DIE PATCHWORK-FAMILIE - BMWA
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BUNDESMINISTERIUM<br />
FÜR SOZIALE SICHERHEIT UND GENERATIONEN<br />
<strong>DIE</strong> <strong>PATCHWORK</strong>-<strong>FAMILIE</strong> oder DER <strong>DIE</strong> DAS STIEF...<br />
<strong>DIE</strong> <strong>PATCHWORK</strong>-<strong>FAMILIE</strong><br />
oder<br />
DER <strong>DIE</strong> DAS STIEF...<br />
Ein Ratgeber für Familien und solche die es noch werden wollen
Impressum<br />
Eigentümer, Herausgeber und Verleger<br />
Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen<br />
1010 Wien, Stubenring 1<br />
Für den Inhalt verantwortlich:<br />
Abt. V/7, Mag. Maria Orthofer<br />
Autorinnen<br />
Univ. Prof. DDr. Liselotte Wilk<br />
Mag. Isabella Knall<br />
Dr. Renate Riedler-Singer<br />
Mag. Martina Gschwandtner<br />
Redaktionelle Bearbeitung<br />
Werner Wanschura<br />
Dank für die fachliche Beratung an<br />
Marina Dietze<br />
Gabriele Mayrhofer<br />
Grafische Gestaltung<br />
Veronika Gluttig<br />
Fotos<br />
Maria Orthofer<br />
Druck<br />
BMSG-Druckerei<br />
Erhältlich in der Abteilung V/7<br />
Franz Josefs-Kai 51, 1010 Wien<br />
Tel. 01/711 00 - 3330<br />
e-mail: jennifer.leitner@bmsg.gv.at<br />
Wien, Mai 2001
Vorwort<br />
Stieffamilien sind dabei, ihre „stiefmütterliche“<br />
Behandlung durch Wissenschaft, Medien und Politik<br />
abzustreifen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass<br />
es sich bei dieser Lebensform nicht mehr um eine<br />
kleine Minderheit handelt, sondern immer mehr Menschen<br />
nach einer Trennung das Wagnis einer neuen<br />
fixen Beziehung eingehen. Heute leben bereits<br />
6 – 8 % aller österreichischen Kinder in einer Stieffamilie.<br />
D.h. es wird normal, dass der neue Partner<br />
mit den leiblichen Eltern elterliche Funktionen und<br />
Rollen übernimmt und mit der Normalität verliert<br />
auch das Wort „Stief“ seine negative Bedeutung.<br />
Dennoch fehlt es noch oft an Mustern, wie denn<br />
diese Rollen und Aufgaben von den Beteiligten ausgefüllt<br />
werden können, wie sich die Zusammenarbeit<br />
und das Zusammenleben von mehreren Müttern,<br />
Vätern und Großeltern, d.h. das Zusammenspiel von<br />
„meinen, deinen und unseren Kindern“ gestalten<br />
lässt.<br />
Diese Broschüre soll Müttern, Vätern und Kindern Verhaltensweisen<br />
aufzeigen, die sich als konstruktiv, das<br />
Zusammenleben unterstützend erwiesen haben und<br />
auch jene nennen, die eher zu Konflikten führen. Sie<br />
3
asiert auf einer Studie der Johannes Kepler Universität<br />
Linz, Institut für Soziologie, die der Frage nachgegangen<br />
ist, wie sich Stieffamilien von anderen<br />
Familienformen unterscheiden und welche Faktoren es<br />
Stieffamilien erleichtern oder erschweren, ihre familiale<br />
Lebenswelt so zu gestalten, dass alle Mitglieder<br />
ihren Platz finden und sich in ihr wohl fühlen können.<br />
Ich wünsche mir, dass Ihnen der eine oder andere<br />
Hinweis hilft, wenn Sie ein neues Mitglied in Ihre<br />
Familie aufnehmen. Und wenn es bereits manchmal<br />
schwierig ist, hoffe ich, dass einzelne Tipps zur<br />
Lösung des Konfliktes in ihren Beziehungen beitragen<br />
können.<br />
Mag. Herbert Haupt<br />
Bundesminister<br />
für soziale Sicherheit und Generationen<br />
5
.<br />
Das Redaktionsteam<br />
Liselotte Wilk<br />
Isabella Knall<br />
Renate Riedler-Singer<br />
Martina Gschwandtner<br />
Werner Wanschura<br />
Maria Orthofer<br />
Veronika Gluttig
Vorwort<br />
Jede Familie ist einmalig. Auch jede Stieffamilie. Jede<br />
Familie hat ihre eigene Realität, und in der geht es,<br />
wie eben überall im Leben, in der Regel nicht gänzlich<br />
reibungslos zu.<br />
Trotzdem gibt es eine ganze Menge von Situationen,<br />
von denen man glaubt, niemand als man selbst<br />
müsse mit so etwas fertig werden — obwohl in Wirklichkeit<br />
die allermeisten Stieffamilien damit zu tun<br />
haben. Denn eines ist sicher: Sie sind mit Ihrem Problem<br />
nicht allein. Aufgabe der vorliegenden Broschüre<br />
ist es, Gemeinsamkeiten herauszustellen und Anregungen<br />
zu geben, wie mit den typischen Unebenheiten<br />
auf dem Weg des Zusammenlebens am besten<br />
zurechtzukommen ist.<br />
Wir möchten aufzeigen, wie die einzelnen Personen in<br />
einer Stieffamilie ihre Situation erleben können und<br />
welche Schwierigkeiten sie zu managen haben.<br />
Dadurch sollte es in Ihrer Familie besser gelingen,<br />
einander zu verstehen und aufeinander einzugehen.<br />
Freilich, Patentrezept haben wir keines. Solch ein Allheilmittel<br />
gibt es nicht. Wäre ja eigentlich auch fad.<br />
Doch mit dem Plus an Information, das Sie nach der<br />
7
Lektüre haben werden, sollte es leichter fallen, sich<br />
zu orientieren und die eigene Richtung, das passende<br />
Familienleben selbst zu suchen und zu finden.<br />
Wir bieten Ihnen an, sich einen Überblick zu schaffen,<br />
werden über typische Konstellationen in Stieffamilien<br />
sprechen und werden Hinweise geben, worauf man<br />
achten sollte. Wenn es gelingt, Sie damit zu entlasten<br />
und ein paar Schritte weiter auf dem Weg zu einem<br />
Miteinander in mehr Zufriedenheit und gegenseitigem<br />
Verständnis in der Stieffamilie zu begleiten, hätten<br />
wir unser Ziel erreicht.<br />
Dabei kann man sich helfen lassen — nicht nur durch<br />
diese Broschüre. Helfen lassen von der Familie, von<br />
einer Beratungsstelle, auch anonym, je nachdem. In<br />
Österreich gibt es mehr als 300 Familienberatungsstellen.<br />
Gelegenheit genug für jedermann/frau/kind,<br />
sich Auskunft, Rat und Hilfe zu holen.<br />
Telefon Familienservice: 0800/240 262 zum Ortstarif<br />
aus ganz Österreich.<br />
Für die Kinder in Stieffamilien haben wir ein eigenes<br />
Kapitel verfasst. Es liegt als eigene Broschüre bei.<br />
Die Grundlage des Ganzen ist eine wissenschaftliche<br />
Studie, die die Lebensbedingungen von Stieffamilien<br />
erforschte (Johannes Kepler Universität Linz, Institut<br />
für Soziologie, 1998).<br />
Das Redaktionsteam<br />
9
Begriff gesucht<br />
Stiefvater, Stiefmutter, Stiefkind...
Einleitung<br />
„Beziehungen innerhalb der Familie, die durch<br />
Wiederverheiratung eines Elternteils entstanden sind“,<br />
so definiert ein Wörterbuch den Begriff „Stief“!<br />
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Zahl der Stieffamilien<br />
stark erhöht.<br />
Das liegt teilweise an der hohen Bereitschaft von<br />
Paaren, sich zu trennen oder scheiden zu lassen,<br />
wenn die Beziehung nicht mehr ihre Erwartungen<br />
erfüllt. Scheidungen oder Trennungen sind oft wie<br />
eine Art Elementarereignis, bei dem alles auseinander<br />
strebt um sich neu zu formen.<br />
Zudem suchen die nach einer Scheidung oder<br />
Trennung „Übriggebliebenen“ häufig nach neuen<br />
Partnerschaften und Bindungen.<br />
Sind zwei Erwachsene dann bereit, sich mitsamt<br />
ihrem jeweiligen Anhang – das heißt ihren Kindern –<br />
zusammenzutun, hat sich eine neue Familie gebildet,<br />
nämlich eine Stieffamilie.<br />
So werden Stieffamilien zu einer Form des<br />
Zusammenlebens, die keineswegs eine seltene Rand-<br />
11
12<br />
erscheinung ist, sondern heute einfach zur Normalität<br />
in der Gesellschaft dazu gehört.<br />
Es klingt vielleicht paradox, aber: Zunächst fängt es –<br />
trotz Liebe usw. – oft mit Problemen an, wie Sie vielleicht<br />
aus eigener Erfahrung bestätigen können!<br />
In der ersten Zeit der Verliebtheit in einen neuen<br />
Partner werden warnende Zeichen ausgeblendet.<br />
Aber ist die Phase des Honeymoon vorbei, drängen<br />
sich mitunter Krisenmomente auf, an die man<br />
anfangs nicht im Traum gedacht hätte.<br />
Die Kinder in der neu entstandenen Stieffamilie teilen<br />
selten die Verliebtheiten ihres Vater oder ihrer Mutter,<br />
schon gar nicht diejenigen des oder der neuen<br />
„Stief...“. Sie trauern um den „verlorenen“ Elternteil<br />
(in vielen Fällen ist dies der Vater, weil Kinder nach<br />
einer Trennung meistens bei der Mutter weiterleben).<br />
Ihr Verlust macht sie misstrauisch gegen die Neue<br />
oder den Neuen, und oft dauert es lang, bis sich ein<br />
„Familiengefühl“ einstellt; wenn überhaupt jemals<br />
wieder. Und wenn beide neuen Partner Kinder haben,<br />
müssen sich auch diese erst (nicht selten im wörtlichen<br />
Sinn) zusammenraufen!<br />
Doch man muss gar nicht in die Extreme gehen.<br />
Familienleben ist meistens schwierig und schön<br />
zugleich, und es scheint, dass die neuen Partner<br />
durch die vorangegangenen Erfahrungen jedenfalls<br />
mit größerer Erfahrung und Ausgeglichenheit in das<br />
erneute Abenteuer gehen.
Werden dann dieselben alten Fehler wieder gemacht,<br />
sind Frust, Enttäuschung, Mutlosigkeit, Verlust an Vertrauen<br />
(zu anderen, vor allem aber zu sich selbst) oft<br />
die Folge.<br />
Kann man denn gar nichts dagegen tun? – Man kann!<br />
Es ist nur nicht leicht. Aber das haben Sie ja sowieso<br />
nicht erwartet.<br />
Es gibt Hilfen! Oft kommt man ohne äußere Hilfe<br />
nicht aus dem Strudel der eigenen Beziehungsnöte.<br />
Natürlich ist ein Büchlein wie das vorliegende nur ein<br />
kleiner Trost. Sein großer Nachteil, der aber vielleicht<br />
auch ein Vorteil sein kann: Es redet nicht zurück.<br />
Trotzdem können Sie mit ihm reden. Naturgemäß<br />
interessieren Sie sich vor allem für jene Kapitel, die<br />
genau Ihre jetzige Lage beschreiben. Sie schlagen<br />
solch ein Kapitel auf – und schon hat der Dialog<br />
begonnen.<br />
Übrigens: Es ist beim Schreiben des Textes an alle<br />
gedacht worden: Mütter, Väter, Geschwister, Großeltern,<br />
Stiefväter, Stieftöchter, Stiefsöhne,....<br />
Jetzt kommt etwas Seltsames: Obwohl man viel über<br />
die Dynamik in Stieffamilien weiß und erforscht hat,<br />
welche Chancen und Probleme typischerweise wann<br />
auftreten (darauf kommen wir gleich zurück), weiß<br />
man nicht wirklich genau, wie viele Stieffamilien es in<br />
Österreich eigentlich gibt und welche Leute in ihnen<br />
jeweils zusammenleben.<br />
Mit Sicherheit ist die Zahl der Stieffamilien im Steigen<br />
begriffen, weil nicht nur erneute Heirat, sondern auch<br />
13
14<br />
durch das Zusammenleben in nicht ehelichen Lebensgemeinschaften<br />
solche Familien entstehen.<br />
Sie können also wissen, dass Sie als Stieffamilie XYZ<br />
einer wachsenden Gruppe innerhalb unserer Gesellschaft<br />
angehören, dass es in unserem Land viele<br />
Menschen mit ähnlichen Problemen und Fragen gibt,<br />
und diese Tatsache kann irgendwie auch beruhigend<br />
wirken.<br />
Das heißt, dass Sie eigentlich entsprechend diesem<br />
wachsenden sozialen Gewicht gesellschaftliche Forderungen<br />
stellen können, nach spezieller Unterstützung<br />
zum Beispiel.<br />
Zum Ende dieser Einleitung nun noch eines: An alle<br />
Kinder in einer Stieffamilie richtet sich eine eigene<br />
Broschüre. Aber es spricht nichts dagegen, dass sich<br />
diesen Teil auch die Erwachsenen ansehen, ob „Stief“<br />
oder nicht...!<br />
Während der ganzen Vorbereitungszeit für diese Broschüre<br />
haben die Autorinnen nach einem passenden<br />
Wort gesucht. Was Sie gesucht haben ist eine überzeugende<br />
und nicht irgendwie gekünstelt klingende<br />
Anrede für das, was alle „Stief...“ sind. Mutter und<br />
Vater sind Eltern, das ist klar. Die ganze Mischpoche<br />
ist die Verwandtschaft, auch klar. Aber was sind die<br />
„Stief...“?<br />
Was sind sie? In der Not entschloss man sich, von<br />
„Stief-Personen“ zu sprechen – aber ehrlich – das ist<br />
auch nicht das Gelbe vom Ei.
