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Die Bestimmung des Menschen

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Gefolge der Reformation Konfessionskriege Europa für mehr als ein<br />

Jahrhundert erschüttert hatten, mußte das Prinzip der individuellen<br />

Freiheit und die daraus folgende Duldung eines mehr oder weniger<br />

weitgehenden religiösen Pluralismus verselbständigt werden gegenüber<br />

seiner religiösen Verwurzelung im christlichen Glauben, weil es<br />

gebraucht wurde zur Neubegründung der gemeinsamen Basis eines<br />

Gesellschaftslebens, das nunmehr unabhängig sein mußte vom zerstörerischen<br />

Streit zwischen einander wechselseitig ausschließenden konfessionellen<br />

Interpretationen <strong>des</strong> christlichen Glaubens. <strong>Die</strong> Emanzipation<br />

<strong>des</strong> Prinzips menschlicher Freiheit von seinen religiösen Wurzeln<br />

im christlichen Glauben erwies sich als verhängnisvoll nicht nur<br />

für die moderne Geschichte <strong>des</strong> Christentums, weil sie zum Ausgangspunkt<br />

<strong>des</strong> Säkularismus der modernen Kultur wurde mit der Folge,<br />

daß die religiöse Thematik mehr und mehr von öffentlicher Geltung<br />

ausgeschlossen und auf den privaten Lebensbereich beschränkt wurde.<br />

<strong>Die</strong> Isolierung <strong>des</strong> Gedankens der individuellen Freiheit von seinen<br />

religiösen Wurzeln hat sich aber auch als verhängnisvoll für die<br />

Entwicklung der modernen Kultur erwiesen, weil durch den Verlust<br />

ihrer religiösen Verwurzelung einige ihrer grundlegenden Werte<br />

zweideutig und undurchsichtig wurden.<br />

Das Prinzip individueller Freiheit ist nicht eine für die menschliche<br />

Natur selbstverständliche Tatsache. Es war die Illusion <strong>des</strong> Liberalismus,<br />

daß jeder Mensch frei geboren ist, daß Schranken dieser Freiheit<br />

nur von außen auferlegt werden, durch das soziale System, und daß<br />

alle <strong>Menschen</strong> sich ihrer Freiheit freuen und sie friedlich ausleben<br />

würden, wenn nur jene äußeren Hindernisse, soziale Schranken und<br />

Ungleichheiten beseitigt würden. <strong>Die</strong>se Konzeption einer von Natur<br />

aus gegebenen und ursprünglichen Freiheit je<strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> ist freilich<br />

sehr einflußreich im westlichen Denken gewesen, und zwar nicht erst<br />

in der Neuzeit, sondern schon lange zuvor. Es war die Botschaft der<br />

stoischen Philosophie, daß ursprünglich alle <strong>Menschen</strong> von Natur aus<br />

frei und gleich gewesen sind, die Entwicklung der sozialen Beziehungen<br />

zwischen den <strong>Menschen</strong> aber Ungleichheiten hervorgebracht und<br />

jene ursprüngliche Gleichheit und Freiheit verdorben habe.<br />

An diesem Punkt besteht eine fundamentale Differenz zwischen der<br />

Anthropologie der stoischen Philosophie und derjenigen <strong>des</strong> christlichen<br />

Glaubens. <strong>Die</strong> frühen Christen nahmen nicht an, daß die <strong>Menschen</strong><br />

von Natur aus frei und gleich sind. Sie glaubten vielmehr, daß die<br />

<strong>Menschen</strong> befreit werden müssen, um frei zu sein. Im Johannesevan-<br />

12<br />

WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />

ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233

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