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Das Leben ist so, wie wir darauf reagieren

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058<br />

gewusst, dass sie nicht mehr zurückkommen. Ich<br />

will aber nicht auslassen, zwei ganz be<strong>so</strong>nders<br />

fürchterliche Dinge zu beschreiben. Mein Mann<br />

wurde am 9. Oktober 44, ein Jahr vor Kriegsende,<br />

zusammen mit tausend anderen nach Dachau<br />

geschickt. Wir sind zurückgeblieben, Frauen und<br />

Kinder. Wir mussten uns am nächsten Tag zu<br />

einer Arbeit in einer Wäscherei melden. Da mussten<br />

<strong>wir</strong> schon um vier Uhr Früh weggehen, um<br />

dort zu sein. Der Junge hat sehr gelitten, dass<br />

mein Mann weg war. Und jetzt musste ich ihn<br />

dort lassen in der Wohnung. Er hat gesehen, dass<br />

ich sehr unruhig war, und er hat auf einmal<br />

geweint und Fieber bekommen. Er war krank vor<br />

Aufregung. Er war sieben Jahre alt. Er sagte:<br />

„Jetzt bin ich allein in der Welt.“ <strong>Das</strong> war ganz<br />

fürchterlich. Eine alte Frau hat mir versprochen,<br />

sie <strong>wir</strong>d sich um das Kind kümmern und ihn um<br />

acht Uhr in das Kinderheim bringen, wo er<br />

immer war. Und eine andere Situation war, da<br />

mussten <strong>wir</strong>, Frauen und Kinder, weit außerhalb<br />

des Ghettos stehen bleiben und stundenlang warten.<br />

Wir haben nicht gewusst, was man machen<br />

<strong>so</strong>ll. Plötzlich kommt ein SS-Mann und sagt:<br />

„Aufstehen und zehn Leute in eine Reihe stellen.“<br />

Al<strong>so</strong> ich habe gedacht, das <strong>ist</strong> das Ende<br />

meines <strong>Leben</strong>s. Ich nehme das Kind bei der<br />

Hand, <strong>wir</strong> stehen in der Reihe und warten. Jetzt<br />

<strong>ist</strong> Schluss, jetzt werden <strong>wir</strong> erschossen. Ich habe<br />

mich nicht gefürchtet. Was ich mich erinnere <strong>ist</strong>,<br />

dass ein schwarzer Vorhang vor meinen Augen<br />

herunter gekommen <strong>ist</strong>. <strong>Das</strong> hat lange gedauert.<br />

Plötzlich hören <strong>wir</strong> Stimmen in tschechischer<br />

Sprache: „Zurück ins Ghetto!“ Al<strong>so</strong>, das Ghetto<br />

wurde zum Paradies. Plötzlich wurde das fürchterliche<br />

Ghetto zum Paradies.<br />

Wo war Ihr Mann im Ghetto?<br />

Die Männer waren extra. Die Männer haben <strong>wir</strong><br />

einmal am Tag gesehen zwischen sechs und halb<br />

acht. Da hat er sich me<strong>ist</strong>ens mit dem Jungen<br />

beschäftigt. Ich auch, ich habe ihn lesen, schreiben,<br />

rechnen unterrichtet.<br />

Macht man sich in dieser Situation Gedanken, welche<br />

Zukunft einen erwartet?<br />

Nein. Ich als Optim<strong>ist</strong>in glaube an das Gute. Ich<br />

werde meinen Sohn unterrichten, werde ihm vorlesen,<br />

<strong>so</strong>lche Sachen habe ich gedacht. Unter<br />

den Umständen das Beste herausziehen, was da<br />

<strong>ist</strong>. Aber die Menschheit um mich herum war<br />

fürchterlich. Die Frauen haben nach einigen<br />

Monaten die Menstruation verloren.<br />

Ich stelle mir vor, dass es auch viele Gerüchte gegeben<br />

hat, was passieren <strong>wir</strong>d. Konnten Sie Gerüchte<br />

einfach wegschieben?<br />

Ich war, <strong>wie</strong> gesagt, immer sehr heiter. Mein<br />

Junge erinnerte sich nie an eine weinende oder<br />

nervöse Mutter in dieser Zeit. Ich bin mit einem<br />

wunderbaren Temperament geboren. Die wenigsten<br />

Menschen haben ein <strong>so</strong>lches Temperament.<br />

Die me<strong>ist</strong>en fürchten sich.<br />

Wie war das, als Ihr Mann weggebracht wurde?<br />

Er hat mir das Ehrenwort abgenommen: „Du<br />

darfst nichts freiwillig machen.“ Wie er auf diese<br />

Idee gekommen <strong>ist</strong>, noch jetzt verstehe ich es<br />

nicht. Er hat uns das <strong>Leben</strong> gerettet. Am Montag<br />

wurde sein Transport geschickt. Zweimal die<br />

Woche wurden Tausende Menschen weggeschickt.<br />

Und die Frauen, die zurück geblieben sind, haben<br />

sich freiwillig gemeldet nach dem Motto: „Den<br />

Männern nach“. Ich habe mich nicht gemeldet,<br />

weil ich es meinem Mann versprochen hatte.<br />

Und <strong>so</strong> bin ich dort geblieben.<br />

Haben Sie gewusst, wo Ihr Mann hingeht?<br />

Nein, das haben <strong>wir</strong> nicht gewusst.<br />

Wie nimmt man in einer <strong>so</strong>lchen Situation Abschied?<br />

Schwer, aber das Kind war da. Für meinen Mann<br />

und mich war das Kind das Wesentliche. Ich<br />

muss für das Kind <strong>so</strong>rgen, ich habe eine Aufgabe<br />

hier. Nach dem Krieg, die wenigen Frauen, die<br />

zurück gekommen sind und Kinder verloren hatten<br />

im Krieg, waren viel betroffener als ich, die

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