Jahresbericht 2009 (PDF) - Zentrum für Zeithistorische Forschung ...

und kommentiert. Die tschechischen und slowakischen wissenschaftlichen und intellektuellen
Periodika wurden während des Jahres 1968 geradezu überflutet von Übersetzungen
und Rezensionen von Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Roger Garaudy, Karl Korsch,
Herbert Marcuse, Lucien Goldmann, Erich Fromm und anderen; es erschienen auch Aufsätze
von Georg Lukács und Leszek Kołakowski. 10 Insgesamt handelte es sich also um Ideenströmungen,
die zwar das marxistisch-leninistische Modell in Zweifel gezogen haben,
aber dennoch an die Rekonstruktion des marxistischen Projektes glaubten. Interessanterweise
rückte das bereits seit den 1940er Jahren übersetzte Werk Antonio Gramscis im
Kontext des Prager Frühlings in ein neues Licht. 11 Es scheint kein Zufall zu sein, dass in
den Kommentaren gerade Gramscis absoluter Historismus, die Forderung einer offenen
Geschichte fast rankeanischer Prägung und die Ablehnung von jeder Form des linearen
Geschichtsfinalismus herausgegriffen wurden. 12 Gramscis Begriff der Geschichte als
menschlich Veränderbares bedeutete zugleich die Rückkehr der Politik als des Strebens
nach der Veränderung der Welt. Parolen wie »Politik ist alles und alles ist Politik« deuten
auf eine Tendenz zur neuartigen Politisierung der Geisteswissenschaften hin.
war gramscis geschichtsauffassung wie auch die der meisten »revisionisten« noch
mit einem, wenn auch stark korrigierten glauben an eine geschichtliche Sinngebung
erfüllt, so meldeten sich in den tschechischen und slowakischen diskussionen um 1968
bereits auch ideenströmungen zu wort, die das Projekt der Moderne mit seinem integrationszwang
per se bezweifelten: es war gerade während des Prager Frühlings, als die
ersten tschechischen Kommentare zu roland Barthes, claude lévi-Strauss und anderen
werken des französischen Strukturalismus erschienen. 13 ausführlich besprach man aber
unter anderem Michel Foucaults »les mots et les choses«, dessen Schlusskapitel »Psychoanalyse
und ethnologie« im Frühjahr 1968 auf tschechisch veröffentlicht wurde. 14
in diesem Spannungsfeld zwischen einem korrigierten Zukunftsglauben und der
resignativen geschichtsskepsis befanden sich auch die zwei aus meiner Sicht wirkungsvollsten
Beispiele des geisteswissenschaftlichen transfers des Prager Frühlings, die ich
im Folgenden kurz darstellen möchte: Zum einen die unter der leitung des Philosophen
10 Siehe z.B. Karl Korsch o vedomi a jeho predmete [Karl Korsch über das Bewusstsein und seinen Gegenstand], in:
Filozofia 23 (1968), S. 187 – 192; Milan Zigo, Spor o Garaudyho poňatie marxizmu [Der Streit über Garaudys Auffassung
des Marxismus], in: ebd., S. 504 – 512; Jiří Černý, Marx v Západním Německu [Marx in Westdeutschland], in:
Filosofický časopis 26 (1968), S. 883–888; Zdeněk Javůrek, Pozdní seznámení: Lucien Goldmann, Humanitní vědy
a filosofie [Spätes Kennenlernen. Lucien Goldmann, Humanwissenschaften und Philosophie], in: ebd., S.326 – 331.
11 Vor 1968 wurden veröffentlicht: Dopisy z vězení (Lettere dal carcere), Praha 1949; Sešity z vězení (Auswahl aus
Letteratura e vita nazionale, Risorgimento a Gli intelletuali e l‘organizzazione della cultura), Praha 1959; Historický
materialismus a filosofie Benedetta Croceho (Il materialismo storico e la filosofia di Benedetto Croce), Praha 1966;
Základy politiky (Elementi di politica), Praha 1967.
12 Bartošek, Rozumíme si s minulostí; Jiří A. Bednář, Poučení z Gramsciho [Lehren aus Gramsci], in: Filosofický časopis
26 (1968), S. 474 – 482.
13 František Zvěřina, O francouzském strukturalismu [Über den französischen Strukturalismus], in: Plamen 10 (1968),
N. 6, S. 90 – 94.
14 Michel Foucault, Psychoanalýza a etnologie, in: Plamen 10 (1968), N. 6, S. 83 – 86. Es gehört zur Ironie der Geschichte,
dass die tschechische Vollausgabe von »Les mots et les choses« fast weitere vier Jahrzehnte auf sich warten ließ
(sie erschien erst 2007). Hingegen wurde eine slowakische Übersetzung bereits 1987 veröffentlicht.
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