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3 Teil 1 - Reinhard Singer

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Prof. Dr. <strong>Reinhard</strong> <strong>Singer</strong> Wintersemester 2009/10<br />

(29.10.2009)<br />

Grundkurs im Bürgerlichen Recht<br />

§ 3 Dogmatische Grundlagen der Rechtsgeschäftslehre<br />

I. Begriff und Wesen des Rechtsgeschäfts<br />

1. Begriff<br />

a) Sprachgebrauch des BGB: Willenserklärung und Rechtsgeschäft.<br />

Basisbegriff: Willenserklärung.<br />

b) Rechtsgeschäft:<br />

= besteht mindestens aus einer Willenserklärung.<br />

Willenserklärung ist Kern des Rechtsgeschäfts (Elementarbegriff).<br />

aa) Manchmal erschöpft sich Rechtsgeschäft in einer Willenserklärung.<br />

Beispiele: Anfechtung, Kündigung, Genehmigung (= einseitige Rechtsgeschäfte;<br />

vgl. dazu § 111 BGB).<br />

bb) Regel: Rechtsgeschäft besteht aus mehreren Willenserklärungen<br />

Bsp.: Kaufvertrag (§ 433 BGB) beinhaltet WE des Verkäufers und WE des<br />

Käufers (2); bei Erfüllung zusätzlich WE des V und WE des K jeweils für<br />

Übereignung Sache und Geld (je 2). Kauf erfordert insgesamt mindestens 6 WE;<br />

mit Zweckbestimmung für die Erfüllung sogar 8 WE.<br />

2. Wesen des Rechtsgeschäfts<br />

a) Instrument zur Bedürfnisbefriedigung: Ernährung, Wohnen, Arbeiten, Leben<br />

vollzieht sich i.d.R. auf der Grundlage von Rechtsgeschäften<br />

b) Rechtsgrundlagen:<br />

Vertrag begründet Schuldverhältnis (§ 311 BGB); Rechtsgeschäft =<br />

Gestaltungsinstrument des BGB (vorausgesetzt in §§ 104 ff. BGB)<br />

Vertragsfreiheit = Bestandteil der allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2<br />

Abs. 1 GG.<br />

Das Prinzip, das auf der Vertragsfreiheit aufbaut, nennt man Privatautonomie<br />

1


3. Vorteile der Bedürfnisbefriedigung durch Vertrag:<br />

- Selbstbestimmung auf beiden Seiten gewahrt; niemand wird zum Vertragsschluss<br />

gezwungen!<br />

- Wettbewerb um Kunden hat positive Effekte in Bezug auf Bedarfsgerechtigkeit<br />

(Daseinsvorsorge) und soziale Gerechtigkeit (z.B. Reisen), aber auch negative (z.B.<br />

Überrumpelung).<br />

- Ungelöste Probleme: Arbeitslosigkeit, Globalisierung; staatliche Intervention<br />

(Sozialgesetzgebung; Wirtschaftslenkung) nicht verzichtbar, „soziale<br />

Marktwirtschaft“ als Sozialmodell<br />

II. Wesen des Rechtsgeschäfts:<br />

1. „stat pro ratione voluntas“<br />

anstelle der Vernunft steht der Wille.<br />

M.a.W.: Was vernünftig (und gerecht) ist, bestimmt der Einzelne selbst, auch den<br />

gerechten Preis.<br />

2. „Richtigkeitsgewähr des Vertragsmechanismus“?<br />

a) Gerechtigkeitsgehalt des Vertrages: ohne Zustimmung eines jeden Beteiligten kommt<br />

kein Vertrag zustande.<br />

Beispiele:<br />

♦ Ist Auto Schrott, Verzicht auf den Vertragsschluss.<br />

♦ Ist Wohnung zu teuer, Verzicht auf Vermietung und Entscheidung für eine billigere<br />

Wohnung.<br />

b) Zwang zur Zustimmung gewährleistet im Ansatz, dass Vertrag die Interessen eines jeden<br />

angemessen wahrt („Richtigkeitsgewähr“ des Vertrages).<br />

c) Grenzen:<br />

- Monopol-Stellung eines Anbieters und Kartellabsprachen verhindern<br />

Ausweichmöglichkeit; deshalb Wettbewerb unentbehrlich.<br />

- Strukturelle Überlegenheit eines Partners: § 138 BGB<br />

- Informationsasymmetrie: Verbraucherschutz, Gewährleistung, Aufklärungspflichten<br />

usw.<br />

2


3. Funktionsvoraussetzungen der Privatautonomie und die Problematik des<br />

„Machtgleichgewichts“<br />

a) Grundgedanke: jeder stimmt im eigenen Interesse nur solchen Verträgen zu, die seine<br />

