Die Bestimmung des Menschen
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WOLFHART PANNENBERG, <strong>Die</strong> <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong><br />
2. DIE GESELLSCHAFTLICHE BESTIMMUNG<br />
DES MENSCHEN UND DIE KIRCHE<br />
Jede Interpretation der Botschaft Jesu muß der Tatsache Rechnung<br />
tragen, daß Jesus sich nicht unmittelbar der Reform gesellschaftlicher<br />
Strukturen widmete, sondern sich um einzelne Personen kümmerte im<br />
Hinblick auf ihre persönlichen Beziehungen zu Gott. Dennoch war<br />
seine Botschaft alles andere als Ausdruck einer privaten Frömmigkeit.<br />
Mit seiner Verkündigung <strong>des</strong> kommenden Gottesreiches stand er in<br />
der Tradition der politischen Erwartungen <strong>des</strong> jüdischen Volkes.<br />
<strong>Die</strong>se Erwartungen waren konzentriert in der Hoffnung auf eine durch<br />
Gerechtigkeit und Frieden gekennzeichnete soziale Ordnung, doch<br />
seit der Zeit der Propheten erwartete man die Verwirklichung einer<br />
solchen neuen Ordnung der Gesellschaft nicht mehr als Ergebnis eines<br />
Herrscherwechsels oder auch einer Veränderung in der Herrschaftsstruktur,<br />
sondern einzig und allein davon, daß alle Formen der Herrschaft<br />
von <strong>Menschen</strong> über <strong>Menschen</strong> durch die unmittelbare Herrschaft<br />
Gottes selbst abgelöst werden würden. In dieser Erwartung<br />
kommt ein charakteristisch jüdischer Realismus im Hinblick auf den<br />
Charakter jeder menschlichen Herrschaftsform zum Ausdruck, und<br />
dieser skeptische Realismus gegenüber all den Erwartungen, die sich<br />
an den Wechsel von Herrschern und Herrschaftsformen zu hängen<br />
pflegten, trägt vielleicht dazu bei, die erstaunliche Tatsache verständlicher<br />
zu machen, daß Jesus das kommende Reich Gottes in so überraschend<br />
persönlicher, fast privater Form verkündete. Jedenfalls<br />
stimmte er nicht in den Chor derjenigen ein, die einen Umsturz der<br />
Gesellschaftsordnung und eine Befreiung von der römischen Besatzungsmacht<br />
forderten. Offensichtlich erwartete Jesus nicht, daß irgendeine<br />
solche Revolution dasjenige Reich verwirklichen könnte, zu<br />
<strong>des</strong>sen Verkündigung er sich gesandt wußte. Dennoch muß auch seine<br />
Verkündigung <strong>des</strong> Gottesreiches bei aller Besonderheit im Zusammenhang<br />
der politischen Erwartungen Israels verstanden werden. Das<br />
bedeutet, daß die <strong>Bestimmung</strong> <strong>des</strong> <strong>Menschen</strong> nicht schon in der Abgeschlossenheit<br />
seines Privatlebens voll realisiert werden kann, sondern<br />
von der Entwicklung der politischen Gemeinschaft der <strong>Menschen</strong> ab-<br />
© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen<br />
ISBN Print: 9783525334232 — ISBN E-Book: 9783647334233<br />
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