Vielleicht fällt Ihnen was dazu ein? Der Nobelpreis ist<br />
möglicherweise nicht ganz drinnen in einem überzeugenden<br />
sprachlichen Geistesblitz, aber Ruhm und<br />
Ehre gewiss! Bis zum Vorliegen einer besseren Idee<br />
schlagen wir vor: Verwenden wir etwas, das es bisher<br />
nie gegeben hat, und zwar:<br />
Der, die oder das „Stief“.<br />
Gewöhnungsbedürftig, aber vielleicht wenigstens<br />
lustiger als die bisher präsentierten Varianten.<br />
15
Stieffamilie??!<br />
...was ist das???<br />
Und was ist bei dieser Familienform<br />
anders?
Was zeichnet Stieffamilien aus?<br />
Ihre Familie zeichnet sich durch ganz bestimmte Charakteristika<br />
aus.<br />
Erstens: Die Beziehung des „neuen“ Paares beruht<br />
auf ganz anderen Umständen als in Kernfamilien.<br />
Warum?<br />
Weil (es klingt trivial, wird aber oft nicht bedacht)<br />
normalerweise eine Paarbeziehung durch ein neu<br />
dazu kommendes Kind zum Elternpaar erweitert wird.<br />
Bei einer Stieffamilie aber ist es anders. Hier wird<br />
eine bestehende Beziehung eines oder mehrerer Kinder<br />
und einer leiblichen (meistens) Mutter, oder eines<br />
(seltener) Vaters, durch einen dazukommenden<br />
Erwachsenen (meistens den Stiefvater, seltener die<br />
Stiefmutter) zur Stieffamilie erweitert.<br />
Zweitens gibt es heute etwas, das in dieser Form<br />
relativ neu ist: Die traditionelle Vorstellung, an der<br />
sich bis heute auch Politik weitgehend orientiert, ist<br />
die von Mutter/Vater/Kind. Von zwei oder sogar mehr<br />
Müttern/Vätern ist bisher selten die Rede gewesen.<br />
Das hat gravierende Auswirkungen auf den Familienalltag.<br />
Denn die Frage, wie sich mehrere Erwachsene<br />
17
18<br />
Elternschaft teilen können oder sollen, hat kaum<br />
Tradition. Die Zahl der Bezugspersonen, die für<br />
Kinder wichtig sind, hat sich aber stark erhöht.<br />
Das gilt natürlich auch für das Vorhandensein von<br />
Omis und Opis – die Großelterngeneration ist traditionellerweise<br />
eine sehr wichtige und unterstützende<br />
Kraft innerhalb der Familie. Auch hier also: Vermehrte<br />
Ressourcen.<br />
Kinder wollen in der Regel mit Mutter und Vater verbunden<br />
bleiben, auch wenn einer der beiden nicht<br />
mehr sorgeberechtigt ist und in einer eigenen, der<br />
so genannten sekundären Stieffamilie, lebt. Die<br />
„Besuche“ der Kinder in diesen sekundären Stieffamilien<br />
werden als ganz wichtig empfunden. Sie sind für<br />
die Kinder der Beweis, dass sie für das Leben der<br />
nunmehr „getrennt“ lebenden Mutter oder des Vaters<br />
wichtig sind. Kinder fühlen sich häufig beiden Familien<br />
zugehörig.<br />
Stieffamilien haben – neben anderen – typische Probleme<br />
mit der Frage der Familienzugehörigkeit.<br />
Was in Kernfamilien eindeutig ist, durch Biologie und<br />
Gesetz festgelegt, mit Familiennamen und Haushalt<br />
meist nach außen sichtbar gekennzeichnet, ist bei<br />
Stieffamilien oft nicht so klar. Und, dies nicht nur in<br />
einer nicht ehelichen Beziehung, die jede zweite<br />
Stieffamilie ist. Gehört z.B. der Vati, der die Familie<br />
verlassen hat und jetzt mit seiner Freundin<br />
zusammenlebt, noch zur Familie?<br />
Es ist also wichtig, die Familienzugehörigkeit durch
Grenzen zu betonen, die aber die Beziehung zu<br />
außerhalb Lebenden nicht behindern sollen – für<br />
viele Familien ist das schwierig wie die Quadratur des<br />
Kreises.<br />
Stieffamilien – und das gilt auch für verwitwete Eltern<br />
– haben es aus mehreren Gründen nicht leicht. Als<br />
würden die Probleme der Familiendynamik nicht<br />
schon reichen, kommt auch noch die soziale Umwelt<br />
(Nachbarn, Schule, Kollegen etc.) dazu und schaut<br />
den Leuten, die da versuchen, das Wagnis der Familiengründung<br />
von neuem auf sich zu nehmen,<br />
besonders genau auf die Finger. Vorurteile mischen<br />
sich mit Tratsch, Schuldfragen werden ebenso erörtert<br />
wie alte Sachen aufgewärmt... Es ist sicher nicht<br />
leicht, Stieffamilie zu sein! Die „anderen“ erwarten<br />
irgendwie, dass „die“ es nun besonders gut machen<br />
– eine soziale Kontrolle, die nicht ohne ist.<br />
Die Rechte und Pflichten sind in Ihrer Familie anders<br />
aufgeteilt als in Kernfamilien. Dem Gesetz nach hat<br />
der nicht leibliche Elternteil in der Zweitfamilie keine<br />
Rechte und Pflichten gegenüber dem Kind. Dies, und<br />
das Fehlen von verbindlichen Vorstellungen, welche<br />
Rolle ihr/ihm eigentlich zukommt, verunsichert Stiefmutter/Stiefvater<br />
mitunter sehr. Mit dieser Problematik<br />
sind Stiefelternteile sowohl in primären, als auch<br />
in sekundären Stieffamilien konfrontiert.<br />
Trotz all dieser Unterschiede zwischen Kernfamilien<br />
und Stieffamilien verfolgen beide Familienformen das<br />
selbe Ziel: glücklich zu leben. Alle Familienmitglieder<br />
sollen sich in der Familie geborgen fühlen. Zwei<br />
Erwachsene wollen als Paar ihr Leben gemeinsam<br />
19
20<br />
gestalten, einander lieben, verstehen und unterstützen.<br />
Frieden und Einheit soll auch im weiteren<br />
Familienkreis (Verwandtschaft) herrschen. Und die in<br />
dieser Familie lebenden Kinder sollen so betreut und<br />
erzogen werden, dass sie sich zu sozial kompetenten<br />
Erwachsenen entwickeln.
Familien sind verschieden<br />
Stieffamilien erst recht!
Ihre Familie ist eine Stieffamilie<br />
Das besondere Merkmal von Stieffamilien ist es, dass<br />
ein „Stief“ (mit diesem Begriff wollen wir künftig die<br />
schwerfällige sprachliche Formulierung vom „nichtbiologischen<br />
Elternteil“ bzw. Stiefelternteil umschiffen)<br />
mit einer/einem biologischen Mutter/Vater und<br />
deren/dessen Kind zusammenlebt. Dabei ist es nicht<br />
entscheidend, wo das Kind den Großteil seiner Zeit<br />
verbringt.<br />
Der „Stief“ der mit dem/der leiblichen Vater/Mutter<br />
und dessen/deren Kind zusammenlebt, kann entweder<br />
Stiefmutter oder Stiefvater sein. Insgesamt gibt<br />
es eine bunte Fülle von Kombinationsformen.<br />
Stiefvaterfamilien sind die häufigste Form der Stieffamilie.<br />
Sie entstehen dadurch, dass die Mutter (meist<br />
nach der Trennung vom Kindesvater) mit einem<br />
neuen Partner wieder eine Familie gründet. Dabei ist<br />
es nicht wesentlich, ob die neue Partnerschaft eine<br />
Lebens- oder eine Ehegemeinschaft darstellt. Es kann<br />
aber auch der biologische Vater weiter durch regelmäßige<br />
Treffen mit dem Kind präsent bleiben und der<br />
„Stief“ leibliche Kinder aus früheren Beziehungen<br />
haben, die jedoch alle nicht dauernd innerhalb dieses<br />
engen Familienkreises wohnen.<br />
23
24<br />
Stiefmutterfamilien entstehen durch die neuerliche<br />
Verbindung des Vaters mit einer Partnerin. Häufiger<br />
als in Stiefvaterfamilien führt hier der Tod als Trennungsfaktor<br />
Regie. Auch die Stiefmutter kann zusätzlich<br />
leibliche Kinder haben, entscheidend bleibt, dass<br />
im engen Familienverbund nur Vater, Kind(er) und<br />
Stiefmutter leben.<br />
Zusammengesetzte Stieffamilien bestehen sowohl aus<br />
biologischen Elternteilen, als auch aus „Stiefs“, das<br />
heißt, dass beide Partner einer Stieffamilie leibliche,<br />
„eigene“ Kinder in die Familie mitbringen, sodass<br />
jeder zugleich Vater oder Mutter eines leiblichen Kindes<br />
und Stiefvater oder -mutter des Kindes des Partners<br />
ist.<br />
Stieffamilien mit gemeinsamen leiblichen Kindern<br />
können nun sowohl aus Stiefvater-, Stiefmutter-, und<br />
zusammengesetzten Stieffamilien entstehen, nämlich<br />
immer dann, wenn die neu „verbandelten“ Partner<br />
gemeinsame leibliche Kinder zeugen.<br />
Es gibt natürlich noch eine Reihe weiterer Möglichkeiten,<br />
Stieffamilien zu kategorisieren. Zum Beispiel<br />
nach ihrer Entstehungsgeschichte:<br />
Gründung einer neuen Familie<br />
...nach dem Tod eines Elternteils,<br />
...nach Scheidung oder Trennung der leiblichen Eltern<br />
...oder einer Mutterschaft ohne feste Partnerschaft.<br />
Der Großteil entsteht heute nach Trennung oder<br />
Scheidung von Elternpaaren.
