffentlichen Plätzen. Also haben<br />

die Spiele auch eine starke soziale Komponente.<br />

Sie vereinigen Kulturen <strong>und</strong> Nationen <strong>und</strong><br />

zersplittern sie im gleichen Atemzug. Inwieweit<br />

haben Sie mit ihrer Skulptur die Nürnberger<br />

Identität berührt?<br />

Es geht weniger um Nürnberger Identität, sondern<br />

um gesamtdeutsche gesellschaftliche Phänomene,<br />

so etwas könnte genauso gut in Kassel<br />

oder anderswo stattfi nden. Diejenigen, die mit<br />

Bierfl aschen <strong>und</strong> Eistüten geworfen haben, die<br />

„Drecksack“ oder „Saujude“ gerufen haben, sind<br />

nicht irgendwelche durchgeknallten Rentner. Das<br />

„Publikum“ zieht sich durch alle Generationen.<br />

Kunst – <strong>und</strong> das war das eigentlich überraschende<br />

– dient immer noch als Ventil. Damit möchte ich<br />

natürlich nicht den Beitrag der Boulevardpresse<br />

schmälern, die ja auch zum „öffentlichen Raum“<br />

gehört. Wenn man in der Bild auf der ersten Seite<br />

abge“Bild“et ist <strong>und</strong> liest, „noch lacht der Künstler“,<br />

oder die Abendzeitung mit der Titelseite,<br />

Kunst dient immer<br />

noch als Ventil<br />

„Hackt dem Künstler die Hände ab“, dann bekommt<br />

man einen präziseren Eindruck von der<br />

Formulierung, die die Printmedien als 4. Gewalt<br />

bezeichnet.<br />

Für die 4. Istanbul Biennale 1995 bauten Sie<br />

den Kiosk Besiktas Jimnastik Külübü, in dem<br />

Fanzubehör, Zeichnungen des Trainers, T-<br />

Shirts, usw. des türkischen Fußballvereins Besiktas<br />

<strong>und</strong> seines deutschen Trainers Christoph<br />

Daum gezeigt wurden. Die Pressekonferenz <strong>und</strong><br />

Eröffnung der Biennale wurde zum absoluten


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 80<br />

Olaf Metzel, Besiktas Jimnastik Kulübü, 1995 , (in Zusammenarbeit mit Christoph Daum), 4th International Istanbul<br />

Biennial<br />

Medienspektakel, weil das ganze Team, der<br />

Trainer <strong>und</strong> mehrere Sportjournalisten anwesend<br />

waren. Könnten Sie uns noch etwas über<br />

Ihre damaligen Beweggründe sagen <strong>und</strong> welchen<br />

Einfl uss die damalige Medienpräsenz auf<br />

Sie persönlich hatte?<br />

Der Einfl uss der Sportberichterstattung auf den<br />

Sport selber ist von enormer Bedeutung. Auf diese<br />

Auseinandersetzung <strong>und</strong> den damit verb<strong>und</strong>enen<br />

medialen Druck zielte die Arbeit mit Christoph<br />

Daum ebenso ab wie Auf Wiedersehen. Besiktas<br />

Jimnastik Külübü wird übrigens in Florenz<br />

in der Ausstellung The Human Game Winners<br />

and Loosers, kuratiert von Francesco Bonami zu<br />

sehen sein. Ein weiteres Projekt Best, eine Hommage<br />

an George Best, der im letzten Jahr verstorben<br />

ist, wird im Museum für Bildende Künste in<br />

Leipzig zu sehen sein. Im Mittelpunkt steht hier<br />

der Film, in dem die Kamera 90 min. nur auf<br />

George Best gerichtet ist.<br />

Wie würden Sie Ihre Beziehung zum Sport im<br />

Allgemeinen <strong>und</strong> Fußball im Besonderen be-<br />

„Hackt dem Künstler<br />

die Hände ab“<br />

zeichnen? Haben Sie nicht sogar selbst einmal<br />

gespielt?<br />

Stimmt. Ich habe früher selbst gespielt, als Linksaußen.<br />

Wenn ich sagte, ‚Trainer, nimm mich raus,<br />

ich kann nicht mehr‘, sagte der: ‚Du bleibst so<br />

lange drin, bis eine Ecke von rechts kommt.‘ Die<br />

Ecken habe ich immer angetäuscht, dann in den<br />

Rücken der Abwehr gespielt, <strong>und</strong> der Ball war<br />

drin. Danach durfte ich runter.<br />

In Ihren Arbeiten trifft man immer wieder auf<br />

Elemente des Sports. Die Kunst wird oft als das<br />

Gegenstück des Sports bezeichnet, besonders<br />

auffällig wird dies, wenn es um das so genannte<br />

Sponsoring geht. Immer mehr Sponsoren<br />

„schießen“ im wahrsten Sinne des Wortes ihre<br />

Gelder in Sportevents. Liegt dies Ihrer Ansicht<br />

nach allein daran, dass der Sport eine andere<br />

<strong>und</strong> breitere Präsenz darstellt? Lassen sich Ihrer<br />

Meinung nach Kunst <strong>und</strong> Sport vereinigen?


Wie könnte dies aussehen?<br />

„Es gibt Leute, die gehen ins Stadion, <strong>und</strong> es gibt<br />

Leute, die gehen ins Museum. Manche tun<br />

beides.“ So hatte ich ja 1995 Christoph Daum zur<br />

gemeinsamen Arbeit eingeladen. Es gibt aber<br />

noch andere Sportarten als Fußball. Zum Beispiel<br />

Fahrradfahren. Als ich 1998 in Montalcino zum<br />

Projekt Arte all‘arte eine Fahrradrennbahn gebaut<br />

hatte, war alles optimal miteinander verb<strong>und</strong>en,<br />

die Sponsoren hatten ihre Logos auf dem<br />

JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 81<br />

‚Du bleibst so lange<br />

drin, bis eine Ecke von<br />

rechts kommt.‘<br />

Objekt, die Bevölkerung Brot <strong>und</strong> Spiele – statt<br />

Brot war es natürlich Pasta. Angekündigt als „Il<br />

Granfondo dell Brunello“ in der Gazetta dello<br />

Sport verfolgte die RAI (ital. Fernsehen) das<br />

Rennen vom Hubschrauber aus. Natürlich hatte<br />

es Eventcharakter, aber so war es auch gemeint.<br />

Wenn man sich im öffentlichen Raum bewegt,<br />

sollte man keine Berührungsängste haben.<br />

Interview Kaisa Heinänen


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 82<br />

Kaisa Heinänen, geb. 1979 lebt <strong>und</strong> arbeitet in<br />

Helsinki.<br />

Nach der Schule studierte sie ein Jahr Holländisch<br />

<strong>und</strong> später Kunstgeschichte an der Universität<br />

von Leiden. Im Jahr 2004 beendete sie dort<br />

ihr Studium mit einer Examensarbeit, die sich mit<br />

der Identitätskonstruktion in den Videoarbeiten<br />

der fi nnischen Künstlerin Eija-Liisa Ahtilla auseinandersetzte.<br />

Im Jahr 2005 besuchte sie als<br />

Kunstkritikerin mit einem Stipendium der Edvard<br />

Richter Gesellschaft für Bildende Künste<br />

die Venedig Biennale. Seit April ist sie mit einem<br />

Stipendium von FRAME (Finnisch F<strong>und</strong> for Art<br />

Exchange) im Team der <strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum<br />

<strong>und</strong> unterstützt uns bei den anstehenden<br />

Ausstellungsprojekten.<br />

Tätigkeiten:<br />

Mitarbeit bei Kiasma <strong>und</strong> Kehys sowie in der<br />

Sammlung des Wäinö Aaltonen Kunst Museums<br />

in Turku, Finnland, welches auf Skulpturen spezialisiert<br />

ist. Sie arbeitete kuratorisch an einer<br />

Fotokunst-Ausstellung der Universität Leiden mit<br />

<strong>und</strong> bei FRAME für das Magazin Framework.<br />

Die Ausstellung Selbstauslöser, die sich den<br />

Arbeiten von fünf fi nnischen Künstlerinnen<br />

widmete, wurde im Dezember 2005 gemeinsam<br />

mit FRAME (Finnish F<strong>und</strong> for Art Exchange)<br />

realisiert. Du hast in Helsinki einige Zeit bei<br />

Interview mit Kaisa Heinänen<br />

FRAME funktioniert<br />

als Bindeglied zwischen<br />

internationalen<br />

Institutionen<br />

FRAME gearbeitet. Welche Aufgabe hat FRA-<br />

ME <strong>und</strong> wie sieht die konkrete Arbeit dort aus?<br />

Ich habe bereits zweimal für FRAME gearbeitet<br />

<strong>und</strong> war zuständig für das Magazin Framework.<br />

Ich war als Assistentin der Herausgeberin mit redaktionellen<br />

Tätigkeiten betraut. FRAME vergibt<br />

Stipendien an fi nnische Künstler, um an Ausstel-<br />

lungen im Ausland teilnehmen zu können <strong>und</strong> eigene<br />

Projekte zu realisieren. FRAME funktioniert<br />

als Bindeglied zwischen internationalen Institutionen,<br />

die gerne fi nnische Kunst ausstellen<br />

wollen <strong>und</strong> fi nnischen Künstlern, die Ausstellungen<br />

im Ausland realisieren wollen. Die Arbeit<br />

von FRAME ist somit nicht nur aus fi nanziellen<br />

Gründen sehr wichtig, sondern auch in Bezug auf<br />

die Vermittlung fi nnischer Kunst. Zusätzlich lädt<br />

FRAME auch Kuratoren für Residence-Programme<br />

nach Helsinki ein.<br />

In letzter Zeit fi nden gerade in Deutschland (in<br />

Berlin <strong>und</strong> Bonn) mehrere Ausstellungen statt,<br />

die sich der fi nnischen Kunst widmen. Woher<br />

glaubst du kommt diese aktuelle Interesse? Gibt<br />

es überhaupt so etwas wie die fi nnische Kunst?<br />

Das ist sicherlich vor allem eine Defi nitionsfrage.<br />

Natürlich kann man die Kunst nach der Herkunft<br />

der Künstler verorten. Aber ob es etwas absolut<br />

Finnisches in diesen Arbeiten gibt, ob es eine<br />

Verbindung zwischen ihnen gibt, die auch für<br />

Außenstehende sichtbar ist, würde ich bezweifeln.<br />

Zum anderen teilen fi nnische Künstler die<br />

Erfahrungen ihrer internationalen Kollegen: Sie<br />

reisen um die halbe Welt für ihre Ausstellungsprojekt,<br />

arbeiten oftmals im Ausland <strong>und</strong> sammeln<br />

ähnliche Eindrücke. Ich kenne die deutsche


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 83<br />

Kunstszene zu wenig, um sagen zu können, woher<br />

dieses Interesse an der fi nnischen Kunst rührt. Es<br />

fi ng alles mit der Bekanntheit des fi nnischen Designs<br />

an. Und vielleicht hat dies die Aufmerksam-<br />

Ob es eine speziell<br />

fi nnische Kunst gibt,<br />

würde ich bezweifeln<br />

keit auch auf den Bereich der Bildenden Kunst<br />

gelenkt.<br />

FRAME gibt unter anderem auch das Magazin<br />

Framework heraus, an dem du redaktionell<br />

mitgearbeitet hast. Von der Idee ähnelt es sehr<br />

dem Fridericianum Magazin ein+alle. Worin<br />

siehst du Gemeinsamkeiten oder Unterschiede?<br />

Das ein+alle-Magazin ist sehr stark mit der Institution<br />

<strong>Kunsthalle</strong> Fridericianum verb<strong>und</strong>en. Ausstellungsvorschauen<br />

<strong>und</strong> Rückblicke nehmen einen<br />

Großteil der Berichterstattung ein. Framework<br />

hat es sich vor allem zur Aufgabe gemacht,<br />

die zeitgenössische fi nnische Kunst in der internationalen<br />

Kunstszene zu begleiten. Es lädt Autoren<br />

der unterschiedlichsten Disziplinen für Gastbeiträge<br />

ein <strong>und</strong> widmet sich schwerpunktmäßig<br />

der Bildenden Kunst. Aber auch allgemeine Themen<br />

der zeitgenössischen Kultur <strong>und</strong> Kritik wer-<br />

den im Magazin angesprochen.<br />

Im Sommer wirst du in Helsinki für eine große<br />

fi nnische Tageszeitung, Helsingin Sanomat,<br />

über die Kulturszene der Stadt berichten. Welche<br />

aktuellen Tendenzen lassen sich dort beobachten?<br />

Für eine Tageszeitung über Kunst <strong>und</strong> Kultur zu<br />

schreiben unterscheidet sich sehr stark von den<br />

Beiträgen, die ich für Museen <strong>und</strong> Institutionen<br />

verfasst habe. Natürlich gilt es auch hier, mit Artikeln<br />

über Ausstellungen oder Veranstaltungen<br />

ein größtmögliches Publikum anzusprechen, aber<br />

ich muss auch versuchen, aktuelle Themen, Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> Diskussionen in ganz unterschiedlichen<br />

kulturellen Bereichen zu refl ektieren.<br />

Der Umfang, den man für einen Beitrag zur<br />

Verfügung hat, ist immer sehr begrenzt <strong>und</strong> der<br />

Redaktionsschluss bestimmt zu einem Großteil<br />

den Rhythmus der Arbeit. In vielen Fällen ist intensive<br />

Recherche deshalb gar nicht möglich.<br />

In letzte Zeit gab es in Helsinki einige Diskussionen<br />

über die Rolle von Bildender Kunst im öffentlichen<br />

Raum. Zum Beispiel die Frage wie viel<br />

Platz nicht-kommerzielle Kunst <strong>und</strong> Graffi ti haben<br />

sollten. Die Stadt Helsinki verfolgt eine sehr<br />

harte Politik gegenüber illegalen Plakaten oder<br />

Sticker-Art. Taide – ein einfl ussreiches fi nnisches<br />

Kunstmagazin – hat in einer seiner letzten Ausgaben<br />

eine Kampagne gestartet, die einen eindeu-<br />

Die Stadt Helsinki<br />

verfolgt eine sehr harte<br />

Politik gegenüber<br />

illegalen Plakaten oder<br />

Sticker-Art<br />

tigen Kommentar gesetzt hat: Sie haben mit dem<br />

Heft auch Aufkleber verteilt, die von drei Künstlern<br />

gestaltet worden <strong>und</strong> forderten die Leser auf,<br />

sie an interessanten Plätzen aufzukleben <strong>und</strong><br />

dann ein Foto an die Redaktion zu schicken. Wir<br />

werden sehen, zu welchen Ergebnissen diese Bewegung<br />

führen wird….


