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Das Leben ist so, wie wir darauf reagieren

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056<br />

war schon alt, 72. Ich konnte mir nicht vorstellen,<br />

dass ich weggehe und sie bleibt. Der Junge<br />

war zwei Jahre alt, als Hitler kam. Ich bin jeden<br />

Tag mit dem Kind zu meiner Mutter. Im 42er<br />

Jahr wurde sie weggeschickt mit dem Rucksack<br />

am Rücken. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> unvergesslich. Fürchterlich.<br />

Dann kamen die Judengesetze. Man musste die<br />

Wohnungen verlassen und in einem bestimmten<br />

Stadtteil wohnen, einige Familien zusammen in<br />

einer kleinen Wohnung, was sehr schwer war.<br />

Mein Mann, mein Kind und ich blieben durch<br />

Zufall in dem Haus, wo <strong>wir</strong> gewohnt haben. Wir<br />

wurden nicht in das Ghetto geschickt. Über uns<br />

war ein Mann, ein Nazi, Hermann hieß er, unter<br />

uns war auch ein Nazi. Ich glaube, mein Junge<br />

hat mit dem Kind von dem Hermann auf der<br />

Straße gespielt. Jedenfalls, meine Mutter wurde<br />

eines schönen Tages abtransportiert, was für<br />

mich der tiefste Punkt meines <strong>Leben</strong>s war. Die<br />

Reaktion auf dieses fürchterliche Ereignis war,<br />

dass ich nicht gegessen habe, nicht geschlafen<br />

habe, ich hatte eine Depression. Ich sehe mich<br />

noch zu unserem Haus hinuntergehen. Und<br />

plötzlich bleibe ich stehen und eine innere<br />

Stimme sagt mir: „Jetzt kannst nur du allein dir<br />

helfen, kein anderer, nicht einmal das herrliche<br />

Kind.“ Und in demselben Moment kam mir der<br />

Gedanke: die 24 Etüden von Chopin. Jeder<br />

Pian<strong>ist</strong> hat, Maximum, die Hälfte davon in seinem<br />

Programm. Die Etüden sind noch jetzt das<br />

Schwerste, was für Klavier komponiert wurde.<br />

Und es fordert eine unerhörte Arbeit. Ich bin<br />

nach Hause und bin von neun bis vier, fünf Uhr<br />

gesessen und habe geübt, geübt, durch Monate.<br />

Vielleicht war es ein Jahr. Diese 24 Etüden. Es<br />

hat mir geholfen. Diese Arbeit hat mich <strong>so</strong><br />

ab<strong>so</strong>rbiert. Dann kam der Tag unseres Wegschickens,<br />

im Juli 43. Mein Mann war angestellt<br />

in der Jüdischen Kultusgemeinde. Mit einer<br />

Gruppe von Männern haben sie die Transporte<br />

nach Theresienstadt organisiert. Wir waren im<br />

letzten Transport, der von Prag weg ging. Und<br />

<strong>wir</strong> sitzen am Abend - am nächsten Tag mussten<br />

<strong>wir</strong> um fünf Uhr früh an einem bestimmten Ort<br />

sein - im Dunkeln. Ich wollte, dass der Junge<br />

noch die letzte Nacht in seinem sauberen Bett<br />

schlafen kann. Es war dunkel und die Tür war<br />

angelehnt. Da kamen Tschechen, die in dem<br />

Haus gewohnt haben, herein. Sie haben uns<br />

nicht gegrüßt und haben alles weggeschleppt,<br />

was nicht niet- und nagelfest war. Bilder,<br />

Teppiche. Mein Mann <strong>ist</strong> gesessen und hat<br />

gesagt: „Was sagst du dazu?“ Und in dem<br />

Moment kommt der Nazi, der Hermann, mit<br />

seiner Frau, er nimmt meine Hand und sagt:<br />

„Frau Sommer, ich sehe, Sie sind vor dem Wegschicken.<br />

Ich wünsche Ihnen das Beste.“ Sie<br />

haben mir Kekse gebracht und Sachen, die nicht<br />

verderben. Diese Deutschen waren die einzigen<br />

Menschlichen in dieser Situation. <strong>Das</strong> <strong>ist</strong> unbeschreiblich.<br />

Dann sind <strong>wir</strong> weggeschickt worden.<br />

Von meiner Mutter habe ich nie mehr etwas<br />

gehört. Nie mehr. Wo sie gestorben <strong>ist</strong>, was mit<br />

ihr geschehen <strong>ist</strong>, nichts. Aber von meinem<br />

Mann habe ich gehört. Einige Monate nach<br />

Kriegsschluss kam ein Mann nach Prag, der mit<br />

ihm in Dachau war und ihn gekannt hat, und da<br />

hat er mir den Löffel gebracht, mit dem mein<br />

Mann gegessen hat. Den habe ich hier.<br />

Aber die Jüdische Kultusgemeinde hat sich<br />

fabelhaft zu uns Rückkehrern benommen. Überhaupt,<br />

die Juden aus der ganzen Welt haben uns<br />

Kleider für die Kinder geschickt, Geld. Sie<br />

haben sich sehr um uns bemüht.<br />

Haben Sie gewusst, als Sie 39 geblieben sind ...?<br />

... <strong>wir</strong> haben nichts gewusst. Wir waren schon in<br />

Theresienstadt und haben nichts von Auschwitz<br />

gewusst.<br />

Was hat man von Theresienstadt gewusst?<br />

Man hat uns beschrieben, <strong>wie</strong> es dort <strong>ist</strong>. Die<br />

Männer haben sehr viel gearbeitet. Man hat<br />

nicht gewusst, dass man nachher von dort weggeschickt<br />

wurde. Erst nach einem Jahr, als mein<br />

Mann schon weggeschickt worden war, hat man

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