.<br />
... das erfordert Zeit...<br />
Verständnis und Geduld sind die Voraussetzung<br />
für gutes Gelingen.<br />
Respekt kann man fordern...<br />
...Liebe muß wachsen
„Zusammenwachsen”...<br />
Ihre Entscheidung, eine Stieffamilie zu gründen,<br />
bringt eine Vielfalt von Veränderungen: neue Beziehung,<br />
neuen Partner, neue Erzieher, neuen Freundeskreis,<br />
möglicherweise eine neue Umgebung – ein<br />
neuer Abschnitt des Lebens beginnt.<br />
Alter, Geschlecht, Zahl und Herkunft der Kinder, die<br />
bisherigen Familien- und Lebenserfahrungen aller<br />
Beteiligten sowie deren Persönlichkeitsmerkmale, Einstellungen<br />
und Erwartungen beeinflussen selbstverständlich<br />
den Verlauf einer Stieffamiliengründung.<br />
Darüber hinaus hängt viel davon ab, ob und wie das<br />
Kind (oder die Kinder) die Trennung der Eltern verarbeitet<br />
hat.<br />
Das Ende einer Partnerschaft ist natürlich nicht das<br />
Ende der Elternschaft! Für die Kinder bleibt entscheidend,<br />
dass ihre leiblichen Eltern für sie weiterhin da<br />
sind und Verantwortung tragen.<br />
Kinder reagieren je nach Alter und Entwicklungsstufe<br />
unterschiedlich.<br />
27
28<br />
Für Säuglinge und Kleinstkinder ist die bisherige<br />
Hauptbezugsperson entscheidend. Bleibt sie (das<br />
kann Vater oder Mutter sein) beim Kind, kann dieses<br />
eine Trennung leichter verkraften.<br />
Ist das Kind jünger als zwei Jahre, wird es dem<br />
„Stief“ in der Regel relativ leicht gelingen, die Zuneigung<br />
des Kindes zu gewinnen. Eine vorübergehende<br />
Veränderung im Verhalten ist aber nicht ungewöhnlich,<br />
da der gewohnte Lebensrhythmus des Kleinkindes<br />
ja unterbrochen worden ist. Es muss bei einer<br />
Stieffamiliengründung eventuell mit einer neuen<br />
Wohnsituation, in jedem Fall zumindest mit einer<br />
neuen Person erst vertraut werden.<br />
Kindergarten- und Vorschulkinder können sich auf<br />
eine Stieffamilie einstellen, wenn ihnen Zeit und Hilfe<br />
gegeben wurde, über die Trennung von Vater oder<br />
Mutter zu trauern.<br />
Wichtig: Kinder dieses Alters glauben oft, selbst Urheber<br />
aller Probleme zu sein. Auch die Trennung glauben<br />
sie, durch „Böse-sein“ ausgelöst zu haben. Daraus<br />
können sich natürlich Schuldgefühle entwickeln,<br />
die wiederum stark wechselnde Empfindungen des<br />
Kindes gegenüber dem „Stief“ auslösen: Wut, Zorn,<br />
Eifersucht, Trauer sind typische Reaktionen. Sie treten<br />
quasi automatisch auf. Der „Stief“ sollte sie also<br />
nicht persönlich nehmen – er spielt hier eine Rolle,<br />
die sich im Lauf der Zeit verändert.<br />
Kinder zwischen 6 und 12 Jahren scheinen es am<br />
schwersten zu haben – sie sind meist schweren Loyalitätskonflikten<br />
ausgesetzt. Für Sie als Stiefeltern<br />
bedeutet das mehreres, vor allem aber eines: Über-
treiben Sie Ihr Bemühen um die Zuneigung des Kindes<br />
(der Kinder) nicht.<br />
Warum?<br />
Weil das Kind zuerst auf jeden Fall Abstand braucht.<br />
Wenn Sie ihm den nicht geben, verschafft es sich<br />
Distanz, und das geht selten ohne Kränkung ab.<br />
Wieso ist das so?<br />
Eigentlich ist es (theoretisch) sehr eindeutig – praktisch<br />
ist es enorm schwierig: Das Kind leidet unter<br />
der Trennung. Ein (meist) geliebter Mensch ist von<br />
ihm entfernt worden. Zeigt sich das Kind jetzt Ihnen<br />
als neuem Vater oder neuer Mutter liebevoll, kommt<br />
es sich selbst als Verräter an der „alten“ Liebe vor.<br />
Das Kind glaubt, dass große Zuneigung zum neuen<br />
„Stief“ die nunmehr getrennte Mutter, den nunmehr<br />
getrennten Vater kränkt – und oft wird es damit<br />
Recht haben. Wir sind alle keine Übermenschen und<br />
es ist in einer meist sehr schwierigen Beziehungskiste<br />
häufig so, dass man Verbündete gegen den bisherigen<br />
Partner sucht – viele Väter und Mütter finden<br />
diese in den eigenen Kindern.<br />
Kinder als „Munition“ – ein bisschen ist niemand vor<br />
solchem Loyalitätsmissbrauch gefeit.<br />
Eine ganz schwer zu schluckende Pille für die betroffenen<br />
Kinder ist, dass oft die Entscheidung für Vater<br />
oder Mutter gleichzeitig eine Entscheidung gegen den<br />
jeweils anderen ist.<br />
29
30<br />
Wie kommen Kinder eigentlich dazu, sich ohne es<br />
zu wollen, gegen Mutter oder Vater entscheiden<br />
zu müssen...?<br />
Sie wollen mit beiden beisammen bleiben!<br />
Mittel und Wege, das auch in komplizierten Situationen<br />
zu ermöglichen, gibt es aber in fast jedem Fall –<br />
optimal wird zwar keine der Lösungen sein; „grenzoptimal“<br />
wäre das Ziel!<br />
Jedenfalls: Betreuungs-, vor allem aber Erziehungsaufgaben<br />
können Stiefeltern erst mitübernehmen,<br />
wenn sie und die Kinder einander auf<br />
Vertrauensbasis näher gekommen sind.<br />
Möglicherweise trifft das alles auf Ihre Familie und<br />
auf Ihre Kinder nicht zu. Bedenken Sie aber, dass<br />
nicht nur Sie, sondern auch Ihre Kinder eine Fassade<br />
aufbauen können. Sie tun dann so als würden sie<br />
„vernünftig“ sein – dahinter aber fließen Tränen; bloß<br />
unsichtbar, oder: nur bei genauerem Hinsehen sichtbar.<br />
Das Kind im Jugendalter ist durch seine geistige Reife<br />
in der Lage, die Beweggründe der Trennung der<br />
Eltern zu verstehen. Es befindet sich aber trotzdem in<br />
einem Konflikt zwischen der Notwendigkeit des<br />
Zusammenwachsens der neuen Familie einerseits und<br />
dem altersgemäßen Streben nach Eigenständigkeit<br />
andererseits. Für den Stiefelternteil kann es jetzt<br />
schwierig werden, von den Jugendlichen Autorität<br />
zuerkannt zu bekommen.<br />
Zudem ist die Entstehung einer Stieffamilie ein lang-
dauernder Prozess. Es gibt dabei, wie mehrere<br />
wissenschaftliche Studien gefunden haben, bestimmte<br />
Phasen, welche alle Stieffamilien durchlaufen.<br />
Im ersten Stadium haben die Familienmitglieder<br />
häufig unrealistische Erwartungen und Wünsche an<br />
sich und die anderen.<br />
Die Erwachsenen haben vielleicht die Vorstellung,<br />
dass die neue Familie von Anfang an in perfekter<br />
Harmonie funktioniert. Mit anderen Worten, sie verlangen<br />
sich ab, dass der „Stief“ den nunmehr<br />
getrennt lebenden Vater (oder die Mutter) vollständig<br />
ersetzt, was sich bald als Illusion herausstellt und<br />
seifenblasenartig platzt.<br />
Speziell schwer haben es da Stiefmutterfamilien.<br />
Selbst der aufopferndste Einsatz der Stiefmutter wird<br />
von den Kindern (auf Grund ihrer Loyalität zur leiblichen<br />
Mutter) selten belohnt. Die Stiefmutter hat<br />
eher mit Verweigerung, Trotz oder Herausforderung<br />
durch das Kind zu rechnen. Die Kinder wünschen<br />
häufig, dass der/die Abwesende in die Familie<br />
zurückkehrt oder dass der „Stief“ nicht dessen/deren<br />
Rolle übernimmt.<br />
In der zweiten Phase des Eintauchens in die Realität<br />
wird meistens bewusst, dass diese Fantasien im<br />
Widerspruch zur Wirklichkeit stehen.<br />
In der dritten Stufe, der bewussten Wahrnehmung<br />
dieser Realität, können die Familienmitglieder nun<br />
auch die Wünsche und Bedürfnisse der anderen<br />
erkennen und verstehen. Realistische Einschätzungen<br />
der Besonderheiten der eigenen Familie ermöglichen<br />
31
32<br />
nun den Aufbau einer Stieffamilie mit neuen, eigenen<br />
Gesetzen. Nicht ein Abbild der „alten“, sondern etwas<br />
ganz neues.<br />
In der letzten Phase werden Konflikte bewältigt,<br />
Gewohnheiten und Regeln spielen sich ein. Zuneigung<br />
und Nähe kann sich entwickeln, der „Stief“ findet seinen<br />
festen Platz in der Familie. Das „neue“ Familienmitglied<br />
wird am Ende der Stieffamilien-Gründungsphase<br />
vertraut und einschätzbar sein und alle fühlen<br />
sich nun als Teil der neuen Familie. Man gehört<br />
zusammen, unternimmt Gemeinsames, alle schätzen<br />
einander. Die Erwachsenen tragen Sorge für die Kinder,<br />
sie teilen sich Betreuung und Erziehung und die<br />
Kinder können sich auf das Leben mit allen Erwachsenen<br />
verlassen, ihnen vertrauen und „Kind“ sein –<br />
klingt wieder wie ein Märchen, ist auch für viele unerreichbar,<br />
für andere gar nicht anstrebenswert, je<br />
nachdem.<br />
Familienkultur findet statt zwischen den Polen Friede,<br />
Freude, Eierkuchen – und fliegenden Fetzen.
Die Anfangsphase einer Stieffamilie erfordert<br />
...die Bewältigung der Trennung der leiblichen<br />
Eltern durch diese selbst und die betroffenen Kinder.<br />
...Zeit, die Stieffamilie langsam und behutsam zu<br />
gründen und dabei zu versuchen, das Kind einzubeziehen,<br />
sodass sich alle gründlich kennen lernen<br />
können.<br />
...die Respektierung der speziellen Bindung<br />
zwischen leiblichen Eltern und Kind und die Anerkennung<br />
der Bedeutsamkeit dieser Beziehung für beide.<br />
...die Aufgabe der Erwartung seitens des „Stief“,<br />
vom Kind spontan geliebt zu werden.<br />
...Geduld des „Stief“ im Umgang mit dem Kind:<br />
dieses muss ihn erst kennen und ihm vertrauen<br />
lernen, bevor er sich um es kümmern, und es<br />
insbesondere erziehen darf.<br />
...Höflichkeit zwischen dem „Stief“ und dem Kind.<br />
...Reden, Verhandeln und Kompromisse schließen:<br />
jedes Familienmitglied hat das Recht, mitzureden, wie<br />
das Leben in dieser „neuen“ Familie gestaltet werden<br />
soll.
“Stief...” zu werden ist nicht schwer<br />
...aber Zusammenzufinden dauert oft<br />
fünf Jahre und mehr !
Eine Rolle wird neu besetzt<br />
Für das Kind bedeutet Ihre Entscheidung, eine neue<br />
Partnerschaft einzugehen, das Einfügen eines neuen<br />
Erwachsenen in die gewohnte Familie.<br />
Hatte das Kind Mutter oder Vater emotional bis zu<br />
diesem Zeitpunkt vorwiegend für sich alleine, so<br />
muss es die – meistens – geliebte Person von nun<br />
an mit jemandem – für das Kind noch unbekannten –<br />
teilen.<br />
Und gerade das ist für manches Kind schwer zu<br />
akzeptieren. Es entstehen Ängste, Vater oder Mutter<br />
zu verlieren und auch Eifersucht auf den neuen Partner,<br />
da dieser Ansprüche auf Vater/Mutter erhebt.<br />
Das Kind erlebt den „Stief“ unter Umständen als Eindringling,<br />
der Gewohntes und Geliebtes in Frage<br />
stellt.<br />
Je länger das Kind mit Mutter/Vater alleine zusammen<br />
gelebt hat, umso größer wird in der Regel der Widerstand<br />
des Kindes dem „Stief“ gegenüber sein.<br />
Es ist nötig, dass Kinder die Gelegenheit bekommen,<br />
die neuen Stiefeltern zu betrachten, zu „beschnuppern“<br />
und kennen zu lernen. Die Entwicklung einer<br />
35
36<br />
Beziehung braucht Zeit, sie kann nicht vorschnell<br />
erzwungen werden.<br />
Wenn das Kind den „Stief“ als Freund annehmen<br />
kann, wird der Start in die neue Familie erleichtert.<br />
Nicht immer wird das von Anfang an gelingen, doch<br />
bedeutet dies keineswegs, dass die Familie gescheitert<br />
ist. Es ist ja verständlich, dass ein Kind, das<br />
bereits Verluste und Enttäuschungen erlebt hat,<br />
neuen Personen gegenüber vorsichtig ist.<br />
Dazu kommt: Ihr Kind ist an Ihr Verhalten und an<br />
Ihre Erziehungsrichtlinien gewöhnt. Es weiß genau,<br />
wer was von ihm erwartet, was es bei wem machen<br />
darf und was nicht.<br />
Plötzlich aber ist Erlaubtes bei dem neuen erwachsenen<br />
Familienmitglied nicht mehr toleriert oder aber es<br />
dürfen Dinge gemacht werden, die bisher verboten<br />
waren. Dies führt zu schwerer Verunsicherung.<br />
Versucht der „Stief“, seine Erziehung durchzusetzen,<br />
ohne Rücksicht auf die Besonderheiten des Kindes zu<br />
nehmen, wird es schwierig. Es wird Streit und Kämpfe<br />
geben, die die ganze neue Familie erschüttern können.<br />
Selbst eine von Beginn an gute Beziehung bedeutet<br />
nicht automatisch, dass das Kind dem neuen Partner<br />
die Rolle des Erziehers zubilligt.<br />
Bei älteren Kindern wird die Erziehung größere Probleme<br />
schaffen als bei jüngeren. Nicht zuletzt, weil<br />
diese auf Grund des Alters sehr genau wissen, dass<br />
Stiefeltern rechtlich betrachtet nichts zu fordern, zu<br />
erzwingen, zu verbieten haben.