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 84<br />

Ein Jahr vor ihrer Eröffnung nimmt das öffentliche<br />

Interesse an der documenta 12 merklich zu.<br />

Fragen nach der Ausstellungskonzeption, den beteiligten<br />

Künstlern oder den Standorten werden<br />

laut. Die Zahl der Mitarbeiter wächst <strong>und</strong> eine<br />

wöchentliche Kolumne in der lokalen Tageszeitung<br />

ermöglicht dem neugierigen Kasseler Publikum<br />

einen ersten Blick hinter die Kulissen. Auch<br />

in einem anderen Bereich der Ausstellung nimmt<br />

die documenta konkrete Formen an. Das im letzten<br />

Jahr vorgestellte Zeitschriftenprojekt der documenta<br />

12 hat bereits die Arbeit aufgenommen<br />

<strong>und</strong> bereitet die erste der drei Ausgaben vor, die<br />

im Winter 2006 bei Taschen erscheint. Die Zeitschrift<br />

der documenta 12 hat es sich zur Aufgabe<br />

gemacht, nicht nur begleitendes Medium der Vermittlung<br />

zu sein, sondern bereits im Vorfeld der<br />

documenta 12 magazines<br />

geführten Gespräch stellt der Leiter der documenta<br />

12 magazines, Georg Schöllhammer, das<br />

Projekt vor.<br />

Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der<br />

Zeitschriften?<br />

Redaktionen sind kleine Akademien. Sie sind die<br />

Transmissionsstellen zwischen denen die Kunst<br />

machen <strong>und</strong> denen die über sie nachdenken, zwischen<br />

kleinen, ganz spezifi schen Publika <strong>und</strong> anderen<br />

Öffentlichkeiten. Zeitschriften sind Räume,<br />

in denen eine Arbeit der Setzung, stattfi ndet,<br />

in denen auch Form vermittelt wird. Wir interessieren<br />

uns nicht für Magazine, die parallel zu den<br />

ohnehin starken Kräften des Markts oder der<br />

Lifestyleindustrien arbeiten, sondern für Projekte,<br />

in denen etwas formatiert wird, Projekte<br />

die für ihr Umfeld etwas aktivieren, Material zur<br />

Verfügung stellen. Das ist ein wichtiges Kriterium.<br />

Das können dann ganz kleine Künstlerprojekte<br />

ebenso sein wie die Beilagen von Tages-<br />

oder Wochenzeitungen, methodenkritische Uni-<br />

Ein Gespräch mit Georg Schöllhammer über das Zeitschriftenprojekt der documenta 12<br />

Ausstellungskonzeption zentrale Fragestellungen<br />

sichtbar zu machen. Mehr als 80 internationale<br />

Zeitschriften, Magazine <strong>und</strong> Online-Medien sind<br />

aufgerufen, Themen der documenta 12 zu diskutieren<br />

<strong>und</strong> zu refl ektieren. In einem per E-Mail


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 85<br />

versitätsjournale genau so wie ein Pop-Fanzine.<br />

Die Nachbarschaften, in denen Kunst entsteht,<br />

sind nicht homogen <strong>und</strong> ebenso heterogen ist unsere<br />

Auswahl.<br />

Im Vordergr<strong>und</strong> der Diskussionen sollen die<br />

Themen <strong>und</strong> Thesen der documenta 12 (Ist die<br />

Moderne unsere Antike?, Was ist das bloße Leben?,<br />

Was tun?) stehen. Sind das auch für die<br />

Zeitschriften relevante Diskurse? Gibt es auch<br />

Fragestellungen, die über die spezifi sche Situation<br />

der documenta hinaus relevant für das<br />

Zeitschriftenprojekt sind <strong>und</strong> Beachtung fi nden?<br />

Nun, die Frage nach der Figur des Lebens, jene<br />

danach, wie wir unsere Zusammenarbeit organisieren<br />

wollen <strong>und</strong> die Neugierde darüber mehr zu<br />

Das müssen Sie in<br />

einen chinesischen<br />

Kontext übersetzen<br />

erfahren, auf welche Weise Modernisierungsprozesse<br />

lokale Transformation durchgangen haben<br />

sind für sehr sehr viele der RedakteurInnen,<br />

KünstlerInnen, AutorInnen <strong>und</strong> Intellektuelle<br />

zentrale. Natürlich reiben sich da dann auch Antworten<br />

an unseren Formulierungen der Thesen,<br />

gibt es Widerspruch oder andere Schwerpunktsetzungen<br />

<strong>und</strong> wichtige Perspektivenwechsel.<br />

Eine Denkfi gur wie die der Antike, das müssen<br />

Sie in einen chinesischen Kontext übersetzen, die<br />

Frage nach der Bildung <strong>und</strong> dem „Was tun?“ stellt<br />

sich im Maghreb natürlich anders als in Nordeuropa.<br />

„Aus dem Dialog der Redaktionen mit der<br />

documenta 12 wächst ein Teil der Ausstellung<br />

in Kassel“ – Wie kann das konkret aussehen?<br />

Was können wir uns darunter vorstellen?<br />

Sicher nicht jene tristen Abteilungen von Großausstellungen,<br />

wo in Ketten gelegte, abgegriffene<br />

Bücher <strong>und</strong> Zeitschriften in Isolationshaft auf<br />

müde Ausstellungsbesucher warten. Nein, das<br />

wird ein Ort der Vermittlung <strong>und</strong> Bewegung, wie<br />

ein Redaktionshaus, in dem geschrieben <strong>und</strong> gedacht,<br />

aber auch erzählt <strong>und</strong> gezeigt wird; ein Ort<br />

an dem die BesucherInnen der documenta etwas<br />

vom Reden über <strong>und</strong> vom Zeigen der Kunst erfahren<br />

werden können <strong>und</strong> selbst etwas über ihre Erfahrung<br />

von Kunst vermitteln.<br />

Neben dieser Funktion der „Mitgestaltung“ der<br />

Ausstellung, soll die gemeinsame Zeitschrift<br />

gleichzeitig der Vermittlung dienen <strong>und</strong> „dem<br />

Publikum das Wissen an die Hand geben, dass<br />

dieses braucht, um sich im Raum der Ausstellung<br />

kompetent <strong>und</strong> entspannt bewegen zu können“.<br />

Ersetzen die insgesamt drei Zeitschriften<br />

der documenta damit den Ausstellungskatalog?<br />

Man muss sich ja fragen: was ist das, der Ausstellungskatalog?<br />

Gerade dieses Buchformat hat ja in<br />

den letzten Jahrzehnten sehr viele verschiedene<br />

Ausformulierungen gesehen <strong>und</strong> man konnte ja<br />

oft nicht zwischen Gewicht <strong>und</strong> gewichtig unterscheiden.<br />

Kaum ein Katalog ist das geblieben,<br />

was er ursprünglich war: eine wissenschaftliche<br />

Beschreibung <strong>und</strong> didaktische Erklärung der ausgestellten<br />

Werke. Diese Funktion hat längst der<br />

Guide übernommen. Der Katalog ist oft zum Hy-<br />

Das wird ein Ort der<br />

Vermittlung <strong>und</strong> Bewegung<br />

brid geworden. Die Magazine sind die Begleitpublikationen<br />

zur Ausstellung. Ihre Texte werden<br />

unter anderem an den Orten <strong>und</strong> aus den Zusammenhängen<br />

heraus geschrieben, in denen auch<br />

die KünstlerInnen der Ausstellung arbeiten. Aber<br />

sie beziehen sich nicht immer <strong>und</strong> ausschließlich<br />

auf die ausgestellten Arbeiten, sondern beschreiben<br />

auch einen Weg dorthin <strong>und</strong> einen Raum um<br />

diesen Weg. Das kann auch einmal die Arbeit<br />

eines Künstlers sein, der nicht in der Ausstellung,<br />

sondern eben im Magazin seinen documenta-Ort<br />

fi ndet.<br />

Wie reagieren Sie auf den Einwand, die documenta<br />

würde durch die Beteiligung einer Vielzahl<br />

von Zeitschriften, kritische Berichte <strong>und</strong>


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 87<br />

Stimmen über die Ausstellung bereits im Vorfeld<br />

ausschließen.<br />

Erstaunt, weil diese Frage doch zeigt, wie tief –<br />

<strong>und</strong> oft zu Recht tief – das Misstrauen in die Unabhängigkeit<br />

von Medien heute ist. Was für manche<br />

der Hochglanzpostillen gelten mag, dass es<br />

da einen ganz intimen Zusammenhang zwischen<br />

den Marktkräften, die sie fi nanzieren <strong>und</strong> dem<br />

Inhalt, den sie spiegeln gibt, gilt für die am Zeitschriftenprojekt<br />

beteiligten Medien nicht. Ein<br />

ganz wichtiges Auswahlkriterium war eben diese<br />

Unabhängigkeit. Die hätten die zu verlieren. Über<br />

die Themen der Ausstellung lokal nachdenken<br />

<strong>und</strong> über die Realisierung <strong>und</strong> die Vorbereitung<br />

der Ausstellung zu schreiben sind zwei verschiedene<br />

Dinge. Mich erstaunt diese Corporate oder<br />

Corps-Geist-Annahme von automatischer innerer<br />

Zensur, die kurzschließt, dass man das nicht kritisieren<br />

kann, woran man teilnimmt.<br />

Ist über die Ausstellungsdauer der documenta<br />

12 hinaus geplant, dieses Zeitschriftenprojekt<br />

in irgendeiner Form fortzusetzen? Wenn ja, wie<br />

kann diese Zusammenarbeit im Anschluss aussehen?<br />

Das liegt in den Händen der beteiligten Zeitschriften.<br />

Wir werden die Werkzeuge, die wir für<br />

Das liegt dann in den<br />

Händen der beteiligten<br />

Zeitschriften<br />

die Redaktionsarbeit entwickelt haben, unter anderem<br />

ein vielsprachiges Online-Redaktionssystem<br />

in die Hände der Redaktionen geben, die<br />

dann darüber entscheiden können, wie sie diese<br />

benutzen. Wenn sich darüber hinaus bestehende<br />

Verbindungen stärken <strong>und</strong> neue Kontexte überschreitende<br />

Beziehungen zwischen den Beteiligten<br />

entstehen, dann hat das Projekt auch nachhaltig<br />

Sinn gemacht.<br />

Georg Schöllhammer (*1958)<br />

Redakteur, Autor <strong>und</strong> freier Kurator, lebt <strong>und</strong><br />

arbeitet in Wien.<br />

Chefredakteur der von ihm 1995 mitbegründeten<br />

Zeitschrift springerin - Hefte für Gegenwartskunst.<br />

Schöllhammer war 1988 bis 1994 Redakteur<br />

für bildende Kunst der Tageszeitung Der<br />

Standard <strong>und</strong> ab 1992 Gastprofessor für Theorie<br />

der Gegenwartskunst an der Universität für<br />

künstlerische <strong>und</strong> industrielle Gestaltung, Linz.<br />

Er veröffentlichte zahlreiche Publikationen zu<br />

Gegenwartskunst, Architektur <strong>und</strong> Kunsttheorie.


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 88<br />

Kasseler Atelier- <strong>und</strong> Ausstellunghaus [kaa]<br />

Vorbereitung Atelierr<strong>und</strong>gang 2004<br />

Die Initiative Kasseler Atelier-<strong>und</strong> Ausstellugshaus<br />

[kaa] ist ein ehrenamtlich arbeitendes Team<br />

von bildenden KünstlerInnen <strong>und</strong> Kunstvermitt-<br />

Das Projekt kaa ist<br />

mehrdimensional <strong>und</strong><br />

transparent<br />

lerInnen, die sich 2003 zusammengeschlossen<br />

haben. Ein langfristiges Ziel unserer Initiative ist<br />

die Einrichtung eines Atelier- <strong>und</strong> Ausstellungshauses<br />

in Kassel, das sich als Zentrum der Kunstproduktion<br />

<strong>und</strong> Vermittlung, der Kunstförderung<br />

<strong>und</strong> Vernetzung lokal verankern <strong>und</strong> überregional<br />

etablieren soll. Unsere Arbeit ist Impuls gebend<br />

darauf ausgerichtet, die Infrastruktur <strong>und</strong><br />

Produktionsbedingungen für bildende KünstlerInnen<br />

zu verbessern <strong>und</strong> einer interessierten Öf-<br />

fentlichkeit ein Forum der Teilnahme am aktuellen<br />

Kunstgeschehen anzubieten.<br />

Das Projekt kaa ist mehrdimensional <strong>und</strong> transparent<br />

angelegt. Neben dem langfristigen Ziel,<br />

ein festes Gebäude zu beziehen, möchten wir,<br />

dass Kunstschaffende <strong>und</strong> Kunstinteressierte<br />

schon während des Entwicklungsprozesses von<br />

der Arbeit des Kasseler Atelier- <strong>und</strong> Ausstellungshauses<br />

profi tieren. Mit kuratierten Veranstaltungen<br />

wie dem Atelierr<strong>und</strong>gang 2004, dem<br />

Künstlerfest 2005 unter dem Titel Wir haben<br />

Ausstellung, aber auch unterschiedlichen Diskussionsforen<br />

zum Thema Künstlerförderung ist die<br />

öffentliche Diskussion <strong>und</strong> Wahrnehmung neuer<br />

Strategien der Selbstorganisation im künstlerischen<br />

Bereich initiiert worden.<br />

Damit möchte die Initiative Kasseler Atelier- <strong>und</strong><br />

Ausstellungshaus auf zukünftige Arbeitsbereiche<br />

Kunst für die Rose, Wiesbaden 2004<br />

<strong>und</strong> Handlungsräume konzeptuell <strong>und</strong> visionär<br />

verweisen. Für die Profi lbildung von kaa benötigen<br />

wir, um mehr als punktuell agieren <strong>und</strong> reagieren<br />

zu können, Projekträume, die uns erlauben,<br />

unsere Arbeit öffentlich <strong>und</strong> kontinuierlich<br />

zu betreiben. Vor allem braucht kaa ein Büro, damit<br />

für die vielfältige Vernetzung von Ideen <strong>und</strong><br />

Zielen ein Knotenpunkt geschaffen werden kann.<br />

Konkret steht u.a. die Durchführung des Künstlerfestes<br />

in diesem Jahr durch kaa an, mit dem<br />

wir nach dem großen Erfolg von Wir haben Ausstellung<br />

erneut vom KulturBahnhof e.V. beauftragt<br />

wurden.<br />

Die Selbstorganisation von KünstlerInnen <strong>und</strong><br />

KunstvermittlerInnen hat mit kaa eine fl exible<br />

Vor allem braucht kaa<br />

ein Büro<br />

Struktur bekommen, die unterschiedliche Arbeitsformen<br />

<strong>und</strong> Kooperationen zulässt <strong>und</strong> zugleich<br />

von ihrer Kontinuität profi tiert. Das Netzwerk<br />

kaa macht vieles möglich <strong>und</strong> sucht zugleich<br />

das Unmögliche.<br />

Das kaa-Team


JUNI 2006 KUNSTHALLE FRIDERICIANUM SEITE 89<br />

Atelierr<strong>und</strong>gang 2004<br />

Künstlerfest 2005<br />

[kaa] Kasseler Atelier- <strong>und</strong> Ausstellungshaus<br />

Große Rosenstraße 17<br />

34117 Kassel<br />

www.kaahaus.de<br />

email: info@kaahaus.de<br />

fon. 0561-5790547<br />

MIETGESUCH<br />

Gesucht wird ein Raum, damit kaa einen Ort<br />

bekommt.<br />

Mietfrei, weil Fördergeld in Projekten besser<br />

angelegt ist.<br />

Temporär, aber nicht fl üchtig.<br />

kaa ist nicht solvent, zahlt die Nebenkosten<br />

aber pünktlich.<br />

Gewünschte Ausstattung:<br />

Ein F<strong>und</strong>ament für den sicheren Stand.<br />

Ein Fenster, für Perspektiven.<br />

Wände, die einen Nagel vertragen.<br />

Groß genug für Schreibtisch <strong>und</strong> Kunst.<br />

Ab sofort oder spätestens bald.<br />

Fon: 0561-5790547 email: info@kaahaus.de<br />

Fotos: Valentin Piel


14. - 23. DEZ. 2005 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 90<br />

Eine lange Geschichte <strong>und</strong> viel Glück<br />

Ausstellung mit Tombola zur 170-Jahr-Feier des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s<br />

2005 hatte der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> seinen<br />

170sten Geburtstag! Die Feierlichkeiten begannen<br />

im Februar mit der Ausstellung „VOR-<br />

STANDsWAHL“ <strong>und</strong> klingen noch lange nach in<br />

der unter diesem Titel erschienenen Chronik des<br />

<strong>Kunstverein</strong>s, die die bisherige Geschichtsschrei-<br />

Bilderschwemme im<br />

<strong>Kunstverein</strong><br />

bung um zwanzig Jahre erweitert. Sie lässt sich<br />

durchblättern wie ein Familienalbum, in dem<br />

man nicht nur Höhepunkte <strong>und</strong> auch fast vergessene<br />

Ausstellungen <strong>und</strong> Veranstaltungen seit<br />

1985 wiederfi ndet, sondern auch so manchen seiner<br />

alten Fre<strong>und</strong>innen <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e unter dem<br />

Publikum entdeckt. Eine „Bilderschwemme im<br />

<strong>Kunstverein</strong>“ (HNA) beendete das Jubeljahr, eine<br />

besondere Ausstellung <strong>und</strong> Tombola, die einen<br />

Modus aufnimmt, der mitverantwortlich ist dafür,<br />

dass der <strong>Kunstverein</strong> bereits im ersten Jahr<br />

740 Mitglieder zählte.<br />

1835 hatten „12 Apostel“, alle Angehörige der<br />

Akademie, <strong>und</strong> der Maler Friedrich Müller, der<br />

als Gründervater gilt, mit breiter Unterstützung<br />

der einfachen <strong>und</strong> gehobenen Bürgerschaft <strong>und</strong><br />

unter eifersüchtiger Anteilnahme des Adels die<br />

Initiative zur Gründung eines <strong>Kunstverein</strong>s ergriffen.<br />

Er hatte sich einerseits der Förderung<br />

aktueller Kunst verschrieben, aber sich auch zum<br />

Ziel gesetzt, die Kunst unters Volk zu bringen –<br />

nicht nur im Sinne kultureller Bildung, sondern<br />

auch ganz materiell in Form von Bildern <strong>und</strong><br />

Skulpturen in privaten Haushalten. Die Methode,<br />

das zu erreichen, war sehr „modern“ – aber auch<br />

nicht ohne Sprengkraft.<br />

Man konnte Mitglied dieses <strong>Kunstverein</strong>s werden<br />

<strong>und</strong> damit alle Vorteile <strong>und</strong> Rechte erhalten, indem<br />

man sich Aktien erwarb (912 wurden bereits<br />

im ersten Jahr gekauft). Die damit verkündete<br />

Gleichheit Aller in der Mitgliederversammlung<br />

macht deutlich, dass der Kasseler <strong>Kunstverein</strong><br />

1835 im Umfeld bürgerlich revolutionärer Bewegungen<br />

gegründet wurde, als eine Bürgerinitiati-<br />

Familie Behrendt, Textilien, Stickerei auf gef<strong>und</strong>enen<br />

Materialien, 2005<br />

ve für eine öffentliche Kultur im Dienst einer demokratisch<br />

verfassten Gesellschaft. Gleichzeitig<br />

hat man dem Kurprinz <strong>und</strong> Mitregenten das Protektorat<br />

angetragen, was zur ersten Zerreißprobe


14. - 23. DEZ. 2005 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 91<br />

Ansicht der Ausgabe der Tombolagewinne im Kasseler <strong>Kunstverein</strong>, 2005<br />

führte, die der Verein zu überstehen hatte, denn<br />

Friedrich Wilhelm wollte diese demokratische<br />

Verfassung nicht akzeptieren (er bestand auf ein<br />

Verhältnis der Aktien von 60 zu 1). So heftig <strong>und</strong><br />

gr<strong>und</strong>sätzlich der Streit auch war, zu einer „richtigen“<br />

Revolution reichte es bei den Kasseler Bürgern<br />

nicht, man fand Kompromisse <strong>und</strong> oft half<br />

auch das (heimlich geförderte) Glück.<br />

Der Anteil der Aktien ermöglichte außerdem, an<br />

einer Verlosung teilzunehmen <strong>und</strong> so – mit viel<br />

Glück – in den Besitz originaler Kunstwerke zu<br />

kommen. Wer Pech hatte, bekam zum Trost ein<br />

„Nietenblatt“, eine Einrichtung, die später „Jahresgabe“<br />

hieß <strong>und</strong> sich heute fortsetzt in Form<br />

von speziell in <strong>Kunstverein</strong>en herausgegebenen<br />

Editionen zu günstigen Preisen. Das erste Nietenblatt<br />

war eine Lithografi e nach Rembrandts „Jakob<br />

segnet seine Enkel“ (Jakobssegen), gezeichnet<br />

von Ludwig Emil Grimm.


