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Das Leben ist so, wie wir darauf reagieren

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hätte zehn Mal heiraten können, mein Mann <strong>ist</strong><br />

nicht zurückgekommen, er wurde nach Dachau<br />

geschickt. Ich war allein mit dem Kind. Aber es<br />

kam nicht in Betracht. Er war alles. Er war mein<br />

Mann, er war mein Kind, er war mein Freund. Er<br />

hatte die Verantwortung.<br />

Wie konnten Sie denn ohne dieses Zentrum, das Ihr<br />

Sohn für Sie war, weiterleben?<br />

<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> sehr schwer. Durch die Disziplin. Ich bin<br />

sehr oft draußen herumgelaufen, dort habe ich<br />

geweint. Ich wollte andere damit nicht belasten.<br />

<strong>Das</strong> <strong>ist</strong> meine Angelegenheit. Außerdem denke<br />

ich mir, <strong>so</strong>lange ich lebe, lebt er auch, in gewissem<br />

Sinne, durch meine Gedanken, meine<br />

Gefühle. Wenn ich spiele, denke ich an ihn. Es<br />

<strong>ist</strong> schon zu etwas gut, dass ich noch da bin.<br />

Sie waren schon 98, als er gestorben <strong>ist</strong>. Da wäre<br />

auch die Reaktion denkbar: „Jetzt mag ich auch nicht<br />

mehr. Jetzt will ich auch sterben.“<br />

Nein, nein. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> eben das Merkwürdige, ich<br />

war nach seinem Tod sehr krank. Ich weiß nicht,<br />

was das war. Man hat mich operieren müssen, und<br />

ich habe merkwürdigerweise nicht daran gedacht,<br />

dass ich vielleicht einen Krebs habe oder <strong>so</strong><br />

etwas. So, jetzt genug von den traurigen Sachen.<br />

Alice Herz Sommer lenkt das Gespräch um und<br />

befragt nun die Fotografin und mich über unser persönliches<br />

<strong>Leben</strong>. Sie will alles genau wissen. Sie<br />

erzählt von ihrem Mann, den sie als musische Seele<br />

bezeichnet. Zwölf Jahre waren die beiden verheiratet.<br />

<strong>Das</strong> Wichtigste im Zusammenleben von Mann<br />

und Frau <strong>ist</strong> nicht Sex, <strong>so</strong>ndern Respekt. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong><br />

der Maßstab. Wenn man den Respekt nicht mehr<br />

hat, kann es nicht mehr gut sein. Die Frau muss<br />

den Mann, aber auch der Mann die Frau<br />

gleichermaßen respektieren.<br />

Jeden Morgen kommt eine Pflegehelferin, die Frau<br />

Herz Sommer beim Waschen und Aufstehen hilft.<br />

Die Helferin geht auch für sie einkaufen. In einem<br />

großen Topf kocht Alice Herz Sommer eine<br />

Hühnersuppe mit viel Gemüse. Diese Speise isst sie<br />

nun, gesunde Ernährung hin oder her, schon seit<br />

dreißig Jahren jeden Tag. „Wunderbar“, meint sie.<br />

Dann lenkt sie selbst das Gespräch auf ihren<br />

Aufenthalt in Theresienstadt.<br />

Schon bevor ich hin kam, habe ich gewusst, man<br />

musiziert dort. Es wurde von Judenältesten geleitet.<br />

Einer hat mich als Pian<strong>ist</strong>in gekannt. Ich<br />

habe in diesen zwei Jahren in Theresienstadt<br />

mindestens hundert Konzerte gehabt. Die<br />

Konzerte waren im Rathaussaal. Dieser Saal hat<br />

vielleicht 150 Leute gefasst. Im Winter war es in<br />

dem Saal sehr kalt, da haben <strong>wir</strong> mit Mütze und<br />

Mantel Beethoven und Chopin gespielt.<br />

Wer waren die Zuhörer?<br />

Juden. Es waren Nazis dort, die uns bewacht<br />

haben. Aber die Juden sind zu den Konzerten<br />

gekommen. Die me<strong>ist</strong>en waren arm, leidend, halb<br />

tot, unglücklich. Aber das war für sie <strong>so</strong> <strong>wie</strong> für<br />

uns, dass <strong>wir</strong> davon gelebt haben. Wir haben<br />

nicht viel zu essen gehabt. In der Früh ein<br />

schwarzes Wasser, das war Kaffee, mittags ein weißes<br />

Wasser, das war Suppe, und abends <strong>wie</strong>der<br />

ein schwarzes Wasser. Man war Haut und<br />

Knochen. Mein Sohn <strong>ist</strong> nicht einen Millimeter<br />

gewachsen und hat kein Gramm zugenommen.<br />

Aber der Mensch braucht vielleicht gar nicht <strong>so</strong><br />

viel Essen.<br />

<strong>Das</strong> Ge<strong>ist</strong>ige <strong>ist</strong> ungeheuer wichtig für den<br />

Menschen. Wenn <strong>wir</strong> abends gespielt haben,<br />

waren <strong>wir</strong> direkt glücklich. Vielleicht waren <strong>wir</strong><br />

damals glücklicher als im normalen <strong>Leben</strong> ohne<br />

Nazis und ohne Hitler. Diese Musik <strong>ist</strong> ein<br />

Zauber. Ich würde sagen, es bringt uns näher zu<br />

Gott. Es bringt uns von dieser Erde hinauf<br />

irgendwohin.<br />

Interessant, dass Sie in diesem Zusammenhang den<br />

Begriff Gott verwenden.<br />

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