Bis zu fünf Jahre dauert es in der Regel, bis sich<br />
eine stabile Beziehung zwischen Kind und „Stief“<br />
aufgebaut hat, sagen die Wissenschafter – mit<br />
Abweichungen natürlich: Es kann auch rascher<br />
oder langsamer gehen.<br />
Die Rolle, die das Kind dem „Stief“ zuschreibt,<br />
kann sehr unterschiedlich sein. Es kann in ihm<br />
vorwiegend einen guten Freund und Gesprächspartner<br />
sehen, oder einen Spiel- und Freizeitkameraden.<br />
Er kann aber auch für das Kind in<br />
erster Linie nur der Partner von Vater/Mutter, bei<br />
distanzierter eigener Beziehung sein.<br />
Stiefmutterfamilien haben es meist ein wenig schwerer.<br />
Dies hat mehrere Gründe: Die Erwartungen an<br />
eine Mutter sind nach wie vor umfassender als an<br />
einen Vater. Stiefmütter erleben häufig mehr Druck als<br />
Stiefväter, ihre Rolle perfekt zu erfüllen, ihre Kinder<br />
spontan zu lieben und ihnen eine „Supermutter« zu<br />
sein. Aber die emotionale Bindung der Kinder zu ihrer<br />
leiblichen Mutter bleibt häufig sehr eng – das führt<br />
dazu, dass Kinder, wenn sie ihre Stiefmutter lieben<br />
und akzeptieren, in einen ausgeprägten Loyalitätskonflikt<br />
geraten. Daraus ergibt sich folgender Kreislauf:<br />
Noch größeres Bemühen der Stiefmutter provoziert<br />
Ablehnung durch das Kind. Das enttäuscht die<br />
Stiefmutter und vermittelt ihr das Gefühl, keine gute<br />
Mutter zu sein, was wiederum dazu führt, dass sie<br />
sich noch intensiver um das Kind bemüht. Vorurteile<br />
in unserer Gesellschaft verstärken diesen Kreislauf.<br />
37
38<br />
Ein kleiner Rat: Versuchen Sie als Stiefmutter nicht,<br />
die leibliche Mutter zu ersetzten und lassen Sie sich<br />
nicht in den Kreislauf der Erwartungen an Sie hineinziehen.<br />
Auch in Ihrer eigenen Rolle können Sie dem<br />
Kind Zuneigung und Geduld schenken.<br />
Gelingt es Kind und Stiefeltern durch gegenseitige<br />
Akzeptanz und langsame Annäherung, im Laufe der<br />
Zeit eine gefühlsmäßige Verbundenheit, eine gute<br />
Beziehung sowie Vertrauen zu entwickeln, so ist für<br />
das Kind der Weg offen, den/die „Stief“ als weitere<br />
Elternperson anzusehen und allenfalls „stiefelterliche“<br />
Entscheidungen zu akzeptieren.
Ein Kind kann dann eine zusätzliche Elternperson<br />
akzeptieren, wenn<br />
...die Beziehung Zeit zum Wachsen hatte.<br />
...das Kind als eigenständiges Wesen angenommen<br />
wird und seine Interessen als wichtig akzeptiert werden.<br />
...sich alle Familienmitglieder dessen bewusst sind,<br />
dass der Aufbau der Beziehung zwischen „Stief“ und<br />
Kind mehrere Jahre benötigen kann.<br />
...sich der „Stief“ nicht als Mutter oder Vater dem<br />
Kind nähert, sondern als Partner der leiblichen Eltern<br />
und Freund des Kindes.<br />
...der „Stief“ bereit ist, seine eigenen Vorstellungen<br />
erst nach und nach einzubringen. Erst wenn eine<br />
Beziehung aufgebaut wurde, ist das Kind bereit,<br />
einen neuen Erzieher zu akzeptieren.<br />
...das Kind mitsprechen kann, welche Rolle der<br />
„Stief“ ihm gegenüber einnehmen soll.<br />
39
„Mutter“ kann durch nichts ersetzt werden?<br />
Natürlich.<br />
Aber: Wer erzieht? Wer darf was?
Rechte und Pflichten im Alltag<br />
Beim Eingehen einer neuen Partnerschaft stehen für<br />
leibliche Eltern nicht nur die eigenen Interessen im<br />
Vordergrund, sondern gleichermaßen jene des Kindes.<br />
Es ist wichtig, dass sich der „Stief“ mit dem Kind gut<br />
versteht, dass sich die beiden mögen und einander<br />
akzeptieren.<br />
Ein Partner mit Kind bedeutet, dass die Beziehung<br />
als Paar nicht völlig unbeschwert begonnen werden<br />
kann: Einfühlungsvermögen, Rücksichtnahme und Verzicht<br />
werden verstärkt gefordert. Das Vorhandensein<br />
eines Kindes kann je nach Situation bereichernd sein,<br />
manchmal steht ein Kind aber auch sehr im Weg,<br />
wenn es etwa um Intimität geht, um gemeinsame Zeit<br />
füreinander.<br />
Die leiblichen Eltern stehen dabei nicht selten zwischen<br />
den Personen, die ihnen sehr wichtig sind: einerseits<br />
fordert der neue Partner mit vollem Recht<br />
gemeinsame Zeit, um Partnerschaft zu leben, andererseits<br />
muss dadurch Zeit für das Kind reduziert<br />
werden.<br />
Sie und Ihr neuer Partner wollen und müssen Ihre<br />
Familie gemeinsam gestalten und regeln: Alltag,<br />
41
42<br />
Freizeit, Pflichtenverteilung sowie die Finanzen.<br />
Welche Aufgaben übernimmt wer?<br />
Welche werden gemeinsam in Angriff genommen?<br />
Dabei treffen verschiedene Gewohnheiten, Vorstellungen<br />
und Lebensweisen zusammen. Für den einen<br />
sind gewisse Dinge selbstverständlich, die für den<br />
anderen ungewohnt sind. Jeder Partner erlebt Bereiche,<br />
die er anders machen würde. Es ist nicht immer<br />
leicht, alte Gewohnheiten abzulegen. Dies gilt auch<br />
für Aufteilung der alltäglichen Haushaltsdinge. Sie<br />
und Ihr Partner haben möglicherweise unterschiedliche<br />
Vorstellungen gerade in diesem „banalen“, aber<br />
notwendigen Bereich des Zusammenlebens. Für den<br />
einen ist beispielsweise ausgeprägte Sauberkeit und<br />
Ordnung selbstverständlich, der andere wiederum findet<br />
dies übertrieben – wegen solcher banaler Fragen<br />
hat es schon Morde gegeben; es reicht aber auch,<br />
wenn wegen der Wichtigkeit, die jemand dem häuslichen<br />
Staub zuerkennt, Ehen, und damit Familien<br />
auseinander krachen.<br />
Sicherlich bringen die einzelnen Familienmitglieder<br />
auch unterschiedliche Interessen, Vorlieben und Hobbys<br />
ein. Nehmen Sie es als Gewinn und als Chance,<br />
Gemeinsamkeiten zu entdecken oder Neues zu erfahren.<br />
Wenn Sie aber durchaus mit dem Hobby Ihres<br />
Partners nichts anzufangen wissen, lassen sie ihm/ihr<br />
trotzdem seine/ihre Freude. Diese Aufgaben stellen<br />
sich freilich bei jeder Familiengründung. Aber durch<br />
das längere Zusammenleben eines Elternteils mit<br />
einem Kind (oder mit mehreren) haben sich Gewohnheiten<br />
und Familienregeln bereits herausgebildet und
gefestigt, die nun neu ausverhandelt werden müssen.<br />
Bei keinem anderen Thema gibt es derart viele Stolpersteine<br />
für den häuslichen Frieden wie in der Frage<br />
der Erziehung!<br />
Disziplinierung und Umgang mit dem Kind sind neuralgische<br />
Punkte, deren Rolle im jeweils eigenen Fall<br />
man besser gründlich abklärt und bespricht, bevor es<br />
zum Super-Gau kommt.<br />
Nicht immer wird der neue Partner die Erzieherrolle<br />
in dem Ausmaß übernehmen wollen, wie<br />
es sich der leibliche Elternteil wünscht.<br />
Umgekehrt ist es denkbar, dass der neue<br />
Partner Erzieher sein möchte, jedoch damit auf<br />
Ablehnung stößt.<br />
Auch wenn Vater/Mutter die Mitwirkung des<br />
neuen Partners an der Erziehung zwar begrüßt,<br />
zugleich aber dessen diesbezügliche Entscheidungen<br />
in Frage stellt, kann es zu Problemen kommen.<br />
In summa: Die neuen Partner müssen klären, inwieweit<br />
der/die „Stief“ überhaupt erzieherisch mitwirken<br />
kann und soll. Die gemeinsame Erziehung des Kindes<br />
wird logischerweise erleichtert, wenn die neuen Partner<br />
grundsätzlich ähnliche Erziehungsvorstellungen<br />
haben.<br />
Ist dies nicht der Fall, wird vor allem der/die „Stief“<br />
die Erziehungsvorstellungen an jene des leiblichen<br />
43
44<br />
Elternteils angleichen müssen, da dieser bisher für<br />
die Erziehung des Kindes zuständig war und meistens<br />
auch weiterhin vorwiegend dafür verantwortlich ist.<br />
Es wird die Aufgabe von Vater oder Mutter sein, den<br />
„familienfremden“ neuen Partner behutsam, aber<br />
bestimmt in die Familie einzuführen, damit er in dieser<br />
überhaupt Platz und Bedeutung bekommt und<br />
nicht immer Außenseiter oder Gast bleibt.
Eine neue Familie, in die ein Partner bereits ein Kind<br />
mitbringt, wird sich positiv entwickeln, wenn<br />
...bei der Partnerwahl neben den eigenen Interessen<br />
auch jene des Kindes bedeutsam sind und der<br />
„Stief“ seinen Partner und dessen Kind gemeinsam<br />
annimmt.<br />
...es den Partnern gelingt, für sich als Paar Zeit zu<br />
finden und sie in ihrer Familie auch alleine sein können.<br />
...die Partner ihre unterschiedlichen Gewohnheiten<br />
und Vorstellungen nicht von vornherein abwerten,<br />
sondern sich bemühen, aufeinander zuzugehen und<br />
Kompromisse zu finden.<br />
...die individuellen Hobbys jedes Familienmitgliedes<br />
akzeptiert werden und die Interessen aller aufeinander<br />
abgestimmt und gleichberechtigt berücksichtigt<br />
werden.<br />
...Vater/Mutter die Elternrolle vom neuen Partner<br />
nicht ohne weiteres einfordert. Dieser muss auch<br />
bereit sein, die damit verbundenen Verpflichtungen<br />
zu übernehmen.<br />
...es den neuen Partnern gelingt, unterschiedliche<br />
Vorstellungen über Disziplinierung, Erziehung und<br />
Umgang mit dem Kind aufeinander abzustimmen,<br />
aber die Letztverantwortung den leiblichen Eltern als<br />
Obsorgeberechtigte zu überlassen.
...teilen.<br />
... nicht nur die Liebe,<br />
auch Zeit und Geld.<br />
Was ist „gerecht“?
Meine, deine, unsere...<br />
Oft erhält ein Kind durch Stieffamiliengründung nicht<br />
nur neue Eltern, sondern auch neue Geschwister<br />
(Stiefgeschwister).<br />
Jetzt braucht Ihr Kind vor allem,<br />
...dass es über seine Ängste und Befürchtungen<br />
offen sprechen kann,<br />
...dass diese von den Erwachsenen ernst genommen<br />
werden,<br />
...und dass der jeweilige Vater/die Mutter, dem<br />
Kind zeigt: Ich hab dich lieb wie eh und je!<br />
Anfangs wird ein neuer Bruder oder eine neue<br />
Schwester eher distanziert, wie ein neuer Mitschüler<br />
oder Konkurrent, betrachtet.<br />
Für Ihr Kind kann sich durch die Stieffamiliengründung<br />
die Position in der Geschwisterreihe ebenso<br />
verändern wie seine Geschlechterposition. War es<br />
zum Beispiel bisher das älteste Kind, kann es jetzt<br />
zum jüngeren werden, war es das einzige Mädchen,<br />
kann nun auf einmal ein zweites Mädchen in der<br />
Familie sein.<br />
Die Rollen auf der Geschwisterebene müssen also<br />
47
48<br />
neu verteilt werden, was für Ihr Kind die Aufgabe von<br />
Privilegien ebenso wie die Übernahme neuer Verantwortlichkeiten<br />
zur Folge haben kann.<br />
Besonders schwerwiegend werden die Veränderungen<br />
von Ihrem Kind dann erlebt werden, wenn es bisher<br />
das einzige Kind in der Familie war.<br />
Treten neue Kinder durch die Stieffamiliengründung<br />
hinzu, so bedeutet dies für Kinder in vieler Hinsicht<br />
immer ein Teilen-Müssen: ein Teilen von Raum, Zeit<br />
und Zuwendung der Eltern, häufig aber auch von<br />
persönlichen Dingen wie z.B. Spielzeug oder Sportartikeln.<br />
Nur wenn solche Veränderungen ausführlich<br />
besprochen wurden und mit Zustimmung Ihres Kindes<br />
erfolgen, wird es in der Lage sein, solche Maßnahmen<br />
ohne Kriegserklärung zu akzeptieren.<br />
Viele Fallstricke und Gruben lauern auf dem Weg zu<br />
einem guten familiären Verständnis. Bringt etwa<br />
Vater/Mutter dem Stiefkind Aufmerksamkeit und<br />
Zuneigung entgegen, kann dies zu ausgeprägter Eifersucht<br />
des leiblichen Kindes führen, da dieses Angst<br />
hat, die bedingungslose elterliche Liebe zu verlieren.<br />
Nicht selten haben Väter/Mütter, die nicht mit ihren<br />
Kindern vorwiegend zusammenleben, das Bedürfnis,<br />
es den Kindern, wenn sie bei ihnen sind, möglichst<br />
schön zu machen. Gefahr! Behandelt man die leiblichen<br />
Kinder bei solchen Besuchen bevorzugt, trägt<br />
dies unweigerlich Streit in die Beziehung zwischen<br />
leibliche und Stiefkinder.