14. - 23. DEZ. 2005 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 92<br />

Der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> hat diese alle ständischen<br />

Grenzen sprengende Idee für seine Geburtstagsfeier<br />

aufgenommen <strong>und</strong> alle Künstlerinnen<br />

<strong>und</strong> Künstler (über 400), die in den letzten<br />

zwanzig Jahren im <strong>Kunstverein</strong> ausgestellt haben,<br />

gebeten, dem Verein <strong>und</strong> seinen Mitgliedern<br />

Familie Behrendt, Textilien, Stickerei auf gef<strong>und</strong>enen Materialien, 2005<br />

für eine Ausstellung <strong>und</strong> Tombola ein Geschenk<br />

zu machen. Die Resonanz war überwältigend.<br />

„Die Namensliste, auf der Kasseler Künstler<br />

ebenso zu fi nden sind wie documenta-Teilnehmer,<br />

spiegelt die Breite <strong>und</strong> Vielfalt der Ausstellungen.“<br />

schrieb Dirk Schwarze, HNA, dazu. Über<br />

250 Unikate, Grafi ken, Aufl agenobjekte, Editionen<br />

<strong>und</strong> signierte Bücher gingen ein. Und auch<br />

ein „Nietenblatt“ wurde aufgelegt: Daniel Behrendt<br />

zeichnete eine karikaturhafte Replik des<br />

Grimmschen Blattes vom Rembrandtschen „Jakobssegen“.


14. - 23. DEZ. 2005 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 93<br />

Am 14. Dezember, eine Woche vor der Tombola,<br />

wurde „der Jahrmarkt der Exponate“ eröffnet <strong>und</strong><br />

der Losverkauf gestartet (jedes Los 10 Eur, jedes<br />

zweite Los ist ein Gewinn). Am 20. Dezember,<br />

dem Tag der Tombola, erreichte die Spannung ih-<br />

jedes zweite Los ist<br />

ein Gewinn<br />

ren Höhepunkt, denn da wurde verkündet, ob die<br />

geraden oder die ungeraden Zahlen gewonnen haben.<br />

Während viele in unverhohlener Freude <strong>und</strong><br />

mit Stolz ihre Gewinne vorzeigten, stand dem einen<br />

oder anderen doch auch Ratlosigkeit ins Gesicht<br />

über das, was jetzt „mein Original“ ist. Das<br />

blieb meist nicht unentdeckt, so dass sich dezente<br />

Begleiter um den Ratlosen scharten, die ihn zur<br />

„Umtauschbörse“ begleiteten. So gab es schließlich<br />

nicht nur schnell wechselnde Besitzer, es entstand<br />

sogar ein Handel, der manchem Pechvogel<br />

doch noch zu einem „Schnäppchen“ verhalf.<br />

Bernhard Balkenhol<br />

ALBRECHT D. | Pablo Alonso | Peter Angermann<br />

| Birgit Antoni | Arno Arts | AY-O | Silvia<br />

Bächli | Bernhard Balkenhol | Stephan Balkenhol<br />

| Alfred Banze | Rosa Barba | Rüdiger Barharn |<br />

Hanna Bayer | Rolf Behme | Familie Behrendt |<br />

Julien Blaine | Karl Oskar Blase | Hartmut Böhm<br />

| Conny Bosch | Tobias Brembeck | Birgit Brenner<br />

| Erika Breuer | Horst Brunsiek | Adolf Buchleiter<br />

| Barbara Bux | cARTed | Walter Dahn | Martin<br />

Dege | Stefan Demary | DOC(K)S | Felix Droese |<br />

Maria Eichhorn | Nezaket Ekici | Rolf Escher |<br />

Peter Freitag | Adib Fricke | Mechtild Frisch | Peter<br />

Frisch | Roland Geissel | Rolf Gerner | Siegfried<br />

Gerstgrasser | Jochen Gerz | Silvia Götz |<br />

Alfred Gong | Wiebke Grösch, Frank Metzger |<br />

Ute Gruenwald | Olaf Hackl | Wolfgang Hahn |<br />

Wolfgang Hainke | Herbert Hamák | Barbara<br />

Hammann | Eric Hattan | Peter Hauenschild, Georg<br />

Ritter | Bernard Heidsieck | Anton Henning |<br />

Reimer Hennings | Hans Hillmann | Ika Huber |<br />

Patrick Huber | Florian Hüttner | Markus Hutter |<br />

Udo Idelberger | Christoph Irrgang | Vera Isler-<br />

Leiner | Wolfgang Kaiser | Frank Kästner | Roman<br />

Krasnitsky | Kazuo Katase | Norbert Klassen<br />

| Ellen Kohlhaase | Till Krause | Mirjam Kuitenbrouwer<br />

| Vollrad Kutscher | László Lackner |<br />

Gerhard Lang | Rolf Lederbogen | Katrin Leitner<br />

| Gerhard Lienemeyer | Ute Lindner | Hilmar Liptow<br />

| Simone Mangos | Rémy Markowitsch | martinafi<br />

scher13 | Jonathan Meese | Ingo Meller |<br />

Agnes Meyer-Brandis | Ralf Michna | Yana Milev<br />

| Ulrike Möschel | Niall Monro | Isolde Monson-<br />

Baumgart | Klaus Müller-Domnick | Jens Nagels |<br />

Jens Nedowlatschil | E. R. Nele | Reinhard Nißle |<br />

Wulf Nolte | Eva Ohlow | Jürgen O. Olbrich | Walter<br />

Peter | Gilbert Pink | Kathrin Rabenort | Norbert<br />

Radermacher | Markus Raetz | Brigitte Rathmann<br />

| Ute Reeh | Christine Reinckens | Reinigungsgesellschaft<br />

| Achim Riechers | Matthias<br />

Roth | Ulf Rungenhagen | Oliver Scharfbier |<br />

Klaus Schinkmann | Hansjörg Schneider | Achim<br />

Schnyder | Peer Schröder | Dieter Schwerdtle |<br />

Antje Siebrecht | Annegret Soltau | Wolfgang<br />

Spanier | Daniel Spoerri | Klaus Staeck | Hermann<br />

Stamm | Birgit Szepanski | Gisbert Tönnis | Dieter<br />

Tonn | Dirk Tonn | Endre Tót | Andreas<br />

Tschernoch | Timm Ulrichs | Veronika Veit | Verena<br />

Vernunft | Andreas Vogt | Arno Waldschmidt<br />

| Rolf Walz | Uwe Warnke | Mathias Weis | Michael<br />

Wiedemann | Moritz Wiedemann | Renate<br />

Wiedemann | Emmett Williams | Dorothee von<br />

Windheim | Bernhard Wollborn | Jindřich Zeithammel


14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 94<br />

„Neugierige Menschen, Autofahrer <strong>und</strong> Fußgänger,<br />

aufgeweckte Kinder <strong>und</strong> skeptische Theoretiker,<br />

Kunststudenten <strong>und</strong> Profi -Tuner kamen, um<br />

zu sehen <strong>und</strong> zu staunen.<br />

Gelegenheit dazu boten ein leerer Carcoon (Hainke)<br />

<strong>und</strong> ein noch ungeborenes Auto im Kokon<br />

(Kästner). Vorbei an bellenden H<strong>und</strong>en (Huber/<br />

Beck) <strong>und</strong> anderen Missverständnissen (Henning),<br />

ging es zu Unfällen auf Papier (Schäfer)<br />

<strong>und</strong> in Metall (Fleury) weiter zum echten „pimp<br />

my ride“ (Torrez). Der Spaßfaktor wurde durch<br />

selbstständige Kochtöpfe (Möbus) <strong>und</strong> ein sprechendes<br />

fat car (Wurm) erhöht, führte zu rätselhaften<br />

Berlinern Gedichten an der Mauer (Olbrich)<br />

<strong>und</strong> einem fl iegenden Taxi (Sous). Dagegen<br />

konnte der Stau in Kairo (Gursky) <strong>und</strong> Mexico<br />

City (Serra), genauso wie der bunte Schrotthaufen<br />

(Chamberlain) <strong>und</strong> der griechische Schlangenhaufen<br />

(Koch) geradezu nachdenklich stimmen.<br />

Ein kleines rotes Holzauto auf hohem Sockel<br />

(Balkenhol) <strong>und</strong> nostalgische Seifenkisten-<br />

Flitzer (Fischer) bereiteten den Auftritt der<br />

„Großen“ vor. Auf das erste Art Car (Calder)<br />

folgte ein geometrisches von Stella. Liechtenstein<br />

ging die Sache psychologisch an <strong>und</strong> verhalf seinem<br />

Art Car zum Sieg, indem er ihm vorher ver-<br />

AUTO-NOM-MOBILE<br />

Das Automobil in der zeitgenössischen Kunst<br />

„Wo gehtʼs denn hier<br />

zur Autoausstellung?“<br />

riet, wie es auf der Straße aussieht. Warhol legte<br />

Hand an <strong>und</strong> ließ den Fahrtwind sichtbar werden.<br />

Rauschenberg erfüllte sich den Traum eines mobilen<br />

Museums <strong>und</strong> Chias Car starrte den Besucher<br />

mit großen Augen an. Penck hielt es archaisch<br />

<strong>und</strong> Hockney ließ ins Innere blicken. Zu<br />

guter Letzt wartete ein weißer Rennwagen mit<br />

weisen Worten (Holzer).“ So fasst Christine Messerschmidt,<br />

Studentin an der Kunsthochschule<br />

Kassel <strong>und</strong> „Führungskraft“, die Ausstellung <strong>und</strong><br />

ihre Erfahrung zusammen.<br />

Von vornherein im Verhandlungspaket um die<br />

Ausstellung mit dem Sponsor BMW Group München<br />

war die Einrichtung eines ausstellungspädagogischen<br />

Dienstes. Und weil Vermittlung von<br />

Gegenwartskunst eines der wichtigsten Ziele im<br />

Selbstverständnis des <strong>Kunstverein</strong>s ist, sollte hier<br />

einmal nicht gespart werden.<br />

Die Verhandlungen waren erfolgreich. Allerdings:<br />

Nur vier Wochen war Zeit, diesen Dienst<br />

einzurichten, d. h. ein Team zu akquirieren, einen<br />

„Reader“ zu erstellen, der die Künstler <strong>und</strong> das<br />

Ausstellungskonzept vorstellt, die Buchungsformalitäten,<br />

Werbung <strong>und</strong> Logistik vorzubereiten<br />

<strong>und</strong> R<strong>und</strong>gänge durch die Ausstellung zu entwerfen,<br />

die Öffentlichkeit zu informieren, das Staat-<br />

liche Schulamt über das besondere Angebot der<br />

kostenlosen Eintritte <strong>und</strong> Führungen für Schulklassen<br />

zu informieren <strong>und</strong> einen Workshop für<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer vorzubereiten. Wie die<br />

„documenta-Guides“ 2002 konnte der „Führungsdienst“<br />

die Aufbauarbeiten begleiten <strong>und</strong><br />

Gespräche mit Künstlern führen. Es galt, sich so<br />

allumfassend wie möglich „Input“ zu holen bezüglich<br />

kunstwissenschaftlicher Aktualität, philosophischem<br />

<strong>und</strong> gesellschaftlichem „Backgro<strong>und</strong>“<br />

<strong>und</strong> kunstpädagogischer Vermittlungsstrategien.<br />

Aber letztlich entwickelte jeder selbst<br />

seine individuelle Choreografi e durch die Ausstellung,<br />

hatte jeder Kunstvermittler selbst die<br />

volle Verantwortung – <strong>und</strong> das Vertrauen, seine<br />

individuelle Gruppe zu „erspüren“ <strong>und</strong> das „Richtige<br />

zu sagen <strong>und</strong> zu tun“.<br />

Trotz h<strong>und</strong>erter Mails <strong>und</strong> Briefe an nahezu allen<br />

Schulen in <strong>und</strong> um Kassel ließen die Schüler zunächst<br />

auf sich warten, sodass zusätzliche Plakataktionen<br />

in Lehrerzimmern, in den Eingangsbereichen<br />

von Schulzentren, Sekretariaten etc., Gespräche<br />

mit Schulleitern <strong>und</strong> Kunstlehrern, Verteilung<br />

von Foldern <strong>und</strong> Plakaten überall – auch<br />

Bild rechts: Stefan Sous, Taxi, Installation, 2001


14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 95


14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KAS<br />

Tankstellen sind Anlaufstellen – nötig waren.<br />

Das enthusiastische Engagement aller <strong>und</strong> der<br />

Lehrerworkshop in der Ausstellung trugen<br />

schließlich Früchte. In den letzten beiden Ausstellungswochen<br />

mussten vormittags Doppel- <strong>und</strong><br />

Dreifachschichten für Schulklassen jeder Altersstufe<br />

<strong>und</strong> Schulform gefahren werden. Schließlich<br />

waren es über 1000 Schülerinnen <strong>und</strong> Schüler,<br />

die AUTO-NOM-MOBILE gesehen haben.<br />

Ganz klar, die Ausstellung polarisierte: entweder<br />

„Autofreak“ oder „Kunstfan“, aufgeschlossenneugierige<br />

„Allro<strong>und</strong>er“ waren eher selten. Das<br />

zu ermitteln, dem entgegenzuwirken, es aber<br />

auch anzuerkennen, zu überzeugen oder wenigstens<br />

„aufzuschließen“ war der „Job“. Wie stoppt<br />

man den Besucher, der schnurstracks zu den Art<br />

Cars durchstartet, in der Museums-Autowerkstatt<br />

von Wolfgang Hainke, interessiert sie auch für<br />

die CrashCar-Series von Sylvie Fleury oder die<br />

Autoschrott-Skulptur von John Chamberlain?<br />

martinafi scher13, Promenade, Installation, 2006


SELER KUNSTVEREIN SEITE 96<br />

Wilhelm Koch, Pneuwagen, Aluminium, Gummi, 2006<br />

Wilhelm Koch, Laokoon, Pneuhaufen, 2006<br />

14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASS<br />

Auch den Zweifl ern entlockt so viel Witz <strong>und</strong> Ironie<br />

der Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstler überproportional<br />

häufi g ein Lächeln, eine Anerkennung, ein<br />

Kommentar. Überhaupt: die Ausstellung generiert<br />

Kommunikation, <strong>und</strong> in den Führungen wird<br />

jede Form der Kritik als Einladung zum Kunstgespräch<br />

angenommen. Es gab intensive <strong>und</strong> spannende<br />

Gespräche über das Auto als Produkt der<br />

Selbstdarstellung, als industrielle Skulptur, als<br />

Symbol für Fortschritt oder Zerstörung der Umwelt,<br />

auch über die Thesen Roland Barthes oder<br />

Paul Virilios im Katalog – <strong>und</strong> nicht zuletzt auch<br />

darüber, was Kunst hier ist <strong>und</strong> leisten kann.<br />

Warum ist denn<br />

das Kunst?<br />

„Die Frage: ‚Warum ist denn das Kunst?ʼ wurde<br />

zwar auch von Kindern gestellt, aber genauso oft<br />

oder sogar öfter von Erwachsenen“, stellt Friederike<br />

Siebert resümierend fest. Die Fähigkeit, die<br />

hier gezeigten Arbeiten als Medium zu nutzen für<br />

ein Nachdenken oder ein Gespräch über das, was<br />

sie thematisieren, fi el vielen Erwachsenen<br />

schwerer als den Jugendlichen. Sie hatten auch<br />

kaum Schwellen- oder Berührungsängste.<br />

J


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KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 97<br />

