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Das Leben ist so, wie wir darauf reagieren

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ich den Mann verloren hatte. Mein Kind <strong>ist</strong> mir<br />

geblieben.<br />

Sie glauben, dass Ihnen Ihr Kind Kraft gegeben hat?<br />

Gar kein Zweifel. Bis jetzt noch, wenn ich an ihn<br />

denke. Ich muss da sein. Solange ich da bin, lebt<br />

er auch.<br />

Wann haben Sie erfahren, dass Ihr Mann gestorben<br />

<strong>ist</strong>?<br />

Einige Wochen später, da war ich noch im<br />

Ghetto. Erst als der Mann mit dem Löffel gekommen<br />

<strong>ist</strong>, war es endgültig bestätigt. Sie sind alle<br />

an Flecktyphus gestorben.<br />

Der Tagesablauf im Ghetto war streng geregelt. Alice<br />

Herz Sommer arbeitete in einer Lederwarenfabrik.<br />

Eine halbe Stunde täglich konnte sie Klavier spielen.<br />

Fast jeden Abend spielte sie vor Publikum, manches<br />

Programm zehnmal hintereinander. Einmal, erzählt<br />

sie, hat sie in Theresienstadt auch gestohlen. Ein<br />

Stück Brot für ihren hungrigen Sohn.<br />

Ihr Sohn erzählte über seine Erlebnisse in<br />

Theresienstadt, dass er nicht das Gefühl hatte, ein<br />

Trauma erlebt zu haben.<br />

Überhaupt nicht. Er hat das in seiner<br />

Selbstbiografie geschrieben, dass er es für ein<br />

Wunder hält, dass seine Mutter imstande war, das<br />

Kind durchzukriegen durch diese schwere Zeit<br />

und das Kind hat keine schlechten Erinnerungen.<br />

Die Psychologin hat zu mir gesagt: „Sie haben<br />

das zustande gebracht.“ Wahrscheinlich hat sie<br />

Recht. Ich bin unschuldig, <strong>so</strong> bin ich geboren.<br />

Was löst es bei Ihnen aus, wenn Sie hören, dass es<br />

<strong>wie</strong>der junge Menschen gibt, die mit dem<br />

National<strong>so</strong>zialismus sympathisiert haben?<br />

So ein Hitler kann überall vorkommen, ein<br />

Ge<strong>ist</strong>eskranker kann überall vorkommen. Wir<br />

werden geboren mit Hass, das Kind kommt aus<br />

dem Bauch schon mit Hass. Im Kindergarten,<br />

wenn einer einen Ball hat und der andere nimmt<br />

ihm den weg, schlägt der schon. Die Menschen<br />

sind im Zorn erschaffen, hat einer gesagt. Ich<br />

verstehe die Familien dieser Nazis, denn wenn<br />

einer nicht in die Partei gegangen <strong>ist</strong>, hat er<br />

seinen Posten verloren. Er musste seine Familie<br />

ernähren. Ich verstehe alles, das <strong>ist</strong> alles menschlich.<br />

Wir sind nur Menschen. Wir sind gut und<br />

schlecht, 50 Prozent gut und 50 Prozent schlecht.<br />

Die Frage <strong>ist</strong>, <strong>wie</strong> man mit dem Schlechten<br />

fertig <strong>wir</strong>d.<br />

Welche Strategien haben sich aus Ihrer langen<br />

<strong>Leben</strong>serfahrung im Umgang mit dem Schlechten<br />

bewährt?<br />

Alles Schlechte hat etwas Gutes, meine ich, oder<br />

zumindest lernt man etwas daraus. Als ich diese<br />

fürchterliche Operation hatte nach dem Tod meines<br />

Sohnes, habe ich gelernt, <strong>wie</strong> herrlich manche<br />

Schwestern sind dort in dem Krankenhaus.<br />

Wie be<strong>so</strong>nders einer, ein junger Filipino, sich zu<br />

mir benommen hat, das <strong>ist</strong> unbeschreiblich. Es<br />

sind herrliche Menschen auf der Welt. In<br />

schlechten Situationen merkt man eigentlich<br />

erst, <strong>wie</strong> herrlich die Menschen sind. Absurd,<br />

aber es <strong>ist</strong> <strong>so</strong>.<br />

Können Sie sich an die Befreiung von Theresienstadt<br />

am 9. Mai 1945 erinnern?<br />

Wie die Russen gekommen sind? <strong>Das</strong> war eigentlich<br />

tragikomisch. Am 9. Mai war das. Man hörte<br />

Geschrei auf der Straße. Mein Kind hatte damals<br />

Masern im Darm. Es hat ihm wehgetan. Kurz<br />

und gut, ich habe ihn eingepackt in eine Decke<br />

und renne auf die Straße mit ihm und sehe die<br />

Autobusse mit der roten Fahne. Wir haben schon<br />

einige Wochen vorher gewusst, dass der Hitler<br />

den Krieg verloren hat, und <strong>wir</strong> haben schon<br />

etwas erwartet. Aber das Eigenartige war – warum<br />

das geschehen <strong>ist</strong>, weiß ich nicht –, es sind<br />

gleichzeitig auch Leute aus der Irrenanstalt<br />

herausgekommen und sind im Pyjama herumgelaufen.<br />

<strong>Das</strong> war eigenartig. Mein Bruder, der eine<br />

Nicht-Jüdin zur Frau hatte, war drei Monate in<br />

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