Neben diesen Schwierigkeiten, die das Hinzutreten<br />
neuer Geschwister für Ihr Kind bringt, ergeben sich<br />
aber auch neue Chancen: Ihr Kind erhält neue, gleichrangige<br />
Gefährten, mit denen es vieles gemeinsam<br />
unternehmen kann. Die neuen Geschwister können<br />
füreinander nicht nur Spielgefährten und Freizeitkameraden<br />
sein, sie können auch zu Vertrauenspersonen<br />
werden, mit denen man die eigenen<br />
Schwierigkeiten bespricht. Sind mehrere Kinder in<br />
einer Familie vorhanden, gelingt es ihnen zudem<br />
leichter, gemeinsam ihre Kinderinteressen und<br />
Wünsche gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen.<br />
Wenn beide Partner Kinder in die neue Familie<br />
einbringen, sind beide Partner zugleich Eltern und<br />
Stiefeltern. Ist jedem seine Rolle für das leibliche<br />
Kind meist klar, so muss diese bei dem Kind des<br />
neuen Partners erst gefunden werden.<br />
Wird in Ihre Stieffamilie zusätzlich ein gemeinsames<br />
leibliches Kind geboren (Halbgeschwister), so<br />
bekommt das bereits in der Familie lebende Kind ein<br />
Sonderproblem: Es muss ein „Nesthäkchen“ akzeptieren,<br />
das vermeintlich von den Eltern bevorzugt<br />
geliebt wird.<br />
Die „alteingesessenen“ Kinder müssen nun immer<br />
wieder aus dem Mund der Eltern hören, dass sie<br />
durch die Geburt ihres Halbgeschwisters für ihre<br />
Eltern nicht weniger wichtig geworden sind und nicht<br />
weniger geliebt werden. Nur dann wird es diesen<br />
möglich sein, das neue Geschwister willkommen zu<br />
heißen, es zu akzeptieren und zu mögen. Voraussetzung<br />
für eine positive Entwicklung der<br />
49
50<br />
Geschwisterbeziehung aber wird es sein, dass das<br />
neue Kind nicht entgegen den verbalen Beteuerungen<br />
der Eltern in der Praxis dann doch bevorzugt und<br />
anders behandelt wird als die übrigen Kinder. Wobei<br />
man den Eltern ja zugesteht, dass die Beziehung zu<br />
einem leiblichen Kind intensiver erlebt werden kann<br />
als zu einem Stiefkind. Aber: Nichts da! Die Kinder<br />
gestehen da nichts zu! Sie wachen mit unbarmherzigen<br />
Argusaugen über jede Andeutung einer Einschränkung<br />
ihrer eingesessenen Herrschaftsrechte.<br />
Die Vielfalt der möglichen Geschwisterbeziehungen in<br />
einer Stieffamilie schafft also eine Reihe von Problemen,<br />
beinhaltet aber auch eine Reihe von Chancen.<br />
Letztere werden aber nur dann zum Tragen kommen,<br />
wenn jedes Kind erleben kann, dass es (mindestens)<br />
genauso wichtig und wertvoll ist wie seine Geschwister.
Die neuen Geschwisterbeziehungen in Stieffamilien<br />
können dann gelingen, wenn<br />
...das Kind über seine Ängste, die durch das Hinzukommen<br />
neuer Geschwister ausgelöst werden,<br />
reden kann. Neue Geschwister machen es notwendig,<br />
Zeit, Raum und die Zuwendung der Eltern zu teilen,<br />
wodurch Kinder sich leicht benachteiligt fühlen.<br />
...das Kind erlebt, dass seine neuen Geschwister<br />
Freunde, Spielgefährten und Freizeitkameraden sein<br />
können. Gemeinsam haben sie die Chance, sich<br />
gegenüber den Erwachsenen durchzusetzen.<br />
...das Kind die Erfahrung macht, dass alle Kinder<br />
in der Familie gleich wichtig sind und keines von<br />
ihnen bevorzugt wird. Gerade, weil die Beziehung<br />
zum eigenen, leiblichen Kind meist ein besonderes<br />
Band sein wird, ist Fairness von größter Bedeutung.<br />
...für die Kinder, die ständig in der Familie leben,<br />
die selben Regeln gelten wie für jene, die in diese<br />
Familie zu „Besuch“ kommen.
Zankapfel „Betreuungs-Rosinen“<br />
Trotz Trennung bleibt Mutter eben<br />
Mutter und Vater bleibt Vater
Die Dramaturgie der „Besuche“<br />
Beziehungen zwischen Eltern und Kindern sind etwas<br />
Exklusives und Einzigartiges, sie „bestehen einfach“,<br />
sind nicht aufkündbar. Durch die Trennung muss sich<br />
die Beziehung zwischen den leiblichen Eltern und<br />
zum Kind der neuen Situation anpassen.<br />
Bei der Trennung ändern sich in der Regel Wohnumgebung,<br />
finanzieller Rahmen der Familie, Freundeskreis<br />
und Verwandtschaftsbeziehungen.<br />
Ein Kind verliert also einen Elternteil insofern, als der<br />
normale Alltag mit gemeinsam verbrachter Zeit und<br />
Verantwortung beider Eltern aufgelöst wird. Die<br />
gewohnte Zuverlässigkeit, Sicherheit und Geborgenheit<br />
kann unter diesen Bedingungen leiden.<br />
Nach der Trennung kommt es aber durchaus auch vor,<br />
dass sich die Beziehung zwischen Kind und außerhalb<br />
der Familie lebender Mutter/Vater verschlechtert.<br />
Man trifft sich seltener oder die Verbindung bricht<br />
überhaupt ab.<br />
Mögliche Ursachen dafür können Unsicherheiten der<br />
Erwachsenen im Umgang mit dieser neuen Situation<br />
oder im Umgang mit dem Kind sein, Konflikte zwi-<br />
53
54<br />
schen den leiblichen Eltern, mangelndes Vertrauen<br />
des sorgeberechtigten Elternteils in die gute Elternschaft<br />
der jeweils anderen, zweiten leiblichen Elternteile,<br />
räumliche Entfernungen, neue Interessen und<br />
Freundschaften oder die Neugründung einer Familie,<br />
die die „alten“ Kontakte nicht fördert.<br />
Unter Umständen stört die Beziehung des Kindes zum<br />
außerhalb lebenden Elternteil den „Stief“; er/sie will<br />
vielleicht, dass das Kind die Besuche einstellt.<br />
Es kann aber andererseits auch sein, dass die Spannungen<br />
zwischen den leiblichen Eltern durch Scheidung<br />
und/oder durch die Stieffamiliengründung abgenommen<br />
haben, und dadurch die Beziehung zwischen<br />
außerhalb lebenden Vätern/Müttern und ihrem Kind<br />
wieder freier wird.<br />
Auch wenn das Kind Stiefmutter oder -vater dazu<br />
bekommt, bleibt der außerhalb der Familie lebende<br />
leibliche Elternteil eine wichtige Bezugsperson.<br />
Die leiblichen Eltern können zwar kaum ersetzt werden,<br />
eher ergänzt, und zwar besonders in jenen<br />
Bereichen, die die leiblichen Eltern entweder kaum<br />
oder nicht ausfüllen können. So wird der Stiefelternteil<br />
einen Teil der Alltagsaufgaben übernehmen, da<br />
sie ja überwiegend in der Familie des Kindes präsent<br />
sind.<br />
Besucht das Kind seine außerhalb lebende Mutter/<br />
Vater, so wird sich diese/r meist bemühen, die<br />
gemeinsame Zeit möglichst attraktiv zu gestalten. Es<br />
finden besondere Aktivitäten und Unternehmungen
statt. Alltägliche Betreuungs- und Versorgungsaufgaben<br />
bleiben meistens eher der Mutter überlassen, die<br />
auch das Sorgerecht und somit die Sorgepflicht übernommen<br />
hat.<br />
Solche Besuche finden oft – im buchstäblichen, aber<br />
auch im übertragenen Sinn, an Sonntagen statt – was<br />
oft zu Verstimmung bei leiblichen Müttern oder<br />
Vätern führt, die das Gefühl haben, der/die andere<br />
sucht sich die „Betreuungs-Rosinen“ aus dem Kuchen<br />
der gemeinsamen Elternschaft.<br />
Wollen leibliche Eltern aber Aufgaben und Verantwortung<br />
übernehmen, können ihnen dies die Stiefeltern<br />
nicht „wegnehmen“, ohne dass es zu massiven Problemen<br />
führt.<br />
Zudem kann es sein, dass sich auswärts lebende<br />
Eltern der Verantwortung dem Kind gegenüber wieder<br />
verstärkt bewusst werden. Die Sorge vor Entfremdung<br />
verstärkt möglicherweise dann die Anstrengungen<br />
um das Kind.<br />
Wenn aber der Aufwand oder die Schwierigkeiten,<br />
das Kind zu sehen, zu groß werden, kann es dazu<br />
führen, dass Mutter oder Vater sich zurückziehen.<br />
Stiefeltern beeinflussen diese Situation ihrerseits<br />
durch besondere Bemühungen um die Zuneigung des<br />
Kindes. Dadurch gerät das Kind nicht selten in einen<br />
Loyalitätskonflikt. Die Lösung dieses Konfliktes für<br />
das Kind ist nur dann möglich, wenn die Situation<br />
von allen beteiligten Erwachsenen erkannt wird.<br />
Es kommt auch vor, dass außerhalb lebende Eltern<br />
55
56<br />
den Kontakt zum Kind schon sehr bald nach der<br />
Trennung abgebrochen haben, dass sie quasi „verschwunden“<br />
sind, keinerlei elterlichen Aufgaben erfüllen<br />
und das Kind sie kaum kennt.<br />
Stiefeltern können dann Vater/Mutter im alltäglichen<br />
Leben weitgehend ersetzen, dennoch werden die leiblichen<br />
Eltern nie völlig bedeutungslos. Spätestens in<br />
der Pubertät, wenn das Kind auf die Suche nach seiner<br />
Identität geht, wird es sich mit ihnen als Personen<br />
und damit, wie weit sie ihre Elternrolle erfüllt<br />
haben, auseinander setzen (siehe beispielsweise<br />
„Jenseits von Eden“ von John Steinbeck = Muttersuche,<br />
oder den Parsival-Mythos = Vatersuche).<br />
Dies kann mit dazu beitragen, dass sich Jugendliche<br />
altersmäßig zu früh von der Familie ablösen (durch<br />
beispielsweise Rückzug aus der Familie oder frühzeitig<br />
intime Freundschaften oder gar Auszug aus der<br />
Wohnung) oder dass sie möglicherweise zu ihrer bisher<br />
getrennt lebenden Mutter/Vater ziehen wollen.<br />
Die Ausgrenzung leiblicher Eltern als die Familie<br />
störendes Element bedeutet für das Kind beinahe<br />
immer einen Verlust. Dies geschieht nicht im Interesse<br />
des Kindes, sondern ist Resultat unbewältigter<br />
Konflikte zwischen den Erwachsenen.