Interessen wahren<br />

b) Funktionsvoraussetzungen:<br />

- Freiheit, „Nein“ zu sagen, muss wirklich bestehen<br />

- kein Machtgefälle zwischen den Parteien (strukturelle Überlegenheit).<br />

c) Grenze: Monopolstellung von Anbietern, Kartellabsprachen.<br />

Ausweg: „Kontrahierungszwang“ (Larenz/Wolf, AT Rn. 23 ff.; Medicus, Schuldrecht §<br />

11 IV):<br />

aa) Gesetzlich geregelter Kontrahierungszwang:<br />

(1) Bereich Daseinsvorsorge (Versorgung mit existenznotwendigen Gütern)<br />

- § 10 Allg. Eisenbahngesetz (Sa 962): öffentliche Eisenbahnen.<br />

- § 22 PBefG (Sa 950): Straßenbahn, Bus und Taxi<br />

- § 10 Energiewirtschaftsgesetz (Sa 830): Energieversorgungsunternehmen bei<br />

Lieferung von Elektrizität und Gas.<br />

- § 3 PostdienstleistungsVO: Anbieter von Postdienstleistungen<br />

- § 5 Abs. 2 PflVersG: Kfz-Haftpflicht (weil Versicherungsnehmer sich versichern<br />

muss).<br />

bb) Antidiskriminierung:<br />

Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft,<br />

des Geschlechts, der Religion, der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder<br />

der sexuellen Identität (§§ 1, 7, 19 AGG)<br />

Sanktionen: Schadensersatz und Entschädigung<br />

Motive:<br />

- Umsetzung von 4 europäischen Richtlinien.<br />

- effektive Bekämpfung der Diskriminierung = Verletzung der Menschenwürde (Art. 1<br />

Abs. 1 GG)<br />

- Förderung einer „Kultur der Antidiskriminierung“ nach anglo-amerikanischem Vorbild<br />

3


cc) Allgemeiner Kontrahierungszwang?<br />

---------------------------------------------------------------------------<br />

Hausverbot Fall 5<br />

I. Rechtsgrundlage:<br />

1. Rspr.: Verbot vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung (§ 826 BGB).<br />

Kritik: Zirkelschluss; unerlaubte Handlung setzt voraus, dass man Pflicht zum<br />

Vertragsschluss bejaht.<br />

2. Vorzugswürdig: Gesamtanalogie zu den gesetzlichen Vorschriften (ggf. i.V.m.<br />

Sozialstaatsprinzip, Art. 20 GG).<br />

a) Voraussetzungen:<br />

- Angewiesensein der Interessenten auf den Vertragsschluss (v.a. - aber nicht nur - bei<br />

lebenswichtigen Gütern oder Diensten),<br />

- fehlende Ausweichmöglichkeit und<br />

- Fehlen eines sachlichen Grundes für die Ablehnung.<br />

b) Subsumtion:<br />

aa) Kriterien unter a) erfüllt: (+)<br />

bb) RGZ 133, 388, 392: sachlicher Grund für Hausverbot; Theater wollte eine unsachliche,<br />

unrichtige und schädigende Kritik in Zukunft vermeiden.<br />

cc) Kritik (vgl. z.B. Medicus Rn 84): Kritiker kann sich auf freie Meinungsäußerung und<br />

Berufsfreiheit berufen (heute: Art 5 und 12 GG)<br />

Theater aus Steuermitteln subventioniert; Besuch muss für Allgemeinheit offen sein.<br />

dd) OLG Köln (NJW-RR 2001, 1051): Hausverbot für kritischen Sportjournalisten<br />

unzulässig wegen Art. 3, 5 und 12 GG.<br />

ee) Kontrahierungszwang beim Abschluss von Giroverträgen:<br />

Sparkassen (nicht Privatbanken) sind an die Grundrechte gebunden und dürfen daher<br />

nicht willkürlich (Art. 3 GG) Kunden ablehnen oder kündigen; davon profitierte NPD<br />

(vgl. BGHZ 154, 146; BGH NJW 2004, 1031).<br />

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