Jenny Holzer, Protect Me From What I Want, Art Car, 1999


14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 99<br />

8-jährige Schüler rennen los, wollen alles anfassen<br />

(um es zu begreifen!) – Sehen heißt für sie<br />

auto-matisch Erleben … sie spielen Auto-Quartett<br />

(„Whow, der hier hat 480 PS“), sie beantworten<br />

Fragen, die man nicht zu stellen brauchte, <strong>und</strong><br />

kommentieren lustvoll („also Autoreifen haben<br />

heutzutage keine Schläuche mehr, die sind bestimmt<br />

vonʼnem Bagger … so ein Schlauchhaufen<br />

wärʼ toll auf unserem Schulhof …“ (zur Laokoon-<br />

Gruppe von W. Koch).<br />

16-Jährige muss man begeistern, in den Bann ziehen,<br />

überraschen, provozieren … man muss sie<br />

beobachten, ihnen folgen <strong>und</strong> dort, wo sie stehen<br />

Jürgen O. Olbrich, Autopoem (cars passing me in Weimar in 30 minutes), 2006 martinafi scher13 neben ihrer Arbeit Promenade,<br />

Installation, 2006


27. MÄRZ - 02. MAI 2005 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 100<br />

bleiben, packen! Meist starten wir doch im „Autohaus<br />

der Superlative“ bei den BMW-ArtCars,<br />

rasseln Daten runter <strong>und</strong> brillieren mit Spezialwissen<br />

r<strong>und</strong> um den Rennsport – das beeindruckt!<br />

Wie bei einem Wolfsrudel kann man fortan getrost<br />

den Leitwolf spielen, plaudern <strong>und</strong> unbemerkt<br />

Kunst- <strong>und</strong> Kulturgeschichte einfl echten.<br />

So konnte die Frage: „Wo gehtʼs denn hier zur<br />

Autoausstellung?“ bald nicht mehr irritieren. Die<br />

Attraktion, durch eine Karosserie hindurchgehen<br />

zu können, bremste die vordergründige Neugier.<br />

jede Reaktion wurde aufgenommen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

umgewandelt in eine „Aktion“. Schüler<br />

Ältere Menschen<br />

mussten zurückgehalten<br />

werden<br />

„performten“ <strong>und</strong> interpretierten die „Autopoems“<br />

selbst à la Hip-Hop, gestalteten vorbereitete<br />

Postkarten, „verpuppten“ Spielzeugautos in Folie,<br />

diskutierten Jenny Holzers Schriftzug „Protect<br />

Me From What I Want“. Ältere Menschen<br />

mussten zurückgehalten werden, nicht in das<br />

Gogo-Mobil zu steigen. Erstaunliche <strong>und</strong> lustige<br />

Wolfgang Tillmans, Red, 1998


14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN<br />

Art Cars, Ausstellungsansicht, Kasseler <strong>Kunstverein</strong>, 2005<br />

bleiben, pac<br />

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ER KUNSTVEREIN SEITE 102<br />

bleiben, packen! Meist starten wir doch im „Autohaus<br />

der Superlative“ bei den BMW-ArtCars,<br />

rasseln Daten runter <strong>und</strong> brillieren mit Spezialwissen<br />

r<strong>und</strong> um den Rennsport – das beeindruckt!<br />

Wie bei einem Wolfsrudel kann man fortan getrost<br />

den Leitwolf spielen, plaudern <strong>und</strong> unbemerkt<br />

Kunst- <strong>und</strong> Kulturgeschichte einfl echten.<br />

So konnte die Frage: „Wo gehtʼs denn hier zur<br />

Autoausstellung?“ bald nicht mehr irritieren. Die<br />

Attraktion, durch eine Karosserie hindurchgehen<br />

zu können, bremste die vordergründige Neugier.<br />

jede Reaktion wurde aufgenommen <strong>und</strong> gegebenenfalls<br />

umgewandelt in eine „Aktion“. Schüler<br />

„performten“ <strong>und</strong> interpretierten die „Autopoems“<br />

selbst à la Hip-Hop, gestalteten vorbereitete<br />

Postkarten, „verpuppten“ Spielzeugautos in Folie,<br />

diskutierten Jenny Holzers Schriftzug „Protect<br />

Me From What I Want“. Ältere Menschen<br />

mussten zurückgehalten werden, nicht in das<br />

Gogo-Mobil zu steigen. Erstaunliche <strong>und</strong> lustige<br />

Fragen gab es, z. B. zu Erwin Wurms „Fat Car<br />

Talking“: „Wieso ist das Auto eigentlich weiß –<br />

viele Amerikaner sind doch schwarz? Antwort:<br />

„Weil Fett weiß <strong>und</strong> wabbelig ist, auch bei Farbigen!“<br />

„Kunst ist nicht selbstverständlich, aber die einfachsten,<br />

manchmal von der Wissenschaft weit<br />

14. JAN. - 26. FEBR. 2006 KASSELER<br />

Christiane Möbus, Fridericus Rex, Installation, 1994-97<br />

Anton Henning, Blumenstillleben No. 209,<br />

Leinwand/C-Print, 1992


KUNSTVEREIN SEITE 103<br />

Frank Kästner, Auto mit Zuckerwatte, 2003<br />

Das Führungsteam der Ausstellung<br />

„AUTO-NOM-MOBILE“ von links nach rechts:<br />

Irmhild Hartinger, Alexandra Nunez, Juliane Gallo,<br />

Sarah Walters, Dirk Müller, Friederike Siebert, Britta<br />

Jeserich, Christine Messerschmidt


05. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 104<br />

Joel Baumann, Neue Medien | Hendrik Dorgathen,<br />

Illustration | Else Gabriel, Basisstudium<br />

Kunst | Jakob Gebert, Möbeldesign <strong>und</strong> Ausstellungsarchitektur<br />

| Kai-Uwe Hemken, Kunstwissenschaft<br />

| Andreas Hykade, Trick- <strong>und</strong> Animationsfi<br />

lm | Wolfgang Jonas, Systemdesign | Bjørn<br />

Melhus, Bildende Kunst/Virtuelle Realitäten |<br />

Jürgen Meyer, Malerei | Bernhard Prinz, Fotografi<br />

e | Tanja Wetzel, Kunst- <strong>und</strong> Medienpädagogik<br />

NEUER REICHTUM: Der mächtige Schriftzug<br />

auf schwarzem Gr<strong>und</strong> empfi ng die Besucher im<br />

Foyer des <strong>Kunstverein</strong>s. Die in einer Blattgold<br />

imitierenden Farbe <strong>und</strong> Type gesetzte Schrift<br />

„NEUER REICHTUM“<br />

11 Positionen _ Kunsthochschule Kassel<br />

wirkt aber auch ein<br />

wenig protzig<br />

vermittelt Wertigkeit <strong>und</strong> Optimismus, wirkt aber<br />

auch ein wenig protzig. Neuer Reichtum in Kassel?<br />

Neuer Reichtum an der Kunsthochschule?<br />

Neuer Reichtum im Jahr 2006? In Zeiten von<br />

Hartz IV, anstehender Mehrwertsteuererhöhung<br />

<strong>und</strong> allgemeiner gesellschaftlicher Depression im<br />

ehemaligen Wirtschaftsw<strong>und</strong>erland?<br />

Der plakativ gewählte Ausstellungstitel sollte potenzielle<br />

Besucher aufmerksam machen <strong>und</strong> anregen,<br />

über die möglichen Bedeutungen von<br />

Reichtum zu refl ektieren. Kann es sich hier wirklich<br />

ausschließlich um ökonomischen Reichtum<br />

handeln? Wohl kaum. Die Kunsthochschule Kassel<br />

kämpft wie alle deutschen Hochschulen um<br />

die Aufrechterhaltung von Qualität <strong>und</strong> Quantität<br />

ihres Lehrangebots, <strong>und</strong> diesem Ziel ist sie in der<br />

Durchsetzung von zahlreichen Neuberufungen<br />

innerhalb der letzten drei Jahre ein gutes Stück<br />

näher gekommen. Trotz der allgemein schwierigen<br />

wirtschaftlichen Situation im Bildungsbereich<br />

hat man es geschafft, engagierte Künstler,<br />

Designer, Wissenschaftler <strong>und</strong> Pädagogen für<br />

Kassel zu gewinnen, die einen Generationswechsel<br />

eingeläutet <strong>und</strong> schon nach kurzer Zeit das<br />

Bild einer modernen Kunsthochschule geprägt<br />

haben. Darauf kann diese Institution stolz sein,<br />

wobei nicht nur sie, sondern eine ganze Stadt <strong>und</strong><br />

Region von diesem ideellen Reichtum profi tiert,<br />

den die Neuberufenen in ihren eigenständigen<br />

Positionen mitbringen.<br />

Die elf Positionen zeigen fast das ganze Spektrum,<br />

das an der Kunsthochschule gelehrt wird.<br />

Ihre Arbeiten sind extrem verschieden <strong>und</strong> thematisch<br />

nur schwer zu verknüpfen, was für die<br />

Konzeption der Ausstellung ein nicht unerhebliches<br />

Problem darstellte. Eine mögliche Lösung,<br />

nämlich die Bildung von Ausstellungskojen <strong>und</strong><br />

Bernhard Prinz, Epidemien, Ilfochrome, 1994/2000 <strong>und</strong><br />

Kleidermix aus der Privatsammlung des Künstlers<br />

Bjørn Melhus, Heaven (Ausschnitt), Installation,<br />

1991-2006<br />

Links: Joel Baumann, I Spy, Medieninstallation, 2006<br />

Rechts: Bjørn Melhus, Heaven, Installation, 1991-2006<br />

05


somit die ausschließliche Präsentation von Einzelpositionen,<br />

war von Anfang an inhaltlich nicht<br />

tragfähig, denn die Ausstellung hatte im Gr<strong>und</strong>e<br />

zwei Aufgaben zu bewältigen: zum einen mussten<br />

die einzelnen Arbeiten <strong>und</strong> die sich darin vermittelnden<br />

Ideen, Denkweisen <strong>und</strong> Thesen der Neuberufenen<br />

präsentiert werden, zum anderen sollten<br />

aber auch mögliche Synergien aufgezeigt sowie<br />

das allgemeine Selbstverständnis der Lehrenden<br />

vorgestellt werden, das sich in ihrer täglichen<br />

Zusammenarbeit an der Kunsthochschule<br />

entwickelt hat <strong>und</strong> in der Arbeit mit den Studierenden<br />

niederschlägt. Um diesen letzten Aspekt<br />

noch stärker zu thematisieren, wurden alle Professoren<br />

für den Katalog ausführlich interviewt.<br />

Als theoretischer Gegenpol zur Ausstellung, in<br />

der die Beteiligten in ihrer praktischen Tätigkeit<br />

als Künstler, Designer, Pädagoge oder Wissen-<br />

schaftler auftraten, soll der Katalog im Besonderen<br />

ihr Selbstverständnis als Lehrende an einer<br />

Kunsthochschule verdeutlichen. Bjørn Melhus<br />

zur Situation in Kassel: „Die Lehre hier in ihrer<br />

Offenheit schätze ich sehr, <strong>und</strong> ich hoffe, dass wir<br />

diese Offenheit auch behalten können.“<br />

Die bereits erwähnte Heterogenität der elf Positionen<br />

brachte nicht nur die Schwierigkeit mit sich,<br />

den Besuchern einen sinnvollen „Weg“ durch die<br />

Ausstellung vorzuschlagen, sie bot allein durch<br />

die Vielfalt der präsentierten Medien auch die<br />

Chance, eine interessante <strong>und</strong> abwechslungsreiche<br />

Ausstellung zu gestalten. Während der<br />

Ausstellungsvorbereitung <strong>und</strong> besonders während<br />

des Aufbaus entwickelten sich Arbeiten zu „Gelenkstellen“,<br />

die es den Besuchern ermöglichen<br />

sollten, Zusammenhänge zwischen den verschiedenen<br />

Positionen zu entdecken, ohne diese in einer<br />

allzu didaktischen Weise aufzuzeigen. In besonderer<br />

Weise avancierte die Medieninstallation<br />

„I Spy“ von Joel Baumann zu solch einer Gelenkstelle.<br />

Im Folgenden soll anhand der Verweis-<br />

<strong>und</strong> Assoziationsmöglichkeiten, die diese für den<br />

„NEUEN REICHTUM“ konzipierte Arbeit bot,<br />

ein nachträglicher virtueller R<strong>und</strong>gang durch die<br />

Ausstellung gewagt werden.<br />

5. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 105<br />

Bjørn Melhus, Heaven, Installation, 1991-2006<br />

Gleich im Eingangsbereich erwartete die Besucher<br />

der erste Teil von „I Spy“. Eine aus neun Monitoren<br />

formierte Wand war quer in den Raum<br />

gestellt <strong>und</strong> präsentierte ohne Unterlass geloopte<br />

Kurzvideos von häufi g albern agierenden Besucherköpfen.<br />

Neben der Monitorwand befand sich<br />

in Kopfhöhe ein Kasten, der mit einer kleinen<br />

Kamera ausgestattet war. Hier konnte man sich<br />

selbst aufnehmen <strong>und</strong> feststellen, dass die gerade<br />

gefi lmte Kurzaktion sofort auf einem der neun<br />

Monitore erschien, was wiederum dazu animierte,<br />

weitere Versuche zu unternehmen. Die geloopte<br />

Präsentationsform ließ seltsam interessante<br />

Bilder der Besucher entstehen, die sich, durch den<br />

Spaßfaktor angetrieben, freiwillig <strong>und</strong> scheinbar<br />

ohne Bedenken von einer Datenbank speichern<br />

ließen, die die Kurzvideos in zufälliger Reihenfolge<br />

immer wieder aufs Neue abspielte. Die Lust<br />

der Besucher an einer Selbstinszenierung <strong>und</strong> die<br />

Möglichkeit der Interaktion ließ die Datenbank<br />

im Laufe der fast dreimonatigen Ausstellungsdauer<br />

an die Grenzen ihrer Kapazität stoßen.<br />

Hatte man genug von bewegten Köpfen <strong>und</strong><br />

drehte sich um die eigene Achse, war man mit der<br />

37-teiligen Installation „Heads“ von Hendrik<br />

Dorgathen konfrontiert. An einer Wand hingen,<br />

ganz still <strong>und</strong> unbewegt, aus unterschiedlichsten<br />

Materialien gearbeitete Bilder von Köpfen, die<br />

der für seine Illustrationen <strong>und</strong> Comics bekannte<br />

Dorgathen über Jahre hinweg geschaffen hat:<br />

Köpfe aus Zigarettenschachteln oder Postversandtaschen,<br />

Köpfe aus Köpfen oder Köpfe, die<br />

wirkten, als entstammten sie der Art-Brut-Sammlung<br />

eines Hans Prinzhorn oder Jean Dubuffet.<br />

Köpfe sind für den Menschen wahrnehmungspsychologisch<br />

immer von großem Interesse. Wer<br />

kennt nicht den Effekt, dass man in vielen Formen<br />

Gesichter <strong>und</strong> somit Köpfe entdecken kann?


05. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 106<br />

Jakob Gebert, Ausstellungsarchitektur, 2006<br />

Drehte man sich ein Stück weiter <strong>und</strong> wendete<br />

den Blick zu den großen Fenstern des Fridericianums,<br />

war auch dort ein Kopf zu erblicken. Allerdings<br />

nicht in der gewohnten Gestalt, sondern in<br />

Form der Denkweise des Systemdesigners Wolfgang<br />

Jonas, der auf vier bedruckten Satin-Bannern<br />

die Arbeit „Erinnerung an die Zukunft“ präsentierte.<br />

Jonas, der die Entwicklung von Szenarien<br />

als methodisches Hilfsmittel für die Bildung<br />

eines Systemdesigns schätzt, hatte 1996 für den<br />

ostdeutschen Radiosender DT64 vier Zukunftsszenarien<br />

über die deutsche Gesellschaft<br />

des Jahres 2005 entwickelt, um die Anforderungen<br />

an eine neue Website des Senders zu klä-<br />

ren. Im Interview für den Katalog erklärte er die<br />

Notwendigkeit dieses methodischen Ansatzes:<br />

„Die Szenarioforschung wird in Kassel auch mein<br />

Schwerpunkt werden, zusammen mit anderen<br />

methodischen Ansätzen. Weil ich glaube, dass<br />

Gestaltung tatsächlich mit eher spekulativen, ungewissen<br />

Entwicklungen, Sinnbildern, Situationen<br />

rechnen muss. Die gesellschaftlichen, ökologischen,<br />

kulturellen Entwicklungen müssen ein<br />

Stück vorausgedacht werden, damit man in diesem<br />

Kontext Gestaltung machen kann. Das ist<br />

zentral im Systemdesign: Die Grenze des Ent-<br />

wurfsfeldes auszudehnen, d. h. vom Produkt wegzukommen<br />

zu den soziokulturellen Netzen, in<br />

denen Design stattfi ndet.“<br />

Direkt davor hatte ein weiterer Produktdesigner<br />

seine Position aufgebaut. Jakob Gebert, Professor<br />

für Möbeldesign <strong>und</strong> Ausstellungsarchitektur,<br />

war es sehr wichtig, eine Präsentationsform zu<br />

fi nden, die seiner Arbeit <strong>und</strong> Lehre an der Kunsthochschule<br />

gerecht wurde. Er bestand darauf,<br />

auch Arbeiten seiner Studenten zu zeigen, <strong>und</strong> die<br />

Ausstellungsarchitektur, die er mit Carmen Luippold<br />

entwarf, spiegelte sein Selbstverständnis als<br />

Professor sehr deutlich wider. Er selbst zeigte seine<br />

Arbeiten nur fotografi sch innerhalb eines gebauten<br />

Oktogons mit abgeschrägten, thekenar-<br />

Er bestand darauf,<br />

auch Arbeiten seiner<br />

Studenten zu zeigen<br />

tigen Wänden, das ihm die Möglichkeit gab, die<br />

Entwürfe <strong>und</strong> Pläne der Arbeiten seiner Studenten<br />

außen anzulagern. In diesem Innen <strong>und</strong><br />

Außen kann man nachvollziehen, dass er seine<br />

Position als Nukleus für die Positionen der Studenten<br />

sieht <strong>und</strong> seine Vorstellungen gerade in<br />

deren Arbeiten wiederfi ndet. Ein nur im Inneren<br />

des „Denk-Gebäudes“ hörbares Interview bot den<br />

Besuchern eine weitere Möglichkeit der Auseinandersetzung<br />

mit Jakob Gebert.


05. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 107<br />

Bernhard Prinz, ohne Titel (God/Dog), Ilfochrom, 2002


FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 108<br />

Prototypen von Möbelstücken seiner Studenten<br />

fanden sich in der ganzen Ausstellung verteilt, so<br />

etwa die im Eingangsbereich als Theke genutzte<br />

Arbeit „Büro 330“ von Arne Amtsfeld, das<br />

„Holzhemd“ von Christian Poppel, das Regalsystem<br />

„Kombinator“ von Christof Schmidt <strong>und</strong> der<br />

Konsolentisch „Sissy, der Kaiserin neue Möbel“<br />

von Timm Herok.<br />

Doch zurück zur Medieninstallation „I Spy“, die<br />

nicht nur einen direkten Link zu Dorgathens<br />

Köpfen erlaubte, sondern auch zum „Projekt b“<br />

Alles bleibt vage,<br />

alles bleibt im<br />

Prozess, alles bleibt<br />

in Bewegung<br />

der Kunst- <strong>und</strong> Medienpädagogin Tanja Wetzel,<br />

die zum Thema „Berührung“ selbst gearbeitet<br />

hatte <strong>und</strong> arbeiten ließ. Das „Projekt b“ stellt eine<br />

weitere interessante Verbindung von Lehrenden<br />

<strong>und</strong> Studierenden dar, denn Tanja Wetzel hatte<br />

die Grafi kdesignerin Isabelle Winter beauftragt,<br />

zusammen mit einer Studentengruppe (Tanja Jürgensen,<br />

Judith Kappenstein, Arne Stegmann <strong>und</strong><br />

Katrin Rost) ein Konzept zu entwickeln <strong>und</strong> umzusetzen,<br />

das sich aus der physikalischen Tatsache<br />

nährte, dass es Berührung nicht geben kann,<br />

weil auf molekularer Ebene immer nur eine Annäherung<br />

möglich ist. So wie – <strong>und</strong> hier zeigt sich<br />

deutlich die kunstpädagogische Position von Wetzel<br />

– man sich Kunstwerke <strong>und</strong> ihre Bedeutung<br />

nicht umfassend aneignen kann. Im besten Fall<br />

nähert man sich ihnen an, <strong>und</strong> gerade im Bereich<br />

der Kunstvermittlung nähert man sich besser auf<br />

einem indirekten Weg an, was Wetzel mit ihrer<br />

Arbeit „Berührungen“, einem eigens für die Ausstellung<br />

gebauten Karambolagetisch mit drei Kugeln,<br />

sinnbildhaft dargestellt <strong>und</strong> für jeden Besucher<br />

sinnlich erfahrbar gemacht hat: nur der Weg<br />

über die Bande führt zum Ziel. Das „Projekt b“<br />

befasste sich zudem mit Blicken, Blickrichtungen,<br />

Tanja Wetzel, Berührungen, Objekt, 2006 Hendrik Dorgathen, aus: Head, Installation, 2006 Tanja Jürgensen, Judith Kappenstein, Arne Stegmann,<br />

Katrin Rost, Isabelle Winter,<br />

Projekt b, Fotokarton auf Metallplatten, 2006<br />

05. FE


ungerichteten Blicken, sich berührenden Blicken,<br />

ohne jedoch eine Direktheit des Blicks, wie sie<br />

bei den porträtartigen Kurzvideos von Joel Baumann<br />

vorherrscht, anzustreben. Alles bleibt vage,<br />

alles bleibt im Prozess, alles bleibt in Bewegung.<br />

Auf einer Metallwand konnten Foto-Scheiben,<br />

die „blickende Menschen“ zeigten, mit Text-<br />

Scheiben kombiniert werden, auf die physikalische<br />

Sätze gedruckt waren, wie etwa das „Gesetz<br />

der unmöglichen Berührung“. Eine zweite<br />

Metallwand trug Scheiben, die mit Begriffen aus<br />

der Sexualwissenschaft oder mit Vornamen beschriftet<br />

waren <strong>und</strong> die grafi sche Elemente trugen,<br />

durch die eine direkte assoziative Verbindung<br />

der Scheiben möglich wurde. Wie kann die<br />

von Berührungen getragene, menschliche Sexualität<br />

in eine sehr schnell moralisierende Wissenschaftssprache<br />

übersetzt werden? Mit dieser Frage<br />

<strong>und</strong> zugleich der sich darin andeutenden Kritik<br />

könnte diese Arbeit überschrieben werden.<br />

BR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 109<br />

Bernhard Prinz, Porzellanfi guren aus dem Privatbesitz des Künstlers<br />

Else Gabriel (Twin Gabriel), Jogging Musslima (e.),<br />

Farbfotografi e, 1996<br />

Else Gabriel (Twin Gabriel), Jogging Musslima (e.),<br />

Farbfotografi e, 1996<br />

Nach diesen vielfältigen interaktiven Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> gedanklichen Anregungen konnten<br />

sich die Besucher in den Raum des Trick- <strong>und</strong><br />

Animationsfi lmers Andreas Hykade begeben, um<br />

sich dort den 15minütigen Animationsfi lm „Ring<br />

of Fire“ anzusehen, der von menschlichen Gr<strong>und</strong>erfahrungen<br />

wie Sexualität, Triebhaftigkeit, Gewalt,<br />

Fre<strong>und</strong>schaft, Liebe <strong>und</strong> Vergebung handelt.<br />

Ein w<strong>und</strong>erbarer Film, der in Westernmanier die<br />

Beziehungen dreier Figuren thematisiert <strong>und</strong><br />

trotz der Gewaltszenen einen anrührenden Zauber<br />

entwickeln kann. Hykades Animationsfi lm<br />

für Erwachsene war seiner Arbeit „Tom <strong>und</strong> das<br />

Erdbeermarmeladebrot mit Honig“ gegenübergestellt,<br />

einem interaktiven Trickfi lm für Kinder,<br />

der für die Website der WDR-Produktion „Die<br />

Sendung mit der Maus“ entstand.<br />

Neben Andreas Hykade ist es Bjørn Melhus, der<br />

in seinen Arbeiten das Medium Film nutzt. Melhus,<br />

Professor für Bildende Kunst/Virtuelle Realitäten<br />

<strong>und</strong> international renommierter Videokünstler,<br />

entschied sich allerdings gegen eine<br />

Präsentation seiner Videoarbeiten. Er hat für die<br />

Ausstellung eine mit „Heaven“ betitelte Installation<br />

geschaffen, die sich aus Kostümen <strong>und</strong> Kulissen<br />

aus insgesamt vierzehn seiner Filme zusammensetzte<br />

<strong>und</strong> mit verschiedenen auf Monitoren<br />

präsentierten Videosequenzen kombiniert<br />

war: geloopte Ausschnitte aus einer us-amerikanischen<br />

Nachrichtensendung, aus einer leidenschaftlichen<br />

Fernsehpredigt sowie aus „The Wizard<br />

of Oz“ mit Judy Garland in der Rolle der<br />

Dorothy aus dem Jahr 1939. All dies ermöglichte


05. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 110<br />

den Besuchern einen kaleidoskopartigen Blick in<br />

die Arbeitsweise <strong>und</strong> die Inspirationsquellen<br />

eines Künstlers – ein Schaufenster in die Welt<br />

von Bjørn Melhus, die ein kleines Utensil enthielt,<br />

das uns wieder zu Joel Baumann <strong>und</strong> seiner Arbeit<br />

„I Spy“ führt: eine kleine in eine Brille inte-<br />

All dies ermöglichte<br />

den Besuchern einen<br />

kaleidoskopartigen<br />

Blick<br />

grierte Kamera, deren Bild permanent auf einen<br />

Monitor im Nebenraum übertragen wurde. Dort,<br />

in direkter Beziehung zu den Arbeiten von Bernhard<br />

Prinz <strong>und</strong> Kai-Uwe Hemken, bestand die<br />

Möglichkeit, andere Besucher bei der Betrachtung<br />

der Installation von Melhus zu beobachten<br />

<strong>und</strong> über einen in die Wand eingelassenen Auslöserknopf<br />

aufzunehmen. Die dabei entstandenen<br />

Bilder wurden auf zwei Monitore geschickt, die<br />

sich im Rücken der überwachten Besucher befanden.<br />

Der Vorgang der Aufnahme kündigte sich<br />

übrigens über einige leuchtende Dioden auf der<br />

Brille an, um beim aufgenommenen Besucher<br />

Aufmerksamkeit für das Objekt <strong>und</strong> somit auch<br />

für die versteckte Kamera zu erzeugen. Ein ganz<br />

ähnliches Verfahren, jedoch mit anderen Mitteln,<br />

hatte Dan Graham schon 1974 bei seinem Environment<br />

„Present Continuous Past(s)“ genutzt,<br />

allerdings eher mit der Intention, das Thema Zeit<br />

zu beleuchten, ohne jedoch auf Anspielungen auf<br />

das schon damals aktuelle Thema einer allgegenwärtigen<br />

Überwachung zu verzichten.<br />

Baumanns Überwachungsmonitor wurde ganz<br />

bewusst in direkter Nähe zur Installation (bestehend<br />

aus Fotografi en, Wort-, Porzellanfi guren-<br />

<strong>und</strong> Seidentüchersammlungen) des experimentierfreudigen<br />

Fotografen Bernhard Prinz sowie<br />

Jürgen Meyer, ohne Titel, Öl auf Leinwand, 2004-06<br />

der Arbeit „No Comment“ des Kunstwissenschaftlers<br />

Kai-Uwe Hemken aufgehängt, entstand<br />

hierdurch doch ein riesiges Assoziationsfeld zum<br />

Thema „visuelle Kultur“. Hemken, der sich als<br />

Theoretiker damit an einer Ausstellung von Praktikern<br />

beteiligte, zeigte auf einem einfachen<br />

Fernseher den Film „Media Magica II – Durchsehekunst“<br />

(1995-97) von Werner Nekes, einen<br />

Film, der die vielfältigen Instrumente <strong>und</strong> Medien<br />

dokumentiert, die das menschliche Sehen<br />

schärfen, die Wahrnehmung verbessern oder einfach<br />

nur unterhalten. Von der Camera Obscura<br />

über Vexierbilder bis hin zu Daumenkinos hat<br />

Nekes mit ungefähr 25.000 Objekten die weltweit<br />

größte Sammlung zur Geschichte der optischen<br />

Medien zusammengetragen. Hemken, der sich<br />

wissenschaftlich immer wieder intensiv mit dem<br />

Sehen auseinandergesetzt hat, fasst die Beziehungen<br />

zu den Arbeiten von Prinz <strong>und</strong> Baumann<br />

in seinem Interview wie folgt zusammen: „Einer<br />

der konzeptionellen Aspekte, die ich mit meiner<br />

‚Nekes-Installationʻ anspreche, ist der Verweis<br />

auf eine kollektive visuelle Kultur. Vor diesem<br />

Problemhorizont trete ich in der Ausstellung in<br />

einen Trialog mit Bernhard Prinz <strong>und</strong> Joel Baumann,<br />

die als Künstler mit ‚technischen Bildernʻ<br />

operieren: In einer Achse stehen sich die Nekes-<br />

Installation <strong>und</strong> eine Fotografi e von Prinz gegen-


05. FEBR. - 23. APRIL 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 111<br />

über <strong>und</strong> thematisieren die lange Geschichte der<br />

Wechselwirkung von bildender Kunst (Malerei)<br />

<strong>und</strong> optischen Medien (Camera obscura, Fotografi<br />

e, Neue Medien).“<br />

Im Nachbarraum präsentierte Else Gabriel die<br />

Arbeit „Jogging Muslima“. Gabriel, die seit 1991<br />

zusammen mit Ullf Wrede unter dem Pseudonym<br />

„(e.) Twin Gabriel“ arbeitet, ist Professorin für<br />

die Basisklasse Kunst. Sie zeigte unterschiedlich<br />

große Farbfotografi en, die eine Performance dokumentieren<br />

<strong>und</strong> zugleich stark ästhetisieren.<br />

Gabriel zeigt sich zusammen mit Ulf Wrede <strong>und</strong><br />

ihren beiden Kindern in selbst genähten, muslimisch<br />

wirkenden Kleidern <strong>und</strong> Kopftüchern in<br />

einem Park in Berlin-Neukölln. Dass es sich um<br />

joggende muslimische Mitbürger handelt, ist eine<br />

sehr direkte, erste Assoziation. Doch schnell wird<br />

klar, dass die Fotografi en <strong>und</strong> auch das präsentierte<br />

Video eine Vielfalt an Assoziationen ermöglichen.<br />

Abhängig vom persönlichen Bildgedächtnis<br />

des Betrachters, das nur einen Bruchteil<br />

der kollektiven Bilder <strong>und</strong> Bildbedeutungen enthalten<br />

kann, entstehen interessante Zusammenhänge,<br />

deren Refl exion immer neue Deutungen<br />

der Fotos ermöglichen. Es sei nur eine Assoziation<br />

genannt, die den kunstinteressierten Besuchern<br />

sicher nicht entgangen ist: Die Heilige Familie<br />

auf der Flucht nach Ägypten. Besonders<br />

eine Aufnahme im Mondlicht lässt diesen möglichen<br />

Verweis entstehen, denkt man doch sofort<br />

an Adam Elsheimer <strong>und</strong> sein gleichnamiges Öl-<br />

gemälde aus dem Jahr 1609. Womit wir im Rahmen<br />

dieses virtuellen R<strong>und</strong>gangs nun beim vielleicht<br />

akademischsten aller Medien angelangt<br />

sind: der Malerei.<br />

Jürgen Meyer, seit 2003 Professor für Malerei an<br />

der Kunsthochschule Kassel, stellte seine neuesten<br />

Arbeiten aus, die an drei Orten innerhalb der<br />

Ausstellung hingen: im Eingangsbereich, an der<br />

Es geht um Freiheit,<br />

die Freiheit der<br />

Formulierung.<br />

zentralen Wand im ersten Raum, sowie einige<br />

kleinere Arbeiten als Fries gehängt im Dialog mit<br />

„Heaven“ von Bjørn Melhus. Meyers abstrakte<br />

Gemälde haben eine unmittelbare haptische Qualität.<br />

Durch die Verwendung von auf die Leinwand<br />

gegossenen dickfl üssigen Metallfarben in<br />

Kupfer <strong>und</strong> Gold entwickeln sie eine reliefartige<br />

Struktur, die Bewegung <strong>und</strong> Ruhe zugleich ausstrahlt<br />

<strong>und</strong> dazu verführt, die Farbe berühren zu<br />

wollen. Die Arbeiten scheinen beeinfl usst von der<br />

informellen Kunst der 1950er Jahre, etwa der Malerei<br />

eines Karl Otto Götz. Sie spiegeln das künstlerische<br />

Gr<strong>und</strong>prinzip der Suche nach Formen<br />

wider: Auge <strong>und</strong> Hand steuern Aktion, Innehal-<br />

ten <strong>und</strong> Reaktion <strong>und</strong> lassen dabei Bilder entstehen,<br />

die diesen komplexen Vorgang scheinbar erfahrbar<br />

machen. Jürgen Meyer im Interview: „Es<br />

geht um Freiheit, die Freiheit der Formulierung.<br />

Gleichzeitig fordern meine Bilder von mir eine<br />

gewisse Absichtslosigkeit.“<br />

Möglichst viel Freiheit wünschen sich alle neuberufenen<br />

Professoren. Freiheiten in der Lehre,<br />

Freiräume für die eigene Arbeit, Befreiung von<br />

der immer größeren Last der Bürokratisierung<br />

des Alltags an einer Kunsthochschule. NEUER<br />

REICHTUM muss gepfl egt werden, damit er für<br />

die Studierenden einen Ertrag bringen kann. Wie<br />

die Neuberufenen mit einer sich abzeichnenden,<br />

stärker werdenden Reglementierung <strong>und</strong> Einengung<br />

ihrer Arbeit umgehen werden, bleibt abzuwarten.<br />

Den Schlüssel zur erfolgreichen Bewältigung<br />

besitzen sie bereits: die Kreativität.<br />

Dirk Pörschmann


14. MAI - 25. JUNI 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 112<br />

Vor dem Fridericianum haben blaue Lastwagen<br />

des THW Kassel Aufstellung genommen. Eine<br />

Lichtgiraffe ist direkt vor dem Portikus postiert<br />

<strong>und</strong> bestrahlt den Eingang zum Kasseler <strong>Kunstverein</strong>.<br />