Leibliche Elternschaft ist unaufkündbar, auch wenn<br />
„neue“ Eltern hinzukommen:<br />
...Meist nimmt die Zahl und Häufigkeit der<br />
Kontakte zwischen den außerhalb der Familie lebenden<br />
leiblichen Eltern und den Kindern mit längerdauernder<br />
Trennung ab. Es ist aber wichtig, dass<br />
auch nach der Stieffamiliengründung die Kontakte zu<br />
den außerhalb lebenden Eltern nicht abgebrochen<br />
werden.<br />
...Außerhalb der Stieffamilie lebende leibliche<br />
Eltern übernehmen Alltagsaufgaben wie etwa Betreuung<br />
oder Versorgung der Kinder seltener. Vielmehr<br />
finden besondere Aktivitäten und Unternehmungen<br />
statt. Genauso, wie sich leibliche, getrennt lebende<br />
Väter oder Mütter bemühen sollten, nicht zum reinen<br />
„Freizeitvater“ zu werden, der das Kind ausschließlich<br />
verwöhnt, sollte sich auch die primäre Stieffamilie<br />
darüber im Klaren sein, dass die gemeinsam verbrachte<br />
Zeit für diese beiden etwas Besonderes ist.<br />
...Die völlige Abwesenheit ihrer getrennt lebenden<br />
leiblichen Eltern im Leben des Kindes bedeutet<br />
immer einen Verlust. Spätestens in der Pubertät wird<br />
sich das Kind bei der Suche nach der eigenen Identität<br />
mit der fehlenden Person (und deren Erfüllung<br />
oder Nichterfüllung der Elternrolle) auseinander setzen.<br />
Es ist Aufgabe der Eltern, solche Informationen<br />
zur Verfügung zu stellen.<br />
57
Gewinn oder Verlust?<br />
Geteilte Elternschaft<br />
kann beides sein
Geteilte Elternschaft<br />
In unserem Kulturkreis bestehen relativ klare Vorstellungen<br />
darüber, wem die Rolle der Eltern zukommt:<br />
das sind die leibliche Mutter und der leibliche Vater.<br />
Elternschaft soll, dieser Vorstellung entsprechend, von<br />
e i n e r Mutter und e i n e m Vater verantwortungsvoll<br />
wahrgenommen werden.<br />
Nicht in allen Familien ist das so! In Ihrer Familie,<br />
werte Leserin, werter Leser, gibt es wahrscheinlich<br />
mehr als zwei Personen, die Teile der Rolle eines<br />
Vaters oder einer Mutter erfüllen.<br />
Was das in der Praxis des Familienlebens, vor allem<br />
in den Details, in denen ja bekanntlich der Teufel<br />
steckt bedeutet, dafür gibt es keine allgemein gültigen<br />
Vorstellungen.<br />
Wird eine Familie durch einen neuen Vater oder eine<br />
neue Mutter erweitert, bedeutet das logischerweise<br />
immer, dass die elterlichen Rollen neu ausgehandelt<br />
werden müssen.<br />
Wie schon mehrmals angedeutet, ist die Menge an<br />
Zeit, die man mit anderen verbringt, ein gutes Zeichen<br />
für Art und Ausmaß der Beziehungen Eltern –<br />
59
60<br />
Kind. Im Alltag entsteht eine Fülle von Ungleichheiten,<br />
die als Bevorzugungen oder Benachteiligungen von<br />
den Eltern wahrgenommen werden.<br />
...So erlebt jener Vater oder jene Mutter, bei<br />
dem/der das Kind überwiegend lebt (und häufig<br />
auch sein Partner), dass der Großteil der eher<br />
unangenehmen und belastenden Verpflichtungen<br />
auf ihm/ihr ruht. „Die anderen“ dagegen hätten<br />
nur die angenehmen Seiten der Elternschaft reserviert<br />
(Freizeit, unbelastet von alltäglicher Verantwortung).<br />
...Die nicht sorgeberechtigten Eltern (und mitunter<br />
auch deren Partner) fühlen sich hingegen häufig<br />
auch benachteiligt, wenn auch aus anderen Gründen:<br />
„Ich kann am Leben des Kindes nur am<br />
Rand teilhaben!“ Dazu kommt die typische Angst<br />
außerhalb lebender leiblicher Eltern, ihr Kind ganz<br />
zu verlieren, wenn die neue Familie des ehemaligen<br />
Partners dies anstrebt. Sie wären dann (meist<br />
sind es Männer) reduziert auf eine Funktion als<br />
„Zahl-Elternteil“.<br />
Zusammenfassend:<br />
Leibliche Eltern mögen mitunter den Eindruck haben,<br />
dass die Stiefeltern versuchen, zu ihnen in Konkurrenz<br />
zu treten, ihnen ihre Elternrolle streitig zu<br />
machen und ihnen ihr Kind zu entfremden.<br />
Stiefeltern wiederum haben manchmal das Gefühl,<br />
dass die elterlichen Aufgaben, die sie übernommen<br />
haben, zu wenig beachtet und anerkannt werden und<br />
ihnen nur Pflichten, aber keine Rechte zustehen.
Gegenseitige Rücksichtnahme, Anpassung und Toleranz,<br />
sowie die Bereitschaft zum Gespräch sind erforderlich.<br />
Gelingt dieser Prozess nicht, kann dies dazu<br />
führen, dass sich nicht sorgeberechtigte leibliche<br />
Eltern zurückziehen, das Kind sich hin- und hergerissen<br />
fühlt oder ein Familienmitglied aus dem Familienverband<br />
ausgeschlossen wird.<br />
Andererseits:<br />
Jedes Ding hat zwei Seiten. Mindestens!<br />
Eine Familie kann funktionieren wie ein Orchester.<br />
Alle Instrumentalisten werden gebraucht, und niemand<br />
ist böse, wenn jeden Abend ein anderer am<br />
Pult steht und dirigiert – im Gegenteil; das gilt als<br />
bereichernd und imagefördernd.<br />
So kann es auch im Familienleben sein, dass mit dem<br />
Repertoire an Musikstücken die Performance steigt:<br />
Durch ein Mehr an Mitspielern kann die Qualität der<br />
Aufführungen gewinnen.<br />
Voraussetzung: Die Musiker müssen gut zusammen<br />
spielen, und dies auch wollen.<br />
Dazu gehört:<br />
üben, üben, üben! Übung dient nicht dazu, fehlerfrei<br />
zu spielen. Beim Üben erkennt man im Gegenteil<br />
gerade an den Fehlern die Schwachstellen und kann<br />
sie ausbügeln.<br />
Und so gilt auch für Stieffamilien: Training, Training,<br />
Training!<br />
Niemand erwartet gleich fehlerfreies Spiel.<br />
Dafür winkt als Ziel hoher Lohn! Nämlich ein Bonus<br />
im Umgang miteinander. Wenn viele Leute zusammen-<br />
61
62<br />
kommen, kann man besonders viel lernen – das<br />
steckt als Idee dahinter.<br />
Gemeint ist, dass ihr Kind (aber auch Sie selbst) das<br />
Vorhandensein der mehrfachen Elternschaft positiv<br />
erlebt.<br />
Für alle ist es wichtig, die anderen nicht als Bedrohung<br />
der eigenen Position oder Rolle zu sehen,<br />
sondern als mögliche Bereicherung. Jeder kann<br />
spezifische Fähigkeiten und Möglichkeiten einbringen,<br />
was auf alle ausgesprochen entlastend wirken kann.<br />
Ihr Kind kann von jeder dieser Fähigkeiten profitieren,<br />
jeder kann das Kind auf seine spezifische Weise<br />
unterstützen und ihm Freude machen.<br />
Wenn ein anderer etwas besser kann als Sie, so wird<br />
dies die Zuneigung Ihres Kindes zu Ihnen nicht<br />
schmälern!<br />
Versuchen Sie, andere nicht als Konkurrenten zu<br />
sehen und streben Sie auch nicht danach, selbst<br />
der „bessere“ sein zu wollen. Keiner braucht<br />
besser als der andere zu sein, um sich die Zuneigung<br />
und Achtung des Kindes zu sichern.<br />
Das Kind ist in der Lage, zu mehreren Menschen eine<br />
wertschätzende Beziehung aufzubauen und zu pflegen,<br />
ohne dass dies die Bedeutung, die Sie für Ihr<br />
Kind haben, schmälert.<br />
Ob ein Kind die Chance, die das Leben in einer Familienkonstellation<br />
wie der Ihren bietet, auch wirklich<br />
nutzen kann, hängt weitgehend davon ab, wie Sie
sich dem Kind gegenüber und zueinander verhalten.<br />
Ihr Kind will und darf nach Möglichkeit alle gern<br />
haben. Dazu braucht es die Sicherheit, niemanden zu<br />
beleidigen oder gar zu verlieren, wenn es dies offen<br />
äußert und nicht Partei ergreifen will. Dabei hilft es<br />
dem Kind, wenn die Eltern einander achten und sich<br />
nicht gegenseitig abwerten.<br />
63
64<br />
Wenn mehrere Personen sich die Elternschaft teilen,<br />
...müssen sie mit der vorherrschenden Norm unserer<br />
Gesellschaft, dass Elternschaft nur von e i n e m<br />
Vater und e i n e r Mutter wahrgenommen werden<br />
kann, brechen.<br />
...erfordert dies die Suche nach einer individuellen<br />
Lösung, da es kein allgemein gültiges Modell gibt,<br />
wie mehrfache (multiple) Elternschaft gelebt werden<br />
soll.<br />
...muss das Kind erleben können, dass es alle<br />
Eltern als nahe Beziehungspartner gern haben darf,<br />
und dass Sie sich gegenseitig akzeptieren, nicht<br />
abwerten und nicht in Konkurrenz zueinander treten.<br />
...bedarf es hoher Bereitschaft zu Kommunikation<br />
und gegenseitiger Abstimmung.<br />
...kann das durchaus für alle entlastend wirken. Es<br />
bedarf aber im Alltag eines hohen Ausmaßes an<br />
gegenseitiger Abstimmung und Toleranz – was nicht<br />
leicht ist, und nicht immer gelingt. Aber: Übung<br />
macht den Meister.
Welche Familie “zählt”?<br />
Ein Kind kann zwei Familien,<br />
zwei Mütter und zwei Väter haben.<br />
Vorausgesetzt man<br />
vermeidet Konkurrenzdruck.
Zwischen Toleranz und Fremdheit<br />
Kinder, die in Stieffamilien aufwachsen, gehören<br />
meist zwei Familien an.<br />
Die primäre Stieffamilie ist jene, in der sie die<br />
meiste Zeit verbringen, in der sie mit jenem Elternteil<br />
zusammenleben, der die Obsorge für das Kind hat.<br />
Hier herrscht der Alltag des Kindes.<br />
Die Kinder verbringen aber auch meist einen<br />
(mehr oder weniger großen) Teil ihrer Zeit in der<br />
sekundären Stieffamilie.<br />
Nun ist es interessant:<br />
Die Mitglieder einer Stieffamilie haben häufig unterschiedliche<br />
Ansichten darüber, wer eigentlich und in<br />
Wahrheit zu ihrer Familie gehört.<br />
Die erwachsenen Mitglieder der Primärfamilie zählen<br />
die Mitglieder der sekundären Stieffamilie des Kindes<br />
oft nicht zu ihrer eigentlichen engeren Familie.<br />
Kinder wiederum sind häufig in beide Familien mit<br />
ihren Regeln, Vorstellungen und Traditionen so eingebunden,<br />
dass sie meist alle Mitglieder beider Familien<br />
zu ihrer engeren Familie rechnen.<br />
67
68<br />
Es ist allerdings auch möglich, dass Einzelne, mit<br />
denen man nicht so gut zurecht kommt, nicht als<br />
vollwertige Familienmitglieder akzeptiert, und daher<br />
auch nicht zur Familie gezählt werden.<br />
Die solcherart unklare Abgrenzung der Familie nach<br />
außen und die Unsicherheit darüber, wer welcher<br />
Familie angehört, erschweren die Orientierung für<br />
Außenstehende. Aber auch die Zusammengehörigkeit<br />
und Exklusivität der Stieffamilie wird gefährdet.<br />
Was haben nun Kinder im Idealfall davon, gleichzeitig<br />
mehreren Familien anzugehören?<br />
Sie können jeweils verschiedene Familienregeln und<br />
Formen des Umgangs miteinander kennen lernen, die<br />
Fähigkeit entwickeln, sich an unterschiedliche Erziehungsstile<br />
anzupassen und flexibel auf Erwartungen<br />
zu reagieren.<br />
Das Kind hat zwei Orte, an denen es sich „zu<br />
Hause“, sicher und geborgen fühlen kann. Für das<br />
Kind ist es hilfreich, wenn es auch beim außerhalb<br />
der Stieffamilie lebenden leiblichen Vater oder bei der<br />
Mutter einen eigenen Platz hat, vielleicht sogar ein<br />
eigenes Zimmer, jedenfalls Spielsachen, eine Spielecke<br />
oder einen eigenen Schreibtisch.<br />
Ein Kind kann nicht nur zwei Familien, sondern kann<br />
auch zwei Mütter und zwei Väter haben, d.h. Kinder<br />
können unter günstigen Bedingungen mehrere<br />
Erwachsene als mütterliche und väterliche Bezugspersonen<br />
ansehen. Dies muss nicht heißen, dass alle
Personen, die das Kind als Eltern betrachtet, die<br />
selbe Bedeutung im Sinne seelischer Nähe und Verbundenheit<br />
besitzen. Sie können aber wichtige Teilbereiche<br />
der elterlichen Aufgaben erfüllen.<br />
Die spezifischen Erwartungen, die ein Kind bezüglich<br />
der Erfüllung elterlicher Aufgaben an die einzelnen<br />
Personen hat, werden nicht nur von seinem Alter,<br />
sondern auch von seinem Geschlecht, seiner bisherigen<br />
Familiengeschichte, der Verfügbarkeit der Eltern<br />
für das Kind und der spezifischen Lebenssituation der<br />
Familie mitbestimmt.<br />
Auch Toleranz muss gelehrt und gelernt werden! Wie<br />
leicht oder wie schwer es dem Kind fällt, mehrere<br />
Erwachsene als Eltern zu akzeptieren, hängt auch<br />
davon ab, ob es fürchten muss, bestimmte Personen<br />
zu kränken, wenn es auch anderen Zuneigung entgegenbringt.<br />
Was sind spezifische Probleme in solchen<br />
Situationen?<br />
Es gibt keine allgemein gültigen Vorgaben dafür, wie<br />
unterschiedliche Eltern benannt werden sollen. Es ist<br />
letztlich dem Kind überlassen, ob es zum Stiefvater<br />
„Neuer Papa“ sagt, ihn als „Vati“ anspricht (im<br />
Gegensatz zum leiblichen Vater, der als „Papa“<br />
bezeichnet wird) oder ihn einfach mit seinem Vornamen<br />
anredet.<br />
Mehrere Eltern zu haben bedeutet, dass von mehr als<br />
zwei Seiten an das Kind Erwartungen herangetragen<br />
werden. Meistens wird es versuchen, allen gerecht zu<br />
werden. Hier lauert freilich eine Gefahr: Wer allen<br />
69
70<br />
gerecht werden möchte, droht zerrissen zu werden.<br />
Mitunter wollen die verschiedenen Personen auch<br />
Widersprüchliches von ihrem Kind.<br />
Möglicherweise will der Stiefvater seinen Sohn zu<br />
einem durchsetzungsfähigen, energischen, zielstrebigen<br />
Erwachsenen erziehen, der leibliche Vater jedoch<br />
legt vorwiegend Wert auf die Ausbildung sozialer<br />
Fähigkeiten.<br />
Solche unterschiedlichen Ansprüche der Eltern führen<br />
oft zur Überforderung oder Verunsicherung des Kindes.<br />
Aber natürlich kann das Spiel der Beziehungen in<br />
jede Richtung ausschlagen. Kinder benützen oft die<br />
Gelegenheit, die Erwachsenen gegeneinander auszuspielen.<br />
Für Eltern ist es dann nicht immer einfach,<br />
verständnisvoll, klar und konsequent zu reagieren...<br />
und das, ohne den Partner abzuwerten. Typischerweise<br />
versucht das Kind seine Wünsche mit der<br />
Begründung durchzusetzen, dass es beim Papa oder<br />
bei der Mama Bestimmtes immer dürfe, zum Beispiel<br />
bis zu einer bestimmten Zeit aufzubleiben.<br />
Mehr als „nur“ eine Mutter und „nur“ einen Vater zu<br />
haben, stellt für Kinder auch eine einmalige Chance<br />
dar. Sie können den getrennt lebenden Vater/Mutter<br />
als wichtige Bezugs- und Kontaktperson behalten.<br />
Zusätzlich finden sie weitere Erwachsene vor, die<br />
möglicherweise Verständnis und Zeit investieren und<br />
sich zu weiteren wichtigen Menschen im Umkreis des<br />
Kindes entwickeln.
