Jahresbericht 2009 (PDF) - Zentrum für Zeithistorische Forschung ...
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Zum einen – im territorialen Sinne – scheint mit der liberalisierung der späten 1960er<br />
Jahre die vermittlungsrolle Prags und der böhmischen länder zurückgekehrt zu sein, die<br />
sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im zentraleuropäischen wissenschafts-<br />
austausch gespielt hatten, hauptsächlich dank der beiden Prager Universitäten mit so<br />
herausragenden namen wie ernst Mach und albert einstein <strong>für</strong> Physik, carl Stumpf <strong>für</strong><br />
Psychologie, Max dvořák <strong>für</strong> Kunstgeschichte oder roman Jakobson <strong>für</strong> Sprachwissenschaft.<br />
alle diese hervorragenden wissenschaftler, die in Prag studierten oder als lehrer<br />
wirkten, waren jeweils Begründer der modernen auffassung ihrer disziplinen. 5<br />
Zum anderen war der Prager Frühling eine Schnittstelle des Wissenschaftstransfers<br />
auch im temporalen Sinne. Gerade Ende der 1960er Jahre zeichnete sich ein allgemeiner<br />
Paradigmenwechsel in der Auffassung der Geisteswissenschaften ab: weg von der auf dem<br />
Fortschrittsglauben basierenden Erkenntnissicherheit hin zur tiefen Wissenschaftsskepsis.<br />
Der Prager Frühling kann in gewissem Sinne als ein Kräftemessen zwischen den beiden<br />
Wissenschaftsbegriffen betrachtet werden: auf der einen Seite der sowohl im Westen als<br />
auch im Osten herrschende Glaube an die gesellschaftliche Gestaltungskraft der Wissenschaft<br />
der 1960er Jahre, der sich im Westen besonders ausdrucksvoll im »Godesberger<br />
Programm« der SPD niederschlug und noch Brandts Regierungserklärung von 1969 wie<br />
auch das Aktionsprogramm der KPTsch vom April 1968 in starkem Maße prägte. Auf der<br />
anderen Seite fand sich das allgemeine Krisenbewusstsein der 1970er Jahre, das den<br />
Wissenschaftsoptimismus tief erschütterte. Aus transfergeschichtlicher Perspektive ist<br />
im Bezug auf den Prager Frühling zu fragen, was während der tschechoslowakischen<br />
Reformperiode der späten 1960er Jahre aus dem Westen aufgenommen und verarbeitet<br />
wurde und, daran anknüpfend, wie diese intellektuellen Produkte, ausgestattet mit der<br />
Aura des aus dem »Osten« Kommenden, aber dennoch Originellen und Nichtdogmatischen,<br />
wiederum im Westen wahrgenommen wurden. War der Prager Frühling also ein<br />
Umschlagplatz des intellektuellen Kargos zwischen Ost und West, zwischen dem Fortschrittsoptimismus<br />
der 1960er Jahre und dem Krisenbewusstsein der späten 1970er Jahre?<br />
5 Zur Geschichte der Prager Universitäten siehe H. Lemberg (Hg.), Universitäten in nationaler Konkurrenz. Zur Geschichte<br />
der Prager Universitäten im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003.<br />
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