Uniformierte Helfer gehen ein <strong>und</strong> aus.<br />

Wer am Sonntag, den 14. Mai zur Eröffnung von<br />

„2 aus … Stuttgart: Christine Rusche/Georg Winter“<br />

gekommen war, musste sich fragen: Was ist<br />

hier los?<br />

Drinnen ist das Foyer des <strong>Kunstverein</strong>s in eine<br />

zentrale Leitstelle der Katastrophenhelfer verwandelt.<br />

Hier werden die Ankommenenden oder<br />

Hereingetragenen aufgenommen <strong>und</strong> in die verschiedenen<br />

Behandlungsräume weitergeleitet, wo<br />

professionelles Personal <strong>und</strong> Gerät für sie bereit<br />

stehen.<br />

Wer ist hier noch zu retten?<br />

2 aus … Stuttgart: Christine Rusche/Georg Winter<br />

Georg Winter, der dieses cded (cultural disasters<br />

emergency drill) konzipiert hat, eine Katastrophenschutzübung<br />

für kulturelle Massenveranstaltungen,<br />

für die er die Räume des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s<br />

besetzt hat, bewegt sich völlig unaufgeregt<br />

zwischen den „Neugierigen“ <strong>und</strong> „Opfern“<br />

Apotheker Manfred Ballmann bei der Behandlung einer<br />

Patientin mit UCS-Augentrost<br />

herum, organisiert <strong>und</strong> hilft, wo es nötig ist. Nicht<br />

jeder ist sich seiner Rolle hier sicher, zumal nicht<br />

ganz klar ist, welche Katastrophe eigentlich eingetreten<br />

ist. Gleichwohl werden die Angebote<br />

schnell angenommen – auch wenn kein tatsächlicher<br />

Schwächeanfall vorliegt, keine Hysterie<br />

oder Ohnmacht eingetreten ist.<br />

„Meine Damen <strong>und</strong> Herren! Mein Name ist<br />

Werner Demme. Ich bin Mitglied im Vorstand<br />

des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s. Wie geht es Ihnen?<br />

Wie fühlen Sie sich gerade? Ich habe die ‚2 aus<br />

Stuttgart: Christine Rusche/Georg Winterʻ gebeten,<br />

für die Räume des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s<br />

eine Arbeit zu realisieren. Ich bin also ganz allein<br />

verantwortlich! Falls Sie jetzt aggressive oder<br />

aber auch euphorische Regungen gegen mich, den<br />

<strong>Kunstverein</strong>, gegen die Werke oder die Künstler<br />

verspüren sollten, bitte ich Sie dringend, die Angebote<br />

Georg Winters anzunehmen, um Ihre Situation<br />

zu bewältigen“, so erklärt der Kurator zur<br />

Einführung.<br />

Detaillierte Anweisungen liefert ein von Georg<br />

Winter entwickeltes kleines Handbuch (mit einem<br />

Text von Ute Heddergott, Supervisorin <strong>und</strong> Therapeutin),<br />

das am Empfang <strong>und</strong> an allen Behand-


14. MAI - 25. JUNI 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 113<br />

Das THW Kassel bei der Behandlung eines Schwächeanfalls<br />

lungsstationen ausliegt. Darin heißt es: „Kulturelle<br />

Massenveranstaltungen ob spielerischer,<br />

sportlicher, musikalischer oder künstlerischer<br />

Art, charakterisieren sich durch die räumliche<br />

<strong>und</strong> zeitliche Verdichtung einer größeren Menge<br />

von Menschen mit zielgerichteter Motivation.<br />

Unterhaltung, Zerstreuung, Zusammengehörigkeitsgefühl,<br />

Erkenntnis etc. sind mit dem Ereignis<br />

verb<strong>und</strong>ene Erwartungen. Eine Beteiligung<br />

ändert den Zustand <strong>und</strong> die Befi ndlichkeit des<br />

Einzelnen, wie den der Masse. Nach Gustave Le<br />

Bon, dem Vater der Massenpsychologie, sind als<br />

Eigenschaften der Masse, Triebhaftigkeit (impulsivité),<br />

Reizbarkeit (irritabilité), Unfähigkeit zum<br />

logischen Denken, Mangel an Urteil <strong>und</strong> kritischem<br />

Geist, Überschwang der Gefühle (exagération<br />

des sentiments) zu beobachten. Ferner verändern<br />

sich Eigenschaften des Einzelnen in dem<br />

Augenblick, da sie zu einer Masse gehören.“<br />

Georg Winter, Bereitstellungsraum, Installation 2006<br />

In den „Anleitungen zur Krisenintervention“ ist<br />

der „Idealtypische Ablauf im Interventionsraum“<br />

beschrieben <strong>und</strong> mit Zeichnungen erläutert. Dort<br />

Sind ein oder mehrere<br />

Krisenauslöser zu<br />

erkennen?<br />

heißt es z. B. unter der Überschrift „Problemanalyse“:<br />

„In der Problemanalyse geht es dem Helfer<br />

darum zu erfahren, was eigentlich los ist. Sind<br />

ein oder mehrere Krisenauslöser zu erkennen?<br />

Welche spezifi schen Stressoren können eruiert<br />

werden? (Soziale Beziehungen: z. B. Beziehungskonfl<br />

ikte durch aufgeheizte Stimmung, Verlust<br />

durch Trennung der Partner oder Familie im Gemenge;<br />

Materieller Bereich: hohe Eintrittspreise;<br />

Werte <strong>und</strong> Normen: Glaubenszweifel, kultureller<br />

Wertewandel …) Im nächsten Schritt sollte der<br />

Helfer versuchen, sich ein umfassendes Bild von<br />

der aktuellen Lebenssituation des Besuchers zu


14. MAI - 25. JUNI 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 114<br />

machen, denn er kann hier mögliche Hinweise<br />

darauf fi nden, weshalb der Besucher auf bestimmte<br />

Reize besonders empfi ndlich reagiert. Es<br />

kann dann also verständlich werden, weshalb ihn<br />

bestimmte Exponate in eine so tiefe Krise führen:<br />

Sie treffen einfach auf einen vulnerablen Bereich<br />

seiner Persönlichkeit.“<br />

„Zeige deine W<strong>und</strong>e!“<br />

„Zeige deine W<strong>und</strong>e!“ steht auf einem Flugblatt,<br />

das Beuys-Fre<strong>und</strong>e zu einer Demonstration in<br />

München aufruft, <strong>und</strong> „Nicht schon wieder!“ auf<br />

einem zweiten, mit dem Beuys-Gegner darauf<br />

geantwortet haben. Wie diese beiden Gruppen<br />

sich auf der Straße begegnen, die Situation eskaliert,<br />

beide Seiten ihr „Fett weg“ kriegen (so ein<br />

Transparent) <strong>und</strong> schließlich die Polizei eingreift<br />

<strong>und</strong> die Schlägerei beendet, zeigt ein Videofi lm,<br />

der als „Schulungsfi lm zur Deeskalation“ gekennzeichnet<br />

ist. Er bildet die Geräuschkulisse,<br />

THW Kassel vor dem Kasseler <strong>Kunstverein</strong>


14. MAI - 25. JUNI 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 115<br />

Georg Winter, UCS-Augentrost-Behandlungsraum, 2006<br />

eine kulturelle Katastrophe aus der Ferne, wenn<br />

man schließlich auf einem der zwanzig Feldbetten<br />

liegt, um die eigene Katastrophe abklingen zu<br />

lassen. Mit einer Reizabsorberdecke kann man<br />

sich vor Blickkontakt schützen, man kann sich<br />

mit einer silbern-goldenen Rettungsdecke abdecken<br />

<strong>und</strong> sich eine kleine Bärenglocke am Daumen<br />

befestigen, um sich mehr <strong>und</strong> mehr zu wecken<br />

oder doch noch einmal heftig einen Helfer<br />

zu rufen.<br />

Alles ist real hier<br />

Alles ist real hier, vom Megaphon über die Kräuter,<br />

die man inhalieren kann, bis zu den Feldbetten<br />

(die man als Edition mit den entsprechenden<br />

Utensilien <strong>und</strong> dem Gebrauchsanweisungskatalog<br />

für 300 Eur als limitierte Edition<br />

kaufen kann). Aber der „Ernstfall“ gewinnt an<br />

Humor, wenn man bemerkt, wie Georg Winter<br />

die Begriffe an ihre doppelte Bedeutung führt. –<br />

Augenwischerei?<br />

„SNATCH“ nennt Christine Rusche ihre Raum-<br />

Zeichnung, die sie vor Ort in zweiwöchiger Arbeit<br />

realisiert hat. Im englischen Wörterbuch<br />

steht unter „snatch“: „schneller Griff, Ruck,<br />

Stückchen, Augenblick, ruckweise an sich reißen,<br />

greifen nach, entreißen, aufraffen“. Eine Vielzahl<br />

von handlungsorientierten Appellen, sowohl körperlicher<br />

als auch geistiger Art. Das passt. Um<br />

ihren Eingriff in den architektonischen Raum zu<br />

beschreiben, müsste man die Sprache ebenfalls<br />

dekonstruieren.<br />

Der Besucher ist in Christine Rusches Raum auf<br />

der ständigen Suche nach einer Verortung seines<br />

eigenen Betrachterstandpunktes im Raum <strong>und</strong><br />

setzt sich – zumal wenn er sich im Raum bewegt<br />

– über Indizien raumdefi nierender Formen ständig<br />

in ein neues Verhältnis zur Zeichnung. Mehrmals<br />

setzt ein Konvolut von Zeichen neu an <strong>und</strong><br />

montiert so bruchstückhafte <strong>und</strong> unmögliche<br />

Räume. Darüber hinaus löst sich die Zeichnung<br />

von der Wand <strong>und</strong> wird zu tatsächlich gebauten<br />

Flächen im Raum. Die schwarzen Streifen <strong>und</strong><br />

Dreiecke verwandeln sich in Schatten <strong>und</strong> geben<br />

so einen neuen Raum. So kann man alles zusammen<br />

im Hinein- <strong>und</strong> Hindurch- <strong>und</strong> Vorbeigehen<br />

im Auge – <strong>und</strong> von dort aus über den Gleichgewichtssinn:<br />

im Körper – zu einem riesigen Mobile<br />

machen, das offenbar frei schwebt <strong>und</strong> sich<br />

bewegt.<br />

Ihre mit Tusche auf Backlit-Film entwickelten<br />

Zeichnungen, die Christine Rusche in einem ge-


KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 116<br />

Christine Rusche, SNATCH (Raum-Zeichnung),<br />

Dispersion auf Wand, 2006<br />

fangenen Raum zeigt, geben Aufschluss, woher<br />

diese Konstruktionen kommen, <strong>und</strong> zeigen<br />

gleichzeitig die ungeheuren künstlerischen Möglichkeiten<br />

auf, die sich durch ihr Prinzip der Dekonstruktion<br />

<strong>und</strong> Montage ergeben. Der Blick in<br />

einen U-Bahn-Schacht z. B. gibt gegenständlichen<br />

Halt, wird aber irritiert, wenn man merkt,<br />

dass das „große schwarze Loch“ am Ende der<br />

Treppe eine aufgesetzte Form ist, die nur scheinbar<br />

etwas mit der umliegenden Zeichnung zu tun<br />

hat. Die scharfe grafi sche Aufl ösung einer „Landschaft“<br />

generiert Facetten von Architekturen, die<br />

keinen gemeinsamen Boden unter sich haben.<br />

Und schließlich entwickelt sich aus geometrischen<br />

Formen ein Raumgefühl, das die Frage<br />

nach der Konstruierbarkeit von (Raum-)Illusion<br />

– <strong>und</strong> dem Sinn einheitlicher Räume – ganz<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich stellt.<br />

Die „2 aus … Stuttgart“ kannten sich vorher<br />

nicht. Dass sie es trotzdem gewagt haben, bei so<br />

unterschiedlichen künstlerischen Ansätzen gemeinsam<br />

aufzutreten, ist mutig. Die Ausstellung<br />

– als insgesamte Installation – zeigt, dass nicht<br />

nur das gemeinsame Schwarz-Weiß sie verbindet,<br />

sondern auch die Frage nach der Konstruktion<br />

von Wirklichkeiten <strong>und</strong> den Strategien der Illusion.<br />

Bernhard Balkenhol/Werner Demme<br />

Christine Rusche, SNATCH (Raum-Zeichnung),<br />

Dispersion auf Wand, 2006<br />

14. MAI - 25. JUNI 2006


KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 117<br />

Bild rechts: Christine Rusche, SNATCH (Raum-Zeichnung)<br />

(Ausschnitt), Dispersion auf Wand, 2006


09. JULI - 11. AUGUST 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 118<br />

Robert Barta | Ellen Berendes | Christine Budde |<br />

Mariechen Danz | Robert Elfgen | Luka Fineisen |<br />

Antonia Low | Rana Matloub | Nadine Nordmann<br />

| Edith Plattner | Kathrin Schlegel | Peter Schmitt<br />

| Marina Schulze | Stefan Silies<br />

Lieber Friedrich,<br />

danke für die Einladung, werde sehen, was sich<br />

machen lässt, <strong>und</strong> …<br />

Grüße<br />

Mariechen<br />

Nein, so könnte der Brief einer Künstlerin Mitte<br />

des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts nicht geschrieben sein – zumal<br />