Das Kind hat die Möglichkeit, sich von mehreren Personen<br />
jeweils das zu holen, was diese im Besonderen<br />
geben können. So mag die neue Partnerin des<br />
nicht sorgeberechtigten Vaters die am besten informierte<br />
Gesprächspartnerin über derzeit aktuellste<br />
Musikgruppen sein, der leibliche Vater der Kompetenteste<br />
im Bereich neuer Computerspiele, der Stiefvater<br />
am besten in der Lage, bei der Reparatur der Rollerskates<br />
zu helfen, und die Mutter die aufmerksamste<br />
Zuhörerin, wenn es darum geht, den Schulfrust loszuwerden.<br />
Damit Ihr Kind aber diese Chancen nützen kann,<br />
muss eine Reihe von Vorbedingungen gegeben<br />
sein, deren Herstellung und Aufrechterhaltung<br />
nicht immer leicht ist:<br />
...Eltern sollten sich dessen bewusst sein, dass<br />
sie für das Kind wichtig, wertvoll und einmalig<br />
sind, auch wenn daneben eine zweite mütterliche<br />
oder väterliche Bezugsperson existiert.<br />
...Geben Sie dem Kind die Gewissheit, dass es für<br />
die Eltern akzeptabel ist, wenn es sie alle mag<br />
und deren positive Seiten schätzt. Vor allem: Das<br />
Kind muss auch die Freiheit besitzen, dies zeigen<br />
zu dürfen.<br />
Das bedeutet: Körper und Seele sollten übereinstimmen!<br />
Wenn Sie nicht ehrlich sind, seien Sie<br />
sicher, Ihre Körpersprache verrät Sie! Das Kind<br />
wird es vielleicht nicht kommentieren, aber<br />
bemerken wahrscheinlich schon.<br />
71
72<br />
Ein Beispiel:<br />
Das Kind erhält zwar verbal die Erlaubnis, z.B. mit<br />
der neuen Partnerin des außerhalb lebenden Vaters<br />
Geburtstag zu feiern. Es muss aber aus Gesichtsausdruck<br />
und Körpersprache seiner Mutter ablesen, dass<br />
diese damit eigentlich nicht einverstanden ist...<br />
Wenn so etwas zur Regel wird, droht das Vorhandensein<br />
mehrerer Eltern eher zur Belastung zu werden<br />
statt eine Bereicherung zu sein.<br />
Ein weiteres Problem:<br />
Der Konflikt zwischen Vater und Mutter dauert an;<br />
wie das läuft, kennt jeder. Da wird gestritten, oder<br />
man redet in den häuslichen vier Wänden schlecht<br />
über den jeweils anderen.<br />
Es gibt unzählige Möglichkeiten, einen anderen Menschen<br />
schlecht zu machen und sein Ansehen in der<br />
Familie und in den Augen der eigenen Kinder herunterzumachen<br />
– eine ganz besonders perfide Art ist<br />
es, das Kind mit den (vermeintlichen oder wahren)<br />
schlechten Eigenschaften des getrennten Vaters (oder<br />
der Mutter) gleichzusetzen: „Mit dir hat reden keinen<br />
Sinn, du gerätst ganz deinem Vater nach!“<br />
Eltern abzuwerten bedeutet immer, dem Kind das<br />
unbefangene Aufrechterhalten einer Beziehung zu<br />
verwehren und häufig, das Kind einem belastenden<br />
Loyalitätskonflikt auszusetzen.<br />
Soll das Kind seine Chancen nützen können, ist es<br />
nötig, dass die Beziehung des Kindes zu jedem einzelnen<br />
Elternteil als dessen Privatsphäre geachtet<br />
wird. Wird das Kind nach jedem Besuch bei seinem<br />
leiblichen Vater von seiner Mutter ausgefragt, erlebt
das Kind dies vermutlich weniger als Anteilnahme,<br />
sondern eher als Kontrolle seiner Beziehung. In jeder<br />
Beziehung gibt es gute und schlechte Zeiten. Damit<br />
konstruktiv und verantwortlich umzugehen, ist aber<br />
Sache beider Beziehungspartner.<br />
Ein glückliches Familienleben fällt nicht in den Schoß<br />
– es wird bedeuten, auf bestimmte eigene Ansprüche<br />
gegenüber dem Kind zu verzichten und die eigene<br />
Elternrolle zu begrenzen.<br />
Vielleicht aber fällt Ihnen dies leichter, wenn Sie sich<br />
vor Augen halten, dass es im Interesse des Kindes<br />
geschieht, und dass Sie damit Ihrem Kind Möglichkeiten<br />
eröffnen, die viele andere Kinder nicht haben.<br />
73
Ein Kind kann in zwei Familien, mit zwei Müttern und<br />
Vätern glücklich leben, wenn<br />
... es sich von den Eltern das holen kann, was ihm<br />
diese im Besonderen geben können.<br />
... es ihm gelingt, sich an die unterschiedlichen<br />
Familienregeln anzupassen und auf die jeweiligen<br />
Erwartungen zu reagieren.<br />
... es durch die unterschiedlichen Erwartungen<br />
nicht überfordert und verunsichert wird.<br />
... alle Eltern einander ein Mindestmaß an Wertschätzung<br />
und gegenseitiger Akzeptanz entgegenbringen<br />
und dem Kind das ehrlich gemeinte Einverständnis<br />
geben können, einander zu mögen, ohne<br />
dabei zu verschweigen, dass man nicht immer einer<br />
Meinung sein muss.<br />
... es gelingt, die Verantwortung für das betroffene<br />
Kind aufzuteilen und sich alle darüber einigen können,<br />
in welcher Form dies geschieht.<br />
... sich die Erwachsenen klar machen, dass ein<br />
Kind durchaus in der Lage ist, mehrere Erwachsene<br />
als Eltern anzusehen.<br />
75
.<br />
Die rechtliche Situation<br />
Adoption, Namensänderungen...<br />
oder reichen auch Vollmachten<br />
für den Alltag
Mehr Rechte für den/die „Stief“?<br />
Nach derzeit bestehendem österreichischem Recht<br />
verändert die Gründung einer Stieffamilie nichts an<br />
der familienrechtlichen Situation des Stiefkindes!<br />
Auch weiterhin verbleibt demjenigen allein die elterliche<br />
Obsorge, der bisher sorgeberechtigt war. Er/Sie<br />
ist der gesetzliche Vertreter und für alle wichtigen<br />
Entscheidungen, die das Kind betreffen, zuständig.<br />
Die Stiefeltern besitzen keinerlei elterlichen Rechte<br />
oder Pflichten gegenüber dem Stiefkind. Es besteht<br />
weder die Pflicht noch das Recht, an der Erziehung<br />
und Betreuung des Kindes teilzuhaben, bei den das<br />
Kind betreffenden Entscheidungen mitzureden, das<br />
Kind gesetzlich zu vertreten, oder einen Beitrag zum<br />
Unterhalt des Kindes zu leisten.<br />
Allerdings können Stiefeltern im Wege der ehelichen<br />
Beistandspflicht gegenüber dem Ehepartner indirekt<br />
verpflichtet werden, an der faktischen Betreuungsaufgabe<br />
des Stiefkindes mitzuwirken – z.B. bei berufsbedingter<br />
Verhinderung des obsorgeberechtigten Partners<br />
oder sonstigen familiären Umständen – und im<br />
Wege der Unterhaltsleistung an den Ehepartner auch<br />
einen Beitrag zum Unterhalt des Stiefkindes beizu-<br />
77
78<br />
steuern. Damit entsteht eine offensichtliche Diskrepanz<br />
zwischen der tatsächlichen Situation im Alltagsleben<br />
in Stieffamilien einerseits, und den rechtlichen<br />
Gegebenheiten andererseits. Oder: Diese Situation<br />
kann als Diskrepanz zwischen der tatsächlichen Situation<br />
im Alltagsleben in Stieffamilien einerseits, und<br />
den rechtlichen Gegebenheiten andererseits empfunden<br />
werden.<br />
Mit diesem Problem sind Sie in Ihrer Familie vermutlich<br />
immer wieder konfrontiert. Ein Zusammenleben in<br />
einer Familie, ohne dass beide erwachsenen Partner<br />
an Betreuung und Erziehung der in der Familie lebenden<br />
Kinder beteiligt sind, wird nur schwer erfolgreich<br />
sein. Auch die Stiefeltern werden einen, vielleicht<br />
geringen, mitunter aber auch bedeutsamen Teil dieser<br />
Aufgaben mitübernehmen, also elterliche Pflichten<br />
wahrnehmen. Da die Reformbestrebungen zu einem<br />
neuen Kindschaftsrecht jedoch dahin gehen, die<br />
besagten Aufgaben generell als elterliche Pflichten<br />
ansehen zu wollen und nicht als Rechtsmacht der<br />
Eltern, kommt es zu einer gewissen formalen Angleichung<br />
von leiblichen und sozialen Eltern.<br />
Um unnötige Komplikationen im Familienalltag zu vermeiden,<br />
ist es sinnvoll, wenn sich der nicht sorgeberechtigte<br />
Vater/oder die Mutter vom Sorgeberechtigten<br />
eine Vollmacht geben lässt, um z.B. Schularbeiten<br />
des Kindes unterschreiben zu dürfen.<br />
Es ist für das Familienleben sicherlich auch nicht einfach,<br />
wenn das pubertierende Stiefkind die Anweisung,<br />
bis Mitternacht zu Hause zu sein, mit der<br />
Bemerkung abtut: „du hast kein Recht, mir
irgendetwas zu sagen.“ Aber ob Familienkonflikte mit<br />
einem Hinweis auf das Recht zu lösen sind, ist ja<br />
allgemein eine Frage!<br />
Die mangelnde rechtliche Verankerung der Stiefelternschaft<br />
kann das Alltagsleben erschweren, sie kann bei<br />
Stiefeltern auch Hilflosigkeit auslösen und zu Enttäuschung<br />
darüber führen, dass die für das Stiefkind<br />
erbrachten Leistungen öffentlich nicht anerkannt werden.<br />
Und wie sieht es international aus?<br />
Es zeigt sich zwar allgemein ein steigender Druck zur<br />
rechtlichen Aufwertung der Stiefeltern. Allerdings stehen<br />
dem auch grundlegende Bedenken gegenüber.<br />
Prinzipiell hat man bei Analyse der Lage das Gefühl<br />
der Ungerechtigkeit. Die Verteilung der Pflichten und<br />
Rechte scheint ungleich zu sein.<br />
Nicht obsorgeberechtigte Eltern haben gesetzlich<br />
weder die Pflicht, noch das Recht, an der Erziehung<br />
und Betreuung des Kindes teilzuhaben, bei den das<br />
Kind betreffenden Entscheidungen (rechtlich wirksam)<br />
mitzureden oder das Kind gesetzlich zu vertreten. Sie<br />
bleiben aber weiterhin im selben Ausmaß unterhaltspflichtig!<br />
Das Umgangsrecht (Besuchsrecht) des auswärts<br />
lebenden Vaters (der Mutter) mit dem Kind wird von<br />
der neuen Partnerschaft nicht berührt. Damit wird von<br />
gesetzlicher Seite die sicherlich berechtigte Vorstel-<br />
79
80<br />
lung unterstützt, dass auch bei einer Wiederheirat<br />
das Kind nicht auch noch die zweite Hälfte seiner<br />
leiblichen Eltern „verlieren“ soll.<br />
Dies erscheint deshalb wichtig, weil dadurch Ängste<br />
des Kindes, der „Stief“ wolle den leiblichen<br />
Vater/Mutter verdrängen, entgegengewirkt wird. Auch<br />
wenn in der Stieffamilie der Wunsch nach mehr Zeit<br />
für gemeinsame Unternehmungen, stärker wird, sollte<br />
das nicht auf Kosten der Besuchskontakte gehen.<br />
Die mangelnde rechtliche Verankerung der Stiefelternschaft<br />
kommt insbesondere auch dann zum Tragen,<br />
wenn der/die „Stief“ die Familie, aus welchen Gründen<br />
auch immer, verlässt. Selbst wenn sich zwischen<br />
Kind und Stiefvater oder -mutter eine innige und für<br />
beide bedeutsame Beziehung entwickelt hatte,<br />
besteht nach der Trennung kein Recht auf weiteren<br />
Kontakt miteinander. Dieses Problem soll aber im<br />
Zuge der Reform zu einem neuen Kindschaftsrecht<br />
gelöst werden!<br />
In einigen Ländern haben sich die Gerichte mit dieser<br />
unbefriedigenden Situation auseinander gesetzt. Es<br />
wurden dort gesetzliche Regelungen gefunden, die<br />
unter bestimmten Bedingungen ein Umgangsrecht in<br />
solchen Fällen sicherstellen.<br />
Normen, zumal tief sitzende, alteingesessene, lassen<br />
sich nur schwer ändern, und sei eine Reform noch so<br />
sinnfällig. So auch in diesem Fall.
Adoption<br />
Die einzige Möglichkeit, rechtlich eine Beziehung zwischen<br />
Kind und Stiefvater oder -mutter herzustellen,<br />
ist die Adoption.<br />
Mit der „Freigabe“ eines Kindes zur Adoption verzichten<br />
die leiblichen Eltern auf ihre gesetzlich zuerkannten<br />
Rechte und Pflichten. Durch die Adoption des Kindes<br />
gehen diese von den leiblichen Eltern auf die<br />
Stiefeltern über.<br />
Die rechtliche Beziehung zwischen leiblichen Eltern<br />
und Kind erlischt damit. Eine Adoption bedarf aber<br />
der Zustimmung des leiblichen Elternpaares sowie<br />
einer gerichtlichen Bewilligung. Ab dem 5. Lebensjahr<br />
hat das Kind dabei ein Anhörungsrecht.<br />
Die Adoption ist vom Gericht zu bewilligen, „wenn<br />
eine dem Verhältnis zwischen leiblichen Eltern und<br />
Kindern entsprechende Beziehung besteht oder hergestellt<br />
werden soll“.<br />
Als Grundvoraussetzung für eine gerichtliche Bewilligung<br />
muss die Adoption in allererster Linie dem Wohl<br />
des Kindes dienen, und es dürfen keine überwiegenden<br />
Anliegen eines leiblichen Kindes des adoptierenden<br />
Vaters oder der Mutter (z.B. Gefährdung dessen<br />
Unterhalts) entgegenstehen.<br />
Namensänderung<br />
In manchen Stieffamilien entsteht der Wunsch, um<br />
auch nach außen die Familie als Einheit darzustellen<br />
und dem Kind eventuelle Diskriminierungen zu ersparen,<br />
den Namen des Kindes dem durch die neue Ehe-<br />
81
82<br />
schließung veränderten Namen der Mutter anzugleichen.<br />
Solch eine Namensänderung ist gesetzlich möglich.<br />
Allerdings darf sie dem Wohl des Kindes „nicht<br />
abträglich“ sein.<br />
Die Namensänderung des Kindes ist vom gesetzlichen<br />
Vertreter zu beantragen. Hat das Kind das 14.<br />
Lebensjahr vollendet, muss es der Namensänderung<br />
zustimmen. Den nicht sorgeberechtigten Eltern kommt<br />
heute nicht mehr ausdrücklich Parteistellung zu, doch<br />
werden diese Eltern zu hören sein. Eine Namensänderung<br />
ist zwar auch ohne deren Zustimmung möglich,<br />
aber die vorgebrachten Bedenken sind dann erheblich,<br />
wenn die Beibehaltung des alten Namens dem<br />
Wohl des Kindes besser entspräche.<br />
Eine Namensänderung, aber in noch viel gravierenderer<br />
Weise eine Adoption des Kindes stellt einen überaus<br />
bedeutsamen Eingriff in das Leben eines Kindes<br />
dar, der nicht nur kurzfristig wirksam wird. Solch ein<br />
Eingriff bedarf daher umfassender Überlegungen,<br />
wobei möglichst alle Aspekte einer so tief greifenden<br />
Veränderung nüchtern betrachtet und diskutiert werden<br />
sollten.<br />
Oberste Richtlinie für alle Entscheidungen hat das<br />
Wohl des Kindes und die Verwirklichung seiner Interessen<br />
zu sein. Auf welche Art das Kind in diesen Entscheidungsprozess<br />
einbezogen wird, hängt wesentlich<br />
von dessen Alter ab. Es wird aber erforderlich sein,<br />
die Einstellung des Kindes zu den geplanten Maßnah-
men zu erkunden und bei der Entscheidung vorrangig<br />
zu berücksichtigen. Eine Adoption kann bei jüngeren<br />
Kindern rechtliche Probleme lösen.<br />
Es ist verständlich, dass Sie zum Zeitpunkt, zu dem<br />
Sie eine Namensgebung oder Adoption erwägen,<br />
nicht an die Möglichkeit einer späteren Scheidung<br />
denken. Dennoch ist eine solche nicht von vornherein<br />
auszuschließen und die damit verbundenen weiteren<br />
Folgen für das Kind sollten mitbedacht werden. Ein<br />
Gespräch in einer Familienberatungsstelle, in welches<br />
von fachkundiger Seite alle Aspekte, die zu beachten<br />
sind, eingebracht werden können, kann eine Hilfe<br />
sein.<br />
Vollmachten<br />
Oft wird gefordert, dass die rechtlichen Befugnisse<br />
der Stiefeltern erweitert werden. In der Praxis zeigt<br />
sich aber, dass man mit jeweils ausgestellten Vollmachten<br />
das Auslangen findet. Damit kann man sich<br />
den Alltag erleichtern.<br />
Das wird in erster Linie in Schulfragen – wie z.B. die<br />
Kenntnisnahme von schulischen Mitteilungen – zum<br />
Tragen kommen.<br />
83
Es geht auch um Macht und Einfluss<br />
...gut ist wenn alle mitreden dürfen!
Teilen heißt nicht verlieren<br />
Stellen Sie als Mitglied einer Stieffamilie nicht an sich<br />
selbst und die anderen den Anspruch, sofort wie eine<br />
perfekte Kernfamilie zu funktionieren! Die Vorstellung,<br />
dass in der neuen Familie ohne Einschränkungen<br />
alles besser als früher gemacht wird, ist unrealistisch.<br />
Trotz aller guten Vorsätze gibt es manches, das den<br />
Start einer Stieffamilie erschweren kann.<br />
Allein schon die Tatsache, dass ein neuer Erwachsener<br />
die Familie erweitert, ist mögliche Ursache von<br />
Schwierigkeiten. Unterschiedliche Lebensmuster und<br />
Vorstellungen wollen abgestimmt werden.<br />
Die Erwachsenen müssen in ihrer Beziehung die<br />
bereits vorhandenen Kinder mit all deren Rechten<br />
und Ansprüchen berücksichtigen. Da das Kind vor der<br />
Stieffamiliengründung meist mit einem Elternteil<br />
alleine zusammenlebte, scheint es dem Kind manchmal<br />
so, als ob es Mutter oder Vater nun nicht nur<br />
teilen müsste, sondern womöglich ganz verlieren<br />
könnte.<br />
Insbesondere wenn das Kind in der Zeit vor der Stieffamiliengründung<br />
einen Partner teilweise ersetzte und<br />
mit ihm gemeinsam vieles besprochen und entschie-<br />
85
86<br />
den hat, wird es ungewollt durch die neue Situation<br />
an Macht und Einfluss verlieren. Diese Einschränkung<br />
wird es besonders zu Beginn bekämpfen.<br />
Gleichzeitig aber bedeutet es für das Kind eine deutliche<br />
Erleichterung, Verantwortungen, für die es nicht<br />
reif genug ist und die es daher in Wahrheit überfordern,<br />
wieder abgeben zu können.<br />
Wünschenswert wäre, dass das Kind in der Stieffamilie<br />
wenigstens e i n e n Erwachsenen als<br />
Bezugsperson vorfindet, dem es meint, voll und<br />
ganz vertrauen zu können.<br />
Sprechen Sie in der Anfangsphase besonders viel und<br />
intensiv mit dem Kind, versuchen Sie, die Situation<br />
zu erklären und bereiten Sie es auf die Veränderungen<br />
vor, die zu erwarten sind. Das Kind sollte auf<br />
keinen Fall den Eindruck gewinnen, innerhalb seiner<br />
Familie nicht mitreden und mitbestimmen zu können.<br />
Probleme treten naturgemäß dann auf, wenn es einzelnen<br />
Familienmitgliedern, besonders Stiefeltern und<br />
Stiefkindern, schwer fällt miteinander auszukommen.<br />
Verstehen sich das Kind und der neue Partner nicht<br />
sehr gut, kann dies mehrere Ursachen haben. Meist<br />
ist es dann so, dass sich die beiden noch nicht ausreichend<br />
kennen gelernt haben oder etwa die Stieffamilie<br />
zu rasch gegründet wurde.<br />
Grundsätzlich muss der neue Partner das Kind<br />
vorerst einmal ohne Ansprüche so annehmen, wie<br />
es ist. Das Kind braucht Zeit, um das Gefühl zu<br />
entwickeln, vom neuen Partner verstanden zu
werden und ihm vertrauen zu können. Dann erst<br />
kann es sein Mitwirken in der Erziehung akzeptieren.<br />
Auch die außerhalb lebenden leiblichen Eltern stehen<br />
durch die Gründung einer Stieffamilie in einer<br />
drastisch veränderten Situation.<br />
Kinder erleben zum Beispiel gegenseitige Abwertung<br />
der Eltern als sehr schmerzhaft. Wollen Kinder und<br />
außerhalb lebende leibliche Eltern ihre Kontakte wie<br />
bisher fortsetzen, oder ihre Beziehung gar intensivieren<br />
und die neue Stieffamilie steht diesem Anliegen<br />
im Wege, sind Schwierigkeiten vorprogrammiert.<br />
Das Kind sollte zumindest die Chance haben, weiterhin<br />
mit beiden Eltern zu leben, sie zu sehen und sich<br />
dort Rat zu holen, wo es selbst will. Die Eltern müssen<br />
versuchen, ihre Konflikte so zu lösen, dass das<br />
Kind nicht weiter in diese Situation hineingezogen<br />
wird.<br />
Eine Stieffamiliengründung bedeutet für das Kind die<br />
Chance, zu mehreren Erwachsenen eine Beziehung<br />
aufzubauen.<br />
Wenn Sie als Eltern dem Kind die Erlaubnis<br />
geben, alle zu mögen und Ihrem Kind die Möglichkeit<br />
schaffen, mit allen Kontakte zu pflegen,<br />
wird dies für Ihr Kind eine Bereicherung sein.<br />
Ein Tipp: Für Sie als Mutter oder Vater kann es durchaus<br />
entlastend sein, Verantwortung mit mehreren<br />
Eltern teilen zu können. Eine Stieffamilie so zu gestal-<br />
87
88<br />
ten, dass sich alle wohl fühlen können, erfordert von<br />
den Erwachsenen, dass sie einander Achtung, Wertschätzung<br />
und ein Mindestmaß an Vertrauen entgegenbringen.<br />
Dann kann es Ihre Familie schaffen,<br />
einen für alle befriedigenden Weg der Begegnung zu<br />
finden.
0800–240 262<br />
Kostenlos zum Ortstarif
Rat und Hilfe<br />
Beim Familienservice des Bundesministeriums für<br />
soziale Sicherheit und Generationen (BMSG) erhalten<br />
Sie unter der Telefonnummer 0800/240 262 (zum<br />
Ortstarif aus ganz Österreich) Adressen und Telefonnummern<br />
aller vom BMSG geförderten Familienberatungsstellen.<br />
Buchempfehlungen<br />
Für all jene, die sich mehr mit den Fragen und<br />
Herausforderungen von Stieffamilien beschäftigen<br />
wollen, gibt es auch gute Literatur im Buchhandel.<br />
Beispielhaft empfohlen werden:<br />
Sonja Combe: Deine, meine, unsere Kinder.<br />
Als neue Familie zusammenwachsen.<br />
Spektrum Verlag, 1998<br />
Verena Krähebühl: Meine Kinder, deine Kinder,<br />
unsere Familie. Wie Stieffamilien zusammenfinden.<br />
Rowohlt TB, 2000<br />
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Notizen
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