„weibliche Künstler“ sehr selten waren. Untertänigst<br />

hätte man/frau sich an Friedrich II. gewandt,<br />

der als Landgraf in Kassel residierte, <strong>und</strong><br />

ihm seine Dienste angeboten, auch wenn er der<br />

erste Fürst der Aufklärung war – so sagt man<br />

heute. Jetzt steht er steinern <strong>und</strong> erhaben auf dem<br />

Friedrichsplatz, hilfl os den Graffi tis ausgesetzt,<br />

stolz <strong>und</strong> erhaben seinem Fridericianum zugewandt,<br />

das er 1769 bis 1779 von Simon Louis du<br />

Ry (nach Vorgaben des berühmten Revolutionsarchitekten<br />

Claude-Nicolas Ledoux) hat errichten<br />

lassen, als erstes Gebäude (der Welt), das als Museum<br />

konzipiert wurde. Nach dem Britischen<br />

Museum in London war es dann auch das zweite<br />

Museum, das seine Sammlungen der Öffentlichkeit<br />

zugänglich machte – auch wenn das nicht<br />

heißt, dass es gleich für jedermann/frau geöffnet<br />

war wie die weitgehend erhaltenen Sammlungen<br />

heute in der Orangerie, der Neuen Galerie oder<br />

dem Museum Schloss Wilhelmshöhe.<br />

Lieber Friedrich,<br />

Abschlussausstellung der Stipendiatinnen <strong>und</strong> Stipendiaten<br />

der Künstlerförderung des Cusanuswerks<br />

Eröffnung am<br />

Samstag, den 8. Juli<br />

um 18 Uhr<br />

Stefan Silies, Der verzauberte Leutnant<br />

(Ausschnitt), Collage, 2006<br />

„Lieber Friedrich“ könnte also die forsche Anrede<br />

sein, die den frischen Wind <strong>und</strong> Geist zu nutzen<br />

versucht, die Verhältnisse umzukehren – etwa<br />

wie Robert Barta das vorschlägt mit „Time to<br />

Change the World“, eine Arbeit bei der er ein Siegerpodest<br />

umgekehrt in eine Kiste baute. Aber<br />

das hätte Friedrich nicht zugelassen. Das hätte<br />

selbst Napoleons Bruder Jérôme Bonaparte nicht<br />

zugelassen, der in seiner Regentschaft in Kassel<br />

1810 das Fridericianum umbauen <strong>und</strong> erweitern<br />

ließ, um daraus den „Palast der Stände“ zu machen,<br />

das erste deutsche Parlamentsgebäude.<br />

„Lieber Friedrich,“ ist aber doch vielleicht eher<br />

eine Anrede an eine vertraute Person, geschrieben<br />

von einem, der noch Briefe schreibt <strong>und</strong> darin<br />

zum Beispiel Abschied nimmt – wie die romantisch<br />

anmutenden Wanderer von Robert Elfgen,<br />

die er für ein Fenster im Fridericianum vorgesehen<br />

hat <strong>und</strong> denen er (vielleicht mit Blick auf das<br />

Ende seines Stipendiums) das Lied „Nehmt Abschied<br />

Brüder, …“ von Robert Burns in den M<strong>und</strong><br />

legt.<br />

Wenn die Stipendiatinnen <strong>und</strong> Stipendiaten des<br />

Cusanuswerks ihre Abschlussausstellung also<br />

nicht programmatisch etwa „ever change places“<br />

nennen – in Abwandlung von „changing places“,<br />

der Abschlussausstellung 2001 in den gleichen<br />

Räumen –, sondern „Lieber Friedrich,“ dann geben<br />

sie sich eher privat – in einem so öffentlichen<br />

Raum wie dem Kasseler <strong>Kunstverein</strong>. Sie wenden<br />

sich an Friedrich wie an ihren Fre<strong>und</strong> <strong>und</strong> Vertrauten,<br />

den sie sich vielleicht nicht als Stellvertreter<br />

der Obrigkeit, sondern als den einer interessierten<br />

Öffentlichkeit vorstellen, im Vertrauen<br />

ihrerseits, persönlich <strong>und</strong> mit ihrer Arbeit geschätzt<br />

zu werden.<br />

Ein solcher „Friedrich“ fi ele in der Straßenbahn<br />

vielleicht erst auf den zweiten Blick auf als ein<br />

Landesfürst, der ausländische Handwerker <strong>und</strong><br />

Wissenschaftler ins Land holte, um die großen<br />

Vorhaben zu meistern, die er (inter regio) im Kopf<br />

hatte – <strong>und</strong> der in seinem Rucksack kleine Geschichten<br />

mitführt <strong>und</strong> für seine Sitznachbarn<br />

vorspielt, die Rana Matloub, aufgewachsen in<br />

Bagdad, als akustische Zeichnungen ihm anvertraut<br />

hat. Sie werden von freiwilligen „Paten“<br />

vom Friedrichsplatz aus in vier Linien in die Peripherie<br />

Kassels <strong>und</strong> wieder zurück gefahren/erzählt.


09. JULI - 11. AUGUST 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 119<br />

Robert Elfgen, brüderungewiss, Installation, 2006<br />

Für die ausstellenden Künstlerinnen <strong>und</strong> Künstler<br />

war es vor Jahren das Cusanuswerk, das sie mit<br />

„Lieber Friedrich,“ angeschrieben haben, um sich<br />

für ein Stipendium zu bewerben. Neben der fi nanziellen<br />

Unterstützung wurde den Stipendiatinnen<br />

<strong>und</strong> Stipendiaten ein umfangreiches Bildungsprogramm<br />

zuteil. Diese Bildungsveranstaltungen<br />

forderten dazu auf, Position zu beziehen <strong>und</strong> die<br />

eigene Überzeugung <strong>und</strong> Leidenschaft nicht zu<br />

verstecken. Die Herausforderung des interdisziplinären<br />

Gesprächs aller Studierenden bestand<br />

darin, die leisen Töne ebenso zur Geltung zu<br />

bringen wie die raumgreifende Geste. Jetzt sind<br />

sie in der sechsten Abschlussausstellung im fünfzehnten<br />

Jahr der Künstlerförderung mit dabei.<br />

Sie haben die Ausstellung selbstständig kuratiert<br />

<strong>und</strong> gemeinsam den Katalog gestaltet. Wie das<br />

Komma gleichwertige Hauptsätze voneinander<br />

trennt, stehen die einzelnen künstlerischen Positionen<br />

eigenständig nebeneinander, ohne ihre Bezüge<br />

verleugnen zu wollen.<br />

Und alle dürfen hoffen, dass die Förderung vielleicht<br />

doch noch nicht zu Ende geht. Denn zugleich<br />

wird im Rahmen dieser Ausstellung das<br />

weiterführende Georg-Meistermann-Stipendium<br />

Stefan Silies, Der verzauberte Leutnant<br />

(Ausschnitt), Collage, 2006<br />

verliehen. Es ermöglicht ihnen, unmittelbar nach<br />

Abschluss ihres Studiums zwei Jahre lang intensiv<br />

weiter zu arbeiten <strong>und</strong> den Einstieg in die<br />

Selbstständigkeit vorzubereiten. Das Stipendium<br />

umfasst zudem die Finanzierung einer Einzelausstellung.<br />

Wer das weiß, mag ins Träumen geraten – so wie<br />

manch einer der hessischen Soldaten damals naiv<br />

von den Sternen geträumt hat, wie sie die Amerikanische<br />

Flagge dann zierten. Nach diesen Sternen<br />

greifen noch heute so viele Flüchtlinge an<br />

den gut bewachten amerikanischen Grenzen. Und<br />

mit ihnen „Der verzauberte Leutnant“ von Stefan<br />

Silies, der seine „Sockenpuppen“, die „Live-<br />

Socks“, von ihrer selbst gebastelten Sternwarte<br />

aus die Himmelskörper beobachten lässt. Sie stellen<br />

sich vor, was sie dort erwarten könnte <strong>und</strong><br />

schicken ihren Besten los, nachzuschauen. Zwischen<br />

Himmel <strong>und</strong> Erde bleiben sie hängen, funken<br />

zur Erde, dass sie nicht näher herankämen.<br />

Dann sind sie nicht mehr zu verstehen … „Hallo,<br />

lieber Friedrich, ...“ Leider gehört der Zwehrener<br />

Turm, der als Wehrturm <strong>und</strong> einstiges Stadttor<br />

den Schliff der mittelalterlichen Stadtfestung<br />

überdauerte <strong>und</strong> in das Fridericianum integriert<br />

wurde, nicht zu den Räumen des <strong>Kunstverein</strong>s.<br />

Ich hätte ihn gern Stefan Silies zur Verfügung gestellt,<br />

denn er war lange Zeit fürstliche Sternwarte,<br />

deren Gerätschaften noch heute im Technikmuseum<br />

zu besichtigen sind.<br />

Interessant, auch Luka Fineisen arbeitet an diesem<br />

Thema. „Ich würde gerne eine Sternschnuppe<br />

aus Wasser zeigen, die in längeren Abständen<br />

von einem Metallbehälter (mit Alustangengestellen<br />

erhöht) in einen anderen (noch höher erhöht)<br />

springt.“ Per weitergeleiteten Mails hat der<br />

<strong>Kunstverein</strong> die Planung der Ausstellung verfolgen<br />

können. Die Präsentation der vorbereiteten<br />

Ellen Berendes, Waiter 2, Installation, 2006<br />

Arbeiten am ersten Tag des Aufbaus wird für sie<br />

– wie für alle anderen auch – eine große Überraschung,<br />

ein Geschenk. Mitmischen wollten sie<br />

noch nicht, sondern nur erwartungsvoll zurückschreiben:<br />

Kassel, den 6. Juni 2006<br />

Liebes Mariechen <strong>und</strong> all Ihr anderen<br />

Stipendiatinnen <strong>und</strong> Stipendiaten,<br />

herzlich willkommen im Fridericianum<br />

<strong>und</strong> dem Kasseler <strong>Kunstverein</strong>.<br />

Bernhard Balkenhol


1. SEPT. - 08. OKT. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 120<br />

Jens Carstensen, D | Max Christian Graeff, CH |<br />

Bernard Heidsiek, F | Yoko Ono, USA | Bernd<br />

Salfner, D | Joachim Schmid, D | Mark W. Sutherland,<br />

CAN<br />

„Poetische Positionen II“ ist die Fortsetzung einer<br />

Ausstellungsreihe des Kasseler <strong>Kunstverein</strong>s,<br />

die 2004 damit begonnen hat, Künstler vorzustellen,<br />

die auf unterschiedliche Art <strong>und</strong> Weise in<br />

den Bereichen Bildende Kunst <strong>und</strong> Sprache arbeiten.<br />

Nachdem in der Ausstellung „Poetische Positionen<br />

I“ Arbeiten gezeigt wurden, die die Sprache<br />

als elementare Darstellungsform der Kunst<br />

nutzen, wird das Schwerpunktthema der Ausstellung<br />

„Poetische Positionen II“ Text, Klang <strong>und</strong><br />

So<strong>und</strong> sein. Initiiert hat diese Reihe Jürgen O.<br />

Olbrich, selbst ein Künstler, der seit vielen Jahren<br />

mit Text <strong>und</strong> Sprache arbeitet.<br />

Portrait W. Mark Sutherland<br />

W. Mark Sutherland, Scratch, Vinyl-<br />

Schallplatten, tragbarer Kofferplattenspieler<br />

aus den 60er Jahren, 1998<br />

(Foto: Isaac Applebaum)<br />

Poetische Positionen II<br />

Eröffnung: Donnerstag, 31. August 2006, 19 Uhr<br />

Bernard Heisieck, aus: Alphabet, Collage, 2004<br />

Der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> zeigt in der Ausstellung<br />

sieben sehr verschiedene künstlerische Positionen.<br />

Den Künstlern geht es nicht darum, die<br />

Grenzen der Bereiche Bildende Kunst, Literatur<br />

<strong>und</strong> Musik aufzuheben, sondern im Gegenteil,<br />

Überschneidungen <strong>und</strong> synergetische Effekte<br />

herzustellen. Das Spektrum von „Poetische Positionen<br />

II“ ist breit gefächert: Künstler mit unterschiedlichstem<br />

Backgro<strong>und</strong> (Performance, Fotografi<br />

e, Komposition, Klang-Aktion) aus unterschiedlichen<br />

Generationen mit unterschiedlichen<br />

Herangehensweisen <strong>und</strong> Positionen treffen hier<br />

aufeinander. Das reicht von der bildlichen wie<br />

sprachlichen Dokumentation einer Schiffsreise<br />

von Bremerhaven nach Kassel des Komponisten<br />

<strong>und</strong> Klang-Aktionisten Jens Carstensen, über<br />

Collagen aus Tonspurresten des in Paris lebenden<br />

Sprachpoeten Bernard Heidsieck bis hin zu<br />

Schallplatten-Installationen des Kanadischen<br />

Künstlers Mark W. Sutherland. Für diese Ausstellung<br />

konnte auch die New Yorker Künstlerin<br />

Yoko Ono gewonnen werden, deren poetische Arbeiten<br />

nicht nur auf den Wänden <strong>und</strong> Decken im<br />

Kasseler <strong>Kunstverein</strong> ausgestellt werden, sondern<br />

die auch im gesamten Stadtgebiet Kassels, für jedermann<br />

les- <strong>und</strong> sichtbar, eine neue Arbeit realisieren<br />

wird.<br />

Ergänzt wird die Ausstellung durch ein umfangreiches<br />

Rahmenprogramm. So sind unter anderem<br />

So<strong>und</strong>-Performances der Künstler Bernard<br />

Heidsieck <strong>und</strong> Mark W. Sutherland für die Ausstellungseröffnung<br />

<strong>und</strong> zur Kasseler Museumsnacht<br />

am 2. September geplant.<br />

Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.


1. SEPT. - 08. OKT. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 121<br />

Bernard Heisieck, aus: Alphabet, Collage, 2004<br />

Yoko Ono, Träume, Plakat, 2006


22. OKT. - 26. NOV. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 122<br />

Arnold-Bode-Preis 2006<br />

Der Arnold-Bode-Preisträger 2006 heißt Hans<br />

Schabus. Der 1970 in Watschig, Österreich, geborene<br />

Bildhauer <strong>und</strong> Filmemacher lebt <strong>und</strong> arbeitet<br />

in Wien, wo er von 1991 bis 1996 die Kunstakademie<br />

besuchte. Der bedeutendste Künstlerpreis<br />

der documenta-Stadt Kassel, dotiert mit 10.000<br />

Euro, wird am 21. Oktober, 17 Uhr im <strong>Kunstverein</strong><br />

verliehen. Max Hollein, Direktor der Schirn<br />

<strong>Kunsthalle</strong> <strong>und</strong> des Städelschen Kunstinstituts in<br />

Frankfurt, wird die Laudatio halten.<br />

International bekannt wurde Hans Schabus durch<br />

die Aufsehen erregende Überbauung des Österreichischen<br />

Pavillons auf der Biennale in Venedig<br />

2005 („Das letzte Land“; Kommissar: Max Hol-<br />

lein). Ein monumentales, mit Teerpappe bedecktes<br />

Bergmassiv, das nur im Inneren begehbar war.<br />

Dort ermöglichte eine labyrinthische Balkenkonstruktion,<br />

die an die Carceri von Piranesi erinnerte,<br />

den Aufstieg mit überraschenden Ausblicken<br />

auf die Lagunenstadt.<br />

Wie hier die dialektische Spannung von Innen-<br />

<strong>und</strong> Außenwelt einen Prozess unterschiedlichster<br />

Assoziationen <strong>und</strong> Empfi ndungen in Gang setzte,<br />

so versteht es Hans Schabus immer wieder, komplexe<br />

<strong>und</strong> vielschichtige Zusammenhänge in so<br />

Preis geht an Hans Schabus, Preisverleihung am 21.10.2006 um 17 Uhr<br />

Hans Schabus<br />

Preisträgerausstellung<br />

21.10. – 26.11.2006<br />

Eröffnung am 21.10.2006 um 17 Uhr<br />

Ein monumentales,<br />

mit Teerpappe bedecktes<br />

Bergmassiv<br />

die Unterwelt der<br />

Wiener Kanalisation<br />

anschauliche wie auch symbolträchtige <strong>und</strong> sinnfällige<br />

Bilder zu fassen, ohne sie jedoch dadurch<br />

zu enträtseln oder zu banalisieren.<br />

Aufgefallen war Schabus schon auf der Manifesta<br />

4 in Frankfurt (2002) mit einem Segeltörn, der<br />

ihn durch die Unterwelt der Wiener Kanalisation<br />

führte. Ein durch den Dritten Mann berühmt gewordener<br />

Drehort. In dieser Videoinstallation mit<br />

dem Titel „Wienfl uß“ prallten archaische Motive<br />

(Odyssee, Orpheus) <strong>und</strong> der Thrill eines Hollywood-Krimis<br />

in assoziationsgeladenem Crossover<br />

aufeinander.<br />

Überblickt man die Vielzahl der Installationen,<br />

die der Künstler bisher an wichtigen internationalen<br />

Instituten realisiert hat, wird deutlich, dass es<br />

ihm um die physische <strong>und</strong> psychische Erschließung<br />

wirklicher <strong>und</strong> imaginierter Räume geht –<br />

<strong>und</strong> um die damit verb<strong>und</strong>enen Schwierigkeiten.<br />

So sind Boot, Berg, Tunnel, Passage einerseits<br />

konkrete gestalterische Herausforderungen, die<br />

er mit technischer Akribie plant <strong>und</strong> realisiert, sie<br />

funktionieren aber zugleich als poetische Metaphern.<br />

Dabei interessiert Hans Schabus vor allem<br />

22


. OKT. - 26. NOV. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 123<br />

Hans Schabus, Das letzte Land, Österreichische Pavillion, 51. Biennale die Venezia, 2005<br />

das im doppelten Sinn „Untergründige“. Er nimmt<br />

uns mit auf Raumreisen, die uns in die Tiefen des<br />

Weltraums („Astronaut – kommt gleich“) <strong>und</strong> in<br />

die Tiefenpsychologie der Träume führen können.<br />

So vermittelt eine seiner jüngsten Arbeiten,<br />

„Shock Corridor“, ein unendlicher Tunnel als<br />

Beitrag zur Ausstellung „Night Sites“ im <strong>Kunstverein</strong><br />

Hannover, auf äußerst eindringliche Weise<br />

das Urerlebnis der Dunkelheit.<br />

Mit der Preisverleihung wird gleichzeitig eine<br />

Ausstellung eröffnet, die Hans Schabus für den<br />

<strong>Kunstverein</strong> einrichten wird <strong>und</strong> die bis zum 26.<br />

November zu sehen sein wird. Hans Schabus hat<br />

sich sehr gefreut, dass er der letzte Künstler vor<br />

der documenta 12 im Kasseler <strong>Kunstverein</strong> sein<br />

wird <strong>und</strong> sich die Tatsache zunutze machen kann,<br />

dass die Räume dann „roh“ übergeben werden<br />

können. Man darf gespannt sein, zu welch radikalen<br />

Lösungen ihn das anregt.<br />

Heiner Georgsdorf<br />

Arnold-Bode-Preis der documenta-Stadt Kassel<br />

Bisherige Preisträger/Innen:<br />

1980 Hannsjörg Voth, 1981 Mario Merz, 1982<br />

Gerhard Richter, 1983 Gerhard Merz, 1984 Walter<br />

Pichler, 1985 Ulrich Rückriem, 1986 Rebecca<br />

Horn, 1987 Wolfgang Laib, 1988 Edward Kienholz,<br />

1990 Thomas Schütte, 1992 Reiner Ruthenbeck,<br />

1994 Olaf Metzel, 1996 Tony Oursler, 1997<br />

Richard Hamilton, 1999 Penny Yassour, 2001<br />

Stan Douglas, 2002 Maria Eichhorn, 2004 Maurizio<br />

Cattelan<br />

Hans Schabus, Das letzte Land (Ausschnitt), Österreichische<br />

Pavillion, 51. Biennale die Venezia, 2005<br />

Hans Schabus, Das letzte Land (Ausschnitt), Österreichische<br />

Pavillion, 51. Biennale die Venezia, 2005<br />

Dem Kuratorium gehörten an:<br />

Prof. Karl Oskar Blase (Ehrenvorsitzender),<br />

Roger M. Buergel (als Leiter der documenta 12),<br />

Prof. Heiner Georgsdorf (als Vertreter der Kunsthochschule<br />

Kassel, Vorsitzender), Dr. Klaus<br />

Lukas (Kasseler Sparkasse, als Verwalter des<br />

Stiftungsvermögens), E. R. Nele (als Vertreterin<br />

der Familie Bode), Alfred Nemeczek (ehem.<br />

stellvertretender Chefredakteur des Kunstmagazins<br />

art)


KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 124<br />

Service <strong>und</strong> Danksagung des <strong>Kunstverein</strong>s<br />

Der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> ist eine gemeinnützige<br />

Einrichtung. Spenden sind steuerlich absetzbar.<br />

Der jährliche Mitgliedsbeitrag beträgt für Einzel-<br />

552 Mitglieder<br />

personen 50 Eur, für Paare <strong>und</strong> Familien 70 Eur,<br />

für Künstler/innen, Student/innen <strong>und</strong> Rentner/<br />

innen 20 Eur.<br />

Am 31.5.2006 hatte der Kasseler <strong>Kunstverein</strong> 552<br />

Mitglieder.<br />

Die letzte Mitgliederversammlung fand am 10.<br />

Mai 2006 statt. Darin wurde nach dem Rechenschafts-<br />

<strong>und</strong> Kassenbericht des Vorsitzenden <strong>und</strong><br />

dem Bericht des Kassenprüfers der Vorstand entlastet<br />

<strong>und</strong> für die kommenden zwei Jahre der neue<br />

Vorstand gewählt:<br />

Bernhard Balkenhol (Vorsitzender) / Werner<br />

Demme / Juliane Gallo / Kai-Uwe Hemken / Susanne<br />

Jakubczyk (Schriftführerin) / Meinrad Ladleif<br />

/ Ilka Müller-Jastrzembowski (Schatzmeisterin)<br />

/ Jürgen O. Olbrich (stellvertretender Vorsitzender)<br />

/ Heide Rattemeyer<br />

Adresse:<br />

Fridericianum, Friedrichsplatz 18, 34117 Kassel,<br />

Telefon 0561-77 11 69, Fax 0561 77 94 21,<br />

E-Mail: info@<strong>kassel</strong>erkunstverein.de,<br />

www.<strong>kassel</strong>erkunstverein.de<br />

Öffnungszeiten:<br />

Mittwoch bis Sonntag 11–18 Uhr<br />

Eintritt:<br />

3,00 Eur / 1,50 Eur ermäßigt,<br />

mittwochs freier Eintritt<br />

Konto:<br />

Kasseler Sparkasse BLZ 520 503 53,<br />

Kontonummer 59381<br />

Leitung der Geschäftsstelle:<br />

Elke Bernhart M. A.<br />

Fotografen:<br />

Stefan Daub, Diana Kühn, Dieter Schwerdtle


Führungen:<br />

Romina Abate, Elke Bernhart M.A., Leonie<br />

Böhm, Tanja Fohr, Juliane Gallo M.A., Irmhild<br />

Hartinger, Britta Jeserich, Christine Messerschmidt,<br />

Dirk Müller, Alexandra Nunez, Andrea<br />

Obijou, Jörn Peters, Janna Rakowski, Andrea<br />

Schüll, Friederike Siebert, Sarah Walters, Gerd<br />

Zarbock <strong>und</strong> Studierende des Seminars „Die<br />

Neuen (Arbeitstitel) Ausstellungsprojekt der<br />

Kunsthochschule im Kasseler <strong>Kunstverein</strong>“ des<br />

Studiengangs Kunstwissenschaft unter der Leitung<br />

von Prof. Dr. Kai-Uwe Hemken<br />

Auf-/Abbau:<br />

Christian Fleiter, Sebastian Fleiter, Martina Fischer,<br />

Michael Göbel, Paul Kirschner, Kristiane<br />

Krüger, Ralf Mahr, Milen Miltchev, Patrick Muise,<br />

Jörn Peters, Annegret Philipsen, Heinrich<br />

Schröder, Catrine Val, Olaf Val, Vesselin Vassilev,<br />

Martin Zeihe<br />

Büroteam/Aufsicht:<br />

Shida Ardehali, Yvonne Bialek, Kathrin Funke,<br />

Oliver Funke, Johannes Hartmann,<br />

Kathrin Hubenthal, Nicole Jana, Britta Jeserich,<br />

Lutz Könecke, Annegret Luck, Charlotte Mumm,<br />

Julia Richter, Anne Katrin Schier, Anna Schopf,<br />

Andrea Schüll, Katrin Sickinger, Aylin Uçar,<br />

Mark Warnecke, Kim A. Welling, Anja Wöhlke,<br />

Fan Yang<br />

Ehrenamtliche Mitarbeiter/innen:<br />

Hanna Bayer, Heike Pönitz<br />

Dank an:<br />

Art & Public Galerie, Genf, Manfred Ballmann,<br />

Stephan Balkenhol, Hanna Bayer, Angelika Beck,<br />

Nora Bendl, BMW AG, München, Dr. Roman<br />

Buxbaum, Deutsche Amphibolin-Werke von Robert<br />

Murjahn Stiftung & Co KG, Geschäftsbereich<br />

CAPAROL Farben Lacke Bautenschutz,<br />

Ober-Ramstadt, documenta <strong>und</strong> Museum Fridericianum<br />

Veranstaltungs-GmbH, Engholm Engelhorn<br />

Galerie, Wien, Fre<strong>und</strong>eskreis der Kunsthochschule<br />

Kassel, Galerie Monika Sprüth/Philomene<br />

Magers, Köln, Galerie Terminus, München,<br />

Andreas Gebhardt, Hilke Gerke, Michael<br />

Göbel, Ute Heddergott, Hessisches Ministerium<br />

für Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst, Wiesbaden, Adalbert<br />

Hösle, Institut für Urban Ethology, Nürn-<br />

berg, Kulturamt der Stadt Kassel, Kunsthochschule<br />

Kassel, Christof Lutz, Museum der bildenden<br />

Künste, Leipzig, Jörn Peters, Heike Pönitz,<br />

Dirk Pörschmann, Firma Rennert Bauunternehmung<br />

GmbH, Kassel, Lisa Röper, Gottfried<br />

Schultz GmbH, Düsseldorf, Karin Stempel, Schülerinnen<br />

der Theodor-Heuss-Schule, Homberg,<br />

Studierende der Kunsthochschule Kassel, THW<br />

Kassel, Jürgen Volke, Isabelle Winter, Katharina<br />

Wittmann<br />

KASSELER KUNSTVEREIN SEITE 125<br />

Dank für großzügige Spenden an:<br />

Bernhard Balkenhol, Bernadine Bautsch, Dr. Erhard<br />

Biermer. Hannelore Brunsiek-Lahner, Annegret<br />

Engelbrecht, Hans-Joachim Hiob, Anton<br />

Henning, Annemarie Jungmann, Otto Klein,<br />

Walter Klonk, Dr. Friederike Kollmar, Christian<br />

Kopetzki, Donna Ingrid Kopp, Milana Landmesser,<br />

Ernst Dieter Lantermann, Hans-Dieter Müller,<br />

Wolfgang Mütze, Alexandra de Neufville,<br />

Georg Ritter, Helga Christine Rix-Bode, Gerhard<br />

Roettger, Dietrich Schmitz-Hertzberg, Helmut<br />

Slenczka, Sozietät Schween Montel Albus, Claudia<br />

Velke, Hildegard Wagner, ZVK Kassel <strong>und</strong><br />

herzlichen Dank an alle Künstler, die durch ihre<br />

Spende die Tombola möglich gemacht haben.


SEITE SEITE 1 1<br />

-ur<br />

gleichen Zur gleichen Zeit war Zeit die war Kunsthochschule die Kunsthochschule KasKas- -el<br />

Thema sel Thema im <strong>Kunstverein</strong>. im <strong>Kunstverein</strong>. NEUER NEUER REICHTUM<br />

r so – der so Ausstellungstitel der Ausstellungstitel – ist – dort ist eingetreten dort eingetreten<br />

-urch<br />

durch die Neubesetzung die Neubesetzung eines eines Drittels Drittels der Profes- der Profesorenstellensorenstellen<br />

quer quer durch durch alle Studiengänge. alle Studiengänge. ProProssorenfessoren der Kunst, der Kunst, des Design des Design bis hin bis zu hin Kunst- zu Kunstissenschaftwissenschaft<br />

<strong>und</strong> Kunst- <strong>und</strong> Kunst- <strong>und</strong> Medienpädagogik<br />

<strong>und</strong> Medienpädagogik<br />

ellten stellten sich vor sich <strong>und</strong> vor thematisierten <strong>und</strong> thematisierten gleichzeitig, gleichzeitig,<br />

as sie was unter sie unter Lehre Lehre verstehen. verstehen. Ergebnisse Ergebnisse des des<br />

tudierens Studierens unter unter solchen solchen Bedingungen – nicht – nicht nur nur<br />

Kassel in Kassel – zeigen – zeigen die Stipendiaten die Stipendiaten des Cusanus- des Cusanuserkswerks<br />

im Juli/August. im Juli/August. Zwei Zwei von ihnen von ihnen werden werden am am<br />

2. August 12. August mit dem mit Georg-Meistermann-Stipen-<br />

dem Georg-Meistermann-Stipeniumdium<br />

ausgezeichnet werden. werden. Ohne Ohne große große Pause Pause<br />

eht es geht weiter es weiter in den in Herbst den Herbst mit Poetischen mit Poetischen PosiPosionentionen II, wo II, es wo diesmal es diesmal nicht nicht nur um nur Text um <strong>und</strong> Text <strong>und</strong><br />

prache, Sprache, sondern sondern auch um auch Musik um Musik <strong>und</strong> So<strong>und</strong> <strong>und</strong> So<strong>und</strong> geht. geht.<br />

oko Yoko Ono wird Ono wird dabei dabei sein. sein. Und bevor Und bevor die Hand- die Handerkerwerker<br />

kommen, kommen, um das um Fridericianum das Fridericianum (endlich) (endlich)<br />

it einer mit einer Klimaanlage zu versehen zu versehen <strong>und</strong> für <strong>und</strong> die für die<br />

cumenta documenta 12 fi t 12 zu fi machen, t zu machen, wird wird Hans Hans Schabus Schabus<br />

vorauseilendem in vorauseilendem Eifer Eifer den <strong>Kunstverein</strong> den <strong>Kunstverein</strong> schon schon<br />

al abreißen. mal abreißen.<br />

ie kommenden Die kommenden Ausgaben Ausgaben des ein+alle des ein+alle Magazins Magazins<br />

erden werden als Sonderausgaben als Sonderausgaben der <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong> (De(Demberzember 2006) 2006) <strong>und</strong> des <strong>und</strong> <strong>Kunstverein</strong>s des <strong>Kunstverein</strong>s (Frühjahr (Frühjahr<br />

07) 2007) erscheinen. erscheinen. Das Dezemberheft Das Dezemberheft wird als wird Doals<br />

Domentationkumentation<br />

zu der zu Ausstellungsreihe der Ausstellungsreihe 5 Tage 5 Tage bis bis<br />

m Ende zum Ende der Kunst der Kunst ausführliche ausführliche Informationen<br />

den zu Ausstellungskonzepten den Ausstellungskonzepten der Kuratoren der Kuratoren sosoie deren wie deren Umsetzung Umsetzung enthalten. enthalten. Zusätzlich Zusätzlich gibt gibt<br />

s Heft das Heft einen einen Rückblick Rückblick auf die auf 2x4-jährige die 2x4-jährige<br />

usstellungsperiode Ausstellungsperiode der <strong>Kunsthalle</strong> der <strong>Kunsthalle</strong> unter unter der der<br />

itung Leitung von René von René Block. Block. Im Frühjahr Im Frühjahr 2007 2007 wird wird<br />

r <strong>Kunstverein</strong> der <strong>Kunstverein</strong> wie gewohnt wie gewohnt Rückblick Rückblick <strong>und</strong> Aus- <strong>und</strong> Ausickblick<br />

auf seine auf seine Arbeit Arbeit geben, geben, während während die Kunst- die Kunstllehalle<br />

aufgr<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> der documenta der documenta 12 pausiert. 12 pausiert.<br />

ir hegen Wir hegen die große die große Hoffnung, Hoffnung, dass ab dass 2008 ab 2008 eine eine<br />

meinsame gemeinsame Weiterführung des Heftes des Heftes möglich möglich<br />

. ist.<br />

nen II<br />

hr<br />

eisieck, aus: Alphabet, Collage, 2004<br />

SEITE 120<br />

asseler <strong>Kunstverein</strong> zeigt in der Ausstelsieben<br />

sehr verschiedene künstlerische Posien.<br />

Den Künstlern geht es nicht darum, die<br />

nzen der Bereiche Bildende Kunst, Literatur<br />

Musik aufzuheben, sondern im Gegenteil,<br />

ngen <strong>und</strong> synergetische Effekte<br />

trum von „Poetische Posiünstler<br />

mit unterce,Fotor-<br />

1. SEPT. - 08. OKT. 2006 KASSELER KUNSTVEREIN<br />

Künstlers Mark W. Sutherland. Für diese Ausstellung<br />

konnte auch die New Yorker Künstlerin<br />

Yoko Ono gewonnen werden, deren poetische Arbeiten<br />

nicht nur auf den Wänden <strong>und</strong> Decken im<br />

Kasseler <strong>Kunstverein</strong> ausgestellt werden, sondern<br />

die auch im gesamten Stadtgebiet Kassels, für jedermann<br />

les- <strong>und</strong> sichtbar, eine neue Arbeit realisieren<br />

wird.<br />

Ergänzt wird die Ausstellung durch ein umfanghes<br />

Rahmenprogramm. So sind unter ande-<br />

Performances der Künstler Bernard<br />

W. Sutherland für die Aus-<br />

Kasseler Museums-<br />

Bernard Heisieck, aus: Alphabet, Collage, 2004


SOMMER 2006<br />

Kun<br />

Kuratoren <strong>und</strong> Kuratogramm<br />

der

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